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Vor der Dämmerung

„Sieh dir die Stadt an!“, sagte er zu sich selbst. Er saß am Rand des Platzes und sah zu. Er kam regelmäßig hier her, trank seinen Kaffee, immer ohne Milch, nur mit Zucker. Sein Arzt würde ihm geraten haben, den Zucker wegzulassen. Aber er ging schon lange nicht mehr dorthin. Seine Tochter hatte ihm mit mildem Vorwurf die Leviten gelesen. Er hatte im Hintergrund das fröhliche Krähen des Enkels gehört, den Akzent in der Stimme der Tochter.

Wie lange war das jetzt her dieses letzte Telefonat?

Er wischte sich mit der Rechten über das Gesicht: Fort mit den Spinnweben!

„Na, wieder am Denken, alter Mann?“, krächzte ihre Stimme neben ihm. Er grinste schief.

„Na, wieder am Betteln, altes Mädchen?“, antwortete er. Seine Hand rieb gedankenverloren sein Kinn. Sein eisgrauer Dreitagebart machte ein raspelndes Geräusch.

 

Und lass’ dich nicht gehen, hörst du!“, hatte Ellen zu ihm gesagt. Sie hätte ihn gern scherzhaft gegen den Oberarm geboxt. Dazu hatte die Kraft da schon nicht mehr gereicht.

 

„Ich muss mich rasieren“, sagte er unvermittelt und drehte den Kopf ungefähr in Richtung der Stimme neben ihm.

„Wozu? Siehst interessanter aus so. Hast mir mit dem Vollbart sowieso immer besser gefallen!“, sagt die Stimme und ihr Kratzen erinnert ihn an etwas. Lange her.

Er drehte ihr nun doch das Gesicht zu, zumindest für einen Moment.

„Hast dich an der Küchenschranktür gestoßen?“, erkundigte er sich mit gelindem Sarkasmus in der Stimme. Dahinter schimmerte ein resigniertes Mitgefühl durch.

„Hat er dich mal wieder losgeschickt, ja?“, fragte er dumpf und trank seinen Kaffee aus.

„Was soll ich deiner Meinung nach machen?“, erkundigte sie sich und erstaunlicherweise klang ihre tiefe, raue Stimme bedauernswert weinerlich. Auf trotzige Art, aber eindeutig weinerlich.

„Jag’ ihn zum Teufel, Susi. Bevor er dich totschlägt.“

Bernhard richtete seine trübgrünen Augen einen weiteren Moment auf sie und eine steile Falte erschien über seiner Nasenwurzel. Er schüttelte unmerklich den Kopf und sah hinüber auf den Platz.

„Du willst mich ja nicht!“, sagte sie mit krächzendem Lachen, das in ein feucht klingendes Husten überging. Sie erhob sich ächzend und klopfte ihm beim Vorbeigehen vorsichtig auf die Schulter.

Bernhard sah ihr nach, schüttelte wieder den Kopf. Als sie begann, den Abfalleimer am Rand des Weges zu durchwühlen, sah er zu Boden. Sein Gesicht verfinsterte sich und er wischte sich kurz über die Augen.

Bernhard sah den Platz vor sich liegen. Der Spielplatz all der Einsamkeiten, die ihr Dasein an Hundeleinen gassi führten.

Der Alte, der gleich drüben bei den alten Platanen auf der Parkbank döste, die offene Bierflasche zwischen den Beinen. Das Auf-der-Straße-sein hatte ihm sein Alter geraubt. Sein graues Gesicht hatte den starren Ausdruck derer angenommen, die so waren wie er. Bernhard konnte nicht verstehen, wenn Leute davon sprachen, dass Menschen wie der auf der Straße lebten. Welcher Zynismus, da von Leben zu sprechen! Er selbst wusste inzwischen, wie nahe jeder hier der Möglichkeit war, dieses Schicksal teilen zu müssen.

„Ich bin dann mal weg!“, kriegte plötzlich eine unheilvoll neue Bedeutung. Von diesem Tripp kehrte man selten zurück.

In Wahrheit war der Alte da drüben ein oder zwei Jahre jünger als er, Berhard, selbst. Hatte sein Pech nicht ausschlagen können. Sein Glück, so hatte er Bernhard vor einiger Zeit mal erzählt, war vor ihm falsch abgebogen. „Glück fährt immer noch ohne Navi!“, hatte er grinsend gesagt und dabei seine fast zahnlosen Kiefer entblößt. Die Alten in den Bergdörfern vom Hindukusch oder in den Jurten der Völker des Himalaja hatten solche Gesichter in den Reportagen auf N24 oder Phönix. Hier auf dem Platz schlug Bernhard die Augen nieder bei dem Anblick.

