Cover

dicht daneben - Anstelle eines Vorwortes

Seit 2014 ist auf www.bookrix.de eine Gruppe von Freizeitautoren unterwegs, die sich "Anthologie-Gruppe" nennt. Sie hat sich auf die Fahnen geschrieben, auf dem Wege eines monatlichen Schreibwettbewerbes Kurzgeschichten zu ganz verschiedenen Themen und Genres zu sammeln und jährlich in einer Anthologie zu vereinen. Das Besondere an dieser Art von Freizeitgestaltung: Das Ergebnis kommt jeweils auch noch einem guten Zweck zugute. Im Jahr 2014 war es das Kinderhospiz "Löwenherz" in Syke in Niedersachsen, im Jahr darauf die Organisation "Pro Asyl".

Ich selbst bin Mitte 2014 zu dieser Gruppe gestoßen. Mich hat der sehr respektvolle und freundliche Umgangston fasziniert, denn ich hatte vorher im Internet leider ein paar andere Erfahrungen machen müssen.
Mit ein wenig Stolz kann ich sagen, dass mein Wirken in der Gruppe nicht ganz erfolglos war. Im ersten Anthologie-Band

 

"Lebensbunt - Löwenherz-Geschichten" (ISBN 9781505425598) 

war ich mit zwei Geschichten vertreten: "An der Bar" und "Gregor"

 

Im Jahr 2015 hieß der zweite Band der Anthologie

"Lebensbunt - Hand in Hand" (ISBN:9781522853190). Ich konnte hier vier Erzählungen platzieren, was mich natürlich sehr stolz machte.
"Miguel", "Der Engel", "Franziska kündigt" und "nur fünf Sekunden"

 

2016 haben wir eine dritte Auflage erarbeitet, in der ich wiederum mit zwei Geschichten vertreten bin. Diese Ausgabe liegt im Augenblick noch nicht vor.

An dieser Anthologie sind sehr engagierte und kreative Autoren beteiligt. Die Cover werden seit der ersten Ausgabe von Heike Helfen gestaltet. Die Seele der Anthologie aber ist die Moderatorin und Herausgeberin Saskia Kruse, die die Wettbewerbe organisiert, die Ergebnisse verkündet und am Ende die Texte für den Druck und die Herausgabe fertigstellt. Allen, den Mitautoren und jenen, die am Ende dafür sorgen, dass aus unserer Absicht auch ein Buch wird, gilt hier ausdrücklich mein Dank. 

 

Wozu nun dieses Büchlein? Es gab im Verlaufe der letzten über zwei Jahre auch Monate, in denen ich entweder mit meinen Geschichten nicht rechtzeitig fertig wurde oder aber sich meine Stories besseren geschlagen geben mussten. Manchmal waren die Entscheidungen sehr knapp - eben dicht daneben. Diese Geschichten habe ich nun in diesem Band versammelt, weil ich es zu schade fand, sie der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Ich habe zu den einzelnen Geschichten, soweit ich es noch in Erinnerung hatte, die Themen- bzw. Aufgabenstellung hinzu geschrieben. Ansonsten sprechen die allermeisten Geschichten für sich.

 

Dann also viel Vergnügen mit den Geschichten, die es nicht schafften.

 

Hennigsdorf im Mai 2017

Nebel fallen - Tot eines Autors

Mein erster Beitrag zum Schreibwettbewerb der "Anthologie-Gruppe" auf Bookrix. Aufgabe war, eine Geschichte zu diesem Foto zu erzählen.

 

Klappentext des Originals: 
"Ein prominenter Autor steht am Ende seines Weges. Während die Welt um ihn herum an ihm zerrt, ihn vereinnahmt und zu bevormunden sucht, prallen auf einer Waldlichtung an einem See seine inneren Welten auf einander. Ein letzter furioser Sieg."

 

 

 

 

Der Faun tritt aus dem Wald auf die Lichtung. Seine Hufe klingen gedämpft auf dem feuchten Boden. Er nähert sich dem Autor bis auf wenige Schritte. Seine langen Ohren zucken nervös, als sucht er lästiges Ungeziefer zu vertreiben. Allein zu dieser frühen Stunde ist die Luft frisch und leer.
Nein, nicht ganz. Dort, vom Fluss ziehen Nebelschwaden herüber.

„Sie werden mich am Ende doch finden“ weiß der Mann, der vor den Baumstümpfen steht und über den träge dahin ziehenden Fluss starrt.
„Sie haben mit den Wehranlagen begonnen“ stellt er halblaut und mit brüchiger Stimme fest. Ein knotiger Zeigefinger deutet hinüber zum gegenüberliegenden Ufer. Die altersfleckige Hand zittert und flattert in die Manteltasche zurück wie ein schwacher, lederner Vogel.
Das Summen seines Smartphones lässt die tröstende Stille ersterben. Resigniert hebt der Autor die Schultern. Eine Geste voller trauriger, resignierter Hoffnungslosigkeit. Der Faun tänzelt nervös. Seine langen, behaarten Finger kneten die gekreuzten Ledergurte vor seiner Brust. Die großen ausdrucksvollen Augen verfolgen gebannt die Bewegungen des Autors. Noch immer besteht Hoffnung, dass er sich nicht meldet. Sie haben die Bäume gefällt, das ist wahr und es ist mehr als nur ein böses Omen. Aber es besteht Hoffnung, dass der Mann die Hände in den Taschen seines langen erdfarbenen Mantels behält.

„Das hätten Sie nicht tun sollen. Ja, das weiß ich. Sie hätten es trotzdem nicht tun sollen. Einen Teufel werde ich tun. Leben Sie wohl.“ Der Autor steckt das Smartphone zurück in die Jackentasche und schließt mühsam die Hornknöpfe seines Mantels.
Die Nebel fallen, es ist klamm hier draußen. Er fröstelt leise. Langsam geht er durch das feuchte Gras hinüber zu den Baumstümpfen. Er geht vorsichtig in die Knie, stützt den Ellenbogen der Linken auf einen Oberschenkel und berührt vorsichtig mit der Rechten die Schnittfläche des linken Stumpfes. Im Gesicht des alten Mannes zuckt es. Er späht mit zugekniffenen Augen hinüber ans andere Ufer.

 

Oben im Haus schaut die Frau aus dem großen Panoramafenster hinaus auf den Fluss. Ihr schmales, Gesicht ist blass, die großen grauen Augen schauen sorgenvoll. Die geschwungenen schwarzen Brauen sind ein wenig zu einander gerückt und eine steile Falte teilt die Stirn über der Nasenwurzel.
Als die Assistentin neben sie tritt, wendet sie nur kurz den Kopf.
„Es war zu viel für ihn. Das war einfach zu viel. Sie werden ihn verlieren.“ Ein bitterer Zug liegt um den Mund, der das sagt.
„Wir werden ihn alle verlieren.“
„Es war einfach notwendig. Sie hatten keine Wahl.“ Die Stimme der Assistentin klingt leise und scheinbar unsicher. Sie drückt das Tablet gegen ihre magere Brust und ihre Fingerspitzen werden weiss dabei.
Die Frau lacht humorlos auf.
„Gehen Sie hinaus und erklären Sie es ihm, dass es die einzige Möglichkeit war, die Sicht auf den Fluss zu öffnen, indem man diese Bäume fällt!“ Aufgebracht und mit dieser trainierten Sprechstimme von drei Jahrzehnten Bühnenkarriere wirft die Frau der Assistentin die Aufforderung hin.
„Die Redaktion hat angerufen. Sie wollen, dass er sich dieser Untersuchung unterzieht. Heute noch. Er habe Verträge, haben sie gesagt. Sie schicken einen Helikopter.“
„Was die sich einbilden! Er ist der Autor!“ ruft die Mimin und hebt in raffiniert temperierter Pose die Arme hoch. Ihr Rollstuhl gibt ein ächzendes Geräusch von sich. Die feingliedrigen Finger der Frau ziehen rasch die Decke über ihren Beinen zurecht. Sie trägt wieder ihren Ehering. Links. Es ist der Ring aus ihrer zweiten Ehe mit dem amerikanischen Broadwaystar vergangener Jahrzehnte. Den ihrer jetzigen Ehe hat sie nie getragen. Sie weiß nicht einmal, warum.
„Ja, das ist er“ sagt die Assistentin halblaut. Die Frau lauscht dem seltsamen Unterton nach, während die Schmalbrüstige mit dem farblosen Haar und der großen Brille mit dem unmöglichen dunkelblauen Gestell die Terrasse verlässt und sich anschickt, die Wiese zu überqueren.

Der Faun nimmt die Bewegung hinter sich wahr und mit elegantem Trab gewinnt er fast lautlos den Waldrand. Im Dämmer zwischen den alten Buchen bleibt er stehen und schaut zurück. Die Nachtalbin tritt aus dem Unterholz. Ihr Blick schillert aquamarinfarben und das Medusenhaar teilt das Laub des Unterholzes. Sie überragt den Faun samt seinem Gehörn um Haupteslänge. Ihr seltsam geformter Runenstab scheint zu leben. Zeichen formen sich und zerfließen ohne Unterlass.
„Was meint er mit Wehranlagen?“ fragt sie mit dieser seltsam tonlosen Stimme.
Der Faun deutet mit der Rechten hinüber zum anderen Ufer.
Die Nebel fallen. Langsam wird die Sicht klarer.
„Ist es diese andere Welt?“ will die Albin wissen. Der Faun wendet seinen Kopf und schaut in ihre Richtung. Auch er darf ihr nicht in die Augen sehen. Niemand darf das.
„Es ist immer eine andere Welt.“

 

„Sie kommen, nicht wahr?“ sagt der Autor, als die Assistentin zwei Schritte hinter ihm stehen bleibt. Sie hat nur diese dünne Bluse an und einen schwarzen Bleistiftrock, der sie zu lächerlichen Trippelschritten zwingt. Die hochhackigen Schuhe sinken im weichen Uferboden ein. Die Assistentin ringt um einen sicheren Stand und um ihre Würde. Ihre blassen Lippen sind nur mehr eine undeutliche Markierung im schmalen Gesicht.
„Man schickt einen Helikopter, der Sie in die Klinik bringt zur Untersuchung,“ teilt die Assistentin mit. Sie teilt immer mit. Der Autor dreht sich halb zu ihr herum und mustert sie. Er versucht sich zu erinnern, warum er seine Frau mit diesem farblosen Wesen eigentlich betrogen hat. Ein paar schlaglichtartige Bilder zucken durch seine Erinnerung.
Der Runenstab im Buchenhain sprüht für einen Moment grünliche Funken, die das letzte Laub an den Bäumen in seltsames Licht tauchen. Die Nachtalbin lässt ein Zischen hören und ihr Mund verzieht sich zu einem Lächeln. Der Faun stampft unruhig den Waldboden.
Die Assistentin errötet und ihre Lider flackern.
„Weißt du etwas über diese Bäume?“ will er wissen, während seine Hand das Holz ertastet.
„Der Redakteur hat das veranlasst. Ich habe auch erst davon erfahren...“ Er wischt ihr den Rest des Satzes mit einer herrischen Geste vom Mund.
„Weißt du etwas über ihre Bedeutung?“ Seine wässrigen graugrünen Augen fixieren die junge Frau unter buschigen eisgrauen Brauen hervor.
„Bäume, mein Gott, jeden Tage sterben ganze Wälder...“ sagt sie mit unüberhörbarem schnippischen Unterton. Seine Rechte Braue schnellt in die Höhe. Er schüttelt den Kopf und wendet sich wieder dem anderen Flussufer zu.
„...so etwas ist meine Assistentin!“ sagt er halblaut. Er kneift die Augen zusammen.

„Du musst dich jetzt wirklich auf den Weg machen. Der Heli wird gleich...“
Spricht sie tatsächlich in diesem unverkennbaren Alte-Leute-Tonfall mit ihm? Mit dieser kaum verhohlenen leichtherablassenden Ungeduld?
„Ich werde dir etwas über diese Bäume erzählen, mein Kind,“ kündigt er an. Wegen dieser Stimme hat sie ihn tatsächlich einmal geliebt. Seine Lesungen damals, diese umjubelten Sternstunden der Literatur. Lange, bevor diese Hyänen vom Fernsehen auf der Bildfläche erschienen.

„Diese Bäume waren die Brücken zwischen den Welten und den Zeiten,“ sagt der Autor. Sein Duktus ist der eines routinierten Märchenerzählers. Nichts desto Trotz glaubt er an sich.
„Hier haben mein Bruder und ich immer gespielt als Kinder. Der ganz rechte Baum dort ragte weit hinaus aufs Wasser. Ein Seil war daran befestigt und wir schwangen im Sommer hoch hinaus.“
Seine Stimme hat etwas Schwärmerisches. Seine Lippen glänzen von Speichel und begeisterter Erinnerung.
Die Assistentin kann die aufgeregten Kinderstimme hören, sie hat den Geruch von Sonnenmilch und Schmalzbroten in der Nase. Fast spürt sie die Spritzer im Gesicht, als einer der Jungen jauchzend ins Wasser platscht um kurz darauf prustend wieder aufzutauchen.

 

„Der königliche Nachen war unter diesen Bäumen vertäut in jener Nacht. Erinnert Ihr Euch?“
Die Nachtalbin scheint mit ihren Gedanken weit fort.
„Wer könnte diese Nacht je vergessen, Teuerste. Niemand hatte mit diesem Angriff gerechnet.“
„Es war ein Blutbad. Allein die Magier unserer Stämme verloren an die drei Dutzend. Was für ein Verlust.“ Ihr Seufzen pflanzt sich als Bewegung zwischen den Buchen fort.
Der Faun nickt. Sein Stamm war nicht geladen gewesen, auf dieser Lichtung Rat zu halten, als die Tragödie ihren Lauf nahm.
„Er wird die Prophezeiung erfüllen,“ sagt er nach einer Weile und starrt gebannt hinaus auf die Wiese. Ein erster schmaler Dolch Sinnenlicht sticht durch die Bäume.

 

„Jetzt erzählt er ihr die Geschichte von den Bäumen. Er ist inzwischen so berechenbar geworden“. Die Frau wendet den Rollstuhl zurück in den Raum. Die starken, gebräunten Arme eines Mannes unterstützen sie dabei.
„Du klingst verbittert und ungerecht, das weißt du, oder?“ fragt eine sehr angenehme tiefe Stimme.
Die Frau lacht auf. Es klingt heiser und gallebitter.
„Was hat er an diesem Hungerhaken nur gefunden?“ fragt sie und das klingt verletzt.
„Sie hat zu ihm aufgesehen. Das wirkt auf ältere Männer überaus sexy.“
„Du musst es wissen, mein Herz!“ Sie greift nach hinten und legt ihre Hand auf seine. Ein oder zweimal tätschelt sie, bis er sie festhalten kann.
„Wie geht es ihm wirklich?“ fragt der Mann. Er ist vor den Rollstuhl getreten und in die Knie gegangen. So hockt er vor der Frau und schaut ihr ins Gesicht. Seine blassblauen Augen lesen in ihrem Antlitz, bis es ihr unbehaglich wird. Er erhebt sich, im Gegenlicht des Panoramafensters ist seine imposante Gestalt als dunkler Schattenriss zu sehen. Sein nackter Oberkörper ist durchtrainiert und gut definiert. Die Hüften stecken in eng anliegenden Jeans.
„Wenn er dich hier sieht, wird es ihm gleich besser gehen.“ Das klingt sarkastisch. Im Hintergrund läutet ein Smartphone. Die Frau bewegt ihren Stuhl unerwartet geschickt zum Tisch. Bevor sie den Anruf entgegen nimmt, wendet sie sich dem frühen Besucher zu.
„Er weiß genau, warum er die Untersuchung nicht machen lassen will. Er spürt es. Er hat diesen besonderen Draht zu allem hier. Manchmal graut mir vor ihm.“
„Wird er sterben?“
„Er ist schon so oft gestorben,“ sagt sie und wischt über das Display des Smartphones.

 

„Es war Winter, oder was man heute so Winter nennt. Der Fluss war zugefroren. Aber Flüsse frieren in diesen Breiten nie ganz zu.“
Der Autor hat sich auf dem linken Doppelstumpf nieder gelassen und stützt seine Unterarme auf seine gespreizten Oberschenkel. Er schaut auf den mit feuchtem Laub bedeckten Boden. Seine Hände spielen selbstvergessen mit einem Stück Papier. Es sieht aus wie ein Bonbonpapier. Die Assistentin vermutet Eisbonbons. Er lutscht sie unentwegt, seit er nicht mehr raucht.
„Mein Bruder und ich haben gewettet, ob er es bis zum Seil schafft. Es war ein dummer Jungenstreich. Alfons hatte uns gewarnt, nicht auf das Eis zu gehen. Aber mit dreizehn ist man für diese Art von Warnungen nicht besonders empfänglich.“
„Er ist eingebrochen?“ erkundigt sich die junge Frau und verbirgt nur mühsam, wie gleichgültig ihr die Sache ist. Sie hat die Schultern hoch gezogen und fröstelt. Alle paar Augenblicke schaut sie auf ihre Uhr und sucht den Himmel über dem Wald ab.
„Nicht gleich. Er kam sogar bis zum Seil. Das Eis machte bedrohliche Geräusche, aber es hielt.“ Der Autor hebt einen Holzsplitter vom Boden auf, dreht ihn zwischen den zitternden Händen.
„Mein Bruder war stolz auf sich und seine Unerschrockenheit. Er lachte und hänselte mich, weil ich die Wette verloren hatte. Ich weiß nicht einmal mehr genau, worum es überhaupt ging. Auf einmal hatte ich ein verdammt ungutes Gefühl. Ich rief ihm zu, er solle zurück kommen. Aber das spornte ihn nur an. Er hielt das Seil lässig mit einer Hand und begann zu hüpfen. Beim dritten Mal brach das Eis. Er war zu überrascht, um sich richtig festhalten zu können. Es ging alles rasend schnell. Das gefrorene Seil glitt vor meinen Augen durch seine Hand und dann war er verschwunden. Der Fluss zog ihn erbarmungslos unter das Eis.“
„Das tut mir Leid,“ sagt sie und das klingt sogar echt.
„Lass uns ins Haus zurück gehen.“
„Collin ist dort oben bei ihr,“ sagt er emotionslos. Er wischt sich über die Augen.
„Ich habe um Hilfe geschrien und in meiner Panik war ich drauf und dran, selbst auf das Eis zu laufen. Aber glücklicherweise war ich dazu zu feige.“ Der Mann wirft den Holzsplitter fort. Eine kraftlose Bewegung.
„Sie haben ihn einen Tag lang gesucht, mit Booten und sogar aus der Luft. Der Fluss hat ihn fast dreihundert Meter weit mitgenommen.“ Die Stimme des Autors zittert, aber sie bricht nicht.
Er hebt plötzlich den Kopf. Das eisgraue Haar rahmt sein Gesicht ein. Er kneift die Augen zusammen und starrt hinüber zum anderen Ufer. Ein seltsame Veränderung geht mit ihm vor.
„Geh’ ins Haus. Jetzt!“ herrscht er die Assistentin an. Die wirkt sichtbar verstört und etwas wie Angst weicht ihre Maske an den Rändern auf. Ohne weiteres Wort geht sie mit eiligen Trippelschritten zurück zum Haus.

 

„Was macht er da unten?“ fragt Collin hinter sich. Er hat ein eng anliegendes Shirt übergestreift und steht breitbeinig mit vor der Brust verschränkten Armen am Panoramafenster.
„Er wird seine Schlacht schlagen,“ sagt die Frau wie beiläufig und hält dabei das Smartphone an ihre Schulter.
„Er wird was?“ entfährt es dem Mann. Er dreht sich in der Hüfte zum Tisch um.
„Jetzt tu’ nicht so, als wärst du das erste Mal hier! Hier: das ist der Schlüssel zu all seinen Büchern. Die Wiese, der Fluss, das gegenüberliegende Ufer im Morgengrauen... Bist du nicht auch mit dem Schnellboot hier gelandet?“
„Ja, aber das sah ganz anders aus.“

„Was denkst du denn, wie es für die Nordländer aussieht und für die Nachtalben?“ Ihre Stimme klingt heiser und sarkastisch.
„Für wen?“
Die Frau winkt nur ab und nimmt das Smartphone wieder ans Ohr.

 

Die Trommeln dringen dumpf und drohend vom anderen Ufer herüber. Der Angriff wird schon sehr bald beginnen. Der Autor geht den flachen Hügel hinauf in Richtung des Hauses. Im Gras liegen die Dinge, die er jetzt braucht: Das Schwert, der Helm und der Schild.
In den Waldrand ist Bewegung gekommen. Die Nordmänner sind auf die Lichtung vorgerückt. Hinter ihnen im Wald stehen die Bogenschützen bereit. Zur Linken bilden die Magier der Nachtalben einen Kreis. Die Runenstäbe funkeln. Mit dumpfem Hufschlag bricht ein Kolonne Faune aus dem Unterholz und besetzt die Lücke vor dem Haus. Die Krieger sind mit Lederharnischen angetan und tragen lange, gebogene Klingen in ihren Lederscheiden. Die Ohren spielen nervös zwischen den Hörnern. Heute sind auch sie an das Ufer des Flusses gerufen worden.
Der Autor sieht in der aufsteigenden Sonne die Banner der Stämme im leichten Wind wehen und sein Herz wird ihm leicht. Alle sind sie gekommen, alle! Dies wird nicht das Ende sein!

