Cover

Maggie träumt

Maggie träumt. Sie schaut über die Savanne, wo das Leben nach den Regenfällen der letzten Tage in geradezu verschwenderischer Pracht zurück gekehrt ist. Die Luft ist erfüllt vom berauschenden, betörenden Duft der wilden Blumen und Gewächse, der sich mischt mit den scharfen Gerüchen der Bewohner des weiten welligen Landes, denen der Jäger und der Gejagten. Auch der Geruch des Todes. Nirgendwo gehört er selbstverständlicher zum Leben als hier.

Maggie träumt. Sie träumt die Erinnerungen von Tausend Generationen, sie trägt sie in sich wie einen Schatz.

Sie riecht den beißenden Qualm, brennendes Fleisch. Ein großer Mann mit glühenden Augen kommt über das dürre Gras auf sie zu, in der Hand ein blutiges Ding. Maggie spürt Furcht. Sie spürt, dass es kein Entkommen gibt. Schmerz.

 

„Es ist so unruhig“, sagt Melina und legt ihre schlanke Hand mit gespreizten Fingern auf ihren Bauch. Das kleine Wesen spürt die Berührung, dreht sich ihr zu. Melina lächelt ihr tränennahes Lächeln. Die Reaktion des Kindes unter der Hand gibt ihr Kraft. Die Unruhe des Ungeborenen verebbt.

Verena sieht die Frau von der Seite an, scheu, mit Augen, bereit, sich sofort zu senken, würde Entdeckung drohen. Verena fühlt sich in Momenten wie diesen immer etwas überfordert. Sie kann sich das alles irgendwie nicht vorstellen, die Schwangerschaft, die Flucht, die Entbehrungen und Gefahren. Die kaum verheilte Wunde am Stumpf des rechten Arms, wo die Hand fehlt ...

Verena unterrichtet in ihrer Freizeit Deutsch für eine Gruppe von neun Flüchtlingen aus dem Heim am Rande der Stadt. Eigentlich müsste sie lernen und noch viel mehr müsste sie sich um ihren Job beim Discounter im Einkaufszentrum kümmern. Ihre Chefin ist nicht gut auf sie zu sprechen und die Kolleginnen tuscheln. Eigentlich müsste sie das mit Jacob in Ordnung bringen. Eigentlich.

Aber Melina hat nur eine Hand. Sie braucht ihre Hilfe.

Das Schlimmste aber ist, dass sie niemanden hat, mit dem sie reden kann, bei dem sie ihre Zweifel los wird und ihre Fragen. Zu Hause? Sie hat es aufgegeben, sich vor ihrem verbitterten Vater zu rechtfertigen, der sich gar nicht erst die Mühe macht, sie anzuhören oder zu verstehen. Inzwischen flieht Verena vor den mißbilligenden Blicken und dem gefriergetrockneten Schweigen am Abendbrotstisch in die tristen Räume des Flüchtlingsheims, die immer mit Leben erfüllt sind. Die Menschen haben so wenig, aber sie geben gern, vor allem sind sie dankbar.

Oft trifft sie sich mit ein paar Mitschülern dort. Einige finden es schick, sich mit den Flüchtlingen abzugeben, andere kommen aus wirklichem Interesse. Jacob hatte auch dazu gehört. Seit einiger Zeit nicht mehr. Verena hat den Verdacht, sein Fortbleiben hätte mit ihr und ihrer Freundschaft mit Melina zu tun. Die Jungs sind manchmal so unreif, wenn sie eifersüchtig werden.

„Es wird ein Mädchen“, sagt Melina neben ihr mit dieser seltsam beiläufigen Zuversicht, die sie einhüllt, wie ein Kokon, wenn sie von ihrem Kind spricht..

„Maggie“, setzt sie nach einer kleinen Pause hinzu, ihr Lächeln gibt ihre so wunderbar weißen Zähne frei mit der Lücke zwischen den Schneidezähnen. Und wieder sieht Verena über diesem Strahlen die Trauer. Es ist nicht leicht, sich daran zu gewöhnen.

„Meine shangazi heißen so“, erklärt sie. Verena verbessert sie wie nebenbei. Melina wiederholt das Verb.

„Shangazi?“, fragt Verena nach. Melina schaut fragend zurück. Ihr Lächeln wirkt ratlos. Sie lernt so gut, weiß Verena, aber sie traut sich so wenig zu. Verena versteht das nicht. Eine Frau, die es bis hier her geschafft hat, müsste so stolz und voller Zutrauen zu sich selbst sein. Es ist gut, dass Verena nicht alles weiß, was der dunkelhäutigen Frau auf ihrem Weg begegnet ist. Sie trägt schwer genug. Sie tragen beide schwer genug. Nur, dass Verena irgendwann wissen wird, dass sie das reicher gemacht haben wird.

