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Der alte Mann und der Revolver

„Hast du alles?“, fragte sie beim Abschied. Sie fragte das immer. Ich nickte. Ich nickte immer auf diese Frage. Vor ein paar Wochen war ich gleich darauf in der S-Bahn von einer etwas unwirschen Frau mittleren Alters aufgefordert worden, meinen Fahrausweis zu zeigen. Da merkte ich, dass ich zuvor etwas unbedacht genickt hatte. Ein ärgerliches und überdies teures Nicken. Seither fragte meine Frau mit unter einmal öfter.

„Hast du dein Portemonnaies, dein Handy, die Schlüssel?“ Ich klopfte lächelnd an die Taschen meiner Jacke. Ich hatte alles. Ich hatte sogar die kleinkalibrige Waffe in meinem Rucksack. Die besonders. Aber nach der fragte sie nicht. Ich glaube, sie hatte sie schon lange vergessen. Zuletzt hatte ich unter ihren mißbilligenden Blicken damit an Silvester herum geballert. Das war jetzt vier oder fünf Jahre her? Egal. Sie dachte ganz gewiss nicht mehr an das kleine Ding, das hell bellende Schüsse abgeben konnte. Natürlich nicht mit richtiger Munition. Die winzigen Kapseln mit dem Tränengas hatte ich schon längst fortgeworfen, weil meine Enkeltochter die kleine runde Dose entdeckt und zum Spielen benutzt hatte. Auch so eine Sache, die Kathrin, meine Frau nicht wissen dürfte. Sie hatte es früher ohnehin beunruhigend gefunden, eine solche Waffe im Haus zu wissen. „Wer eine Waffe besitzt, wird sie auch irgendwann benutzen“, hatte sie zu sagen gepflegt, die eine Augenbraue hochgezogen und den schönen Mund mit mildem Tadel verzogen. Sie würde sich allerdings nicht ausgerechnet haben, wie prophetisch Ihre Wort dereinst einmal werden würden.

Die Zeit indes war gekommen.

Vielleicht, so überlegte ich, würde es ja reichen, dass ich sie dabei hatte. Vielleicht. Aber ich glaubte nicht wirklich dran.

Ich hatte den Türknauf schon in der Hand, als sie an die Tür kam, mit der Rechten den Morgenmantel vor der Brust zusammen gerafft.

„Gib auf dich acht, hörst du“, sagte sie, lehnte sich aus der Türöffnung und spitzte den Mund. Ich trat auf sie zu und küsste sie auf die warmen, trockenen Lippen. Für einen winzigen Moment kam mir der Gedanke, dass ich es doch eigentlich auch morgen noch erledigen könnte. Hatte ich so lange gewartet, kam es da noch auf einen weiteren Tag an?

Ja, kam es. Wenn ich jetzt zauderte, würde mich am Ende der Mut verlassen. Nein, ich musste es hinter mich bringen.

Ich verließ das Haus, sah mich noch einmal um und sah, wie sich die Gardine am Küchenfenster bewegte. Kathrin sah mir nach. Sie sah mir fast immer nach. Selbst wenn ich nur um die Ecke zum Backshop ging, um Brötchen und eine Zeitung zu besorgen. Trotzdem hatte ich ein seltsames Gefühl. Diese Frau kannte mich besser als den Inhalt ihrer Handtasche. Hatte sie etwas bemerkt? Ich stopfte die Hände in die Jackentasche, zuckte die Achseln und lief los. Die Sonne blinzelte zwischen den Wolken hervor, weiß wie ein Glas Milch. Es war früher Vormittag und an der Bushaltestelle standen nur ein paar alte Frauen und zwei Schulkinder. ‚Die müssten doch längst in der Schule sein!’, entrüstete sich mein Altmänner-Ordnungssinn in mir. Die alten Frauen unterhielten sich ziemlich ungeniert und laut über eine Fernsehsendung vom Vorabend. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich vermutlich älter war, als sie. Keine Erkenntnis, die mich fröhlicher stimmte. Wer könnte auch fröhlich sein, wenn er, wie ich, zu einem solchen Vorhaben aufbrach. Das Gespräch der Beiden – geführt im furchtbar gewöhnlich klingenden Idiom der Vororte der großen Stadt – ließ meine Nackenhaare sich aufstellen. Ich spürte das Kribbeln in den Händen und war froh, dass der Bus endlich kam. Ich blieb vorn hinter dem Fahrer sitzen, während die beiden Weiber – ich nannte sie bei mir und reichlich gehässig so – weiter nach hinten durchgingen, ohne freilich ihr Getratsche zu unterbrechen.