 

Die Frau erhebt sich aus dem Rollstuhl. Collin sieht sie mit einer Mischung aus Verblüffung und Entsetzen an. Sie schaut ihn lange an und ihr schmales Gesicht mit den harten Linien wird für Augenblicke weich und fast mütterlich. Dann fällt der Vorhang. Sie wendet sich zur Tür, durch die im selben Moment die Assistentin tritt. Ihr Gesicht ist gerötet und wirkt so fast schön. Sie ist etwas kurzatmig.
„Er ist so komisch,“ sagt sie unsicher.
„Komisch? Alles, aber komisch sicher nicht,“ sagt die Frau und geht an ihr vorbei.
„Wohin wollen Sie?“ erkundigt sich die Assistentin, der offenbar in ihrer Verblüffung nicht aufgefallen ist, dass die Frau ihren Rollstuhl verlassen hat.
„Ich gehöre an seine Seite.“ Die Tür fällt ins Schloss. Die Assistentin bleibt allein zurück.

 

Der Autor wendet sich zur Seite. Sein Weib, mit schwarzem Lederharnisch angetan und einen Langbogen in den Händen tritt aus dem Haus neben ihn. Ihre dunklen Augen scheinen zu glühen. Ihre Wangen sind von einem leichten roten Schimmer erhellt. Sie steht sehr aufrecht. Der Wind spielt mit ihrem von weißen Fäden durchzogenen schwarzen Haar.
Die beiden sehen sich an und nicken sich fast unmerklich zu. Der Autor zieht sein Schwert aus der Scheide. Das Signal ertönt.
Vom gegenüberliegenden Ufer lösen sich Flöße und Boote. Sie streben rasch auf das diesseitige Ufer zu. Hinter den Wehranlagen werden gewaltige Armbrüste mit bronzenen Bolzen geladen. Sie zischen im flachen Bogen über die eigenen Truppen hinweg. Die Grauen haben den Angriff begonnen.
Ein Schwarm von Pfeilen verdunkelt kurz darauf den Himmel über der Lichtung. Die Bogenschützen der Nordmänner versenden den fliegenden Tod. Auf der Mitte des Flusses stürzen massige graue Gestalten getroffen ins Wasser, das sich rot zu färben beginnt.
Ein Armbrustbolzen zerschlägt die große Panoramascheibe des Hauses am Waldrand und zertrümmert den Tisch im Wohnraum. Ein messerscharfer Holzsplitter reißt eine hässliche Wunde in das Gesicht der Assistentin, die mit schreckengeweiteten Augen dem grausigen Treiben dort draußen folgt. Sie hat ihr Smartphone in der Rechten, aber sie hat vergessen, dass sie damit nach Hilfe rufen wollte.
Die ersten Boote erreichen die Baumstümpfe am Ufer und eiserne Haken bohren sich in den feuchten Boden. Die Angreifer springen an Land. Es erhebt sich ein markerschütterndes Geschrei. Schwerter und Äxte blitzen in der Sonne. Die Schlacht beginnt.

 

Der Helikopter erreicht das Haus am Fluss und setzt zur Landung an. Letzte Nebelschwaden werden von den Rotoren vertrieben, als die Kufen auf der Wiese aufsetzen. Die Bäume des nahen Waldrandes beugen sich unter den Verwirbelungen. Die Seitentür wird aufgestoßen und der Redakteur schwingt seine Beine heraus. Gebückt läuft er unter den noch immer drehenden Rotoren in Richtung des Hauses. Wenige Schritte entfernt ist die Gestalt des Autors zu erkennen. Halb umgesunken sitzt er dort im feuchten Gras und rührt sich nicht.
„Ich hab’s geahnt, verdammt!“ keucht der junge Mann und lässt sich vor dem Alten auf die Knie fallen. Vorsichtig richtet er die zusammen gesunkene Gestalt auf. Das Gesicht ist aschfahl, die Lippen blassblau und die Augen in blauschwarzen Höhlen geschlossen. Die Hände zu Fäusten geballt. Es dauert eine Ewigkeit, bis die tastenden Finger des Redakteurs am Hals des Mannes einen sehr schwachen und unregelmäßigen Puls finden. Nicht, dass ihm das wirklich schon Grund zur Erleichterung wäre. Er hebt eine Hand in Richtung des Helikopters. Eine weitere Männergestalt taucht auf und rennt gebückt herzu.
„Kaum Puls!“ schreit der Redakteur gegen den ohrenbetäubenden Krach des Helikopters an. Sie richten zu zweit den massigen Körper des Autors auf und schleppen ihn zur Flugmaschine. Wenig später erhebt sich diese und schwebt rasch über den Fluss davon.

 

Mit flatternden Lidern schaut die völlig verängstigte Assistentin durch das Panoramafenster in den Himmel, auch noch, lange nachdem der Hubschrauber verschwunden ist. Sie betrachtet das Smartphone in ihrer Hand ungläubig. Eine braungebrannte Männerhand greift von hinten danach. Sie hebt das Gesicht mit der viel zu großen, bläulich getönten Brille. Sie kann im Gegenlicht nichts erkennen als eine großgewachsene Gestalt. Er reicht ihr die Hand.

„Wir müssen hier weg. Ich fürchte, es geht zu Ende.“ Sie nickt nur und erhebt sich.

Der Faun atmet schnell und flach. Noch immer rinnt Blut aus der hässlichen Wunde in seiner Brust. Die Nachtalbin hält seinen Kopf in ihrem Schoß und spricht leise und beschwichtigend auf den Sterbenden ein.
„Wir haben gesiegt?“ will er noch einmal wissen.
„Ja, wir haben gesiegt, vorerst,“ bestätigt sie flüsternd. Aber ER muss es schaffen, sonst war alles umsonst. Diesen Gedanken behält sie für sich.
In der Nacht stirbt der Faun im Buchenhain. Wenig später erwacht die Nachtalbin aus einem flachen Schlummer und kennt ihren Namen: Shihava.

 

München. In der Nacht zu gestern ist der bekannte Autor Johannes M. in einer Klinik in München an den Folgen eines Herzinfarktes verstorben. M. war in den letzten Jahrzehnten vor allem durch seine erfolgreichen Romane und Drehbücher bekannt geworden. Zu seinen wohl bekanntesten Werken gehörten die TV-Serie um den Privatdetektiv Collin Werner sowie seine Fantasy-Saga „Die Nordmark“.

 

In einer kleinen Stadt dreißig Kilometer jenseits von Nirgends sitzt ein Junge vor einem bläulich schimmernden Monitor und seine Augen hasten über die Zeilen eines Dokumentes. Ein irgendwie seliges Lächeln lässt sein Gesicht leuchten. Er hat die Geschichte endlich fertig: „Die Nachtalbin“.

Störfall - das Darmstadt-Szenario

Beitrag zum Wettbewerb Monat September 2014. Aufgabe war, die Geschichte mit einem bestimmten Satz zu beginnen: „Ich habe dir doch gesagt, dass das so nicht funktionieren wird“ 

 

Klappentext: 

"Ein Sonderkorrespondent auf Mondmission, mit dem Auftrag, das ramponierte Image der europäischen Mondbasis aufzupolieren, gerät unversehens in einen handfesten Störfall, der nicht nur die Mondstation zu erfassen scheint...

Diese Geschichte war Beitrag zum September-Wettbewerb 2014 der Anthologie-Gruppe bei Bookrix und belegte den 3. Platz"

 

I

„Ich habe dir doch gesagt, dass das so nicht funktionieren wird“, sagte Stephan, der Dispatcher über Funk nun schon zum dritten Mal. Ich hob verärgert die Augenbrauen.
„Was du nicht sagst. Was sollte ich deiner Meinung nach sonst machen?“ Keine Antwort. Wie auch, unsere Station sendete nicht mehr. Seit einer Stunde!
Im Kontrollraum sah es aus wie in einer Diskothek um die Jahrtausendwende und die Alarmsirene raubte mir noch immer den letzten Nerv. Ich hatte es aufgegeben, nach dem Schalter für das verdammte Ding zu suchen. Fast jede dieser verdammten Anzeigen war von Grün auf Rot umgesprungen. Der Zentralcomputer war ausgefallen und die Terminals zeigten entweder Blue-Screens oder waren völlig schwarz.

Ich war keine vier Stunden auf dem Mond, die Besatzung befand sich zu Wartungsarbeiten zwei Mondautostunden weit entfernt bei einer Relaisstation und schon fand ich mich in einem Super GAU wieder. Aber eigentlich hätte ich es wissen müssen. Ich zog solche Situationen geradezu magisch an.

 

II

Natürlich hatten es weder Commander Sullivan noch Bordingenieur Kruse für nötig gehalten, mich zumindest mit den wichtigsten Notfallfunktionen dieser verdammten Station vertraut zu machen. Wozu auch? Ich war nur ein Gast, ein lebender, atmender und ansonsten unnützer Fremdkörper in dieser Behausung. Niemand war unhöflich genug gewesen, mir das ins Gesicht zu sagen, aber ich war ja nicht blöd. Ich sah die Blicke, die sie sich zuwarfen, wenn sie sich unbeobachtet wähnten. Tatjana Kruse, von allen im Programm nur „Mondengel“ genannt, hatte ihren hübschen Kopf mit dem blonden Haar etwas schief gelegt, ihre Unterlippe spöttisch geschürzt und geflissentlich meine dargebotene Hand ignoriert. Sie hatte in den zwei Stunden, die nach meiner Ankunft vergangen waren, kein Wort mit mir gewechselt und sich ziemlich ungeniert mit Lars Bloomquist über mich unterhalten, als wäre ich nicht da. Nun, es gab ehrlich gestanden schlimmeres, als von einer blonden arroganten Pute ignoriert zu werden.

Mondschwere zum Beispiel. In den ersten Stunden war jede Bewegung innerhalb der Station ein reines Glücksspiel. Entfernungen waren nie so groß, wie man sie einschätzte, kein Ding hatte das Gewicht, das einem die Erderfahrung über Jahrzehnte beigebracht hatte. Ständig flog mir irgendetwas aus den Händen und prallte von den Wänden ab, bevor es zu Boden taumelte. Sullivan grinste mitleidig, hob auf, was immer mir entglitten war und warf es mir zu.
„Du gewöhnst dich dran“, sagte er.
Wir bewegten uns durch die Gänge und Räume der Station wie in Zeitlupe und mit sieben-Meilen-Stiefeln. Also, wenn ich wir sage, dann meine ich, die Anderen bewegten sich so, ich selbst fand mich immer mal wieder unter der Decke wieder oder schwebte an dem Schott vorbei, durch das ich eigentlich wollte.
Hinzu kam diese schreckliche Übelkeit. Natürlich hatte ich das Standardtraining für Mondaufenthalte absolviert, aber danach hatte man nur eine schwache Vorstellung davon, wie es einem auf dem Mond tatsächlich erging.
„Du wirst sehen, in spätestens einem Tag hast du dich eingelebt und die Kotzerei hört auf.“ Bordarzt Smirnow klopfte mir bei diesen Worten grinsend auf die Schulter und reichte mir ein paar neue Spucktüten.

 

III

Als es dann vor zwei Stunden los ging, verstand ich zunächst überhaupt nichts. Die Gesichter wurden ernst und konzentriert, die Bewegungen hektisch. Kruse lief mit Computerausrucken durch die Gänge und sprach ständig in ihr Headset. Bloomquist hockte wie Rumpelstilzchen vor einem Terminal und seine Hände flogen unablässig über eine seltsam geformte Tastatur. Wo immer ich mich aufhielt, ich war ständig irgendwem im Weg. Niemand sprach mit mir über das offensichtlich ernste Problem. Selbst Sullivan ließ mich einfach stehen, als ich ihn darauf ansprach. Die ganze Mannschaft hatte angefangen, sich in einer offensichtlichen Geheimsprache zu verständigen, die aus jeder Menge Akronyme, englischen Fachtermini und Insider-Slang-Ausdrücken zu bestehen schien. Ich zog mich schließlich in die Sektion mit den Unterkünften zurück.

Dort fand mich schließlich Sullivan. Er sah ernst und nervös aus und wirkte etwas abwesend. Er gab sich nicht sonderlich viel Mühe, mir vorzumachen, es sei alles in Ordnung.
„Wir müssen raus und rüber zur Relaisstation Alpha. Es ist dringend. Wenn wir diese Station verlieren, geht ein wichtiger Teil unserer Datenverbindung zur Erde flöten.“
„OK. Was soll ich machen?“, fragte ich mit einem mächtig heißen Stein im Magen. Was konnte ein Schreiberling wie ich schon für eine Relaisstation tun?
Sullivan sah mich entgeistert an. Dann verstand er. Er lächelte flüchtig und schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln. Der Mann sah auf einmal müde und besorgt aus.
„Sie? Nichts. Sie bleiben hier und halten die Stellung. Fassen Sie nach Möglichkeit nichts weiter an. Sobald wir die Station erreicht haben, melden wir uns per Funk. Tragen Sie also Ihr Headset immer auf Standby.“
„Sie lassen mich hier allein zurück?“ Ich konnte den Gedanken kaum fassen. Meine Nackenhaare stellten sich auf, und meine Arme wurden von einer Gänsehaut heimgesucht.
„Keine Sorge. Sie sind hier absolut sicher. Wenn etwas ist, Sie erreichen den Dispatcher des Kontrollzentrums auf Kanal drei.“ Er wies auf das Display meines COM und war auch schon durchs Schott verschwunden. Durch die Panoramafenster der Zentrale sah ich den seltsamen Mondfahrzeugen hinterher, wie sie sich schnell von der Station in Richtung der gezackten Erhebungen am Horizont entfernten. Im Hintergrund hörte ich die Stimmen der vier durch den Bordfunk. Sie wurden von Minute zu Minute leiser und waren bald ganz verstummt.

Ich streunte ziellos durch die Gänge und Räume der Station; langsam begann sich mein Gleichgewichtssinn an die Mondbedingungen anzupassen. Ich wusste nicht, wonach ich eigentlich Ausschau hielt, die wichtigsten Segmente der Station waren für mich ohnehin gesperrt. Also kehrte ich in die Zentrale zurück.

Das Panorama der Mondoberfläche war von grandioser Langeweile. Gelbgrauer Staub, wohin das Auge reichte. Hatte man die erste Euphorie hinter sich - Yeah, ich bin auf dem Mond! – verlor der trostlose Anblick schnell seinen Reiz. Man machte sich ja nicht ständig klar, dass dort draußen die lebensfeindlichsten Bedingungen herrschten, die denkbar waren: In der Sonne extremste Hitze, im Schlagschatten gleich daneben Temperaturen in der Nähe des absoluten Nullpunktes. Keine messbare Atmosphäre. Sprung im Helm: aus die Maus. Visier verklemmt: Augen raus gebrannt. Wir Menschen hatten hier definitiv nichts zu suchen, aber so sind wir Menschen nun einmal. Die Erde kann ein Lied davon singen…

Die Erde. An diesen Anblick gewöhnte man sich allerdings nie. Wenn sie dort über dem Horizont aufgeht, das ist Gänsehaut pur. Man erlebt einen Moment völliger Irrationalität. Wir sind Erdenwesen. Schwer zu realisieren, dass man seinem Ursprung so weit entfernt ist! Ich hatte jedenfalls Tränen in den Augen.

Die anderen in der Station hatten indes andere Probleme.

 

IV

Nun saß ich also hier allein vor einem Terminal, von dem Sullivan mir gesagt hatte, es wäre für allgemeine Zugriffe auf die Server und das Internet gedacht und ich könnte es bedenkenlos benutzen. Also loggte ich mich auf meinen Account bei der Raumfahrtbehörde ein und checkte meine Mails. Einen anderen Account durften wir aus Sicherheitsgründen nicht benutzen. Es war sehr angenehm, mal keine Spam-Nachrichten durchforsten zu müssen. Mein Redakteur gab mir zum gefühlt hundertsten Mal letzte Hinweise für meinen Bericht. Ich unterdrückte ein Gähnen und schloss den Mailclient. Auf der Nachrichtenseite reihten sich brutale Bilder von Kriegen und Katastrophen an einander. Dazwischen langweilige, abziehbildartige Gesichter von hilflos bedeutend aussehenden Politikern. Konferenzen, die ergebnislos verliefen, Feuerpausen, die nur genutzt wurden, Munition nach zu ordern, geliefert von denselben Firmen an alle Parteien. Die Geschichte wiederholte sich zum wer weiß wievielten Male. Mir war schlecht, diesmal nicht von der fehlenden Schwere. Ich hob den Blick hinaus zur Halbkugel in Weiß und Blau, die über dem gezackten Horizont des Mondes im Nichts schwamm. Ach, was taten wir ihr und uns noch alles an?

Ich schüttelte die unfrohen Gedanken ab und widmete mich meinen Notizen, die ich in meinem Tablet gespeichert hatte. Viel Zählbares hatte ich noch nicht bekommen. Die etwas abweisende Haltung der Besatzung machte es einem Berichterstatter auch nicht leicht.

 

V

Dabei war ich doch vor allem ihretwegen hier her geschickt worden. Die Raumfahrtbehörde war besorgt wegen der sinkenden Zustimmung unter der Bevölkerung der Mitgliedsländer. Es gab sogar Stimmen im EU-Parlament, die offen über die Senkung der Zuschüsse zu diesem, wie viele meinten, reinen europäischen Prestige-Projekt nachdachten. So war die ESA zu dem Schluss gekommen, es wäre an der Zeit, das Image der Mondstation etwas aufzupolieren. Dabei war man sich von Beginn an einig gewesen, dass eine teure Hochglanzkampagne eher das Gegenteil bewirken hätte. So setzte man auf möglichst authentische Berichterstattung in den Medien. Ich gehörte zu einer kleinen Gruppe von Journalisten, die man eingeladen hatte, sich die unterschiedlichen Einrichtungen der ESA von innen anzusehen. Ich hatte in einer internen Ausschreibung diesen Platz auf der Mondstation ergattert, wohl, weil ich nach der Papierform fit und technisch bewandert genug erschienen war. Nach den zwei Monaten Training hatte ich persönlich allerdings so meine Zweifel daran bekommen, sie aber tunlichst für mich behalten.

 

VI

Die Probleme machten sich zu Anfang nur schleichend bemerkbar. Der Bildschirm des „allgemeinen“ Terminals fror plötzlich einfach ein. Keine Tasteneingabe, kein Klick konnten ihn wieder zum Leben erwecken. Ich versuchte das Terminal neu zu starten, aber natürlich fanden sich an der schmalen Konsole weder ein Reset- noch ein Einschaltknopf. Ärgerlich sah ich mich in der Zentrale um, ob ich der Ursache für diese Panne auf die Spur kommen könnte. Und dann sah ich, dass auch die anderen Terminals seltsam aussahen: Blue Screens bedeckt mit kryptischen Fehlerausschriften, Bildschirmschoner, die mitten in der Bewegung erstarrt schienen.

Mir brach der Schweiß aus und meine Hände begannen leicht zu zittern. Ich war mir zwar keiner Schuld und auch keiner leichtfertigen Handlung am Terminal bewusst, aber da ich weit und breit der Einzige hier war, blieb nur ich als Auslöser dieses Problems übrig. Mein Mund wurde trocken. Ich erinnerte mich der Instruktionen während des Trainings für den fall von technischen Pannen.
Zuerst: RUHE BEWAHREN!

Womöglich war die Störung völlig harmlos und einfach zu beheben. Diese Station war auf alle Eventualitäten eingerichtet und die meisten Systeme wurden doppelt und dreifach redundant gefahren. Außerdem gab es die Dispatcher in Darmstadt, die bei solchen Problemen mit Rat und Tat zur Seite standen. Ich schaltete meinen COM auf die allgemeine Frequenz: Jetzt waren die Crewmitglieder und auch Darmstadt mit mir direkt verbunden.

„Kommandozentrale für Mondstation, bitte kommen.“
„Max, was kann ich für dich tun? Langeweile?“
Obwohl die Stimme etwas verrauscht klang, erkannte ich sie fast sofort.
„Stephan, bist du das? Na das ist ja ein Glück, dass ich dich am Rohr habe.“ Ich hatte Stephan Möller-Nutzgau während des Trainings in Darmstadt kennen gelernt und wir hatten uns ein wenig angefreundet. Ich begann mich zu entspannen.