Melina versucht eine Erklärung. Verena nickt ihr zu, läßt keinen Blick von den ausdrucksvollen Lippen, die bei besonderem Licht fast oliv schwarz wirken.

„Tante?“, bricht sich die Erkenntnis Bahn, „Tante!!“

Beide freuen sich.

Wer lernt von wem?

 

Maggie träumt. Sie sieht die elenden Hütten, riecht den Gestank von faulenden Abfällen und Fäkalien. Kinder lungern apathisch in der Sonne, umschwärmt von Fliegen, die sich ungestört in den fast greisenhaft wirkenden schmalen Gesichtern niederlassen, auf Nasen, Lippen und Augenlidern. Kaum ein Kind hat die Kraft, die Plagegeister zu vertreiben. Maggie spürt Angst, Wut und Hunger. Eine Hand stielt sich in ihre, umklammert kurz ihre Finger, gibt ein heimliches Zeichen. Maggie nickt, als würde sie das nicht weiter verwundern. Hinter ihr steht Neele, schmal, blond und hochgewachsen. Ihr Gesicht ist blaß, ein seltsamer Kontrast zu der staubigen Hitze dieses Ortes.

„Wie ekelhaft“, sagt eine nasale deutsche Frauenstimme halblaut, „ kein Wunder, dass die alle krank werden!“

„Sie wären besser im Hotel geblieben, Miss. Das hier ist kein Ort für eine Frau wie Sie“, sagt Maggie und dreht dabei nur halb den Kopf. Ihr Akzent ist inzwischen kaum noch zu merken.

„Wie meinst du das? Das ist ziemlich unhöflich! Wir sind schließlich zum Helfen hier her gekommen“, sagt die Stimme schnippisch. Neele dreht sich zu der Frau um, deren Gesicht - besser das, was davon nicht durch die große dunkle Brille verdeckt wird – grell rot leuchtet und schweißnass glänzt. Ihr blasser Mund ist zu einem mürrischen Strich verkniffen. Ihr blondiertes Haar hat von seiner Eleganz eingebüßt im Verlauf des Tages auf der staubigen Piste. Neele kneift ein Auge zusammen, eine Angewohnheit, die sie mit ihrer Mütter teilt.

„Dazu wäre es gut, wenn Sie bisschen mehr Verständnis aufbringen würden, Frau Richter“, sagt sie und klingt etwas altklug. Die groß gewachsene Frau verzieht den Mund noch etwas mehr, wendet sich ab.

„Ihr dürft tatsächlich etwas höflicher zu Frau Richter sein!“, sagt Melina von hinten mit leisem Tadel. Neele wendet sich zu ihr um und schaut ihr ins Gesicht, erkennt die winzige verständnisheischende Geste und nickt.

„Es ist für Europäer nicht leicht zu verstehen, wie die Menschen hier leben. Viele haben sich das hier auch nicht ausgesucht, wissen Sie“, erklärt die Frau, die ihre verstümmelte Rechte geschickt verbirgt. Frau Richter, froh endlich eine Erwachsene vor sich zu haben, entspannt sich ein wenig, tritt näher. Melina bittet sie, ihr in das flache Gebäude der Verwaltung zu folgen. Der Tochter gibt sie unbemerkt ein Zeichen. Maggie nickt ebenso unbemerkt. Ein Schatten fliegt über ihr hübsches, ebenmäßiges Gesicht mit den großen dunklen Augen. Sie schaut die staubige Gasse zwischen den Hütten hinunter. Das Flimmern der Hitze macht die Szene unwirklich.

„Wir sollten von der Straße runter“, raunt sie Neele zu, bewegt kaum die Lippen dabei.

„Warum? Was ist los?“, will die wissen, die Hände in die Seiten gestemmt. So sieht sie aus, wenn sie Ärger wittert. Das war schon in der Schule so, wenn die Jungs blöde Sprüche geklopft haben wegen ihrer farbigen Freundin. Sie war schon immer einen Kopf größer als die meisten in ihrer Klasse. Damals in Deutschland. Die Jungs hatten schnell begriffen, dass man sich mit ihr besser nicht anlegte.
Hier allerdings liegen die Dinge anders. Sehr viel anders.
Maggie nimmt Neeles Hand und zieht sie mit sich. Die versteht nicht, will sich losreißen.
Ein alter Toyota-Pickup unbestimmter Farbe biegt in die Gasse zwischen den Hütten ein. Er beschleunigt und wirbelt rötlichen Staub auf.
„Geh rein!“, herrscht Maggie die Freundin an und deutet auf die Türöffnung des Hauses, in der sich träge ein Perlenvorhang bewegt.