‚Was gehen dich eigentlich diese Klatschmäuler an!?’, schalt ich mich selbst. In meinem Innern spannte sich eine dünne, silbrig glänzende Klavierseite.

‚Sind Klavierseiten nicht kupferfarben?’, meldete sich dieser lästige kleine Kerl in meinem Hinterkopf; der mit dem Bürstenschnitt, den alle nur den Klugscheißer nannten, wenn sie ihm begegneten. In letzter Zeit allerdings weniger. Kathrin sagte das nie.

Der Bus entließ mich beim Bahnhof. Ich stand etwas zweifelnd vor den Fahrplanaushängen. Schließlich nahm ich den alten, abgenutzten Rucksack von den Schultern und kramte den Ausdruck vom Routenplaner hervor. Ich hatte ihn heute früh noch einmal genau studiert. Aber ich konnte mich nicht mehr besonders gut auf mein Gedächtnis verlassen. Im Alter ließ alles nach. Nur die Erinnerung nicht. Zumindest diese nicht. Ein Blick auf den Ausdruck genügte. Ich wusste es wieder. Eigentlich war es ganz einfach. Ich besann mich auf die Zeiten, als ich noch in der Stadt gearbeitet hatte und jeden Tag mit der Bahn gefahren war. Es war nicht ganz so wie Fahrradfahren, aber fast.

Es war wie immer. Drei Stationen Ruhe im fast leeren Waggon, dann fiel eine Schulklasse Zweitklässler ein. Mein Magen war eine heiße, harte Kugel und ich biß die Zähne auf einander, damit ich nicht laut wurde. Lauter als die sich überschreienden Kinder, die mit der ihnen eigenen Unbekümmertheit das Abteil annektierten, ohne Rücksicht auf Menschen wie mich. Ich war eine vergessene Geschichte für sie. Der Junge neben mir schaute ungeniert auf das Display meines Tablets, beugte sich sogar etwas herüber, damit er besser sehen konnte, was ich alter Mann mit einem solchen Gerät wohl anstellen mochte.

Ich schrieb. Wie langweilig! Ich zwang mich, ihm in die Augen zu blicken.

Hätte ich auch nur gewagt, mich neben einen alten Mann zu setzen und ihm so offensichtlich auf die Pelle zu rücken, als ich in seinem Alter war?’ Ich schüttelte innerlich den Kopf bei der Überlegung. ‚Nein, ganz sicher nicht’, bestätigte ich mir meine Vermutung.

War das nun gut oder schlecht?’, fragte ich mich.

Der Junge verlor das Interesse an dem leeren Display mit den wenigen Zeilen Text. Er drehte sich herum, kniete sich auf den Sitz und sah aus dem Fenster. Seine Schuhe – neonfarbene Sportschuhe einer bekannten Marke, die solche Schuhe von Kindern seines Alters irgendwo in China oder Indien herstellen ließ – streiften mein Hosenbein.