„Sag mal, habt ihr da unten noch Zugriff auf unsere Application Server? Ich habe eben noch meine Notizen eingepflegt und plötzlich geht am Terminal nichts mehr. Bei den anderen sieht es, soweit wie ich das beurteilen kann, auch nicht viel besser aus.“

„Was hast du denn angestellt?“, kam die Frage und selbst über die Entfernung konnte ich das Feixen hören. Was war anderes zu erwarten, wenn man einen Schreiberling auf den Mond schoss? Ich verdrehte die Augen.
„Was ist, hast du Zugriff, oder nicht?“

„Warte Mal, du hast Recht, da ist was komisch...“ Dieser Satz hatte keine Spur Heiterkeit mehr im Gepäck. Das Rauschen aus dem Headset verstärkte sich kurzzeitig und ich bekam nur noch Satzfetzen mit.
„Darmstadt, bitte kommen. Bitte wiederholen Sie!“ Meine wieder aufkeimende Panik ließ mich förmlich werden. Außerdem hatte ich das Gefühl, meine Stimme wäre höher geworden.

Nervös sah ich über den Rand des Monitors vor mir und da fielen mir plötzlich seltsame Lichter an den Schaltschränken neben dem Panoramafenster auf. Ganze Reihen von ihnen waren vom beruhigenden stetig blinzelnden Grün zu einem unangenehm pulsierenden Gelb gewechselt. Offenbar wurden so nach und nach weitere Baugruppen hier von diesem fortschreitenden Kontaktverlust heimgesucht. Ich hörte eine tiefes Brummen, von dem ich glaubte, es wäre erst in den letzten Minuten spürbar geworden. Irgendwo unter der Zentrale liefen Servomotoren auf Volllast.

„Sullivan. Commander Sullivan für Kontrollraum, bitte kommen. Können Sie mich hören?“ Ich presste das winzige Mikroärmchen des Headsets an meine Lippen und eine Hand Flach auf den Hörer an meinem Ohr. Knisternde Stille. Ein Sirren durchlief schnell und schleifend alle Oktaven vom tiefen Brummen hinauf zum Sturmgeheul. Es gab hier keine Atmosphäre, also auch keine atmosphärischen Störungen. Ich sah ratlos auf die Frequenzanzeige meines COM. Ich war richtig. Ich klopfte ein paarmal auf den flachen Kasten an meinem Gürtel, obwohl ich wusste, dass dies nichts bringen würde. In diesen Apparaten gab es kein einziges bewegtes Teil.

„...ax Cornelius, hörst du mich?“, kam es endlich verrauscht und abgehackt aus dem COM. Ich hob meine Rechte, als wollte ich eine imaginäre Menschenmenge zum Schweigen bringen.
„Ja, Stephan, ich höre dich. Verrauscht und abgehackt. Was ist los? Bei mir hier fangen die Geräte an, verrückt zu spielen. Ich bekomme immer mehr gelbe Anzeigen an den Schaltschränken vor mir. Erbitte Anweisungen.“
Stille. Wieder das seltsame Sturmgeräusch.
„Kruse für Cornelsen, kommen! Hallo, Basis, bitte kommen!“ Kruses Stimme kreischte in meinem Kopf, dass ich mir instinktiv das Headset vom Ohr riss.
„Ja, Frau Kruse, ich höre sie laut und deutlich. Haben Sie eine Vorstellung, was hier passiert?“
„Wie soll ich das von hier aus beurteilen können, Sie Vollpfosten? Was haben Sie mit meiner Station angestellt?“
„Ach, das ist jetzt Ihre Station!?“ Mir schwoll innerlich der Kamm, Panik hin oder her.
„Das wird meine Leser und Zuschauer sehr interessieren, dass die vielen Steuergelder für ihr persönliches ...“

„Wenn es nach mir ginge, wäre Sie nie hier rauf gekommen! Kümmern Sie sich...“
„Ruhe, alle beide. Sofort!“ Das war die befehlsgewohnte Stimme des Commanders. Ich atmete auf.
„Cornelius, Sie werden sich erst einmal beruhigen. Die Situation ist vielleicht kritisch, aber es besteht keine unmittelbare Gefahr für sie und die Station.“
„Woher wollen Sie das...“
„Halten Sie den Mund. Konzentrieren Sie sich! Schildern Sie so präzise wie möglich, was passiert ist und welche Veränderungen Sie bemerkt haben. Die Anzeigen an den Schaltkästen haben Bezeichnungen. Je genauer Sie Kruse schildern, was Sie sehen, umso genauer können wir die Lage analysieren.“

„Ach, das ist doch...“, hörte ich Kruses etwas keifende Stimme wie aus dem Hintergrund. Wie ging das, wenn sie eine Headset trug?
„Tatjana, es reicht! Wir sind hier nicht im Kindergarten, verdammt!“

Das Sirren im Headset schwoll wieder an und der Äthersturm fegte förmlich durch meinen Kopf. Wieder riss ich das Headset herunter. Meine Panik schlug links und rechts von mir mannshohe Wellen und ich saß keuchend auf der Kante des Sessels vor dem Terminal und sah mich gehetzt um. Mein Atem ging heftig und ich merkte plötzlich, dass ich den Mund etwas offen hatte. Ein Speichelfaden tropfte auf meine Hand.

Das Headset brabbelte etwas in meiner Hand und ich setzte es wieder auf.
„Die Verbindung ist zur Zeit unterbrochen. Wenden Sie sich an den zuständigen Dispatcher unter COM Frequenz...“ Eine Automatenstimme!
„Kommandozentrale! Darmstadt, bitte kommen! Hier ist die Mondstation! Wir haben eine Störung, die sich immer weiter ausbreitet. Mein Name ist Max Cornelius, ich bin Sonderkorrespondent und allein in der Station. Die Stammbesatzung befindet auf Inspektionsfahrt bei der Relaisstation und soeben ist die Verbindung zu ihr abgebrochen.“

„Die Verbindung ist zur Zeit unterbrochen. Wenden Sie sich an...“
„Stephan, verdammt. KOMMEN!“ Mein Brüllen hallte durch den ganzen Raum.
„Was brüllst du so, ich bin doch da. Keine Panik, Mann!“
Seine Stimme klang so deutlich, dass ich mich unwillkürlich umsah, ob er vielleicht hinter mir stünde.
„Du hast gut reden! Ich habe die Verbindung zu Sullivan und dem Rest der Crew verloren, vor mir blinken die Anzeigen wie ein Christbaum und im Keller laufen sich irgendwelche Maschinen heiß.“

„Warte, warte, warte...“, rief Möller-Nutzgau hastig, „Was sagst du da? Es gibt keinen Keller unter der Station! Es gibt da auch keine Maschinen. Ist alles in Ordnung mit dir?“

Ich starrte wie gebannt auf meine Hände und auf den graugrünen Bodenbelag zwischen meinen Beinen. Ich spürte deutlich dieses Beben. Ich ließ mich auf die Knie nieder und legte die Hände flach auf den Boden.
„Stephan, ich bin doch nicht verrückt! Ich spüre es ganz deutlich.“ Ich konnte fast nur noch flüstern. Schweißtropfen fielen vor mir auf den Belag und hinterließen kleine dunkle Sprenkel.

„Hör zu, Max. Wir kriegen das hin.“ Ich hörte deutlich, wie sich der Mann am anderen Ende dazu zwang, ruhig und besonnen zu wirken. Es wirkte, denn ich spürte eine gewisse Entspannung in mir aufkeimen.
„Max. Ich möchte, dass du jetzt in dein Quartier gehst und deinen Raumanzug anlegst.“
„Ich soll was?! Warum? Was passiert hier?“ Wie eine Stichflamme loderte die Angst vor mir hoch und fraß jegliche Zuversicht wie ein Papiertaschentuch.
„Max, vertrau mir. Mach, was ich dir sage. Zieh den verdammten Anzug an!“

Ich stürmte aus der Zentrale, stieß mir an der Deckenverstrebung des Ganges draußen heftig die Schulter, gelangte auf den Boden zurück und erreichte meine Kabine. Der Anzug hing in einem Gestell an der Rückwand des kleinen Raumes. Eigentlich zog man das Ungetüm nicht an, man bestieg es. Ich hatte das im Training unzählige Male tun müssen und gelangte auch in diesem Moment problemlos hinein. Mein COM verband sich sofort mit dem Anzug und die Anzeigen vor mir erwachten zum Leben.
„OK, Mondmann, ich habe ein Signal von deinem Anzug, das ist sehr gut. Deine Vitalwerte sind ganz in Ordnung, soweit ich das sehen kann. Etwas Sauerstoffschuld, aber das ist nicht weiter gefährlich.“
„Willst du mir sagen, dass die Sauerstoffzufuhr der Station langsam den Geist aufgibt? Raus mit der Sprache, Stephan!“
„Ich weiß es nicht, Max. Unsere Leute arbeiten mit Hochdruck dran, die Verbindung wieder her zu stellen, aber die Relaisstation drüben..., na du weißt schon. Sullivan und Kruse kriegen das schon wieder hin.“
„Kann ich denn irgend etwas tun? Vielleicht hilft es, wenn ich einfach den Hauptserver neu starte?“
„Das wird nicht funktionieren.“
„Woher weißt du das? Woher, verdammt, weißt du das?“
„Alle Fachleute sind der Meinung, dass ein Neustart nicht funktionieren würde, weil...“
„Wissen sie es, oder sind sie nur der Meinung? Ist das schon jemals gemacht worden?“
Plötzlich wurde ich ganz ruhig. Ich wusste die Antwort, bevor Stephan etwas kleinlaut zugab: „Nein.“
„Wo ist das Terminal zu diesem Server? In dem nicht existierenden Keller?“
„Max, du hat keine Berechtigung für diesen Neustart. Es hat keinen Sinn. Wir müssen auf die Crew warten...“

Die Sirene im Kontrollraum heulte los.

„Hörst du das, Stephan? Ich habe vermutlich keine Zeit, um auf Sullivan und die anderen zu warten! Du musst mir sagen, wie ich an den Server komme und du musst mir den Zugang geben!“
„Das darf ich nicht, Max!“ Stephans Stimme klang eisig.

„Wollt Ihr die Station verlieren und mich dazu? Was wird aus der Crew, wenn das hier nur noch ein Haufen teurer Schrott ist?“ Ich war kurz davor, etwas zu zertrümmern, aber in meinem Quartier gab es nichts, was sich gelohnt hätte. Ich kehrte in den Kontrollraum zurück. Die rot blinkenden Lichter zuckten wie Stroposkope und vier oder fünf Tafeln signalisierten, was nicht zu überhören war: Alarm!

„Max, hier ist Ralph Feldmann von der ESA. Bitte hören Sie mir zu.“ Die Stimme des Mannes im COM klang bemüht verbindlich, aber an den Seiten blitzten die Zähne seiner eigenen Panik hervor.
„Guten Tag, Herr Feldmann. Es ist gerade ganz schlecht, wissen Sie. Ich bin auf dem Mond und die Station hier um mich herum scheint gerade auseinander zu fallen. Wenn Sie mich jetzt bitte mit jemandem verbinden würden, der mir sagen kann, wie ich an den Hauptserver heran komme, wäre ich Ihnen sehr verbunden.“
„Herr Cornblum, bitte...“
„Cornelius, du Büroarsch! Mein Name ist Cornelius! Gib mir den Möller, sofort!“ Meine Speichelspritzer benetzten inzwischen das Display meines Raumanzuges.

‚Verdammt!’, durchzuckte es mich, ‚ich habe den Helm vergessen!’

Ich hastete zurück in mein Quartier. Der Anzug hatte einen großen Vorteil, er war höllisch schwer für irdische Verhältnisse, aber hier auf dem Mond bewirkte er, dass man sich etwas sicherer bewegen konnte. Den Helm in der Linken kehrte ich in den Kontrollraum zurück.
„Max, hörst du mich?“ Auf einmal tat es gut, seine Stimme zu hören.
„Setz’ deinen Helm auf und schalte die Kamera ein. Unsere Leute wollen sich ein Bild machen.“
„Mit der Helmkamera? Hier sind in jedem Raum vier Kameras!“

„Wir kriegen keine Verbindung. Der Server antwortet nicht.“ Ich hob die Arme etwas theatralisch zur Decke, setzte mir den Helm auf. Zischend nahm das Lebenserhaltungssystem seine Arbeit auf. Ich schaltete die Helmkamera ein und stellte mich in die Mitte des Kontrollraumes. Langsam drehte ich mich über das komplette Panorama des lang gezogenen Raumes. Dann trat ich vor die Schalttafeln, über denen die roten „Alarm“-Schilder zuckten.
„Seht ihr da unten alles gut?“, erkundigte ich mich. Mein Atem erzeugte kleine blinde Stellen auf der Helmwölbung vor mir.
„Es ist OK, Max. Die Spezialisten meinen, sie hätten genug gesehen. Du kannst den Helm wieder abnehmen. Das spart Sauerstoff und Energie.“ Eine solche Bemerkung, unbedacht dahin gesagt, kann eine Lawine von schlimmsten Befürchtungen los treten, wenn man in einer so unübersichtlichen Lage war, wie ich in diesem Moment.
„OK, ihr Komiker. Es ist langsam genug. Ich will jetzt sofort wissen, was hier oben abläuft und wie meine Chancen und die der Crew dort drüben in der Relaisstation sind.“
Ich holte tief Luft.
„Und ich will endlich wissen, wo der Zugang zu diesem Zentralserver ist und wie ich den neu starten kann. JETZT!“

 

VII

Die folgenden Minuten liefe ab, wie in einem Alptraum. Alle Bewegungen schienen sich in Zeitlupe endlos zu dehnen, die Stimmen im COM wurden zu röhrenden, unverständlichen Walgesängen. Ich hörte meinen Herzschlag als Einziges in einem Irrsinnstempo galoppieren.
Mein Freund Stephan hatte mir nicht nur den Zugangscode zum Serverraum sondern auch das root-Passwort für den Mainserver verraten. Offenbar war er der Meinung, dass es dadurch nicht schlimmer werden könnte, als es nach Darmstädter Ansicht ohnehin schon war.
Ich schwamm mehr als ich dass ich durch die Gänge stürmte, trotz des Raumanzuges. Nachdem ich den Autorisierungscode an mein COM übergeben hatte, schien es, als würde mir auf meinem Weg ein „Sesam öffne dich“ voraus eilen.
Es ging über ein hallendes, spärlich beleuchtetes Treppenhaus abwärts. Mein Headset schwieg mit einem Schlag. Offenbar war dieser Bereich der Station gut abgeschirmt. Wenn nur das ständige Flackern der Alarmlampen nicht gewesen wäre. Im Fünf-Sekunden-Takt tauchten sie die Umgebung in blutrotes Licht, das mich schier zur Raserei brachte.

Dann endlich stand ich vor der Tür des Serverraums. Das Vibrieren dahinter teilte sich deutlich durch den Fußboden mit. Ich gab den Code per COM-Befehl an das Türeingabefeld weiter. Die Lichter auf dem Display wechselten kurz auf Grün, wurden dann wieder rot.
Ich versuchte es direkt am Eingabefeld, aber die Fingerkuppen der Handschuhe waren viel zu groß und so kam nicht viel Sinnvolles dabei heraus.

Je länger ich vor dieser Tür stand, um so mehr stieg in mir dieses furchtbare Gefühl der Verzweiflung empor. Tränen rannen mir über das Gesicht, ich hörte mein Herz hämmern und ein trockenes Schluchzen zerriss mir die Kehle. Ich trommelte und trat gegen die Tür, die sich davon gänzlich unbeeindruckt zeigte.

Ich gab auf. Mit fliegendem Puls und hängenden Armen stand ich dort in dem Gang, umtost vom Sturm der Alarmsirene, im Gewitter der Lampen und umarmt von meiner eigenen Angst. Wäre es nicht so umständlich gewesen, ich hätte mich dort einfach an der Wand herabgleiten lassen, das Gesicht auf die Arme gelegt und hätte bitterlich geweint. Aber der verdammte Raumanzug verhinderte es.

Zu dem dröhnenden Vibrieren hinter der Tür zum Serverraum kam ein neues Geräusch. Beginnend bei den eher fühlbaren Frequenzen der Vibrationen stieg es rasch an zu einem gellenden Pfeifen. Ich hielt mir die Ohren zu und sah voller Angst und Vorahnungen zur Tür hin. Gerade, als das Pfeifen die Grenzen des Hörbaren und Erträglichen erreicht zu haben schien, endete es in einem lauten berstenden Knall, den ich selbst noch als mächtigen Druck auf der Brust registrierte.

Etwas war zerbrochen. Die sich bis dahin nur elektronisch äußernde Katastrophe hatte angefangen, sich physisch zu manifestieren. Ich folgte meinem blinden Fluchtinstinkt. So gelangte ich zurück in den Kontrollraum.
„...lius, bitte kommen! Max, wo steckst du?“ Das COM reagierte wieder und Stephan klang mehr als besorgt.
„Der Zugangscode zum Serverraum ist falsch. Da drin ist eben etwas hoch gegangen. Ich vermute, es war etwas im Kühlsystem. Dieser Server hat so etwas bestimmt, oder? Ach, entschuldige, es gibt ja keinen Keller hier und keine Maschinen, die kaputt gehen können. Ist doch so, oder?“ Ich brüllte in das kleine Mikro, was meine Lungen her gaben.

 

VIII

„Ich habe dir doch gesagt, dass das so nicht funktionieren wird“, sagt Stephan, der Dispatcher über Funk nun schon zum dritten Mal. Ich hebe verärgert die Augenbrauen.
„Was du nicht sagst. Was sollte ich deiner Meinung nach sonst machen?“ Keine Antwort. Wie auch, unsere Station sendet nicht mehr. Seit einer Stunde!

Ich stehe vor dem Panoramafenster und schaue hinaus auf die Erde, die über dem Horizont steht. Meine Tränen sind versiegt.
Die Luft im Kommandoraum ist heiß und stickig. Offenbar ist die Klimaanlage auf betroffen.
Was soll’s. Ersticken, gekocht werden, läuft doch alles auf dasselbe raus.

Was war das? Ein Aufblitzen am nördlichen Rand der Erdkugel. Alaska oder Nordkanada vermutlich. Meine Augen starren ungläubig. Ich vergesse zu blinzeln. Wieder schaltet mein überlastetes Hirn auf Slowmotion. Ein weißgraues Gebilde wächst dort, wo es soeben noch geblitzt hat, auf der Oberfläche des Planeten, breitet sich aus.

„Oh, mein Gott“, flüstern trockene, aufgesprungene Lippen.
Ich nehme den Helm vom Tisch und gehe zur Schleuse. Es gibt hier nichts mehr zu tun für mich. Für niemanden mehr.
Die Luft im Anzug ist um Klassen besser als zuletzt in der Station. Wenigstens funktioniert die Schleusensteuerung noch. Die Prozedur dauert so lang wie der Song „Money for nothing“ von den Dire Straits. Ich trete hinaus auf den Mond. Es läuft sich ganz angenehm.
Da kommt eine Gestalt auf mich zu, direkt aus der Erde. Die Perspektive zerbröselt in Sekunden zu einer billigen Videoprojektion. Ich greife nach der Entriegelung des Helmvisiers, darauf gefasst, in den nächsten Sekunden zu zerplatzen wie eine überreife Melone. Aber mein müdes, fast zerkochtes Unterbewusstsein weiß es schon: Es war alles ein Fake!

 

IX

Da sitzen sie alle: Steward Sullivan und seine Crew, Stephan Möller-Nutzgau und ein älterer Mann mit eisgrauem Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden ist. Alle sehen mich mit Gesichtern an, die vorsichtige Erwartung ausdrücken. Was erwarten die von mir?

„Guten Tag, Herr Cor...“ Ich heb warnend die Rechte, „...nelius. Ich hoffe, sie haben sich ein wenig erholen können von den, nun sagen wir mal, etwas unerwarteten Anstrengungen der letzten Stunden.“
Das ist Ralph Feldmann. Ich erkenne seine Stimme wieder. Der Büroarsch. Ich kreuze meine Arme vor meiner Brust und spreize die Beine unter dem Tisch von mir. Abwehrhaltung, wenn man je eine gesehen hat.

„Wir mussten das tun, Max. Es gehört zum Training dazu.“ Tatjana Kruse sieht mich mit blaugrauen Augen an und lächelt zwischen mitfühlend und entschuldigend.
„Vollpfosten, hm?“, sage ich und grinse.
„Aber war es wirklich nötig, die Erde dafür in die Luft zu sprengen? Ich hatte eine Scheißangst.“ Ich schlage die Hände für einen Moment vors Gesicht und muss mich sammeln. Dann schaue ich die ganze Bande mit einem tränenschwangeren Lächeln an.
‚Die habe ich immer noch’, denke ich im Stillen. Und wir reden über die bevorstehende Mission.