Ein zweiter Wagen folgt dem Pickup, auf dessen Ladefläche ein Maschinengewehr montiert ist. Ein großer, schlacksiger Junge steht sehr stolz und aufrecht hinter der Waffe, die knochigen Kinderhände um die Griffe rechts und links gekrampft. Vier oder fünf weitere Jungen, alle nicht älter als dreizehn, springen von der Ladefläche, kaum, dass der Wagen zum Stehen gekommen ist. Sie tragen russische Sturmgewehre, die eigentlich viel zu groß sind für die schmächtigen Körper, die mageren Arme und die dünnen Beine, deren Knie wie Wulste aussehen. Keiner trägt mehr als eine Dreiviertelhose aus ausgeblichenem Segeltuch in Tarnfarben und schmutzige Trägerhemden in verwaschenem Grün. Sie kommen näher, ahmen den wiegenden Gang nach, den sie von den Männern abgeschaut haben im Camp, wo sie ausgebildet werden.
Maggie schaut ihnen entgegen, unbewegt. Neele steht einen Schritt hinter ihr, überragt sie um einen Kopf und ihr blondes Haar wirkt wie ein Fanal.
Der zweite Wagen kommt mit einem Quietschen neben dem Pickup zum Stehen. Die hintere Tür des Geländewagens öffnet sich und ein älterer, sehr schlanker und groß gewachsener Mann steigt aus, wobei er sich bücken muss. Er trägt einen Kampfanzug, an dessen Koppel eine gewaltige Automatik in einem Holster steckt. Der Ankömmling rückt sie mit einer beiläufigen Geste etwas nach hinten, seine großen Hände prüfen mit einer Bewegung, die Gewohnheit erkennen lässt, den Sitz seines Barretts mit dem Abzeichen über dem rechten Auge. Er kommt auf die Mädchen zu, langsam, bedächtig. Bei ihm sieht dieser wiegende Gang bedrohlich aus. Maggie kennt diesen Mann. Sie erinnert sich an das Gefühl der Unabwendbarkeit und den Schmerz. Sie schließt kurz die Augen.
„Kommt ins Haus, Kinder!“, ertönt Melinas Stimme hinter ihnen, ruhig, fest, entschieden.

Melina liegt wach. Um sie herum die nie ganz verstummenden Geräusche der Flüchtlingsunterkunft. Neben ihr schläft Amani den unruhigen, leichten Schlaf der Flüchtenden. Sie ist erst wenige Tage hier und noch sehr verschüchtert. Ihre Schürfwunden an den Händen und Knien heilen nur langsam. Melina versucht ihr mit ihrer freundlichen Art zu helfen, aber sie stößt auf Angst und Ablehnung. Die junge Frau ist aus Eritrea. Melina kennt die Ablehnung ihres Stammes nur zu gut. Aber hier in Deutschland spielt das keine Rolle. Hier sind sie alle nur Fremde, im besten Fall geduldet. Amani bewegt sich unruhig und stöhnt leise. So geht das jede Nacht, seit sie hier angekommen ist.

Maggie ist auch unruhig. Melina flüstert ihrer Tochter leise Kosenamen zu, legt die Hand auf den geschwollenen Bauch, mit dem sie sich unförmig vorkommt, der sie aber vor den Männern schützt. Allein, das Ungeborene tritt sie kräftig und Melina glaubt Schmerz und Angst zu spüren. Sie zieht die Decke enger um sich, fröstelt ein wenig, obwohl es heiß und stickig in dem kleinen Zimmer ist.

Draußen auf dem Flur werden Stimmen laut. Männer streiten in einer Sprache, die Melina nicht versteht. Türen knallen. Der Streit geht weiter, gedämpft durch die dünnen Wände.

Sie müsste auf die Toilette. Das Kind drückt auf ihre Blase. Aber um diese Zeit ist es nicht gut, sich auf dem Flur blicken zu lassen. Außerdem sind die Toilettentüren der Frauentoilette zwar verschließbar, aber das ist ein Witz. Mit jeder beliebigen Münze kann man den Riegel aufsperren. Sie könnte ein Gefäß nehmen, aber der Geruch des Urins würde die Luft noch unerträglicher machen.