„Paul, richtig hinsetzen, hatten wir gesagt!“, meldete sich die etwas gestresst klingende Stimme der Lehrerin von der Tür her. Paul ignorierte sie. Ich war einen Moment gespannt, wie das ausgehen würde, aber ich wusste es eigentlich schon. Ich schob den Fuß des Jungen etwas zur Seite. Er sah mich kurz an. Das da draußen war interessanter. Ich kam mir für einen Moment noch älter vor, als ich ohnehin schon war. Eigentlich müsste ich jetzt der Lehrerin helfen, sich gegenüber Paul durchzusetzen. Etwas sagen, ihn zurechtweisen. Ich sagte mir, dass dies nicht mehr mein Kampf wäre. Meine Kinder hatten gewusst, wie man in einer S-Bahn saß. Hatten sie das wirklich? Wie oft waren wir damals mit der Bahn gefahren? Hatte ich nicht eigentlich die Ahnung, dass es sein könnte, dass der Junge auch mich einfach ignorierte? Wollte ich das wirklich riskieren?

Die Klasse stieg aus. Ich sah Ihnen nach und hatte eine Ahnung, dass die beiden Lehrerinnen heute Abend ein wenig erschöpfter sein würden als sonst. Vermutlich auch froh, dass nichts passiert war. Ich wusste, dass ich sie nicht um das beneidete, was sie taten.

Der Gedanke brachte mich auf seltsam abenteuerlichen Pfaden zurück zum Zweck meines Ausflugs. Würde mich einer bedauert haben wegen dem, was ich erlebt hatte? Würde es heute noch jemand überhaupt verstehen können, was uns damals antrieb? Würde jemand mein Motiv akzeptieren können? Ich fürchtete, die Antwort darauf zu kennen. Sie könnte einen niederschmettern oder machen, dass man trotzig den Rücken durchdrückte. Ich hatte beides schon durchlebt. Ich sah mich, wie ich dort saß in der S-Bahn auf meiner Reise durch die Hauptstadt, nicht als Opfer. Es stand mir nicht zu, das so zu sehen, auch wenn es einfach gewesen wäre. Es gab nicht wenige, die sich bei den Opfern, den tatsächlichen wie den vermeintlichen, eingereiht hatten. Nicht jedem gelang es auf der Jagd nach Geld, Karriere und ein wenig Macht, die Erinnerung an die eigene Verantwortung zu bewahren. Weil die Umwidmung der Geschichte plötzlich modern war, hatte sich so mancher gleich der eigenen Geschichte auf diesem Weg entledigt. Es gab nur ganz Wenige, denen ich dies nicht nachsehen konnte. Zu einem von denen war ich auf dem Weg.

Oh ja, ich hatte durchaus meine sehr persönlichen Gründe. Ich sah mich nicht als Robin Hood der Menschen, die mit jedem Jahr, das ins wiedervereinte Land ging, immer ein Stückchen mehr in die Rolle von Zeitzeugen hinein alterten, Zeugen, die noch wussten, wie das gewesen war, ein DDR-Bürger zu sein. Ich weinte diesem Staat keine Träne nach, oh nein! Bei dem Gedanken verzog ich für einen Moment spöttisch das Gesicht. Dem Land und seinen Möglichkeiten, den Menschen, die dort gelebt hatten, ihre Spuren hinterließen, durchaus. Ganz und gar ohne die Nostalgie ewig Gestriger.

Das mit Herrn Lehmann war eine persönliche Geschichte. Wenn man so wollte, konnte man sie wie ein im Brennglas fokussiertes Beispiel dafür nehmen, wie und durch wen unser Land zugrunde gerichtet worden war: Leuten, wie Herrn Lehmann und wie mich. Ich war über das Pathos dieses Gleichnisses längst hinaus.