Das Meeting

Diese Geschichte war Beitrag zum Wettbewerb im Monat August 2015. Aufgabe war, einen Satz aus einem beliebigen Buch von Seite 111 zu nehmen und um diesen eine Geschichte zu entwickeln. Mein Zitat stammt aus:

 

Vielleicht, wahrscheinlich tut er es, um sein Gewissen zu beruhigen

Lion Feuchtwanger „Der Tag wird kommen“ (Band III der Josephus Trilogie)
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 2. Ausgabe 1974 S. 111

 

Klappentext des Originals:
"Zwölf junge Menschen sind zu einem Meeting in einen von der Sonne aufgeheizten Konferenzraum gerufen worden. Keiner weiß, worum es genau geht, Gerüchte machen die Runde, denn ein neuer Manager wird das Meeting leiten. Wird es schmerzhafte Veränderungen in der Firma geben? Die Unsicherheit treibt seltsame Blüten in dem Raum..."

 

 

Die Sonne brannte erbarmungslos auf sie nieder. Hier oben über der Dunstglocke, die weiter unten über der Stadt lag, konnte sie ihre ganze Kraft entfalten. Die Panoramafenster, die diese grandiose Aussicht über die Stadt und den Fluss freigaben, hielten die UV-Strahlung draußen, aber die Wärme nicht. Die hellgraue Platte des großen ovalen Konferenztisches reflektierte sie fast verlustfrei.

Sie waren ihrer ein Dutzend, nicht ganz mittleres Management, aber auf dem Weg dorthin. Ansonsten wäre der Raum klimatisiert gewesen und die Scheiben der Fenster auch thermoisoliert. So war das mit Karrieren: es gab Stufen, bei denen man nur über dem Dunst ankam, um besser gegrillt werden zu können.

Man hätte sie mit etwas Fantasie alle als Absolventen ein und desselben Masterstudiengangs einer Wirtschaftshochschule halten können; jung, dynamisch und hip. Auf den ersten Blick hatten sie alle etwas Stromlinienförmiges und selbst die Hipster-Attitüde, die Johannes und Mike zur Schau trugen, hatte etwas seltsam Steriles.

Man musste schon genauer hinsehen um zu erkennen, dass hier zwölf höchst individuelle und hoffnungsvolle Menschen Anfang dreißig versammelt waren.

Allen voran das Schlachtross der Sales-Abteilung: Bernhard Schilling. Wollte man seinen eigenen Worten Glauben schenken, so hatte er mit seinen zweiunddreißig Jahren schon so ziemlich alles in seinem Leben verkauft von Autos bis Zinkschürfrechte in Peru, wie er launig zum Besten zu geben pflegte. Er hatte noch immer einen deftigen Wiener Dialekt obwohl er schon seit zwölf Jahren die Hauptstadt unsicher machte. Wo Bernhard Schilling auftauchte, begann sich der Raum sofort um ihn zu drehen. Man nahm ihm das freilich nicht übel, denn er war ein amüsanter Unterhalter, was allerdings darüber hinweg täuschte, dass er, wenn es um Abschlüsse ging, keine Skrupel und keine Gnade kannte. Er badete sozusagen in dem etwas anrüchigen Schmuddelimage, das die Sales-Leute gemeinhin in der Firma genossen. Er für sein Teil erklärte gern und oft genug ungefragt, dass sein Gewissen sozusagen noch in Folie eingeschweißt bei sich zu Hause in einer Schublade läge, ohne jegliche Gebrauchsspuren.

Heute allerdings war selbst Bernhard auffällig ruhig und in sich gekehrt. Er starrte mit einer steilen Falte über der Nasenwurzel konzentriert auf das Display seines Laptops.

Überhaupt schienen alle überaus beschäftigt. Es lag eine fast spürbare Spannung im Raum und machte die Hitze noch unerträglicher.

Sonja sah auf und ihr Blick umrundete den Tisch. Um ihren hübschen Mund spielte ein amüsiertes Lächeln. Was für eine skurrile Versammlung, dachte sie bei sich. Sonja war das Enfant Terrible unter den Zwölf. Ein scharfer, unangepasster Verstand war durch eine rachsüchtige Laune der Natur in den überaus attraktiven Kopf dieser jungen Frau geraten. Seit den turbulenten Tagen des Abiturs hatte sie sich gegen die Vorurteile zur Wehr setzen müssen, dass allein ihr Aussehen der Schlüssel zu ihren Erfolgen sein könnte. Im Studium eilte ihr der Ruf voraus, sie erschlafe sich ihre Scheine bei ihren Hochschullehrern und im vierten Semester hatte sie aufgehört, sich über diese Gerüchte zu ärgern.

Die Suche nach einem Job hatte sich danach lange Zeit als ein entwürdigender Spießrutenlauf erwiesen. Mehr als nur einmal war sie Personalchefs begegnet, die ihr mit ziemlicher Deutlichkeit hatten klar machen wollen, was von ihr neben ihren Fähigkeiten noch erwartet wurde.

Schließlich aber hatte sie Rüdiger überzeugen können, dass sie nicht wegen ihrer Körbchengröße die Richtige für den Job in der Marketingabteilung wäre. Es gab von da an auch hier Gerüchte, was Rüdiger und sie anging. Sonja hatte sie nicht versucht zu entkräften. Das bescherte ihr eine Menge Neiderinnen im Großraumbüro, einen gewissen Nimbus der Unantastbarkeit und Narrenfreiheit. Ein paar Dinge davon genoss Sonja tatsächlich. Rüdiger, auf das Alles angesprochen, hatte nur die Schultern gezuckt und gegrinst.

Sonjas Blick traf den von Marie. Deren Gesicht änderte schlagartig seine Farbe und beide Frauen schlugen die Augen nieder. Für eine Frau wie Marie war das Wort unscheinbar erfunden worden. Dabei war sie eine fleißige und geradezu fanatisch gewissenhafte Mitarbeiterin, auf deren Schultern immer wieder die ungeliebtesten Aufgaben abgeladen wurden. Sie schulterte sie klaglos. Die Anerkennung strichen für gewöhnlich andere ein.

Marie war unsterblich in Sonja verliebt und seit der Feier vom letzten Jahr wusste die Angebetete auch davon. Zwischen mildem Entsetzen und Mitleid hin und her gerissen, versuchte Sonja seither alles, Marie aus dem Weg zu gehen. Jetzt saßen sie zusammen in dem von Sonnenlicht gleißenden Raum und waren dazu verdammt, sich auszuhalten.

„Das macht er mit Absicht“, konstatierte Frederic mit nasaler Stimme. Für ihn wurde vermutlich das Gerücht lanciert, dass Schwule die kreativeren Männer wären. Frederic war in der Designabteilung die unumstrittene Numero uno, wie er selbst gern zu sagen pflegte. Was im seltsamen Gegensatz zu seinem kreativen Wesen stand, war sein fast preußisch zu nennender Hang zur Pünktlichkeit. Er sah also mit strengem Gesicht auf seine Uhr – Frederic würde nie die Uhr seines Smartphones für diese Zwecke bemühen – und zeigte mit manikürten Fingern vier. Johannes neben ihm verdrehte die Augen.

„Sein Flug hat Verspätung“, sagte Mike mit seinem lustigen Akzent. Er sah dabei nicht einen Moment von seinem Laptop auf. Niemand hielt es für nötig, zu fragen, woher er das wusste. Mike wusste es. Mike war ein Researcher vor dem Herrn, einer, der jede noch so abwegige Antwort aufzuspüren in der Lage war. Mike wurde nie in die Kneipe mitgenommen, weil er jede Diskussion mit seinem Smartphone gnadenlos zerstörte, ohne ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass es mitunter nicht wichtig war, etwas sofort genau zu wissen. Im vorliegenden Fall allerdings lagen die Dinge anders.

Die Zwölf erwarteten den Großen Unbekannten. Seit Wochen hielten sich auf den Fluren des Unternehmens hartnäckig die Gerüchte, es stünden dramatische Veränderungen ins Haus. Die einen wollten davon gehört haben, dass der Börsengang unmittelbar bevor stünde die anderen unkten schwarzseherisch von einer „Konsolidierungsaktion“, die jeden fünften Job kosten würde. Die dritten schließlich, fanden es völlig logisch, dass beide Dinge gleichzeitig eintreten würden. Niemand wusste wirklich etwas und die Geschäftsleitung gab nichts auf Gerüchte.

Rüdiger zuckte mit den Schultern und schwieg.

Nun aber sollte Kemmer an Bord kommen. Jens Uwe Kemmer, einer der Consulter in der Branche, direkt aus dem renommierten Consultingunternehmen Brown & Köhler weg rekrutiert. Es hieß, er würde eine extra für ihn geschaffene Abteilung übernehmen. Es hieß, er habe dieses Meeting einberufen, weil er eine Taskforce installieren wollte, zusammengesetzt aus allen Bereichen des Unternehmens. Niemand konnte sagen, was das bedeutete. Jeder hatte seine ganz eigene Interpretation.

„Das ist ein knallharter Konsolidierer“, verkündete Mike und deutete auf das Display seine Laptops.

„Es heißt, er sei bei der Zerschlagung von Chromos federführend gewesen. Also wenn ihr mich fragt…“ Mike ließ den Satz in der Schwebe und der geisterte wie kleine glitzernde Stäubchen im Sonnenlicht über den Konferenztisch.

Die Tür wurde geöffnet und Anja kam herein. Sie schob einen Service-Wagen, auf dem leise bläuliche Glasflaschen klirrten, an denen Kondenswasser herunter lief. Sie wurden mit verhaltenem Applaus begrüßt.

„Mit einem schönen Gruß von JUK!“, sagte Anja und verteilte die Mineralwasserflaschen und Gläser, auf deren Böden die vier Buchstaben einer schwedischen Möbelmarke gepresst waren. Anja sprach JUK wie DschäJuKä.

„Wer ist JUK?“, wollte Paul wissen. Er saß am hinteren Ende des Ovals und hatte weder rechts noch links einen Nachbarn. Paul kam aus der Statistik, war ein Zahlenanbeter und stand in dem Verdacht, Autist zu sein. Andere fanden einfach nur, dass er ständig aus dem Mustopf käme. Ein leises Aufstöhnen quittierte folgerichtig seine Frage. Blicke wurden zum Himmel gerichtet.

„Er lässt sich entschuldigen, sein Flieger hat Verspätung. Er bittet euch, trotzdem zu warten. Er wird in spätestens zwanzig Minuten hier sein. Genau…“, erklärte Anja mit ihrer leisen und vom häufigen Gebrauch von Anglizismen leicht verwaschenen Stimme. Anja gehörte zum Büromanagement, war duale Studentin und Mädchen für Alles. Sie beendete so ziemlich jeden zweiten Satz mit einem Nachdenklichkeit simulierenden Genau.

Die willkommene Erfrischung lockerte die Stimmung ein wenig. Man trank sich zu, der eine oder andere kühlte die Stirn an den eiskalten Flaschen.

„Was denkt ihr, will JUK von uns?“, stellte Bernhard die Frage, die allen mehr oder weniger auf den Nägeln brannte.

Taskforce, so sagt man. Im Klartext heißt das wahrscheinlich, dass es um Entlassungen und Umstrukturierungen geht. Er will uns im Boot haben, damit sich der Unwillen nicht einzig und allein gegen ihn richtet. Wir sind Prellböcke, mehr nicht.“

„Hört ihn euch an, den Rufer in der Wüste!“, rief Natalie. Sie hatte Anja mit den Flaschen geholfen und stand noch in der Nähe der Tür. Sie hatte ihre Zeit als bekennender Punk gerade erst zwei Jahre hinter sich und einige Spuren dieser Zeit waren noch immer unübersehbar. Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht von einem der Jungs in der Verwaltung gefragt wurde, wie sie wohl durch die Flughafenkontrollen käme mit so viel Metall am und im Körper. Ihre vielen farbenfrohen Tattoos, von denen einige nahe an der Grenze des guten Geschmacks siedelten, ließen ihre bloßen Arme so aussehen, als hätte sie ein langärmeliges Shirt an. Die einen sagten Natalie ein goldenes Herz nach, die anderen beklagten ihren rüden Umgang und ihre mitunter deftige Sprache. Dazwischen gab es eigentlich niemanden. Nun gut, Paul vielleicht. Es war allerdings zu bezweifeln, dass er Natalie überhaupt wahrnahm.

Johannes quittierte Natalies Ausruf mit einer Handbewegung, die ein wenig so aussah, als verscheuche er ein lästiges Insekt. Er hatte seine ganz eigene Sicht auf die Welt, immer etwas gegen den Strich, immer etwas durchsetzt von Melancholie, immer nur ein paar Klicks entfernt vom Überdruss.

„Macht Sinn, jemanden von außen zu holen, der den Job erledigt. Ich, an Rüdigers Stelle würde es auch so machen“, sagte Horst mit seiner tiefen und heiseren Stimme. Seine Vorfahren kamen aus Ghana, aber Horst war in Berlin geboren und so klang er auch. Er selbst sagte oft, wohin er auch komme, er sei fast immer der Quotenschwarze. Eigentlich wäre Horst auf einer Kleinkunstbühne besser aufgehoben gewesen, aber er grinste immer nur, wenn man ihn darauf ansprach.

„Dafür bin ich nicht intelligent genug!“, sagte er dann und ließ seine Zahnlücke blitzen. Im Studium hatten ihn einige „Gerald“ gerufen. Aber Horst hatte nicht viel mit Sport am Hut, der nicht mit einem Konsolenkontroller betrieben wurde.

„Da sei Gott vor, dass du mal an Rüdigers Stelle sein könntest!“, sagte Maurice neben ihm feixend. Horst grinste milde zurück. Die beiden waren befreundet und verbrachten mehr Zeit gemeinsam in irgendwelchen Onlinespielen als manches Ehepaar in ihrem Bett.

Eigentlich hätte keiner zu sagen gewusst, warum beide in diese geheimnisvolle Taskforce berufen wurden, aber es schien irgendwie passend, wo sie ohnehin ständig die Köpfe zusammen steckten.

„Prellböcke?“, nahm Sonja Johannes’ Bemerkung auf, „das glaube ich eher nicht. Das sieht Rüdiger nicht ähnlich. Der spielt mit offenen Karten.“

„Wenn du das sagst!“, warf Natalie vom Fenster her ein. Die beiden waren sich herzlich unsympathisch und Natalie ließ keine Gelegenheit aus, das zu demonstrieren.

Sonja war nicht in der Stimmung zu einer kleinlichen Streiterei und winkte nur lässig ab.

„Karla, du bist doch am nächsten dran an den Chefs. Was denkst du?“, fragte Sonja und beugte sich vor, um die Angesprochene besser sehen zu können. Karla lehnte mit vor dem Körper verschränkten Armen in ihrem Stuhl und lächelte leise vor sich hin. Das sah fast etwas abwesend aus. Sie ließ sich einen Moment Zeit und richtete sich dann auf, wandte sich zur Seite. Ihr langes dunkles Haar schimmerte in der Sonne. Ihre Familie kam aus Spanien und Karla, obwohl in Deutschland aufgewachsen, sprach mit leichtem spanischem Akzent.

„Ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst, Sonja. Glaubst du, man sagt uns mehr als euch? Aber ich glaube, dass wir uns unnötige Sorgen machen. Ihr werdet sehen, das wird bestimmt eine sehr spannende Sache!“ Sie sah mit ihrem strahlenden Lächeln in die Runde.

„Ich wusste es! Ich hab’s gewusst. Los, raus mit der Sprache, du weißt definitiv etwas, sonst würdest du nicht so reden!“, rief Sonja und das zustimmende Murmeln im Rund gaben ihr recht. Plötzlich lagen alle Blicke auf der schönen Spanierin. Ihr Lächeln gerann und ihr Blick wurde unsicher. Sie schien sich fast unter den Blicken zu winden. In ihrem schmalen Gesicht arbeitete es sichtlich.

„Ich weiß nichts, wirklich!“, sagte sie halblaut und ihre schlanken Hände kneteten ein Papiertaschentuch. Die Atmosphäre im Raum verdichtete sich.

„Die Viertelstunde ist gleich rum“, meldete Frederic mit Blick auf seine Uhr.

„Ja, das wissen wir auch“, schnarrte Johannes ungehalten. Frederic machte eine affektierte Handbewegung und schien eingeschnappt.

„Ich glaube auch, dass sich da was tut“, ließ sich Marc vernehmen. Er war ein stiller, in sich gekehrter Junge, der sehr viel jünger aussah, als er in Wirklichkeit war. Marc gehörte zu den Zauberlehrlingen der IT-Abteilung und war für die Wartung der Hardware zuständig.

„Wie kommst gerade du da drauf?“, erkundigte sich Johannes etwas abfällig. Die Techniker waren für ihn Handwerker und nur bedingt gleichberechtigt.

„Ich habe eine Hardware-Liste gesehen. Das war mit Sicherheit Ausstattung für eine ganze Abteilung. Die Netzwerker ziehen Glasfaser im Seitenflügel“, erklärte der Gefragte ungerührt mit leiser Stimme. Er sog an seiner E-Zigarette und Karla sah ihn missbilligend an. Sie war eine fast militante Nichtraucherin und hatte eine Zeitlang einen Kleinkrieg gegen die Benutzung solcher Verdampfer geführt. Letztlich hatten sich die Pseudoraucher durchgesetzt und nachgewiesen, dass sie niemanden gesundheitlich gefährdeten. Es stank nur mitunter fürchterlich.

„Aber dann müssten wir doch auch Möbel bestellt haben. Ich weiß aber nichts von zusätzlichen Arbeitsplätzen“, hielt Natalie ihm entgegen. Sie saß mit einer Hälfte ihres mageren Hinterns auf der Tischkante und baumelte mit ihrem bootsbewährten Unterschenkel.

„Sollten wir uns nicht was überlegen? Ich meine, wenn der hier aufkreuzt und uns dazu benutzen will, die Firma zu dezimieren, sollten wir da nicht irgendwie geschlossen auftreten?“, fragte Marie in die Pause hinein. Allein die Tatsache, dass sie etwas von sich gab, ließ die anderen aufhorchen.

„Wie denkst du dir das? Sollte es solche Pläne geben, meinst du nicht, dass die aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus berechtigt wären? Willst du aus Prinzip gegen etwas sein, das wirtschaftlich sinnvoll ist und den Bestand der Firma sichert?“

Das war Paul und nach diesen leise vorgebrachten Worten war es im Raum heiß, drückend und totenstill. Alle sahen Paul an und wie auf Kommando gleich darauf Marie.

Die zuckte unter den vielen Blicken zusammen und senkte ihrerseits das Gesicht.

„Die Firma kannst du doch nicht nur unter wirtschaftlichen Aspekten betrachten. Hier arbeiten Menschen, wir sind doch so etwas wie eine Familie?“, sagte Frederic und seine Stimme klang fast etwas schwärmerisch.

„Bleib mir weg mit Familie“, sagte Natalie. Als sie den Kopf schüttelte, klingelten ihre Piercings.

„Wisst ihr, ein Konsolidierer, der holt sich doch keine Taskforce aus der Firma! Der bringt doch seine eigenen Leute mit, weil die unvoreingenommen sind.“

„Vielleicht, wahrscheinlich tut er es, um sein Gewissen zu beruhigen“, sagte Bernhard.

Die Tür ging auf und Rüdiger kam herein. Wie immer sah er ungekämmt aus und ein Dreitagebart zeichnete sich dunkel auf seinen Wangen ab. Seit er die Dreißig überschritten hatte, wurden die ersten weißen Fäden in seinem störrischen schwarzen Haar sichtbar. Er hatte die Hände in die ausgebeulten Taschen seiner Jacke gesteckt und lächelte dieses Eine-Million-Euro-Lächeln. Er blieb einen Schritt neben Natalie stehen. Die ließ sich langsam von der Tischkante gleiten. Er quittierte es wie nebenher.

„Ich sehe, ihr seid schon heftig bei der Arbeit, das ist gut. Übrigens, Berhard, Gewissen muss man sich leisten können, oder?“ Er war dem Österreicher einen Blick aus seinen faszinierenden grauen Augen zu, nickte kurz und wandte sich halb zur Tür zurück.

„Leute, ich möchte euch einen guten Freund vorstellen und ich möchte, dass ihr ihn nett und freundlich in Empfang nehmt. Gebt ihm und euch eine Chance.“

Ein unscheinbarer Mann Mitte dreißig trat ein. Er lächelte verhalten, stellte seine etwas abgegriffene Laptoptasche auf den Konferenztisch und sah kurz in die Runde.

„Guten Tag. Ich bin Jens Uwe Kemmer. Lasst uns zusammen etwas Neues machen.“

Horst grinste breit und nahm von Maurice den Zehn-Euro-Schein in Empfang. Sonjas Blick ging hinüber zu Rüdiger. Er bemerkte es und nickte fast unbemerkt. Marie war die Einzige. Sie wusste, warum.

Das Licht

Diese Geschichte war Beitrag zum Wettbewerb März 2016. Aufgabe war, eine Geschichte rund um dieses Bild zu schreiben:

 

 

Diese Geschichte brachte mir eine der schlechtesten Platzierungen in den bisher drei Jahrgängen des Wettbewerbs ein. Ich werde sie deshalb aber nicht verschämt verstecken.

