Sie sah ihn verzweifelt an. Er schlug die Augen nieder und kniff die Lippen zusammen zu einer farblosen Narbe in dem bartloses Gesicht. Er hasste sie, wenn sie ihn so ansah, mehr noch hasste er sich, dass er ihr Anlass gab zu diesem Blick.
„Ich habe keine Wahl, versteh das doch Weib!“, sagte er nun schon zum dritten Mal. Seine Stimme klang hart und fremd. Immer, wenn sie stritten, verfiel er in diesen Ton, der ihr eine Gänsehaut machte. Ihr wurde schlagartig klar, dass er eigentlich nicht hierher gehörte. Dann erfasste sie eine lähmende Angst. Seine Fremdheit hatte auf sie abgefärbt. Die Leute des Dorfes ließen es sie spüren.
„Was soll aus uns werden, wenn du fort bist?“, fragte sie ihn in ihrem breiten Dialekt, der ihm immer ein Schmunzeln ins Gesicht zauberte. Nur heute nicht. Heute durfte er sich nicht unter kriegen lassen. Schon viel zu lange hatte er diese Reise vor sich her geschoben. Immer wieder hatte es Dinge gegeben, die keinen Aufschub geduldet hatten in den letzten zwei Jahren. Auch jetzt war es schon hoch im Jahr und fraglich, ob er die Reise würde vor Einbruch des Winters glücklich hinter sich bringen können. Ein Zweifel freilich, den er Utta gegenüber nicht laut geäußert haben würde. Er wusste, wie ängstlich sie sein konnte. Er hatte die Frau heimlich in Verdacht, dass sie ihn für keinen vollwertigen Mann hielt, weil er schmächtiger als die Männer des Dorfes wirkte und sein haarloses Gesicht ihn jünger erscheinen ließ, als er in Wahrheit war.
Utta brachte den Kessel vom Herdfeuer und stellte ihn auf den niedrigen Tisch in der Mitte des Wohnraums. Der Brei aus Getreideschrot schlug noch träge Blasen und kleine Dampfwölkchen stiegen auf, wenn diese mit leisem Geräusch platzten. Die Frau füllte mit der Hornkelle die irdene Schüssel und stellte sie vor Martinus hin. Dann reichte sie ihm einen der Löffel aus Horn. Er sah zu ihr auf. Noch immer konnte er sich nicht daran gewöhnen, dass sie nie mit ihm zusammen aß.
Martinus opferte der Göttin und begann den Brei zu löffeln. Er war sehr heiß aber im übrigen fast geschmacklos. Manchmal sehnte er sich nach den raffiniert gewürzten Speisen seiner Heimat in solchen Momenten. Er schob den Gedanken fort, dass er unter die Barbaren gefallen war. Er hätte Utta und dem ganzen Dorf Unrecht getan damit. Immerhin hatten sie ihn aufgenommen, als ... Seine Gedanken flogen zurück.
Der Schnee prasselte auf das gerötete Gesicht des Mannes mit ungezählten Nadeln, spitz, kalt und erbarmungslos. Martinus war am Ende seiner Kräfte. Seit er seinen Reiseführer vor ein paar Tagen verloren hatte, irrte er ziellos umher, unfähig zu sagen, wo er sich gerade befand, unfähig Richtung und Weg zu bestimmen. Er fror, er war hungrig und verzweifelt. Er wusste, dass er sterben würde, fände er nicht endlich eine menschliche Siedlung, Schutz vor dem Schneesturm und den überall lauernden Gefahren.
Die Götter hatten ihn im Stich gelassen, so viel war gewiss.
Er hob das Gesicht zum Himmel. Es hatte vor Stunden jegliches Gefühl verloren. Er suchte den bleichen, helleren Fleck im weißen konturlosen Brei über sich, nach der er versuchen konnte, seine ungefähre Richtung auszumachen. Allein, die Wolken waren dicht und schienen fast seinen Kopf zu berühren. Undenkbar, die Sonne zu finden.
Der Schnee fiel so dicht, dass Martinus keine drei Schritte weit sehen konnte. Ihm war klar, dass es unter diesen Umständen sinnvoller gewesen wäre, sich einen Unterschlupf zu suchen, anstatt hier herum zu irren und Gefahr zu laufen, abzustürzen. Allein, die Umgebung bot nirgendwo auch nur die geringste Möglichkeit, sich notdürftig vor dem Sturm zu schützen.