Ich sah aus dem Fenster. Die Stadt glitt an mir vorbei. Die Bahnstrecken hatten an vielen Stellen ein gelinde verkommenes Aussehen. Weil ich es schon mit Gleichnissen hatte, überlegte ich, dass sie ein wenig das Dilemma unserer Gesellschaft widerspiegelten: tote Gleise, die ins Nichts führten, Liegengelassenes, der Zeit preisgegeben, mangels weiterer Verwendung. Kleingartenidyllen wechselten mit graffitibeschmierten, halb verfallenen Industriebrachen ab, blinde Fenster starrten resigniert. Die Gleise schlugen mal Schneisen in die Landschaft der Stadt, mal waren sie eingebettet wie Adern in den pulsierenden Leib der Metropole. So war sie nun einmal, die Stadt Berlin, die nachlässig gekämmte Geliebte ihrer Bewohner, verlacht und beschmunzelt, verbittert und auf spröde Weise gebraucht.

Mir war ihre Schlampigkeit wie ihre Großzügigkeit immer fremd geblieben. Entziehen konnte auch ich mich nie ganz.

Krude Gedanken durchpflügten meinen Kopf ganz so, als wollten sie mich ablenken, meine Perspektive ändern und meine Umkehr ermöglichen. Manchmal vergaßen alte Männer einfach, was sie sich vorgenommen hatten. Aber die Sache war zu weit gediehen. Ich hatte eine Menge Zeit investiert, um an diese Adresse zu gelangen. Ich hatte ehemalige Freunde beschwindelt und ehemalige Feindschaften, die freilich erkaltet waren, vergessen, um zu erfahren, was ich wissen musste. Die Leute glauben, wir Alten hätten jede Menge Zeit, aber das war ein Trugschluss: wir hatten alle im Grunde gleich viel Zeit, nur von unserer war schon viel mehr vergangen. Der Rest wurde zunehmend kostbar, wenn man des Lebens nicht überdrüssig war. Das war ich nicht, weiß der Himmel, das war ich ganz und gar nicht. Auch wenn dies hier nicht danach aussah. Wo immer ich heute Abend meinen Kopf betten würde, auf ein kleinkariertes Anstaltskopfkissen oder das in meinem Schlafzimmer, ich würde es mit der Genugtuung tun, dass ich getan hatte, was getan werden musste. Es würde mir bessergehen. Da war ich mir sicher.

Ich erreichte das andere Ende der Stadt und mein Puls stieg. Ich hatte kurz und nicht ganz ohne Selbstironie die Vorstellung, dass ich auf dem Weg zu meinem Ziel einen Herzinfarkt erleiden würde. Das würde dann eigentlich nur folgerichtig sein. Am Ende hatte immer dieser Kerl die besseren Karten gehabt.

Ich stieg mit der umständlichen Sorgfalt alter Menschen aus der Bahn und sah mich um. Die Station war mir fremd, die Stadt war mir fremd in diesem Teil. Selbst Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung der beiden Stadthälften – es waren nicht wirklich Hälften gewesen – gab es für mich dieses leise befremdliche Gefühl, im Westen zu sein, eine jener Gegenden, in denen die Immobilienpreise hoch, die Renten der Bewohner in der Masse ordentlich und die Angst vor Fremden zurückhaltend kultiviert waren.

Ich fragte mich, wie einer wie der in eine Seniorenresidenz in dieser Gegend geraten konnte. Wieder dieser unsinnige Gedanke, dass er immer den besseren Teil für sich bekommen hatte. Wieder dieser nicht gänzlich ernst gemeinte Trotz, es ihm schon aus diesem Grund heimzahlen zu müssen. In Wahrheit ging es um etwas gänzlich Anderes. Es ging um zerstörtes Vertrauen, um zerstörte Illusionen, die in der schweren Rüstung fester Überzeugungen auf das Schlachtfeld geraten waren und von einer gnadenlosen Realität bis aufs verschissene Unterkleid entkleidet, in den Ramschladen der Geschichte vertrieben wurden; zu besichtigen am Checkpoint Charlie, wo unsere Orden und Paradeuniformen als Souvenirs verschachert wurden - kurz nachdem uns allen klar geworden war, dass die blühenden Landschaften die Absatz-Eldorados von ALDI und von Heerscharen windiger Gebrauchtwagenhändlern sein würden. Für lange Zeit zumindest. Heute war ich sogar bereit, einzugestehen, dass meine Prognosen seinerzeit finsterer waren, als die Zeiten wurden. Dank der Menschen in diesem Land, in dieser Stadt, hüben wie drüben.