„Vielleicht brauchte es nur ein Kartenupdate“, versuchte er einen lahmen Scherz und der Alte hatte ein schepperndes Lachen hören lassen. Bernhard hatte ihm ein paar Münzen zugesteckt und war fast verschämt nach Hause gegangen, froh, noch eines zu haben.

Auf dem Rasen drüben beim Brunnen mit den seltsam geformten Tieren hatte sich die Familie niedergelassen. Es hatte etwas von einem Folkloreauftritt. Die Frauen und Kinder im trauten Kreis saßen etwas abseits. Die Alten in ihrer schwarzen Kleidung mit den unverwechselbaren Kopftüchern saßen auf einer ausgebreiteten Decke, umringt von den jungen Frauen und Mädchen, die etwas mehr Farbe und ein wenig Chic in das Ensemble brachten. Die Kinder tollten zwischen den Frauen umher wie Welpen.

Etwas entfernt von diesem Zirkel standen die Männer in lockeren Grüppchen. Jeder zweite hatte ein Handy am Ohr. Die Jüngeren unterhielten sich gestikulierend, während die Älteren sehr gesetzt wirkten mit ihren eisgrauen Schnauzern und ihren buschigen Brauen über den dunklen Augen.

Familie’, dachte Bernhard und spürte einen Klos im Hals. Ellen war immer das Zentrum gewesen auf ihre eher stille und nachdenkliche Art. Er selbst hatte sich nie als das Oberhaupt der Familie gesehen. Der Gedanke wäre ihm fremd vorgekommen. Vielleicht, überlegte er plötzlich, vielleicht hätte sich Ellen manchmal gewünscht, er hätte diese Rolle annehmen und ausfüllen können. Vielleicht wäre manches anders gekommen, vielleicht könnte Sebastian dann
noch ...

„Kann ick noch wat für dich tun?“ Die helle Stimme des Kellners riss ihn aus den trüben Gedanken. Er sah auf in das freundlich grinsende Mausgesicht. Bernhard brauchte einen Moment, bis er sicher war, dass seine Stimme funktionieren würde.

„Nee laß ma’ Hendrik. Ick muss denn och los. Wat kriegst’n?“

Manchmal genoss er es, mit dem pfiffigen jungen Kerl in dessen Sprache zu reden. Er hatte sozusagen mit der Muttermilch eingesogen, dass es sich nicht gehörte, zu berlinern. Das war seiner Mutter immer ein Zeichen von schlechten Manieren gewesen. Sein Vater hatte, solange sich Bernhard erinnern konnte, im Stahlwerk in der Nachbarstadt gearbeitet als Schmelzer am Siemens-Martin-Ofen. Die hatten dort alle so geredet, grob, ordinär und ehrlich. Mutter hatte immer angewidert das Gesicht verzogen, wenn Vater in diesen Slang verfiel. Der Stahlwerker, der „Tausendsassa“, wie ihn die Werkszeitung einmal bezeichnet hatte, weil er die Öfen besser kannte als jeder andere dort. Er hatte sie aus dem Schutt der Ruinen des Werkes gebuddelt. Bernhard spürte wieder diese sentimentale Begeisterung für den Vater in sich aufsteigen. Dabei hatten sie sich nie verstanden. Als er starb, war er fast acht Jahre jünger gewesen als Bernhard jetzt. Dem hatte der Vater leid getan, weil der Krebs ihn aufgefressen und seiner Würde beraubt hatte, aber er war als Sohn unfähig gewesen zu trauern. Das Schwarze Schaf der Familie.

Familie. Wieder dachte er an das Telefonat mit seiner Tochter. Amerika war so verdammt weit für einen wie ihn.

Bernhard reichte dem Kellner gedankenverloren die Münzen und stand auf. Seine Knie knackten und er verzog das Gesicht.

„Allet klar, Meesta?“, wollte Hendrik wissen und drehte sich nach ihm um. Bernhard hob nur abwehrend eine Hand. Die Knie, die waren nur mehr oder weniger zuverlässige Indikatoren für sein physisches Alter. Lästig, aber im Grunde zu vernachlässigen.

Er hob den Kopf und seine Augen mit den gelblich verfärbten Augäpfeln um die leicht getrübte graugrüne Iris blickten über den Platz. Seine von weißen Fäden durchwirkten buschigen Brauen zuckten in Richtung Nasenwurzel. Ein V aus zwei tiefen Kerben entstand.