 

Der Klappentext des Originals:

"Man nehme einen scheinbar genialen Schriftsteller, der sich selbst für einen würdigen Nachfolger von Arthur Conan Doyle und Sherlock Homes hält; einen ängstlichen Bankierssohn, dessen Verlobte verschunden zu sein scheint und einen Autor, der seinen Protagonisten nicht im Griff hat und schon entsteht eine ganz eigene Detektivgeschichte, die sich und ihre Leser nicht so ganz und gar ernst nimmt."

 

 

„Da ist Besuch für Sie, mijnheer Martens“, sagte die Stimme der Haushälterin mit ihrem singenden Akzent von der Tür her. Simon Martens, der noch immer zur Hälfte im zähen Sumpf seines Alptraumes gefangen war und sich nur mühsam ans Ufer seines erwachenden Verstandes retten konnte, drehte langsam seinen Kopf in ihre Richtung. Mit einiger Kraftanstrengung gelang es ihm, die blutunterlaufenen Augen zu öffnen. Obgleich das Zimmer in tiefe, bräunliche Schatten getaucht war, stach das wenige Licht der Gaslampen im Flur ihm mit glühenden Nadeln ins Gehirn. Er hob die Rechte vors Gesicht, das zu einer mürrischen Grimasse verzogen war.
„Ich will niemanden sehen!“, rief er mit einer Stimme, die er selbst nie mit sich selbst in Verbindung gebracht hätte. Sie quoll ihm brüchig und krümelig über die geschwollene Zunge, die sich in seinem Mund wie ein wattiger Fremdkörper ausnahm.

„Simon, mein genialer Freund!“, erscholl es plötzlich mit nach gerade infernalischer Lautstärke und ekelerregender guter Laune durch den Raum. Martens fuhr von seinem Lager auf; Zorn flammte in seinem fein geschnittenen Gesicht auf.

Der lautstarke Besucher drang mit langen elastischen Schritten in die Mitte des Raumes vor, sah sich kurz um, hob beschwichtigend die Hand gegen die aufbegehrende Haushälterin und rümpfte gleich darauf verächtlich und amüsiert die schmale Hakennase.

„Es tut mir wirklich leid, mijnheer Martens“, rief die rundliche Holländerin mit dieser etwas weinerlichen Resignation in der Stimme, „Er ließ sich nicht aufhalten!”

“Schon gut, Linda. Das lässt er sich selten“, sagte Martens heiser. Vorsichtig öffnete er die Augen und erfasste den Eindringling mit missmutigem Blick.

„Du bist ein vermaledeiter Quälgeist, Johannes Rosenhain!“, rief er, inzwischen mit festerer Stimme und schwang seine Beine aus dem Bett. Beim Aufrichten verzog er für einen Moment vor Schmerzen das Gesicht.

„Linda, Sie gute Seele dieses Hauses, seien Sie so gut und bringen Sie ihm einen starken Kaffee und wenn es geht, ein wenig Zitronensaft darin. Ich würde mit ein oder zwei Scheiben Toast, einem ihrer legendären Pancakes und zwei Spiegeleiern Vorlieb nehmen. Ach – ein Glas Orangensaft, wenn Sie so freundlich wären!“, setzte Rosenhain hinzu, während er sich anschickte, die Vorhänge vor den hohen Fenstern zurück zu ziehen.

„Aber...“, hob die Frau mit deutlicher Bestürzung in der Stimme an, „woher soll ich ...“. Eine breite, grelle Lichtbahn stürzte in den Raum und ließ Myriaden von Staubteilchen aufblitzen wie Meteoriten. Martens hob stöhnend die Hände vor das verzerrte Gesicht.

Rosenhain wandte sich geschäftig nach der barmend in der Tür Stehenden um, griff in die Tasche seines Gehrocks, ließ einige Geldstücke in ihre überrascht ausgestreckte Hand fallen, dass diese mit ihrem hellen und gleichsam massiven Klang Zeugnis über ihren Wert ablegten.

Linda verstummte im Moment, formte mit ihrem Mund ein überraschtes O und verschwand, einen Knicks andeutend. Rosenhain schloss hinter ihr betont leise die Tür zum Gemach seines Freundes. Der Frohsinn wich indes zusehends aus seinem Gesicht und hinterließ einen seltsam ratlosen Zustand, den man mit etwas Fantasie als baustellenartig hätte bezeichnen können. Er trat an den Kaffehaustisch in der Nähe des Fensters, der genauso mit allerlei seltsamen Utensilien überhäuft war, wie die beiden zierlichen Stühle, die rechts und links davon schwer bepackt Wache standen. Achtlos wischte der Besucher den Rechten der beiden leer und setzte sich schwer, streckte die langen Beine von sich, nur um sogleich zu Martens herum zu fahren.

„Du musst mir helfen, Simon!“, rief er aufgeregt in dessen Richtung, ganz so, als wüsste dieser bereits, worum es bei seinem Ansinnen ginge.

„Wie lange ist sie schon verschwunden?“, erkundigte sich der Angesprochene, während er den Gürtel des Hausmantels zu Recht zurrte.

Rosenhain sah zu Martens auf, wie er nun sehr aufrecht und in diesem eleganten Morgenrock vor ihm stand, das Gesicht inzwischen verborgen hinter dieser perfekten Maske aus distinguierter Langeweile, zu der nur die inzwischen fast wachen grünen Augen nicht passen wollten.

„Seit gestern. Ich hatte sie noch nach Hause gebracht, bevor ich in den Club gefahren war. Aber woher weißt du...?“

„Mein lieber Freund, beleidigst du mich mit einer Frage nach dem Offensichtlichen?“, entgegnete Martens mit dieser unnachahmlichen selbstgefälligen Ungeduld in der Stimme und ein paar gezierten Handbewegungen.

Linda trat mit einem Tablett durch die Tür, blieb ein wenig hilfesuchend mitten im Zimmer stehen, nicht wissend, wo sie die dampfenden Köstlichkeiten abstellen sollte. Rosenhain leerte den Tisch, wie er zuvor schon seine Sitzgelegenheit von dem sinnlosen Krimskrams befreit hatte. Sein Gastgeber quittierte es mit einem säuerlichen Gesicht.

Linda zog sich zurück und die beiden Männer aßen schweigend.

Schließlich lehnte sich Rosenhain trotz seines angespannten und besorgten Gesichtes einigermaßen zufrieden ...

 

„Augenblick mal, das kann ja unmöglich Euer Ernst sein, mein Herr!“, rief Martens und drehte sein markantes Profil schräg gegen die stuckverzierte Decke.

 

„Wovon, um Himmels Willen, redest du, Simon, mein Freund? Natürlich ist das mein Ernst!“, rief Rosenhain verwundert und sah seinen Freund besorgt an.

 

Der winkte ungehalten ab, deutete in meine Richtung und sagte mit galligem Spott:

„Ich rede mit diesem Herrn Möchtegern-Autor, der vermeint, uns gleich Marionetten an sinnlosen Fäden durch seine Fantasiewelt zerren zu können. Hält sich für fähig, eine Detektivgeschichte schreiben zu können und hat doch nicht die geringste Ahnung, worauf es dabei ankommt!“

 

„Lieber Freund, ich wusste ja nicht ...“, setzte Rosenhain verstört an und machte Anstalten, sich zu erheben. Martens brachte ihn mit einer raschen Handbewegung zum Schweigen. Dabei ließ er keinen Blick von mir. Langsam wurde mir etwas unheimlich.

 

„Ihr könnt den Leser doch nicht so ganz ohne Informationen lassen, werter Herr Autor!“, begann Martens, erhob sich, ergriff die Aufschläge seines Hausmantels. Unter den erstaunten Blicken seines Freundes und den meinen hob er an, dozierend im Zimmer auf und ab zu laufen.

 

„Das Prinzip des Vorenthaltens von Informationen ist wahrlich nicht neu und fast immer eine totsichere Methode, Spannung zu erzeugen. Aber ...“ - Martens blieb stehen, drehte sich schwungvoll halb um seine Achse um mich zu fixieren – „... dies hier ist ein anderer Fall. Ihr gebt mich – zweifellos der Held Eurer kleinen Geschichte und angelegt als begnadeter Detektiv vom Schlage eines Sherlock Holmes – dem Unglauben und Gelächter Eurer Leserschaft preis, wenn Ihr mir die Erkenntnis des Verschwindens der geliebten Person so ganz und gar ohne Kostprobe meiner geradezu verblüffenden Beobachtungsgabe und meines Kombinationstalents sozusagen gratis in den Kopf stopft.“

 

Ganz plötzlich wurde Martens von einem Hustenanfall geschüttelt, der ihm jedes Weitersprechen unmöglich machte. Ich gebe zu, ich konnte mich eines kleinen amüsierten Lächelns nicht erwehren. Seine Blicke waren für einen winzigen Moment panisch und voller ahnungsschwerer Erkenntnis. Dann kam er zu Atem.

Rosenhain seinerseits war gleichfalls aufgesprungen, bereit, dem in Not Geratenen beizuspringen. Martens hob abwehrend eine Hand.

„Ich werde später wieder kommen, wenn es dir recht ist. Mir will scheinen, dass du es gestern Abend etwas zu gut gemeint hast mit diesem eidgenössischen Gebräu.“

„Unsinn, Johann, es geht mir gut. Hast du dich noch nie gefragt, ob wir wirklich Herr unserer Entscheidungen sind?“ Martens stand vor seinem Freund, hatte sein aristokratisches Gesicht etwas erhoben und hielt Rosenhain bei den Schultern. Eine durchaus erstaunliche Geste, wenn man seine sonst überaus beherrschte Art in Rechnung stellte.

„Doch, das eine oder andere Mal schon, denke ich“, entgegnete der voller Ungeduld, beließ aber die Hände, wo sie waren.

„Du willst nicht wissen, woher ich weiß, dass sie verschwunden ist?“, fragte Martens und sein Gesucht spiegelte leichte Enttäuschung. Schließlich gab er sich zufrieden, kehrte zu seinem Platz am noch nicht abgeräumten Frühstückstisch zurück, nicht allerdings bevor er sich nicht seine Meerschaumpfeife gestopft und mit einem Fidibus am monströsen Kamin in Brand gesteckt hatte. Sofort war die Luft erfüllt vom süßlichen Duft des mit Vanille fermentierten Tabaks. Rosenhain, der die seltsame Leidenschaft seines Studienkollegen nie verstanden und schon gar nicht geteilt hatte, ertrug den Gestank mit säuerlicher Miene.

„Ich kann es mir vorstellen, mein Freund. Ich bin in großer Sorge, wie du dir denken kannst.“

„Ich muss alles wissen, was du weißt, jedes Detail. Wir müssen in ihre Wohnung fahren, wahrscheinlich haben die Entführer Spuren hinterlassen oder eine Nachricht mit Forderungen“, erklärte Martens und inzwischen wirkte er hell wach und konzentriert. Rosenhain sah ihn dankbar an und nickte stumm.

 

Die Wohnung sah furchtbar aus. Jemand hatte etwas gesucht und das Unterste zu Oberst gekehrt. Rosenhain stand wie erstarrt in der Tür zum Salon und schüttelte fassungslos den Kopf.

„Arme Rosalie“, murmelte er unausgesetzt.

Simon Martens stand in mitten des Chaos aus umgestürzten Möbeln, zerfetzten Wäschestücken, Scherben von Porzellan und misshandelten Büchern und ließ den Raum auf sich wirken. Seine Sinne waren weit geöffnet, geschärft, seine Gedanken leer und Gefäßen gleich, die Flut an Eindrücken zu empfangen, zu filtern und zu Informationen zusammen zu sintern.

Er wurde ruhig und methodisch.

 

Ich sah ihm in den Kopf und spürte die fast euphorische Anspannung, sah durch seine Augen gleichsam auf mehreren Spektren auch die winzigsten Details überdeutlich. Zugleich wollte mir schier der Schädel platzen von all den Erinnerungen und Erfahrungen, die sein übersteigertes Hirn mit den auf ihn einstürmenden Bildern, Gerüchen und Strukturen zur Deckung bringen suchte. Dabei hatte ich das beklemmende Gefühl einer unaufhaltsam über ihn herrschenden Ekstase, die ihn immer weiter trieb. Fühlte so ein hochspezialisierter Fährtenhund? Ich schlug die Augen nieder, bevor mich Übelkeit übermannen konnte. Er tat mir leid. Was tat ich ihm an?

Er sah sich unwillig zu mir um.

„Ihr solltet Euch zurück halten in dieser Sache, Herr Autor. Es gibt Dinge, die Ihr nicht versteht und solltet Ihr noch Tausend Jahre älter werden als ihr ohnehin schon seid.“

Seine helle und überaus bornierte Stimme erklang diesmal direkt in meinem Kopf und erzeugte das seltsame Gefühl, als zupfe jemand leibhaftig an meinem Innenohr.

 

„Was ist, hast du etwas entdeckt?“, fragte aufgeregt Rosenhain, der inzwischen aus seiner Starre erwacht war. Martens hob seine Rechte, als wollte er den Freund abwehren. Er legte den Kopf schief, lauschte. Drehte sich rasch herum und schritt durch die Trümmer der Einrichtung bis zur Wandtäfelung im Hintergrund, blieb dort stehen. Legte die schmalen gepflegten Hände flach auf das dunkle Holz der Täfelung, brachte sein Gesicht dicht an eine bestimmte Stelle fast in Höhe seines Kopfes. Schnüffelte tatsächlich.

„Hier fehlt etwas. Jemand hat etwas entfernt. Versuch dich zu erinnern, Johannes. Was war hier an dieser Stelle an der Täfelung?“ Martens sah seinen Freund eindringlich an. Der rieb sich verzweifelt die Stirn, suchte krampfhaft nach einer Erinnerung. Er sah sich hilfesuchend im Raum um, gestikulierte und murmelte Unverständliches vor sich hin.

Martens sah ihn mit wachsender Ungeduld an, trommelte mit den Fingern auf das Holz der Wandverkleidung.

„Warte, warte!“, rief Rosenhain, lief hinüber zur Fensterfront des Zimmers und schob den Vorhang eines der hohen Fenster zur Seite.

„Hier ist auch so ein Schild, soweit ich mich erinnere“, erklärte er und deutete auf eine Stelle zwischen den beiden Fenstern. Martens trat näher, wechselte einen prüfenden Blick mit seinem Freund und schaute noch einmal auf die Stelle, auf die der wies. Das Holz an dieser Stelle schien eine Nuance heller zu sein und Martens scharfe Augen nahmen den seltsamen Umriss dort wahr. Allein, das, was Rosenhain ihm dort hatte zeigen wollen, war verschwunden. Er wurde sich dessen bewusst und ein erstickter Laut entrang sich seiner Kehle. Martens indes wandte sich der gegenüberliegenden Wand zu, watete durch den Schutt und die Trümmer hinüber, betrachte die Wand aufmerksam um dann versonnen zu nicken.

„Was ist?“, fragte Rosenhain verzagt.

„Wie sah dieses Schild aus, das dort fehlt? Kannst du es beschreiben?“, fragte Martens und seine Stimme bebte vor Erregung. Rosenhain schüttelte verzweifelt den Kopf.

„Eine Art Wappen mit Spitzbögen oben und unten. In der Mitte ein Tierkopf mit einem Ring im Maul, fast wie ein Türklopfer. Ziemlich unheimlich, wenn du mich fragst.“

„Wer hat vor Rosalie hier in diesem Haus gewohnt?“, fragte Martens nachdenklich. Er strich mit den Fingern die Kontur des helleren Schattens nach, der sich ihm an der Wand über der Anrichte offenbart hatte.

„Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht, dass Rosa das mir gegenüber mal erwähnt hat. Sie ist ja, wie du weißt, noch nicht so lange in der Stadt.“

Martens drehte sich wieder um sich selbst, die Hand nachdenklich an seinem Kinn. Dann blieb er abrupt stehen, schlug sich mit der Rechten Faust in die Linke.

„Wir müssen mehr wissen über diese Schilder! Komm, Johannes!“, rief er und stürmte aus dem Zimmer.

 

 

Das Licht der Gaslampe reißt nur einen kleinen Kegel Licht aus dem Dämmer, der sich inzwischen im Zimmer breit gemacht hat. Johannes Rosenhain reibt sich die Nasenwurzel. Das stundenlange Starren auf den alten Folianten wird immer anstrengender und frustrierender. Aber Martens lässt nicht locker. Er steht mit dem Rücken zum Schreibtisch am Fenster und schaut unverwandt hinaus in die hereinbrechende Nacht. Nebel wabert um die gelblichen Lichtflecken der Straßenlaternen. Wir sind nicht in London, aber auch Berlin kann mit solcher Atmosphäre aufwarten.

 

Marten schaut vor sich hin, er sieht sein Spiegelbild und dahinter mein konzentriertes Gesicht. Er scheint nicht zufrieden. Aber wann sind das unsere Geschöpfe schon einmal, eingesperrt zwischen einer endlichen Zahl Worte in einen winzigen Ausschnitt Zeit?

 

„Keines dieser Wappen, Simon. Ich erkenne keines davon wieder. Es ist zwecklos“, lässt sich Rosenhain vom Schreibtisch her vernehmen. Er reibt sich die Augen und sieht unglücklich aus. Marten dreht sich zu ihm herum, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Seine Haltung gleicht ein wenig der eines preußischen Offiziers.

„Dann müssen wir weiter suchen. Ich bin sicher, wir finden dieses Schild. Ich hatte vorhin, als du es beschrieben hast, das deutliche Gefühl, dass es mir irgendwoher bekannt vor kommt. Ein Bild, ein Illustration in einem Buch, eine Verzierung an einem Möbelstück …“ Martens wendet sich dem Bücherregal zu, das die gesamte Breitseite des Raumes einnimmt. Er streicht mit den Fingern andächtig die Buchrücken entlang, verharrt bei einem, zieht es halb heraus, betrachtet den Titel genauer, schiebt es zurück. Geht weiter. Bleibt erneut stehen. Erstarrt mitten in der Bewegung.

„Ich wusste es!“, ruft er plötzlich aus, wirbelt zu Rosenhain herum. Seine Augen scheinen fast Funken zu sprühen.

„Ein Bauwerk! Ein sehr besonderes Bauwerk. Ich weiß, wo wir es finden werden. Komm, wir haben es eilig, mein Freund!“

„Simon, warte! Wir suchen jetzt seit Stunden. Wohin willst du jetzt, wo es draußen dunkel und neblig ist?“

„Dorthin, wo es bei diesem Wetter um diese Uhrzeit am interessantesten ist, lieber Johannes: auf einen Friedhof. Wir brauchen einen Wagen und Lampen. Warum bin ich nicht früher drauf gekommen?“
Martens scheint fast aus dem Häuschen, so ungestüm redet er auf seinen Freund ein, während sie die Wohnung verlassen.

Die Straßen liegen feucht, dunkel und verlassen vor ihnen. Sie hasten vorwärts. Rosenhain flucht leise vor sich hin, weil sich keine Droschke blicken lässt. Martens scheint ihn nicht zu hören. Er hat den Kragen seines Mantels hoch geschlagen und sein Stock klackt angriffslustig auf das Pflaster. Endlich kommt das Klappern von Pferdehufen näher und Martens hebt die Hand mit dem Stock. Der Kutscher bringt das Pferd neben den Männern zum Stehen. Sein Gesicht ist im Schatten seiner Kopfbedeckung verborgen, aber der Klang der Stimme ist eindeutig. Martens kennt diesen Kerl und vertraut ihm. Er nennt ihm, den Schlag des Wagens schon in der Hand, das Ziel der Fahrt und der Kutscher lässt einen überraschten und ablehnenden Laut hören.

„Kein guter Christenmensch fährt um diese Zeit dorthin, Herr Martens. Nicht einmal Ihr solltet das tun, wenn ich Euch das raten darf.“

„Ich weiß, Karl. Es sind unaufschiebbare Dinge, die uns dorthin zwingen.“

„Das verschwundene Fräulein, denke ich“, sagt der Kutscher halblaut und mit rauer Stimme.

Martens, den Fuß auf dem Tritt der Droschke, fährt zu mir herum.

 

Herr Autor, bitte. Woher soll dieser arme Kerl in den Besitz dieses Wissens gekommen sein? Was ist das für ein Ablenkungsmanöver? Wir waren doch gerade so gut im Fluss!“

 

 

„Ich verstehe nicht ganz, Herr Martens! Die halbe Stadt redet davon. Die Haushälterin des Fräuleins hat die Polizei alarmiert. Die Wohnung soll verwüstet worden sein und vom Fräulein fehlt jede Spur.“ Der Kutscher klingt etwas beleidigt. Das Pferd beginnt unruhig zu werden. Martens sieht mich mit unverhohlenem Misstrauen über die Schulter hin an, schüttelt kurz den Kopf und schwingt sich in den Wagen, schlägt die Tür zu, etwas lauter, als es hätte sein müssen. Der Wagen setzt sich in Bewegung.