Nicht aller, wohl gemerkt. Es gab gnadenlose Karrieristen unter uns, die nach oben wollten, mit allen Mitteln. Das liegt in der Natur der Sache, sollte man denken und aus heutiger Sicht, fand ich, wäre es einigermaßen berechtigt gewesen, so zu denken. Aber wir waren eine sozialistische Armee gewesen, wir waren den politischen Grundsätzen und Idealen der Partei gefolgt, einem ehrnen Gesetz, vor dem wir alle den gleichen Idealen und Zielen verpflichtet

… Blablabla…

Er hatte uns alle ausgenutzt, wie er es brauchte. Er heftete sich unsere Erfolge an die Brust und lief etwas schief, war man unten durch. Ich war ein Schöngeist, den eine trotzige und von jugendlich revolutionärem Eifer getriebene Entscheidung in die steingraue Uniform der NVA verschlagen hatte, aufgesessen den gerissenen Werbern und Seelenfängern des Wehrkreiskommandos meiner Heimatstadt. Ich war schwach, ich war obrigkeitshörig, ich war überzeugter Kommunist und also ein ideales Instrument für die Willkür eines skrupellosen Vorgesetzten.

Er machte mich fertig, nach allen Regeln der Kunst. Ich beging Selbstmord und selbst dafür reichte meine Konsequenz nicht. Ich kam durch. Selten war das Urteil einer Personalstelle bei dieser Armee zutreffender als bei der Begründung, mit der man mich dann vorzeitig entließ: „Erwiesene Nichteignung zum Beruf.“ Ehrenhalber war zu sagen, dass sie nur wenig länger für diese Erkenntnis brauchten als ich selbst.

Ihn hatte man rasch aus der Schusslinie befördert. Er war ein Absolvent der Generalstabsakademie in Moskau  und es wäre einfach nur schade gewesen, einen solchen hoffnungsvollen Kader zu verlieren. Er erreichte also trotz allem, was er wollte: Möglichweise durch meine Intervention früher als erhofft?
 Warum gerade er und warum gerade ich?

Die Frage hatte uns lange beschäftigt, Kathrin und mich. Menschen wie mich konnte man hervorragend ducken und manipulieren. Wir waren zu moralisch, zu überzeugt, wir hatten zu viele Scheren im Kopf und wir taten zu viel aus Überzeugung und wider besseres Wissen. Wir knallten die Hacken zusammen, wortwörtlich wie auch in unserem Denken. Ich hatte eine perfekte Nische, darum wurde ich weder verrückt noch komplett Alkoholiker: ich machte politische Lieder, ich schrieb Texte, ich war ein begabter Clown, der den Oberen schmeicheln konnte und dessen Menschlichkeit andere ansteckte. Beseelt von der Hoffnung, etwas zu bewirken, menschlicher, erträglicher zu machen.

Ich war benutzbar und zerbrechlich. Ich wäre fast zerbrochen.

Ich stehe, diese niederschmetternde Einsicht im Kopf, in der Straße, zu der mich mein Smartphone geführt hat. Ich schaue an dem Gebäude hinauf, die Augen beschattet mit einer Linken, die leise bebt. Irgendwo dort hinter den getönten Scheiben seines Zimmers mochte er gerade sitzen. Vielleicht trank er Kaffee und ließ es sich gut gehen in diesem Moment? In meinen Vorstellungen der letzten Monate sah ich ihn noch immer als Mann Anfang vierzig vor mir, drahtig, mit kurz geschnittenem Haar und spöttisch blickenden Augen. Ein Mann, der mir, wie kein zweiter meine Schwäche vor Augen geführt hatte; vor dem ich Angst empfunden hatte bis zu dem Moment, als ich nicht starb. Sein anschließender Spott und seine Arroganz hatten mich da nicht mehr treffen können. Ich war fertig mit ihm und ich war fertig mit dieser Armee, die nicht in der Lage war, uns aufrechte Menschen vor solchen wie ihm zu schützen. Was ich erst später verstehen sollte: Die Armee brauchte diese Art von Leuten. Jede Armee dieser Welt brauchte sie und brachte sie hervor. Menschen wie ich halfen, die Folgen zu mildern und waren bestenfalls Kollateralschäden.