Bernhard rammte die Hände in die Taschen seiner Übergangsjacke. Sie trug diesen Namen nicht ganz zu Recht, denn Bernhard trug sie das ganze Jahr über. Er hatte nur diese eine. Ellen hatte sie ihm geschenkt gegen seinen nicht ganz ernst gemeinten Protest. Er sah noch das Lachen in ihrem Gesicht, als sie ihm die große Plastiktüte in die Hand gedrückt hatte vor dem Geschäft. Wie hieß doch gleich diese kleine Stadt, wo sie immer Urlaub gemacht hatten?

Er sah vor seinem inneren Auge die Umrisse der Kirche, den Turm mit der Uhr. Goldfarbene Zeiger und Stundenmarkierungen. Ellens Gesicht schob sich davor, diese große Sonnenbrille auf der Nase, die ihr fast etwas Mondänes gab, wenn man von den Sommersprossen einmal absah.

„Ach Ellen“, sagte er mit brüchiger Stimme. Seine Tochter behauptete am Telefon immer, er würde noch immer so jung wie früher klingen. Bernhard wusste es besser.

„Allet jut?“, riss ihn die helle Stimme des Kellners aus seinen Gedanken. Er sah den jungen Mann erstaunt an. Es kam ihm einen kurzen Moment komisch vor, auf diese Weise angesprochen zu werden. Dann strömte Erinnern in seine Ratlosigkeit wie Eiswasser.

„Allet Roger, Martin“, versicherte er und jetzt klang seine Stimme fast wie immer.

„Hendrik, Meesta“, entgegnete der und grinste sein sympathisch freches Grinsen. Er legte ihm kurz die Hand auf den Arm.

„Die U-Bahn is da hinten“, raunte er und kam dichter an Bernhard heran.

„Ick weeß“, raunte Bernhard mit einem pfiffigen Ausdruck im Gesicht zurück.

„Ick mein ja nur“, sagte Hendrik und richtete sich auf. Der Moment verflog.

„Danke trotzdem“, gab Bernhard zurück und diesmal ohne Jargon. Er richtete sich etwas auf, straffte sich.

„Bis Morgen“, sagte Hendrik und ihre Blicke trafen sich.

 

Bernhard trieb auf einem steuerlosen Floß durch die Stadt. Er traf in der U-Bahn dieses abgerissene Individuum, das sich in einem Rollstuhl durch den Mittelgang schob, den verbliebenen rechten Fuß als Antrieb,schuhlos, dreckverkrustet, abstoßend. Die krallenartig dürren Finger der Rechten hielten den schmutzigen Pappbecher von Starbucks, in dem sich ein paar kupferfarbene Münzen am Grund fanden wie in einer Horrorversion des Wunschbrunnens. Bernhard ließ ein paar goldfarbene Münzen darauf fallen. Er schlug die Augen nieder, vermied den seelenlosen Blick, der eine Welt entfernt war von dem normalen Gefühl des Dankes. Sie rollte weiter und die Räder quietschten leise auf dem Belag des Wagenbogens.

„Ich mach ja so was nicht mehr“, sagte die Frau neben ihm und er vernahm ihren gelinden Tadel in der Stimme.

„Was machen Sie nicht mehr?“, fragte er, drehte ihr das Gesicht zu. Sah in ein teigiges, mürrisches Antlitz, das von Neid, Missgunst und Enttäuschung modelliert schien, verkniffen und selbstgerecht.

Sie deutete mit dem Kinn in Richtung des sich entfernenden Rollstuhls.

„Denen mein Geld in den Rachen schmeißen. Sind doch alles Betrüger und Schmarotzer. Was die mit ihrer Bettelei am Tag zusammen kriegen, hat manche Verkäuferin nicht nach zehn Stunden Arbeit.“

„Haben Sie sich das arme Geschöpf mal angesehen?“, erkundigte er sich mit ein wenig fassungslos klingender Stimme. Sie verdrehte kurz die Augen.

„Ist doch alles Fassade“, sagte sie verächtlich.

„Und Abends steht sie dann wieder auf und hat zwei gesunde Beine? Der Dreck und der Gestank, alles Fassade? In Ihrer Welt möchte ich nicht leben, gute Frau. Passen Sie gut auf, dass Sie nicht mal in diese Lage kommen. Sie könnten sich selbst in der Bahn begegnen.“

Er war mit dem Wort lauter geworden. Die Frau sah mit wachsendem Widerwillen über seine Schulter und vermied es, seinem wütendem Blick zu begegnen. Die Menschen Rings umher verstummten, sahen zu ihnen her.