„Hast du davon gewusst? Von der Haushälterin und der Polizei?“, fragte Martens Rosenhain, der ihm gegenüber Platz genommen hat.

„Kein Wort, Simon, ich schwöre“, beteuert der und zieht die Achseln bis zu den Ohren.

„Das bedeutet, dass wir uns beeilen müssen. Wenn die Polizei sich der Sache erst annimmt, werden wir schwerlich noch etwas heraus finden können“, erklärt Martens seinem Freund, lehnt sich gleich darauf zum Fenster heraus und sieht mich wütend an.

 

„Ich werde nie verstehen, warum sich geniale Detektive immer als Konkurrenz zur Polizei begreifen müssen. Das ist kompletter Unsinn. Die Polizei kann wichtige Arbeit leisten und das wisst Ihr, oder? Warum müssen wir hier Klischees bedienen? Das ist billig!“

 

Der Wagen rumpelt reichlich unsanft durch ein Schlagloch und Martens schlägt heftig mit dem Kopf an, zieht diesen ins Wageninnere, nicht ohne zu rufen:

 

Das übrigens auch!“

Ich habe langsam genug von diesem vorwitzigen Möchtegern-Detektiv und seinen vorlauten Sprüchen!

 

Die Droschke entfernt sich und der Nebel wird hinter ihr verwirbelt. Ein halber Knochenmond erhebt sich zur selben Zeit mit kaltem Schein über den Horizont.

 

 

„Leise! Es ist nicht nötig, dass uns hier jemand entdeckt. Komm jetzt, hier entlang!“

Der Alte richtete sich vorsichtig auf und spähte mit angehaltenem Atem zwischen den schräg stehenden Kreuzen hindurch zum Hauptweg des Friedhofs. Der Nebel hatte sich gelegt, er spürte es in den Knochen und an den klammen Sachen, die er am Leib trug. Es war noch früh im Jahr und diese Nächte wurden langsam zu kalt für ihn, das wusste er. Allein, er wusste nicht, wohin er gehen sollte.

Raschelnd erhob er sich aus dem Laub, in das er sich vor ein paar Stunden vergraben hatte, halb ohnmächtig von der Wirkung der halben Flasche sauren Weins, die ihm ein barmherziger Mensch überlassen hatte. Jetzt verflog die Wirkung des Gesöffs und er fror erbärmlich. Mit steifen Gliedern, einem tauben Gefühl in der rechten Gesichtshälfte und dem pochenden Schmerz des vereiterten Backenzahns machte er sich daran, den beiden dunklen Gestalten auf dem Weg zu folgen. Ganz genau wusste er nicht, warum er dies tat. Irgendwie hegte er die leise Hoffnung auf eine Gelegenheit, etwas Geld für Essen, ein Bad und ein Bett zu ergattern.

Die beiden Männer unterhielten sich weiterhin flüsternd mit einander. Wurzner – alle nannten ihn nur Wurzner, solange er denken konnte – hatte keine Mühe, ihnen zu folgen. Als sie vor dem alten Grabmal stehen blieben, presste er sich rasch in den Schatten eines mächtigen, moosbewachsenen Grabsteines. Er sah zum Himmel hinauf und fluchte leise in sich hinein. Die Wolken wurden bereits silbrig vom Licht des Mondes und es war nur eine Frage der Zeit, bis er genug Höhe und Kraft gewonnen hatte um sich durch die Wolken zu schieben. Was sollte ihm dieses kalte und erbarmungslose Licht, das ihm in Nächten wie diesen vorgaukelte, Wärme abzustrahlen und ihn mit einer Freundlichkeit narrte, hinter der nur zu schnell der Tod lauern konnte.

Vorn beim Grabmal wurden Lampen entzündet. Wurzner duckte sich noch ein wenig tiefer in die Schatten. Etwas gab unter seiner Hand nach, rutschte fort, zerbrach und schnitt ihm in den Handballen. Der Alte presste den Handrücken vor den Mund, um nicht laut aufzustöhnen. Er spürte, wie Blut aus der Wunde tropfte. Das war schlecht, das war wirklich schlecht. Er hatte Männer gesehen, die an solchen Verletzungen ihre Gliedmaßen verloren hatten oder gar gleich ihr Leben. Er griff mit der gesunden Hand in die Leinentasche, die er an einer geflochtenen Lederschnur über der Schulter trug und tastete nach dem Rest Stoff, den er dort noch wusste. Er war nicht gerade sauber, aber er war das einzige, was ihm tauglich erschien, die Hand zu verbinden. Mit den Zähnen zurrte er den Knoten des provisorischen Verbandes fest und ließ die beiden dort vorn keinen Moment aus den Augen.

 

 

Martens hob die Lampe noch ein Stück höher und ihr gelblicher Schein fiel auf das Schild am Giebel des Grabmals. Das Flackern der Flamme ließ den Tierkopf in der Mitte wie lebendig erscheinen. Johannes Rosenhain nickte wortlos. Er hatte Martens eine Hand auf den Arm gelegt und krallte sich im Stoff seines Mantels fest. Ihn fror und er hatte Angst. Dieser Ort war ihm unheimlich mit seiner bedeutungsschweren Stille. Hätte er ein Käuzchen rufen hören, wäre ihm das vermutlich tröstlich erschienen, aber um diese Jahreszeit riefen Käuzchen nicht in diesen Breiten.

Martens sah ihn einen Moment mit seltsamem Gesichtsausdruck an, dann schüttelte er die Hand von seinem Arm und trat auf den Eingang des Grabmals zu. Leise murmelnd versuchte er, die Inschriften auf den Bögen über der zweiflügligen Tür zu entziffern.

„Wegner, Franz Wilhelm - sagt dir der Name etwas? Was hat Rosalie mit dieser Familie Wegner zu schaffen?“

„Ich weiß es nicht, Simon. Vielleicht ist es ja ein Zufall, vielleicht haben die Wegners mal in dem Haus gewohnt, wer weiß. Was wollen wir hier, Simon? Glaubst du, Rosa wäre hier auf diesem Friedhof versteckt?“

„Vielleicht? Wir müssen mit allem rechnen, lieber Freund. Kann nichts schaden, wenn wir etwas genauer nachsehen.“

Mit diesen Worten trat er entschlossen auf die Tür zum Grabmal zu und drückte die Klinge herunter. Mit einem furchtbaren Geräusch gab die Tür scharrend und knarzend nach. Martens hob die Lampe über den Kopf und trat durch die Tür.

„Simon, was tust du! Du kannst doch nicht einfach …!“ Rosenhain war kreidebleich geworden und er befürchtete, seine Knie könnten unter ihm nachgeben. Trotzdem folgte er dem Freund in das Gebäude.

Es ging eine Treppe hinab in einen ovalen Raum, in dessen Wände vier oder fünf Nischen eingelassen waren. In jeder der Nischen stand ein steinerner Sarkophag. An den Pfeilern zwischen den Nischen fand Martens Halterungen für Fackeln und nach einigem Suchen ein paar dieser Fackeln am hinteren Ende des Raums. Er bestückte die Halterungen und brachte die Fackeln zum Brennen. Das unruhige Licht verstärkte noch die unheimliche Atmosphäre, die bedrohlich auf Johannes Rosenhain zu kroch.

„Hier ist niemand“, flüsterte er halblaut und drängte sich an Martens. Der wich mit erstauntem Gesicht vor dem Freund zurück.
„Niemand, mein Freund, der dir etwas tun könnte. So viel ist sicher. Aber warte, siehst du das?“ Er deutete auf eine Stelle auf der rechten Seite des Raumes. Eine Platte aus Bronze war hier etwas abgeschrägt in die Wand eingelassen. Auf dieser von Patina grün schimmernden Platte hob sich das Wappen der Familie Wegner deutlich ab. Sie traten näher und Rosenhain hob seine Lampe darüber.

„Das Licht!“, rief Martens plötzlich und seine Stimme überschlug sich fast. Sein Freund sah es nun auch: Auf dem Wappen erschien, wie aus der Tiefe leuchtend, das glühende Gesicht einer Katze. Ihre Blicke stachen seelenlos und unbarmherzig in die Augen der beiden Männer. Mit einem dumpfen Knall verloschen die Fackeln und die Lampen der beiden Männer und hüllten beide in absolutes Dunkel.

„Simon? Ich glaube, wir sind nicht allein“, wisperte Rosenhains Stimme tonlos. Und dann gellte ein Schrei durch die Finsternis.

 

 

„Was sollen wir mit ihm machen, Herr Kriminalrat?“, fragte der Wachtmeister und deutete mit dem Kopf in Wurzners Richtung. Der saß, die Hände um einen dampfenden Becher gelegt, auf der Bank im Flur des Polizeireviers und trank in kleinen Schlucken die heiße Zichorienbrühe. Das Zeug war gallebitter aber heiß.

„Lasst ihn in der Ausnüchterungszelle schlafen. Gebt ihm eine Decke und was zu Essen. Der arme Teufel hat nichts Unrechtes getan, denke ich.“

Mit diesen Worten drehte er sich zu seinen beiden nächtlichen Besuchern herum und fasste beide ins Auge. Johannes Rosenhain, Sohn einer der reichsten Bankiersfamilien der Stadt und Erbe eines sagenhaften Vermögens, saß wie ein Häufchen Unglück vor ihm und konnte noch immer das Zittern seiner Hände nicht unterdrücken. Sein eleganter Anzug war staubig und wies noch immer Spuren von Erbrochenem auf, auch wenn er sich bereits alle Mühe gegeben hatte, diese zu beseitigen. Der zweite Herr dagegen, der neben ihm seine Langeweile zur Schau stellte, war Simon Martens, ein ständig am Rande der Zahlungsunfähigkeit dahin schlingernder Schriftsteller zweifelhaften Rufs, der von sich behauptete, ein genialer Kopf und ein kriminalistisches Genie zu sein. Tatsächlich fiel er durch exzessiven Konsum von Absinth und anderen Drogen in diversen zwielichtigen Etablissements der Stadt auf, hatte bei einigen ziemlich finsteren Gesellen erhebliche Spielschulden, die er allerdings angeblich durch allerlei Taschenspieltricks immer wieder auszugleichen verstand. Er und Kriminalrat Schuster waren gute Bekannte. Nicht, dass Schuster diese Bekanntschaft besonders schätzte.

„Was haben Sie sich dabei gedacht, Herr Rosenhain? Mitten in der Nacht in das Grabmal einer der angesehensten Familien einzudringen, die Totenruhe zu stören und sich dann auch noch von einem Stadtstreicher einsperren zu lassen? Was haben sie da gesucht?“

„Da war eine Katze“, stammelte Rosenhain und sein Mund zitterte. Ein Speichelfaden glitzerte zwischen Ober-und Unterlippe. Schuster schlug die Augen nieder.

„Fräulein Rosalie Munster ist vermutlich aus ihrer Wohnung entführt worden. Wir hatten Grund zu der Annahme, dass ihr Verschwinden …“, begann Martens mit betont gelangweilter Stimme zu erklären, wurde jedoch barsch unterbrochen:

„Fräulein Munster ist nicht verschwunden. Sie hat sich bei uns gemeldet, als sie hörte, dass sie gesucht wird. In ihrer Wohnung ist eingebrochen worden und wir wollten Fräulein Munster bitten, uns eine Aufstellung aller gestohlenen und zerstörten Gegenstände zukommen zu lassen. Soweit ich weiß, ist sie inzwischen im Hotel „Unter den Linden“ abgestiegen.“

„Unter den …“, wiederholte Rosenhain mechanisch. Ihm rannen Tränen die Wangen herunter.

Martens sah mich über die linke Schulter des Kriminalrats verächtlich an, lächelte ein sehr sarkastisches Lächeln und spuckte mir entgegen: „Stümper. Hab ich nicht gesagt, Ihr seid unfähig, eine solche kleine Detektivgeschichte zu schreiben?“

Ich nickte nur stumm. Er tat mir irgendwie leid.

Die Frage

Diese, zugegeben sehr düstere, Geschichte war mein Beitrag zum April 2016. 

Klappentext des Originals:

 

"Was passiert, wenn auch nur ein Teil der Ideen und Pläne einer politischen Bewegung in Deutschland Wirklichkeit werden? Was passiert, wenn Europa zurück fällt in die Zeiten von Grenzzäunen? Wer zahlt dann die Zeche?
Dieses Szenario ist der Hintergrund für eine tragische Geschichte, wie sie leider nur zu denkbar scheint."

 

 

„Was denkst du, hat Gott ein Gewissen?“, fragte Tim ihn unvermittelt. Es war zu dunkel, als dass er in der Lage gewesen wäre, dessen Gesicht unter dem Helm zu erkennen. Sie hockten in diesem halb fertig ausgehobenen Graben, starrten angestrengt in das Dunkel vor sich und bemühten sich, das Zittern ihrer Körper zu unterdrücken. Es war die Nacht auf den zwanzigsten Januar und es regnete in Strömen, seit Stunden schon. Ab und zu mischten sich große, nasse Flocken in den Regen, der beim Auftreffen auf die Metallflächen ihrer Schützenpanzer umgehend gefror. Die Fahrzeuge waren bereits von einer ganzen Schicht Eis wie kandiert.

„Ruhe da vorn. Es wird nicht gequatscht!“, fauchte eine heisere, helle Stimme von rechts. Das war Unteroffizier Wedelmann, ihr Gruppenführer. Tim meinte immer, wenn einer seinen Namen zu Recht trüge, dann dieser kleine Kerl mit dem rotblonden Haar.

„Der wedelt doch vor dem Leutnant ständig mit dem Schwanz, der Schleimer!“, pflegte er hin und wieder zu sagen und es war ihm herzlich egal, ob der übereifrige Unteroffizier in der Nähe war oder nicht.

„Halt doch einfach die Klappe, wenn Erwachsene sich unterhalten!“, knurrte Tim neben ihm. Thomas legte ihm seine nasse und vor Kälte fast gefühllose Hand auf den Arm. Mitunter waren die ständigen Reibereien zwischen den Beiden ganz amüsant. Im Augenblick jedoch gingen sie ihm auf die Nerven.

Überhaupt ging ihm diese ganze Sache hier langsam mächtig auf die Nerven: Der Dreck, die Nässe, die Kälte, die in die Knochen kroch und den Willen aushöhlte. Er hatte keine Lust, seinen dreiundzwanzigsten Geburtstag an diesem Waldrand zu verbringen und womöglich auch noch drauf zu gehen. Nein, ganz und gar keine Lust.

„Und, was denkst du?“, fragte Tim wieder halblaut.

„Wie kommst du darauf, dass ich bei diesem Schiet-Wetter denken könnte. Alles eingefroren.“

„Genau das wollen die ja, dass wir zum Denken aufhören“, stellte Tim zischend klar. Er hatte die komische Angewohnheit, sich von fremden Dialekten von Fall zu Fall seltsame grammatische Wendungen auszuleihen. Thomas hatte noch nicht heraus, was er damit bezweckte, war aber viel zu mürrisch und durchgefroren um zu fragen.

„Nun sag schon: Hat er oder nit? Ein Gewissen ...?“

„Gefreiter John, halten Sie endlich Ihre Klappe!“, bellte Wedelmann aufgebracht. Neben ihnen waren die schmatzenden Schritte des Unteroffiziers vernehmbar. Gleich darauf stand er hinter ihnen. Der Graben war noch nicht tief genug ausgehoben, was selbst ihn dazu zwang, in gebückter Haltung zu stehen. Thomas musste es nicht sehen, er wusste, dass Tim grinste. Für ihn war das die einzig angemessene Haltung für den kleinen Schleimer.

„Sie beide, mitkommen!“, schnauzte er, was unter normalen Umständen vermutlich ein gutmütiges Lachen hervor gerufen hätte, denn seine Stimme drohte umzukippen und weckte Assoziationen zu einem kleinen trotzigen Jungen. Aber die Umstände waren nicht normal. Sie lagen an diesem Waldrand, nur wenige hundert Meter entfernt von diesem drei Meter hohen Zaun, der im Vokabular der neuen Mächtigen nur „Außengrenze“ genannt wurde. Es war kalt, es regnete und der Regen gefror. Kein Wetter, auch nur einen Hund vor die Tür zu jagen.

Sie schon, denn es galt Kriegsrecht. Da waren Hunde besser dran als Wehrpflichtige.
„Keller, Friedrich, sie übernehmen!“, rief Wedelmann und die beiden Angesprochenen quittierten den Befehl.

Tim erhob sich und Thomas hielt ihn am Arm fest.

„Ruhig, Großer. Das hier ist kein Spiel. Da kannst du nur verlieren“, raunte er ihm zu.

„Da haben Sie verdammt recht, Soldat“, griff der Unteroffizier den Satz auf. Seine helle Stimme bekam einen triumphierenden Klang.

„Folgen!“ sagte er und wieder sollte seine Stimme streng klingen. Sie übergaben ihre Nachtsichtgeräte und folgten dem Vorgesetzten, der mit raschen Schritten dem verschlammten Graben folgte. Nach knapp fünfzig Metern bog er in Richtung Waldrand ab und die beiden Soldaten wussten nur zu gut, wohin dieser Stich des Grabens führte.

Nach wenigen Biegungen erreichten sie den flach ansteigenden Hügel und durch einen Schlitz in der Zeltbahn blitzte kurz ein Licht auf. Sie hatten den Unterstand des Zugführers erreicht. Gleich daneben hockte als pechschwarze Silhouette dessen Schützenpanzer in seiner Feuerstellung, abgedeckt mit einem Tarnnetz. Der Regen prasselte leise auf die Metallflächen.
„Rein da, Sie Unruhemacher!“, fauchte Wedelmann und hob die Plane an.

„Unruhestifter, wenn schon, denn ...“, murmelte Tim. Thomas rammte ihm im Vorbeigehen kurz den Ellenbogen in die Seite.
„Halt die Klappe!“, fauchte er ihn leise an.
Die drei traten gebückt in den Unterstand. Der war tief genug in den Hang gegraben worden, dass man sogar darin stehen konnte, wenn man nicht gerade ein massiger Mann von fast zwei Metern war, wie Tim John. Sein Helm streifte die grob behauenen Stämme, aus denen die Decke des Unterstandes bestand. Von einem hing eine Lampe und verbreitete gelbes Licht, das auf die beiden durchgefrorenen Soldaten und den Unteroffizier geradezu heimelig anmuten musste. In der Ecke links, gleich neben der niedrigen Pritsche stand ein kleiner Ofen, auf dessen Abdeckung eine verbeulte Aluminium-Kanne stand und leise summte. Es roch nach Kiefern, Kaffee und lange getragenen Stiefeln.

Am Tisch in der Mitte des Unterstandes stand Oberleutnant Siegfried Müller. Er mochte Anfang vierzig sein, aber er bemühte sich sehr um eine aufrechte Haltung. Als Reserveoffizier war er erst wenige Wochen nach Verhängung des Kriegszustandes reaktiviert worden. Im zivilen Leben – konnte sich noch jemand an diese Zeit erinnern, da es ein solches Leben gegeben hatte? – war er ein arbeitsloser Lehrer gewesen, dessen Fächerkombination unter den veränderten politischen Verhältnissen nicht mehr benötigt worden war. Aber irgendwie fand sich Müller in diesem neuen Leben ganz gut zurecht, ja man hätte sagen können, das er es in gewisser Weise genoss.

Er hob den Kopf von seiner Lektüre und fasste den kleinen Unteroffizier ins Auge. Der straffte sich machte vorschriftsgemäß Meldung, was angesichts seiner schmächtigen Gestalt ziemlich lächerlich wirkte. Müller unterdrückte den Anflug eines amüsierten Lächelns. Er mochte diesen Wedelmann nicht, aber dessen hast hündische Ergebenheit schmeichelte ihm auf der anderen Seite auch wieder. Kerle wie der hätten ihn als Lehrer nie ernst genommen. Seit er die zwei Sterne auf seinen Schultern trug, hatte sich das radikal verändert. Müller mochte das, er mochte es sehr.

„Was gibt es, Unteroffizier? Was hat unser Doppel-T nun wieder angestellt?“ Müller richtete sich auf, kam um den Tisch herum, blieb jedoch in gebührendem Abstand stehen, weil ihm rechtzeitig klar wurde, dass er würde zu dem großen Kerl aufsehen müssen. Keine Haltung, die er als respekteinflößend genug empfand.

„Der Gefreite schwatzt in einer Tour und vernachlässigt seine Pflichten auf Posten. Es ist absolute Ruhe befohlen, aber er verletzt diesen Befehl, obwohl ich ihn ermahnt habe, den Mund zu halten!“

Müller sah von Wedelmann zu John, dann zu Thomas und wieder zurück. Er seufzte etwas gekünstelt, setzte sich sichtbar gelangweilt mit einer Gesäßhälfte auf die Kante des Tisches.