Seufzend und schwerfällig erhebt sie sich. Sie sieht im Dunkeln die Augen der Mitbewohnerin schimmern wie angelaufenes Metall. Die Macheten der Männer in ihrer Heimat schimmerten so ...

Sie reißt sich von der Erinnerung los, spürt ihre rechte Hand jucken. Ein Gefühl, das sie wahnsinnig machen will.

Lautlos öffnet sie die Zimmertür einen schmalen Spalt. Der Flur ist halb dunkel und die Neonröhren flackern klimpernd. Die Szene ist angsteinflößend. Aber Melina hat keine Wahl. Sie geht dicht an der Wand hinüber zu den Sanitärräumen. Eine Tür öffnet sich neben ihr, sie schaut in das erschreckte Gesicht eines Mädchens. Die Tür wird rasch geschlossen.

Melina erreicht die Toilette. Es wird höchste Zeit. Sie haßt dieses Gefühl, so ausgeliefert zu sein, ständig unter Druck. Einzig die Stunden mit Verena geben ihr ein wenig Geborgenheit. Sie ist nur drei Jahre älter als das Mädchen mit dem blonden Haar und der Zahnspangen im Mund. Manchmal wünscht sich Melina die Unbekümmertheit der Deutschen, die Fähigkeit, den Menschen zu vertrauen, sich sicher zu fühlen. Manchmal schafft Verena es sogar, dass sie beide über die selben Belanglosigkeiten kichern, wie es Teenager überall auf der Welt tun. Nur weiß Melina nichts davon.

Das Boxen des Kindes holt sie unsanft in die Wirklichkeit zurück. Sie spürt die Flüssigkeit an ihren Beinen hinab laufen und ist ärgerlich auf sich selbst. Hat sie es wieder nicht mehr rechtzeitig geschafft! Scham steigt in ihr auf. Sie erinnert sich an die endlosen Stunden auf dem Boot. Es hatte keine Möglichkeit gegeben, sich unter würdevollen Bedingungen zu erleichtern. Bald hatte sich in der Hitze auf dem Boot der scharfe Gestank der Fäkalien breit gemacht. Die Helfer der Schlepper hatten die dicht bei dicht zusammen gepferchten Menschen verhöhnt und als dreckige Tier beschimpft. Man hatte sie trotz der Atemmasken gut verstanden ...

Melina versucht auf der Toilette, sich zu erleichtern, aber das Gefühl, das sie hat ist fremd und macht ihr Angst. Sie geht seltsam breitbeinig hinüber in den Waschraum, will sich säubern. Seit der Stunden auf dem Boot verspürt sie geradezu zwanghaft das Bedürfnis, sich ständig zu säubern, damit sie den Geruch von Urin nicht mehr atmen muss. Aber der Geruch stellt sich nicht ein.
Sie ist nicht allein im Waschraum. Neben den Waschbecken kauert am Boden ein Mädchen. Melina hat sie schon ein oder zwei Mal gesehen, in der Küche, auf dem Flur. Manchmal unten auf dem Spielplatz der Kinder, wo sich die jungen Mütter treffen. Bei Melinas Eintreten hebt sie kurz und fast angstvoll den Kopf. Ihr Gesicht sieht übel aus. Das linke Auge ist zugeschwollen und über der Augenbraue trocknet das Blut einer Platzwunde. Die Lippe ist geschwollen und gespalten. Ein hellroter, schmaler Blutsfaden läuft über das schmale Kinn und tropft auf ihr Shirt, das dunkel ist von Blut und Feuchtigkeit.
Melina ist entsetzt. Ihr Herz springt. Sie versucht, sich zu dem Mädchen herunter zu beugen. Ein Stich in ihrem Unterleib will es verhindern. Sie ignoriert es. Sie ignoriert das seltsame Gefühl zwischen ihren Beinen.
„Was ist passiert?“, fragt sie in ihrer Sprache. Das Mädchen kommt vermutlich aus Syrien oder aus Afghanistan. Sie sieht sie trostlos und bar jeden Verstehens an. Melina nimmt das Mädchen in den Arm. Soweit sie dazu in der Lage ist. Ihr Bauch ist hart. Ihre Brüste sind hart. Plötzlich spürt sie ihren Körper mit elementarer Gewalt. Die erste Wehe setzt ein. Das Rinnsal unter ihr wird zum Plätschern. Melina dämmert, was geschieht, den Kopf des Mädchens zärtlich an sich gedrückt.