„Wat is denn mit Sie nich in Ordnung?“, ereiferte sich die Frau und fiel unversehens in ihren Alltagsslang zurück. Ihre Augen suchten Zuspruch bei den Umstehenden.

Bernhard stand auf. Er hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Panik irrlichterte durch seinen hilfesuchenden Blick und machte, dass er plötzlich nur noch rotes Rauschen wahrnahm. Die Bahn fuhr in den Bahnhof und bremste. Bernhard strauchelte kurz, aber ein paar kräftige Hände hielten ihn.

„Geht’s Ihnen nicht gut?“, fragte eine besorgte Frauenstimme. Bernhard sah ihr Gesicht.

„Ellen“, sagte er etwas verwaschen. Er hatte sie nicht so stark in Erinnerung.

Die Aussteigenden spülten ihn auf den Bahnsteig. Sein Herz raste und er sah sich mit einer Mischung aus Angst und Ratlosigkeit um. Er hatte das beklemmende Gefühl, noch immer nicht ausreichend Luft zu bekommen. Außerdem konnte er sich nicht an diese Station erinnern. Auf dem Schild stand etwas ist seltsam antiquierter Frakturschrift, das er zwar lesen konnte, das aber hinter einem seltsamen Nebel verschwand.
„Du setzen“, sagte die heisere Mädchenstimme hinter ihm und eine Hand zupfte zaghaft an seinem Jackensaum. Bernhard drehte sich schwerfällig um und sah den dunklen Schopf aus schmutzstarrendem Haar vor sich. Richtete den Blick tiefer. Das Individuum im Rollstuhl stand vor ihm. Der nackte Fuß berührte den kalten Stein des Bahnsteigs. Bernhard sah Schrunden und Narben an diesem Fuß, einen gespaltenen Zehennagel unter all dem Schmutz. Das Hosenbein aus dem die spindeldürre Fessel ragte, war zerrissen und von unbestimmter Farbe wie ein Kartoffelacker im Herbst.
Sie nahm seine Hand in ihre. Eine schmale, kräftige Hand. Ja, schmutzig auch. An diesem Wesen war nichts sauber. Bernhard nahm den Geruch von altem Schweiß und anderen Körperausscheidungen wahr. Sie zog ihn hinter sich her zur Bank unter dem weißen Schild mit der fremdartigen Aufschrift.

„Du setzen“, wiederholte sie. Es musste früher ein Mädchen gewesen sein. Vermutlich eine junge Frau. Das war buchstäblich in einem anderen Leben gewesen. Bernhard sackte auf die kalte metallene und einfach sauber zu haltende Bank. Der Rollstuhl stand nun etwas quer von ihm und er sah, dass sie nickte.

Musste sie ansehen.

Der Blick war nicht seelenlos, trostlos möglichweise, aber gewiss nicht seelenlos. Er schämte sich, soweit seine Verwirrung es zuließ.

„He du, lass den Mann in Frieden!“, erklang aus einiger Entfernung eine barsche Männerstimme. Das Wesen zuckte zurück, zog den Kopf zwischen die Schultern. Der Blick erstarb, zog sich zurück wie eine Schnecke in ihr Haus, wenn Unheil drohte.
Das Unheil war ganz in schwarz gekleidet und für die Ordnung zuständig auf den Bahnhöfen und in den Zügen der Stadt. Sie traten herzu: Ein stämmiger Mann, Ende dreißig, mit akkurat geschnittenem, rötlich grauem Kinnbart, der oberhalb seines Doppelkinns ausrasiert war. Eine unzureichend behandelte Gesichtsrose hatte sein Gesicht arg in Mitleidenschaft gezogen. Seine Kollegin war eine kleine und drahtig wirkende Frau Anfang vierzig mit einem Kurzhaarschnitt, der auf der linken Kopfseite eine etwas verblasste Tätowierung frei ließ.

Beide bauten sich vor Bernhard und dem Rollstuhl auf, die Daumen hinter die Koppel gehakt.

„Belästigt Sie diese ... Person?“, wollte der große Mann von Bernhard wissen. Der war gezwungen, den Kopf fast in den Nacken zu legen, um den Frager anzusehen. Ganz hinten in seinem Unterbewusstsein spürte Bernhard, dass ihn dies ärgern müsste.

Ellen schürzte die Unterlippe und schüttelte den Kopf. Ihr Haar wippte dabei. Aber ihre Augen schmunzelten.