„Unteroffizier, was wollen Sie denn nun von mir? Sie sind der Vorgesetzte dieser Beiden. Machen Sie sich gefälligst gerade und verschaffen Sie sich verdammt noch mal Respekt!“

„Herr Oberleutnant, es ist nur, dass wir ...“, hob Wedelmann mit einer Stimme zwischen Eifer und Weinerlichkeit an, zu widersprechen. Müller brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

„Also, meine Herren vom Diskussionsklub, was gibt es denn so Wichtiges, dass Sie es unbedingt auf Horchposten bereden mussten? Ihnen ist der Bedeutung des Begriffes Horchposten klar, Gefreiter?“ Müller hatte die Stimme leicht gehoben. Bei ihm klang das eindeutig nach Ärger.
„Jawohl, Herr Oberleutnant!“, stieß Tim laut hervor, reckte das Kinn vor und sah den Offizier herausfordern an. Der stumme Schlagabtausch der Blicke der beiden endete unentschieden.

„Also?“, hakte der Offizier nach und eine kleines Lächeln spielte um seinen Mund.

„Der Gefreite John hat mich ...“, begann Thomas, aber Müller brachte auch ihn mit einer unwirschen Handbewegung zum Schweigen.

„Sie reden nur, wenn Sie gefragt sind, Soldat“, wies er ihn mit gefährlich leiser Stimme zurecht, wandte sich wieder Tim zu.

„Ich höre?“

„Ich wollte von Soldat Kramer wissen, ob er glaube, dass Gott ein Gewissen hat“, antwortete Tim mit versteinerter Miene. Dann herrschte einen Moment Schweigen, in dem sogar das Bullern des Ofens in der Ecke zu hören war und das Prasseln des Regens auf dem Dach des Unterstandes.

„Steht die Beantwortung dieser Frage in irgendeinem Zusammenhang mit ihrer derzeitigen Aufgabe dort draußen, Gefreiter?“, erkundigte sich der Oberleutnant und ließ sich von der Tischkante gleiten.

„Ich denke schon, Herr Oberleutnant“, antwortete Tim mit fester Stimme. Thomas kannte den Freund seit Jahren und hörte diese kleine renitente Nuance heraus. Im Gesicht des Offiziers arbeitete es. Vermutlich hatte auch er das Provokante der Antwort sehr wohl zur Kenntnis genommen.

Wedelmann schnaubte verächtlich und warf John einen mehr als beredten Blick zu. Thomas, der ihm am nächsten stand, schüttelte fast unmerklich den Kopf. Sollte heißen: Junge, mach es nicht noch schlimmer! Der Unteroffizier nahm es nicht zur Kenntnis.

„So, so, Sie denken schon. Soll ich Ihnen sagen, was ich denke, Gefreiter?“ Müller baute sich zwei Schritte vor dem Hünen mit dem eingezogenen Kopf auf, die Hände auf dem Rücken verschränkt und tatsächlich auf den Fußgelenken wippend wie seine eigene Karikatur eines Möchtegern-Despoten.

„Ich denke, dass mir scheißegal ist, ob Sie da einen Zusammenhang sehen! Ihre Aufgabe ist es, diesen Zaun dort draußen zu schützen und zu verhindern, dass Menschen ihn unbefugt und unter Verletzung der Sicherheit unseres Vaterlandes überwinden. Alles andere, Gefreiter, ist intellektuelles Geschwätz, für das hier und heute Nacht kein Platz ist. Haben wir uns verstanden?“

Eigentlich hatte Müller sich diese Ansprache als wohl temperierten Steigerungslauf gedacht, der mit diesem kontrollierten Paukenschlag seinen Abschluss finden sollte. Ein inszenierter Ausbruch von Überlegenheit, wenn man so wollte.

Als er nun fertig war, war sein Gesicht von ungesunder Purpurfarbe, ein Speichelfaden hing ihm von der Unterlippe und er rang etwas nach Luft. Rasch drehte er sich zur Seite.

„Jawohl, Herr Oberleutnant!“, belferte neben Thomas der Gefreite John. Seine Stimme klang kräftig und fast schneidend. Er hatte eine trainierte Stimme, immerhin war er früher Solist in einem Gospelchor gewesen, bevor sich die politischen Verhältnisse verändert hatten.

„Herr Oberleutnant, gestatten Sie eine Bemerkung?“, fragte er und dämpfte seine Stimme auf ein normales Maß. Thomas verbiss sich ein Schmunzeln, weil er nur zu genau ahnte, dass sein Freund dieses Spiel mit seiner Stimme mit reichlichem Kalkül spielte.

„Nichts gestatte ich, Gefreiter. Sie werden mich hier nicht in eine sinnlose theologische Diskussion verwickeln, während sich da draußen Tausende von Fremden unserer ‚Aussengrenze’ näheren, unter ihnen wahrscheinlich eine Menge gefährlicher Terroristen. Schluss damit, John! Gott und Gewissen! Machen Sie, dass Sie auf Ihren Posten kommen!“

Die drei salutierten und verließen den Unterstand. Wenige Schritte entfernt hielt Wedelmann die zwei auf.

„Sie haben den Oberleutnant gehört, John. Ab sofort herrscht absolutes Schweigen auf Posten. Sie werden Ihren Horchposten zweihundert Meter weiter nach vorn verlegen, Gefreiter. Ich erwarte alle fünfzehn Minuten Meldung über Funk. Sie gehen allein. Haben Sie mich verstanden?“

„Damit überschreitest du kleiner Pisser deine Kompetenzen, das ist dir klar oder?“ Tim trat auf den Unteroffizier zu. Thomas schob sich vor den Freund, hielt ihn auf.
„Unteroffizier, Sie hatten ihren kleinen Sieg da drin. Lassen Sie es gut sein. Was soll er da vorn allein machen, was er nicht auch aus der vorgeschobenen Stellung sehen und hören kann. Wir halten ab sofort die Klappe. Ich sorge dafür.“ Thomas’ letzte Worte klangen so freundlich wie beschwörend. Wedelmann zögerte eine Winzigkeit lang, dann spürte Thomas mehr, als er es sah: sein Versuch war gescheitert.

„Keine Chance, Kramer. Ihr beiden tanzt mir nicht mehr auf der Nase herum“, zischte er und wandte sich demonstrativ zu seinem Schützenstand um. Zwei Schritte später drehte er sich in der Dunkelheit noch einmal um.

„Wollen Sie da Wurzeln schlagen? Wegtreten, im Laufschritt!“

John und Kramer kämpften sich durch den inzwischen fast knöcheltiefen Schlamm des Grabens zu ihrer vorgeschobenen Stellung vor. Der Regen hatte sich inzwischen dazu entschlossen, endgültig in Schnee überzugehen. Eine dünne Schicht hatte sich über den aufgeworfenen Deckungswall des Grabens gelegt.

„Ich dreh ihm das dürre Hälschen um, das verspreche ich dir, Tommy!“, raunte Tim humorlos, während er das Nachtsichtgerät anlegte und sein Funkgerät überprüfte.

„Nichts dergleichen wirst du tun, du Hitzkopf. Du raffst es nicht, Teddybär, das hier ist so etwas wie Krieg! Sie können dich wegsperren, wenn du so weiter machst. Die blöde Tussi kriegt es fertig und peitscht sogar noch das Standrecht durch, dann knallen sie dich über den Haufen, wie du dich aufführst.“ Er sprach sehr leise aber auch sehr eindringlich. Dabei sah er vor seinem inneren Auge das ständig dreitagebärtige Gesicht des Freundes, sah sein Grinsen und sah, dass sein Nicken immer noch ein klein wenig verschmitzt aussah. Verdammt, Tim John, werde erwachsen!

 

Morgengrauen.

Sie waren fast am Erfrieren. Inzwischen lag der Schnee fast fünf Zentimeter hoch. Die Sicht war fast Null. Tims Stimme im Funk wurde immer leiser und Thomas spürte, dass selbst die Kräfte des Riesen dort vorn am Schwinden waren.
Müller hatte schließlich – für Thomas Geschmack viel zu spät - ein Einsehen gehabt und den Zug in den bereits fast fertig ausgebauten Mannschaftsunterstand befohlen, wo es Verpflegung – natürlich kalt – und ein wenig Trockenheit für die Männer gab. An Feuer war allerdings nicht zu denken. So saßen die Soldaten murrend und zitternd in ihren durchgeweichten Kampfanzügen an die Wände des Unterstandes gelehnt und sehnten den Morgen herbei, der etwas Licht und Zuversicht zu versprechen schien.

Thomas Kramer lag noch immer in der vorgeschobenen Stellung. Mit seiner Zeltplane hatte er sich ein wenig Schutz vor dem Schnee und dem eisiger werdenden böigen Wind verschafft. Regelmäßig suchte er mit dem Nachtsichtgerät und dem Feldstecher mit Restlichtverstärkung den Abschnitt vor ihrer Stellung ab. Ohne Ergebnis. Die Müdigkeit hängte sich bleischwer an die Lider des Soldaten. Immer öfter rieb er sich mit schmutzigem, sanddurchsetztem Schnee das Gesicht ab, das sich bereits taub anfühlte, um sich wach zu halten. Weder Wedelmann noch Müller dachten daran, ihn ablösen zu lassen.

„Hat Gott eigentlich ein Gewissen?“, flüsterte Thomas in einem seltsamem Zustand von Halbschlaf vor sich hin. Und bekam seine Antwort.

Plötzlich war der Abschnitt vor ihnen in das gleißende Licht von Scheinwerfern getaucht, deren Finger durch das Schneetreiben zu ihnen herüber tasteten. Fahrzeuge näherten sich von jenseits der „Außengrenze“, viele Fahrzeuge. Wahrscheinlich Lastkraftwagen und Busse.

Thomas war im nächsten Moment hell wach und aus dem Funk kam ein knapper, überrascht klingender Ruf. Thomas handelte völlig mechanisch. Er gab das verabredete Zeichen und wenig später waren die geflüsterten Befehle der Gruppenführer im Graben zu hören. Ausrüstung schlug gegen einander. Bei dem ersten Durchladen eines Sturmgewehrs ging es Thomas durch und durch. Er griff zu seiner eigenen Waffe, von der er wusste, dass sie unterladen und gesichert war. Ihm grauste bei dem Gedanken, sie durchzuladen und damit schussbereit zu machen.

„Verdammte Ösies, die wollen Reffies durch den Zaun lassen!“, hörte Thomas Klaus Donner sagen, einen knapp vierzigjährigen Kerl, über und über mit abartigen Tatoos bedeckt, von denen er behauptete, die meisten stammten von seiner Zeit im Knast, als man seine, wie er sagte „vaterlandstreue“ Bruderschaft ausgehoben und wegen diverser Terroranschläge verurteilt hatte. Unter der neuen Regierung waren viele von ihnen nicht nur begnadigt sondern auch gleich als Freiwillige geworben worden. Thomas rieselte es eiskalt den Rücken hinunter, als ihm klar wurde, dass dieser Kerl da hinter ihm ein leichtes Maschinengewehr mit einer Trommel Nato-Munition in den Fäusten hielt.

Müllers Stimme hallte über das Stellungssystem.

„Männer! Wir werden diesen Abschnitt der ‚Außengrenze’ sichern. Hier werden heute keine Fremden unkontrolliert in unser Land einmarschieren.“

Thomas vernahm zustimmendes Gemurmel. Er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Allein, er hatte seit einem halben Tag nichts gegessen.

„Männer, wir werden besonnen handeln und Blutvergießen vermeiden, solange uns niemand dazu zwingt. Geschossen wird nur auf ausdrücklichen Befehl. Die Gruppenführer haften mir persönlich für die Einhaltung dieses Befehls.“

Müllers Stimme kam in Thomas Richtung. Der hatte den irrwitzigen Gedanken, sich herum zu drehen und seine Waffe ...
„Was geht da bei euch vor?“, hörte er Tims Stimme im Kopfhörer.

„’Independence-Day’-Ansprache von Müller. Ich kotze gleich“, gab er zurück und hielt sich dabei die Hand vor den Mund.

„Sag nicht, die wollen anfangen zu ballern. Du glaubst nicht, was da vorn gerade abgeht. Frauen und Kinder steigen aus den Autos. Die Grenzer von der anderen Seite eskortieren sie. Wenn auch nur ein Schuß ...“

Über der Szene erblühten drei, vier gelbgrüne Leuchtfeuer an imposanten Fallschirmen und tauchten den Abschnitt in trübes, diffuses Licht. Groteske Schatten tauchten auf wie trunkene Gestalten und verschwanden wieder. In die Männer hinter Thomas kam Bewegung. Wieder das Gänsehaut verursachende Geräusch von scharf gemachten Gewehren.

„Finger von den Abzügen, verdammt!“, rief er verzweifelt nach hinten und ließ sich tiefer in seine Stellung gleiten. Er spürte, wie ihm trotz der Kälte Schweiß den Rücken herunter rann. Er merkte mit großer Bestürzung, dass er Angst hatte, Todesangst und dass er auf bizarre Weise die Gefahr hinter sich wusste und nicht dort vorn bei diesem verdammten seelenlosen Zaun.

„Was tut sich am Zaun?“, fragte die eisige Stimme Müllers im Kopfhörer. Thomas erschrak, sah sich um. Seit wann war der Bastard bereits online?

„Ich kann nicht viel erkennen. Die Leuchtraketen blenden meine Nachtsicht. Der Schneefall ist zu stark.“ Thomas erkannte Tims Stimme kaum wieder. Klang so Angst und Verzweiflung?

„Sind Menschen am oder auf dem Zaun? Gefreiter, antworten Sie!“

„Soweit ich sehen kann, nicht.“

„Sind Sie sicher?“

„Sicher? Hier ist nichts sicher, wenn Sie mich fragen. Was ich sehe, sind dass Frauen und Kinder, die wie Vieh auf den Zaun zu getrieben werden von Grenzern von der anderen Seite. Das sind Zivilisten, unschuldige Menschen. Herr Oberleutnant, Sie dürfen auf keinen Fall das Feuer eröffnen lassen!“
„Tim, verdammt, was redest du denn da!“, war Thomas versucht, in das Headset zu brüllen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt.

„Halten sie die Augen offen, Gefreiter und sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe!“

Thomas setzte seinen Feldstecher an die Augen. Die Bilder waren verzerrt und verschwommen, aber dann, endlich, sah er, was sein Freund von weiter vorn noch viel deutlicher sehen musste. Die ersten Menschen versuchten, am Zaun empor zu klettern. Thomas sah, wie Gestalten abrutschten, verzweifelt versuchten, sich fest zu klammern und stürzten. Er setzte das Glas ab. Seine Kiefer knirschten auf einander, so sehr presste er die Zähne zusammen.

„Oh nein, bitte nicht“, hörte er gleich darauf Tims Stimme, ein Flüstern, rau und fast tränenerstickt. Thomas hob das Glas wieder an die Augen, stellte die Schärfe nach. Der Zaun war durchbrochen! Menschen drängten durch den Spalt, hasteten, rannten, stolperten, fielen, rappelten sich auf. Kamen direkt auf sie zu!

Es war einer der Schützenpanzer, der den ersten Schuss abfeuerte. Die ganze aufgestaute Anspannung des Infanteriezuges dort in der mehr schlecht als recht befestigten Verteidigungsstellung entlud sich in einer Salve aus zwanzig Kampfgewehren.

„Aufhören, aufhören!“, hörte Thomas das Rufen aus dem Funk. Das war keine menschliche Stimme mehr!

„Feuer halt! Feuer halt!“, brüllte er selbst aus Leibeskräften. Allein, der Lärm war ohrenbetäubend.

Plötzlich erklang ein schriller Schrei von weiter rechts aus einer der Stellungen der zweiten Gruppe. Rufe wurden laut, kulminierten in dem Ruf: Sanitäter!

Thomas registrierte nicht, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Er starrte wie gebannt durch seinen Feldstecher. Die Leuchtraketen waren am Verlöschen. Dunkelheit legte sich fast gnädig über die Szenerie.

„Tommy, bist du da?“, kam es flüsternd aus dem Funk.

„Ja Tim, ich bin da. Was ist los da vorn?“

„Ich weiß nicht Tommy.“

„Tim, alles in Ordnung?“

„Etwas hat mich getroffen, Tommy.“

„Bist du verletzt?“, fragte Thomas, ohne, dass ihm die Unsinnigkeit seiner Frage in den Sinn kam. Der Gedanke, Tim, der fast riesenhafte Tim John könnte verletzt sein, war für Thomas so weit weg von aller Wahrscheinlichkeit, dass es einen Moment brauchte, bis sich seine Tragweite in seine Bewusstsein gedrängt hatte. Dann aber brachen alle Dämme. Thomas sprang wie elektrisiert auf und stürzte los, nur von dem Gedanken getrieben, den verwundeten Freund zu finden und zu bergen, nach Hause zu bringen, weit weg von all diesem Irrsinn hier.

„Kramer, bleiben Sie stehen! Kramer, das ist Fahnenflucht!“ kreischte Wedelmann hinter ihm her.

„Tim ist verwundet. Ich hole ihn da raus! Knall mich ab, wenn du dich traust!“, schrie er über die Schulter. Einen winzigen Moment rechnete er tatsächlich damit, von einer Kugel getroffen zu werden und wunderte sich, dass er dabei keine Furcht empfand. Dann kehrte er zurück auf diesen Sturzacker und die Nacht auf seinen dreiundzwanzigsten Geburtstag.
Er fand Tim fast auf Anhieb. Er war bei Bewusstsein, aber das war fast genauso schlimm, wie das, was Thomas in dem kurzen Moment zu sehen bekam, als er seine Taschenlampe auf den Freund richtete. Ein Anblick, den er so tief in seinem Innern begrub, dass er nie auch nur ein Wort darüber verlor. Er versuchte, den Freund anzuheben und verfluchte seine eigene Schwäche und dessen Größe und sein kolossales, tödliches Gewicht. Tim schrie und weinte, dann endlich, schwanden ihm für ein paar Momente die Sinne.

Thomas begann, über Funk nach einem Sanitäter zu rufen. Er wurde nicht gehört. Das Schießen hatte aufgehört. Die Menschen hatten sich hinter den Zaum zurück gezogen.

Am Ende lag Tims Kopf auf Thomas’ Oberschenkel. Er kam wieder zu sich und diesmal war er klar und fast gefasst. Thomas wusste später nicht zu sagen, was ihm mehr zugesetzt hatte, die Schreie oder diese unnatürliche Ruhe des Freundes.

„Tommy, mein Freund“, sagte er mit verwaschener Stimme. Er versuchte, die Hand zu greifen, aber er war zu schwach.

„Ja, Tim“, sagte der und wandte alle Kraft auf, seine Tränen nicht hören zu lassen.

„Ich glaube, er hat keines. Wozu auch?“

 

Maggie träumt

 Diese Geschichte war der Septemberbeitrag 2016.
Aufgabe war, ein beliebiges Buch auf Seite 123 aufzuschlagen und einen beliebigen Satz, der aus mindestens 5 Wörtern besteht, auszuwählen und ihn in eine Geschichte einzubauen.

"Maggie nickte, als würde sie das nicht weiter verwundern."

Joe Hill „Christmasland“ Heyne-Verlag 2013 S. 123

 

Die Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Flüchtlingen aus vielen Teilen der Welt zeigt, dass die Probleme vielfältiger sind, als die manchmal zu plakative Darstellung in der deutschen Öffentlichkeit glauben machen will. Mich hat sie zu dieser erschütternden Geschichte angestiftet.

Klappentext des Originals:

"Maggie ist das ungeborene Kind von Melina, einer jungen Frau aus Somalia, die in einer Flüchtlingsunterkunft am Rande einer deutschen Kleinstadt lebt. Das Kind träumt. Es durchlebt nicht nur die Schrecken der Flucht der Mutter sondern auch eine mögliche Zukunft, die sie und ihre Mutter erwarten könnte. Eine Zukunft voller Schrecken und Hoffnung.
Aber die Zukunft ist ungeschrieben. Auch für Maggie und Melina."

 

Maggie träumt. Sie schaut über die Savanne, wo das Leben nach den Regenfällen der letzten Tage in geradezu verschwenderischer Pracht zurück gekehrt ist. Die Luft ist erfüllt vom berauschenden, betörenden Duft der wilden Blumen und Gewächse, der sich mischt mit den scharfen Gerüchen der Bewohner des weiten welligen Landes, denen der Jäger und der Gejagten.

Auch der Geruch des Todes.

Nirgendwo gehört er selbstverständlicher zum Leben als hier.

Maggie träumt. Sie träumt die Erinnerungen von Tausend Generationen, sie trägt sie in sich wie einen Schatz. Sie riecht den beißenden Qualm, brennendes Fleisch. Ein großer Mann mit glühenden Augen kommt über das dürre Gras auf sie zu, in der Hand ein blutiges Ding. Maggie spürt Furcht. Sie spürt, dass es kein Entkommen gibt. Schmerz.