Wie ich da stand vor der Glasfront des Seniorenstifts, ließ mich dieses bittere Wissen trocken aufschluchzen. Aber nur kurz. Was ich spürte, war nichts als das Echo der Angst, das zu mir herüber wehte aus der Vergangenheit, die drauf und dran war, zu Geschichte zu verfallen. Geschichte, mit der man alles machen konnte...

Ich nahm mit ruhigen Bewegungen meinen Rucksack von der Schulter, ging in die Knie und begann, das vordere Fach zu durchsuchen. Dann stieß meine Hand auf den kleinen Stoffbeutel, durch den sich die seltsam fremd und sogar etwas erregend anmutende Kontur des Revolvers abzeichnete. Ich zog ihn hervor, nestelte die Waffe aus dem Stoff. Ich hatte sie frisch geputzt, eingeölt und die kleinen Kapseln mit dem Tränengas waren neu. Ich hatte eine Dose im Internet bestellt und vor drei Tagen bekommen. Offenbar war diese Art von Munition für Terrorismus ungeeignet. Es hatte sich niemand beschwert.

Ich steckte die Hand mit dem kleinen, schweren Gegenstand in meine Jackentasche und warf mir den Rucksack lässig über die Schulter. Dann betrat ich die Lobby des Seniorenstifts.

Am Counter des Empfangs saß eine Frau mittleren Alters, eine Lesebrille an einer bunten Kordel um den Hals und bläulich weißem Haar, das hochtoupiert war und ihren Kopf vor der Fensterfront hinter ihr wie eine Gloriole umgab. Sie hatte warme braune Augen, deren Kranz von Fältchen verriet, dass sie gern und viel lachte. Sie tat mir leid.

„Ich möchte zu Herrn Lehmann“, sagte ich zu ihr, grußlos. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Sie fasste mich ins Auge, einen Moment zu lange.

„Sind Sie ein Angehöriger?“, wollte sie wissen. Ich verneinte.

„Darf ich fragen, warum Sie ihn besuchen wollen?“ Ihre Augen suchten in meinem Gesicht. Stand dort etwas, verriet ich mich?

„Ich bin ein ehemaliger Kollege von Herrn Lehmann. Habe erst kürzlich erfahren, dass er hier wohnt und da ich gerade in der Nähe war …“

„Es tut mir leid, Herr …“, sagte sie und ich sah in ihren Zügen, dass es stimmte.

„Feldhain, Alexander Feldhain, entschuldigen Sie, wie unhöflich“, unterbrach ich sie. Irgendwie ließ gerade meine Spannung nach. Das war nicht gut.

„Es tut mir leid, Herr Feldhain, aber ich kann Sie leider nicht zu Herrn Lehmann lassen. Nur Angehörige …“ Sie sah in die Mündung des kleinen Revolvers und verstummte. Besonders erschrocken wirkte sie nicht.

„Was soll das?“, erkundigte sie sich und hob eine Augenbraue. Ihre Hände lagen ruhig auf dem etwas abgeschabten Holz des Tresens.

„Ich will ihn nur besuchen, sonst nichts. Es geschieht niemandem etwas“, sagte ich aber mit der Stimme hätte ich nicht einmal eine Supermarktkassiererin dazu gebracht, ihre Kasse zu öffnen.

„Roswitha, alles klar bei dir?“, erklang die Stimme eines Mannes von schräg hinter mir. Ich musste mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass er eine Erscheinung von Mann sein musste.