„Arzt!“, sagt das Mädchen zu ihr auf Deutsch. Melina sieht sie an. Das Mädchen schaut zu Boden. Das wirkt grotesk mit dem zugeschwollenen Auge und der blutenden Lippe.
Melina aber beginnt zu verstehen. Sie versucht, sich zu erheben, aber das Ziehen in ihrem Leib wird stärker. Ächzend und mit einem nassen Plumps landet sie auf dem nassen Boden des Waschraums. Sie kämpft die aufkommende Panik nieder.

„Hol Hilfe“, sagt sie mit ihrer tiefen Stimme und dem singenden Akzent ihrer Landsleute. Das Mädchen nickt und erhebt sich. Ihre Knie sind aufgeschürft. Melina will nicht wissen, warum. Ihr Denken zieht sich um das kleine ungeborene Leben in ihrem Leib zusammen. Nichts anderes ist mehr wichtig.

 

Maggie träumt. Ihr Kopf dröhnt und ihr ist schwindelig. Das spärliche Licht im Raum dreht sich in einem irren Muster um ihre halb geschlossenen Augen. Ihre Zunge klebt wie ein Kloß halb garen Manioks an ihrem Gaumen. Vielleicht würde sie Blut schmecken, aber ihr Mund ist wie ausgedörrt. Neele sitzt neben ihr und hält ihre Hand. Unter normalen Umständen würde sich Maggie fragen, warum da eine Alte-Frau-Version ihrer Freundin sitzt und ihre Hände hält. Aber die Umstände sind nicht normal.

Drüben bei den Ballen mit der schmutzigen Baumwolle sitzt Frau Richter. Ihr Kinn zittert, wenn sie sich unbeobachtet fühlt. Aber sie ist unter der Fassade aus ziemlich solidem Stahl, elastisch aber ziemlich unbeugsam. Hat vor ein paar Tagen Neele auf ihre altkluge Art ihrer Freundin flüsternd erklärt. Das war, bevor sie das Camp wechselten und ... Maggie denkt nicht fertig. Irgendwie ahnt sie, dass ihre Gedanken die Dinge beeinflussen. Manche Unaussprechlichkeit bleibt ungedacht. Für Neele kommt diese Gnade zu spät. Aber Neele wird irgendwann wissen, um wie viele Erfahrungen sie reicher geworden sein wird, selbst um die abscheulichsten.

Es geht um Geld und um eine Demonstration der Macht. Sie haben eine irrwitzige Summe Geldes verlangt. Seitdem wechseln sie andauernd das Quartier. Die Geiseln wissen seit ihrer Gefangennahme nicht mehr, wie weit sie weg sind vom Flüchtlingslager. Die Luft ist dünner und es ist kühler. Maggie vermutet, sie sind höher hinauf in die Berge gebracht worden.

Ein paarmal haben sie Lärm und Schüsse gehört und Frau Richter hatte aufgeregt geflüstert, dass sie nun endlich befreit würden.
„Mein Mann wird uns hier raus holen!“, hatte sie mit heiserer Stimme erklärt. Ihr Mann hatte zumindest zwanzig Prozent des Lösegeldes zur Verfügung gestellt, als die Verhandlungen endlich Erfolg hatten. Aber das würde noch Wochen dauern.
Maggie wusste, sie hatte keine Wochen mehr. Niemand würde für eine schwarze Halbwüchsige ohne Mutter Lösegeld bezahlen. Der Schmerz des Verlustes hatte das kleine unschuldige Denken noch nicht vollends erreicht. Die Schüsse, die Schreie, das Feuer, alles schien unwirklich. Maggie träumt. Es ist die Erinnerung an die Zukunft, wie sie sein kann. Neeles Finger trösten. Sie trösten trotz allem.

 

Melina öffnet die Augen mühsam.
„Da ist sie“, sagt die Schwester und legt ihr das notdürftig gesäuberte Kind auf den Bauch. Melina berührt es fast ehrfürchtig. Die Schwester hilft. Dann liegt das Kind in ihrem Arm. Ihr Fühlen füllt den engen Kokon um sich und das Kind, während der Arzt sie näht und die Schwester sich um sie bemüht. Das Kind öffnet die Augen, schwarz und jenseits von allem Verstehen.

 

Maggies Traum endet.

Das Leben beginnt.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.09.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
All jenen Menschen, die zu uns kommen in der Hoffnung auf eine menschliche Zukunft.

Nächste Seite
Seite 1 /