„Es ist so unruhig“, sagt Melina und legt ihre schlanke Hand mit gespreizten Fingern auf ihren Bauch. Das kleine Wesen spürt die Berührung, dreht sich ihr zu. Melina lächelt ihr tränennahes Lächeln. Die Reaktion des Kindes unter der Hand gibt ihr Kraft. Die Unruhe des Ungeborenen verebbt. Verena sieht die Frau von der Seite an, scheu, mit Augen, bereit, sich sofort zu senken, würde Entdeckung drohen. Verena fühlt sich in Momenten wie diesen immer etwas überfordert. Sie kann sich das alles irgendwie nicht vorstellen, die Schwangerschaft, die Flucht, die Entbehrungen und Gefahren. Die kaum verheilte Wunde am Stumpf des rechten Arms, wo die Hand fehlt ...

Verena unterrichtet in ihrer Freizeit Deutsch für eine Gruppe von neun Flüchtlingen aus dem Heim am Rande der Stadt. Eigentlich müsste sie lernen und noch viel mehr müsste sie sich um ihren Job beim Discounter im Einkaufszentrum kümmern. Ihre Chefin ist nicht gut auf sie zu sprechen und die Kolleginnen tuscheln. Eigentlich müsste sie das mit Jacob in Ordnung bringen. Eigentlich.

Aber Melina hat nur eine Hand. Sie braucht ihre Hilfe. Das Schlimmste aber ist, dass sie niemanden hat, mit dem sie reden kann, bei dem sie ihre Zweifel los wird und ihre Fragen. Zu Hause? Sie hat es aufgegeben, sich vor ihrem verbitterten Vater zu rechtfertigen, der sich gar nicht erst die Mühe macht, sie anzuhören oder zu verstehen. Inzwischen flieht Verena vor den mißbilligenden Blicken und dem gefriergetrockneten Schweigen am Abendbrotstisch in die tristen Räume des Flüchtlingsheims, die immer mit Leben erfüllt sind. Die Menschen haben so wenig, aber sie geben gern, vor allem sind sie dankbar.

Oft trifft sie sich mit ein paar Mitschülern dort. Einige finden es schick, sich mit den Flüchtlingen abzugeben, andere kommen aus wirklichem Interesse. Jacob hatte auch dazu gehört. Seit einiger Zeit nicht mehr. Verena hat den Verdacht, sein Fortbleiben hätte mit ihr und ihrer Freundschaft mit Melina zu tun. Die Jungs sind manchmal so unreif, wenn sie eifersüchtig werden.

„Es wird ein Mädchen“, sagt Melina neben ihr mit dieser seltsam beiläufigen Zuversicht, die sie einhüllt, wie ein Kokon, wenn sie von ihrem Kind spricht.. „Maggie“, setzt sie nach einer kleinen Pause hinzu, ihr Lächeln gibt ihre so wunderbar weißen Zähne frei mit der Lücke zwischen den Schneidezähnen. Und wieder sieht Verena über diesem Strahlen die Trauer. Es ist nicht leicht, sich daran zu gewöhnen.

„Meine shangazi heißen so“, erklärt sie. Verena verbessert sie wie nebenbei. Melina wiederholt das Verb. „Shangazi?“, fragt Verena nach. Melina schaut fragend zurück. Ihr Lächeln wirkt ratlos. Sie lernt so gut, weiß Verena, aber sie traut sich so wenig zu. Verena versteht das nicht. Eine Frau, die es bis hier her geschafft hat, müsste so stolz und voller Zutrauen zu sich selbst sein. Es ist gut, dass Verena nicht alles weiß, was der dunkelhäutigen Frau auf ihrem Weg begegnet ist. Sie trägt schwer genug. Sie tragen beide schwer genug. Nur, dass Verena irgendwann wissen wird, dass sie das reicher gemacht haben wird.

Melina versucht eine Erklärung. Verena nickt ihr zu, läßt keinen Blick von den ausdrucksvollen Lippen, die bei besonderem Licht fast oliv schwarz wirken. „Tante?“, bricht sich die Erkenntnis Bahn, „Tante!!“ Beide freuen sich. Wer lernt von wem?

 

 

Maggie träumt. Sie sieht die elenden Hütten, riecht den Gestank von faulenden Abfällen und Fäkalien. Kinder lungern apathisch in der Sonne, umschwärmt von Fliegen, die sich ungestört in den fast greisenhaft wirkenden schmalen Gesichtern niederlassen, auf Nasen, Lippen und Augenlidern. Kaum ein Kind hat die Kraft, die Plagegeister zu vertreiben. Maggie spürt Angst, Wut und Hunger. Eine Hand stielt sich in ihre, umklammert kurz ihre Finger, gibt ein heimliches Zeichen.

Maggie nickt, als würde sie das nicht weiter verwundern. Hinter ihr steht Neele, schmal, blond und hochgewachsen. Ihr Gesicht ist blaß, ein seltsamer Kontrast zu der staubigen Hitze dieses Ortes.

„Wie ekelhaft“, sagt eine nasale deutsche Frauenstimme halblaut, „ kein Wunder, dass die alle krank werden!“ „Sie wären besser im Hotel geblieben, Miss. Das hier ist kein Ort für eine Frau wie Sie“, sagt Maggie und dreht dabei nur halb den Kopf. Ihr Akzent ist inzwischen kaum noch zu merken. „Wie meinst du das? Das ist ziemlich unhöflich! Wir sind schließlich zum Helfen hier her gekommen“, sagt die Stimme schnippisch. Neele dreht sich zu der Frau um, deren Gesicht - besser das, was davon nicht durch die große dunkle Brille verdeckt wird – grell rot leuchtet und schweißnass glänzt. Ihr blasser Mund ist zu einem mürrischen Strich verkniffen. Ihr blondiertes Haar hat von seiner Eleganz eingebüßt im Verlauf des Tages auf der staubigen Piste.

Neele kneift ein Auge zusammen, eine Angewohnheit, die sie mit ihrer Mütter teilt. „Dazu wäre es gut, wenn Sie bisschen mehr Verständnis aufbringen würden, Frau Richter“, sagt sie und klingt etwas altklug. Die groß gewachsene Frau verzieht den Mund noch etwas mehr, wendet sich ab.

„Ihr dürft tatsächlich etwas höflicher zu Frau Richter sein!“, sagt Melina von hinten mit leisem Tadel. Neele wendet sich zu ihr um und schaut ihr ins Gesicht, erkennt die winzige verständnisheischende Geste und nickt. „Es ist für Europäer nicht leicht zu verstehen, wie die Menschen hier leben. Viele haben sich das hier auch nicht ausgesucht, wissen Sie“, erklärt die Frau, die ihre verstümmelte Rechte geschickt verbirgt. Frau Richter, froh endlich eine Erwachsene vor sich zu haben, entspannt sich ein wenig, tritt näher. Melina bittet sie, ihr in das flache Gebäude der Verwaltung zu folgen. Der Tochter gibt sie unbemerkt ein Zeichen. Maggie nickt ebenso unbemerkt. Ein Schatten fliegt über ihr hübsches, ebenmäßiges Gesicht mit den großen dunklen Augen. Sie schaut die staubige Gasse zwischen den Hütten hinunter. Das Flimmern der Hitze macht die Szene unwirklich. „Wir sollten von der Straße runter“, raunt sie Neele zu, bewegt kaum die Lippen dabei.

„Warum? Was ist los?“, will die wissen, die Hände in die Seiten gestemmt. So sieht sie aus, wenn sie Ärger wittert. Das war schon in der Schule so, wenn die Jungs blöde Sprüche geklopft haben wegen ihrer farbigen Freundin. Sie war schon immer einen Kopf größer als die meisten in ihrer Klasse. Damals in Deutschland. Die Jungs hatten schnell begriffen, dass man sich mit ihr besser nicht anlegte. Hier allerdings liegen die Dinge anders. Sehr viel anders. Maggie nimmt Neeles Hand und zieht sie mit sich. Die versteht nicht, will sich losreißen.

Ein alter Toyota-Pickup unbestimmter Farbe biegt in die Gasse zwischen den Hütten ein. Er beschleunigt und wirbelt rötlichen Staub auf. „Geh rein!“, herrscht Maggie die Freundin an und deutet auf die Türöffnung des Hauses, in der sich träge ein Perlenvorhang bewegt. Ein zweiter Wagen folgt dem Pickup, auf dessen Ladefläche ein Maschinengewehr montiert ist. Ein großer, schlacksiger Junge steht sehr stolz und aufrecht hinter der Waffe, die knochigen Kinderhände um die Griffe rechts und links gekrampft. Vier oder fünf weitere Jungen, alle nicht älter als dreizehn, springen von der Ladefläche, kaum, dass der Wagen zum Stehen gekommen ist. Sie tragen russische Sturmgewehre, die eigentlich viel zu groß sind für die schmächtigen Körper, die mageren Arme und die dünnen Beine, deren Knie wie Wulste aussehen. Keiner trägt mehr als eine Dreiviertelhose aus ausgeblichenem Segeltuch in Tarnfarben und schmutzige Trägerhemden in verwaschenem Grün. Sie kommen näher, ahmen den wiegenden Gang nach, den sie von den Männern abgeschaut haben im Camp, wo sie ausgebildet werden. Maggie schaut ihnen entgegen, unbewegt. Neele steht einen Schritt hinter ihr, überragt sie um einen Kopf und ihr blondes Haar wirkt wie ein Fanal. Der zweite Wagen kommt mit einem Quietschen neben dem Pickup zum Stehen. Die hintere Tür des Geländewagens öffnet sich und ein älterer, sehr schlanker und groß gewachsener Mann steigt aus, wobei er sich bücken muss. Er trägt einen Kampfanzug, an dessen Koppel eine gewaltige Automatik in einem Holster steckt. Der Ankömmling rückt sie mit einer beiläufigen Geste etwas nach hinten, seine großen Hände prüfen mit einer Bewegung, die Gewohnheit erkennen lässt, den Sitz seines Barretts mit dem Abzeichen über dem rechten Auge. Er kommt auf die Mädchen zu, langsam, bedächtig. Bei ihm sieht dieser wiegende Gang bedrohlich aus. Maggie kennt diesen Mann. Sie erinnert sich an das Gefühl der Unabwendbarkeit und den Schmerz. Sie schließt kurz die Augen. „Kommt ins Haus, Kinder!“, ertönt Melinas Stimme hinter ihnen, ruhig, fest, entschieden.

 

Melina liegt wach. Um sie herum die nie ganz verstummenden Geräusche der Flüchtlingsunterkunft. Neben ihr schläft Amani den unruhigen, leichten Schlaf der Flüchtenden. Sie ist erst wenige Tage hier und noch sehr verschüchtert. Ihre Schürfwunden an den Händen und Knien heilen nur langsam. Melina versucht ihr mit ihrer freundlichen Art zu helfen, aber sie stößt auf Angst und Ablehnung. Die junge Frau ist aus Eritrea. Melina kennt die Ablehnung ihres Stammes nur zu gut. Aber hier in Deutschland spielt das keine Rolle. Hier sind sie alle nur Fremde, im besten Fall geduldet. Amani bewegt sich unruhig und stöhnt leise. So geht das jede Nacht, seit sie hier angekommen ist.

Maggie ist auch unruhig. Melina flüstert ihrer Tochter leise Kosenamen zu, legt die Hand auf den geschwollenen Bauch, mit dem sie sich unförmig vorkommt, der sie aber vor den Männern schützt. Allein, das Ungeborene tritt sie kräftig und Melina glaubt Schmerz und Angst zu spüren. Sie zieht die Decke enger um sich, fröstelt ein wenig, obwohl es heiß und stickig in dem kleinen Zimmer ist. Draußen auf dem Flur werden Stimmen laut. Männer streiten in einer Sprache, die Melina nicht versteht. Türen knallen. Der Streit geht weiter, gedämpft durch die dünnen Wände. Sie müsste auf die Toilette. Das Kind drückt auf ihre Blase. Aber um diese Zeit ist es nicht gut, sich auf dem Flur blicken zu lassen. Außerdem sind die Toilettentüren der Frauentoilette zwar verschließbar, aber das ist ein Witz. Mit jeder beliebigen Münze kann man den Riegel aufsperren. Sie könnte ein Gefäß nehmen, aber der Geruch des Urins würde die Luft noch unerträglicher machen. Seufzend und schwerfällig erhebt sie sich. Sie sieht im Dunkeln die Augen der Mitbewohnerin schimmern wie angelaufenes Metall.

Die Macheten der Männer in ihrer Heimat schimmerten so ...

Sie reißt sich von der Erinnerung los, spürt ihre rechte Hand jucken. Ein Gefühl, das sie wahnsinnig machen will. Lautlos öffnet sie die Zimmertür einen schmalen Spalt. Der Flur ist halb dunkel und die Neonröhren flackern klimpernd. Die Szene ist angsteinflößend. Aber Melina hat keine Wahl. Sie geht dicht an der Wand hinüber zu den Sanitärräumen. Eine Tür öffnet sich neben ihr, sie schaut in das erschreckte Gesicht eines Mädchens. Die Tür wird rasch geschlossen. Melina erreicht die Toilette. Es wird höchste Zeit. Sie haßt dieses Gefühl, so ausgeliefert zu sein, ständig unter Druck. Einzig die Stunden mit Verena geben ihr ein wenig Geborgenheit. Sie ist nur drei Jahre älter als das Mädchen mit dem blonden Haar und der Zahnspangen im Mund. Manchmal wünscht sich Melina die Unbekümmertheit der Deutschen, die Fähigkeit, den Menschen zu vertrauen, sich sicher zu fühlen. Manchmal schafft Verena es sogar, dass sie beide über die selben Belanglosigkeiten kichern, wie es Teenager überall auf der Welt tun. Nur weiß Melina nichts davon. Das Boxen des Kindes holt sie unsanft in die Wirklichkeit zurück. Sie spürt die Flüssigkeit an ihren Beinen hinab laufen und ist ärgerlich auf sich selbst. Hat sie es wieder nicht mehr rechtzeitig geschafft! Scham steigt in ihr auf. Sie erinnert sich an die endlosen Stunden auf dem Boot. Es hatte keine Möglichkeit gegeben, sich unter würdevollen Bedingungen zu erleichtern. Bald hatte sich in der Hitze auf dem Boot der scharfe Gestank der Fäkalien breit gemacht. Die Helfer der Schlepper hatten die dicht bei dicht zusammen gepferchten Menschen verhöhnt und als dreckige Tier beschimpft. Man hatte sie trotz der Atemmasken gut verstanden ...

Melina versucht auf der Toilette, sich zu erleichtern, aber das Gefühl, das sie hat ist fremd und macht ihr Angst. Sie geht seltsam breitbeinig hinüber in den Waschraum, will sich säubern. Seit der Stunden auf dem Boot verspürt sie geradezu zwanghaft das Bedürfnis, sich ständig zu säubern, damit sie den Geruch von Urin nicht mehr atmen muss. Aber der Geruch stellt sich nicht ein. Sie ist nicht allein im Waschraum.

Neben den Waschbecken kauert am Boden ein Mädchen. Melina hat sie schon ein oder zwei Mal gesehen, in der Küche, auf dem Flur. Manchmal unten auf dem Spielplatz der Kinder, wo sich die jungen Mütter treffen. Bei Melinas Eintreten hebt sie kurz und fast angstvoll den Kopf. Ihr Gesicht sieht übel aus. Das linke Auge ist zugeschwollen und über der Augenbraue trocknet das Blut einer Platzwunde. Die Lippe ist geschwollen und gespalten. Ein hellroter, schmaler Blutsfaden läuft über das schmale Kinn und tropft auf ihr Shirt, das dunkel ist von Blut und Feuchtigkeit. Melina ist entsetzt.

Ihr Herz springt. Sie versucht, sich zu dem Mädchen herunter zu beugen. Ein Stich in ihrem Unterleib will es verhindern. Sie ignoriert es. Sie ignoriert das seltsame Gefühl zwischen ihren Beinen. „Was ist passiert?“, fragt sie in ihrer Sprache. Das Mädchen kommt vermutlich aus Syrien oder aus Afghanistan. Sie sieht sie trostlos und bar jeden Verstehens an. Melina nimmt das Mädchen in den Arm. Soweit sie dazu in der Lage ist. Ihr Bauch ist hart. Ihre Brüste sind hart. Plötzlich spürt sie ihren Körper mit elementarer Gewalt. Die erste Wehe setzt ein. Das Rinnsal unter ihr wird zum Plätschern. Melina dämmert, was geschieht, den Kopf des Mädchens zärtlich an sich gedrückt. „Arzt!“, sagt das Mädchen zu ihr auf Deutsch. Melina sieht sie an. Das Mädchen schaut zu Boden. Das wirkt grotesk mit dem zugeschwollenen Auge und der blutenden Lippe. Melina aber beginnt zu verstehen. Sie versucht, sich zu erheben, aber das Ziehen in ihrem Leib wird stärker. Ächzend und mit einem nassen Plumps landet sie auf dem nassen Boden des Waschraums. Sie kämpft die aufkommende Panik nieder.

„Hol Hilfe“, sagt sie mit ihrer tiefen Stimme und dem singenden Akzent ihrer Landsleute. Das Mädchen nickt und erhebt sich. Ihre Knie sind aufgeschürft. Melina will nicht wissen, warum. Ihr Denken zieht sich um das kleine ungeborene Leben in ihrem Leib zusammen. Nichts anderes ist mehr wichtig.

 

Maggie träumt. Ihr Kopf dröhnt und ihr ist schwindelig. Das spärliche Licht im Raum dreht sich in einem irren Muster um ihre halb geschlossenen Augen. Ihre Zunge klebt wie ein Kloß halb garen Manioks an ihrem Gaumen. Vielleicht würde sie Blut schmecken, aber ihr Mund ist wie ausgedörrt. Neele sitzt neben ihr und hält ihre Hand. Unter normalen Umständen würde sich Maggie fragen, warum da eine Alte-Frau-Version ihrer Freundin sitzt und ihre Hände hält. Aber die Umstände sind nicht normal. Drüben bei den Ballen mit der schmutzigen Baumwolle sitzt Frau Richter. Ihr Kinn zittert, wenn sie sich unbeobachtet fühlt. Aber sie ist unter der Fassade aus ziemlich solidem Stahl, elastisch aber ziemlich unbeugsam. Hat vor ein paar Tagen Neele auf ihre altkluge Art ihrer Freundin flüsternd erklärt. Das war, bevor sie das Camp wechselten und ...

Maggie denkt nicht fertig. Irgendwie ahnt sie, dass ihre Gedanken die Dinge beeinflussen. Manche Unaussprechlichkeit bleibt ungedacht. Für Neele kommt diese Gnade zu spät. Aber Neele wird irgendwann wissen, um wie viele Erfahrungen sie reicher geworden sein wird, selbst um die abscheulichsten.

Es geht um Geld und um eine Demonstration der Macht. Sie haben eine irrwitzige Summe Geldes verlangt. Seitdem wechseln sie andauernd das Quartier. Die Geiseln wissen seit ihrer Gefangennahme nicht mehr, wie weit sie weg sind vom Flüchtlingslager. Die Luft ist dünner und es ist kühler. Maggie vermutet, sie sind höher hinauf in die Berge gebracht worden. Ein paarmal haben sie Lärm und Schüsse gehört und Frau Richter hatte aufgeregt geflüstert, dass sie nun endlich befreit würden.

„Mein Mann wird uns hier raus holen!“, hatte sie mit heiserer Stimme erklärt. Ihr Mann hatte zumindest zwanzig Prozent des Lösegeldes zur Verfügung gestellt, als die Verhandlungen endlich Erfolg hatten. Aber das würde noch Wochen dauern. Maggie wusste, sie hatte keine Wochen mehr. Niemand würde für eine schwarze Halbwüchsige ohne Mutter Lösegeld bezahlen. Der Schmerz des Verlustes hatte das kleine unschuldige Denken noch nicht vollends erreicht. Die Schüsse, die Schreie, das Feuer, alles schien unwirklich.

Maggie träumt. Es ist die Erinnerung an die Zukunft, wie sie sein kann. Neeles Finger trösten. Sie trösten trotz allem. Melina öffnet die Augen mühsam.

 

 

„Da ist sie“, sagt die Schwester und legt ihr das notdürftig gesäuberte Kind auf den Bauch. Melina berührt es fast ehrfürchtig. Die Schwester hilft. Dann liegt das Kind in ihrem Arm. Ihr Fühlen füllt den engen Kokon um sich und das Kind, während der Arzt sie näht und die Schwester sich um sie bemüht. Das Kind öffnet die Augen, schwarz und jenseits von allem Verstehen. Maggies Traum endet. Das Leben beginnt. 

Impressum

Bildmaterialien: Coverbilder Anthologien 2014 u. 21015 copyright Heike Helfen
Tag der Veröffentlichung: 24.05.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An die fleißigen und freundlichen Autoren der Anthologie-Gruppe. Mit einem großen Dank an Saskia

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