Roswitha hob beide Augenbrauen, sah mich direkt an. Ich schob die Waffe in die Jackentasche und sie nickte, schloss kurz die Augen.

„Alles bestens, Robert!“, rief sie und ich hörte, wie Roberts Schritte verklangen.

„Sie kommen zu spät, Herr Feldhain“ – sie sprach den Namen mit einem kleinen Zögern aus, als wäre sie nicht sicher, ob er denn echt wäre – „Herr Lehmann liegt seit ein paar Tagen im Wachkoma. Er würde sie weder erkennen, noch mit Ihnen sprechen können. Sollten Sie das vorgehabt haben“, setzte sie mit einem leichten Nicken in Richtung meiner rechten Jackentasche hinzu.

„Das ist nur Schreckschuss“, sagte ich wie entschuldigend. Ich war verwirrt. Die Information sickerte nur langsam in die tieferen Schichten meines Denkens durch.

‚Mistkerl’, dachte es hilflos wütend in mir.

Kneift einfach, macht sich vom Acker …’

„Er wacht wieder auf? Irgendwann?“, fragte ich sicherheitshalber.

„Wenn ja, würde das kaum einen Unterschied machen,“, sagte sie halblaut.

„Alzheimer?“, fragte ich töricht. Sie sah mich missmutig an. Offenbar hatten ihre Geduld wie Ihr Verständnis Grenzen.

„Dürfte ich ihn sehen?“, fragte ich trotzdem.

„Glauben Sie, ich lüge Sie an?“, fragte sie mich und die Grenze war deutlich hörbar erreicht.

„Nein. Mit Ihnen habe ich auch keinen Konflikt“, sagte ich.

„Mit Herrn Lehmann auch nicht mehr, glauben Sie mir. Was immer er gemacht hat, er bezahlt dafür.“

„Das klingt, als hätten Sie ihn kennen gelernt“, sagte ich, einer Eingebung folgend. Sie sah mich nachdenklich an. Dann griff sie zum Telefon. Ich hob die leeren Hände, wobei mir mein Rucksack fast von der Schulter glitt.

„Nicky, hier ist ein alter Freund von Herrn Lehmann. Will sich von ihm verabschieden – quasi. Ja, ganz kurz. Danke.“

Legte auf, sah mich an.

„Schon mal jemanden in diesem Zustand gesehen?“, fragte sie nüchtern.

„Meine Mutter. Lange her. Aber ich glaube, ich muss das nicht haben. Vielen Dank“ - ich sah auf das Namensschild an ihrer Brust - „Schwester Hildegard. Ich entschuldige mich, wenn ich Sie erschreckt habe.“

„Ein wenig. Nicht diese blöde Waffe. Ihr Blick. Sehen Sie zu, dass Sie heil nach Hause kommen. Sie haben doch ein Zuhause?“

„Ja. Ein Zuhause, eine Frau und erwachsene Kinder. Mein Leben ist in Ordnung.“ Ich reichte ihr die Hand.

„Halt, keine Bewegung! Nehmen Sie ganz langsam die Hände hoch! Langsam umdrehen!“

Ich tat, wie mir geheißen.

Doch kleinkarierte Anstaltsbettwäsche …’, dachte es ironisch in mir, fast schon erleichtert. Vor mir stand ein junger Polizist in Kampfanzug, die Pistole im Anschlag. Im Hintergrund sah ich einen großen Mann in Pflegermontur mit einem weiteren Polizisten sprechen, vermutlich Robert. Der junge Mann vor mir machte eine Bewegung mit dem Lauf der Pistole. Ich zwang mich, ihm in die Augen zu blicken. Irrwitzig schoss mir für einen Moment durch den Kopf, in die Tasche zu greifen. Aber dann straffte ich mich. Mein Leben war in Ordnung!

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.02.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meiner Frau für ihre Geduld

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