„Ellen, ich muss zu Ellen, wissen Sie“, sagte Bernhard. Es schien ihm das Vernünftigste. Er spürte die Müdigkeit in seinen Gliedern. Er sackte gegen die Banklehne.

Die beiden Ordnungshüter wechselten einen bedeutungsschweren Blick. Die Frau trat ein paar Schritt zur Seite und holte ein Mobiltelefon aus der Tasche.

„Wir haben dich doch schon so oft gewarnt, Schneewittchen. Du sollst die Fahrgäste in Ruhe lassen“, sagte der Mann derweil zu der jungen Frau im Rollstuhl. Sie nickte. Ihre Zunge glitt mechanisch über die aufgesprungenen Lippen.

„Ich fahre, alle gut“, sagte sie mit leiser, schwerer Stimme. Ihr nackter Fuß scharrte über den feuchten Stein des Bahnsteiges. Der Ordnungshüter sah ihr kopfschüttelnd nach.

„Kann einem schon leid tun irgendwie“, sagte er halblaut.

Seine Kollegin trat zu ihm, flüsterte ihm etwas zu.

„So, Opa, sagen Sie, haben Sie einen Ausweis oder so etwas dabei? Wissen Sie, wie Sie heißen?“ Der Schwarzuniformierte beugte sich etwas zu Bernhard herunter.

Der hörte die Frage durch einen immer dichter werdenden Nebel. Sie kam ihm seltsam unsinnig vor. Jeder Mensch kannte doch seinen eigenen Namen, oder? Oder?

Eine Ahnung schlich sich von hinten an ihn an.

Er bekam es mit der Angst.

Er musste hier weg!

Er musste zu Ellen.

Richtig, Ellen!

Wie konnte er das nur vergessen!

Mit fast unmenschlicher Anstrengung richtete er sich auf der Bank auf und erhob sich. Der Uniformierte trat näher und versuchte ihm zu helfen. Bernhard sah ihm von unten ins Gesicht. Die Hand des Mannes sank herunter.

„Ich muss zu Ellen. Sie fühlt sich nicht so.“

Sie ist tot, du alter seniler Esel!’, schrie der versinkende Rest seines Bewusstseins ihm zu. Bernhard richtete sich auf, sah sich erschrocken und verwundert um.

„Was sagen Sie denn da?“, sagte er zu dem großen Mann.

Dann fiel er.

 

Die Tür öffnete sich mit diesem leisen, schleifenden Geräusch. Die junge Frau steckte zuerst den Kopf durch den Türspalt. Ihr Lächeln konnte nicht darüber hinweg täuschen, dass sie erschöpft und angespannt war. Sie trat ein und die Tür sank seufzend zurück ins Schloss.

Sie trat an das Bett heran. Der alte Mann ließ das Buch sinken und hob den Blick.

Ihre Blicke hielten Zwiesprache. Als sie die Verbindung zu ihm verlor, musste sie ein trockenes Schluchzen unterdrücken. Sie griff nach seiner Hand, die einem flügellahmen Vogel gleich auf der Bettdecke lag. Seine Finger zuckten und er schloss sie um ihre klamme Hand.

„Du musst mich mit nach Hause nehmen, Ellen. Das Essen hier ist eine Zumutung“, sagte er mit dieser noch immer erschreckend jung klingenden Stimme. Er lächelte ironisch.

„Ja, Papa. Wir fahren nach Hause“, sagte die Tochter und lächelte tapfer. Sie holte tief Luft, wischte sich übers Gesicht.

Sie begann seine Sachen in die Reisetasche zu packen. Ihr zitterten die Hände, aber sie war froh, etwas zu tun zu haben. Er saß auf der Kante des Bettes und seine dünnen Altmännerbeine baumelten.

„Sie ist tot, habe ich recht?“, sagte er in ihrem Rücken wie beiläufig. Sie hielt in der Bewegung inne, drückte das Hemd, das sie gerade in Händen hielt kurz vor ihr Gesicht. Nickte schließlich.

„Ja, Papa“, sagte sie ruhig.

„Du bringst mich ins Heim“, stellte er fest. Sie fuhr herum. Ihre Augen schwammen in Tränen.

„Nein, Papa! Auf keinen Fall. Du kommst mit mir. Wir haben Platz genug!“ Sie kniete vor ihm, sah zu ihm auf.

„Wir dürfen Ellen nicht vergessen. Es geht ihr nicht so gut, weißt du“, sagte er und in dem Satz schwang all die Vertrautheit mit, die in vierzig Jahren Ehe entstehen mochte.

„Na dann los.“

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.11.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
zwei Müttern

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