Plötzlich gab der Untergrund unter seinen Füßen nach und er verlor den Halt. Er rutschte einen steilen Hang hinab, versuchte, sich irgendwo festzuhalten, aber der hart gefrorene, steinige Grund ließ ihm keine Möglichkeit. Er fiel, überschlug sich, prallte gegen einen aufragenden abgestorbenen Baumstamm. Seine Hände versuchten krampfhaft, sich an dem Stamm fest zu krallen, aber die Wucht des Aufprall schleuderte ihn zur Seite. Noch einmal stürzte er kopfüber und war sich sicher, dass dies nun sein Ende wäre.
Als er rücklings aufschlug, gab der Boden einen seltsam hohlen Ton von sich, der sich in alle Richtungen fortzupflanzen schien. Sein Kopf schlug hart auf und Martinus schwanden die Sinne.
Wenig später kam er leise stöhnen wieder zu sich. Er versuchte sich aufzusetzen, aber ein schrecklicher Klang ließ ihn jäh innehalten. Er lag auf einer verschneiten Eisfläche, die unter seiner Last zu ächzen schien. Er hörte das prasselnde Geräusch sich rasch ausbreitender Risse. Instinktiv ließ sich Martinus zurück sinken spreizte die Arme vom Körper und presste die Hände wie beschwörend gegen das Eis, das unter den Fingern zu vibrieren schien. Er blinzelte in den schräg fallenden Schnee und sah vor sich die kleinen Wölkchen seines Atems, die vom Sturm fortgerissen wurden. Todesangst ergriff ihn. Ungeachtet der Schmerzen in Schulter und Hüfte versuchte er, sich auf den Bauch zu wälzen. Bei jeder Bewegung jedoch wurden die Geräusche unter ihm bedrohlicher. Er erstarrte, ließ sich wieder auf den Rücken sinken. Die Kälte kroch ihm von unten durch den schweren Umhang in den Leib. Er spürte, wie seine Zähne auf einander schlugen und wusste nicht, ob es Angst oder Kälte war, die das bewirkte.
Er hielt inne. Hatte er Stimmen gehört? Der Sturm schien für ein paar Momente Atem zu holen.
‚Ich muss rufen!’, schoss es ihm durch den Kopf. Vielleicht waren Menschen in der Nähe, die ihn hören würden.
„Hilfe!“, rief er, aber seiner Kehle entrang sich nur ein heiseres Krächzen. Armselig, wusste er und räusperte sich. Sein Hals brannte. Er missachtete den Schmerz, nahm seine Kraft zusammen und rief noch einmal.
Es klang noch immer heiser, aber schon wesentlich lauter und entschlossener. Martinus holte tief Luft, schloss die Augen und brüllte los, bäumte sich auf.
Das Eis unter ihm brach und augenblicklich war Martinus von entsetzlich kaltem Wasser umgeben, das ihn mit grausamer Macht nach unten zog.
„Das Ende!“, dachte es seltsam ungerührt in ihm, während er wild fuchtelnd versuchte, am schartigen Rand des Einbruchs Halt zu finden, dass er nicht unter das Eis gezogen wurde.
Die klammen, nahezu gefühllosen Finger glitten ab. Er krallte sich in die Eisfläche, der Nagel seines linken Mittelfingers wurde abgerissen, aber er spürte es kaum. Seine Füße bekamen plötzlich Grund, steinigen Grund und Martinus stieß sich mit aller Kraft ab. Er wuchtete seinen zitternden und schmerzenden Körper vor sich auf das Eis, das wieder unter seinem Gewicht nachgab. Angst, Zorn und Verzweiflung ließen ihn aufschreien. Er spürte noch einmal Grund, aber diesmal hatte er kaum mehr Gewalt über seine kältestarren Muskeln.
Es gelang ihm mit der buchstäblich letzten möglichen Anstrengung, aus dem Eiswasser zu kommen.
Schwer atmend lag er am Fuß der steil über ihm aufragenden Uferböschung. Der Sturm war mit unverminderter Heftigkeit zurück gekehrt, blies jedoch über ihn hinweg. Ihm schwanden wieder die Sinne.
Utta sah Martinus – sie selbst nannte ihn bei sich immer nur Martin – aus dem Hintergrund zu, wie er selbstvergessen, den Brei löffelte und in die Flammen des Herdfeuers starrte. Dieser stiere Blick machte ihr Sorgen. Er schien sich fortzuwünschen, wenn er diesen Blick bekam, floh in eine Welt und in eine Zeit, die Ihr, Utta, verschlossen blieb.
Möglichweise, so überlegte sie nicht zum ersten Mal, hatten die Frauen im Dorf ja recht. Vielleicht war es falsch gewesen damals, den halb erfrorenen Mann ins Dorf zu bringen. Einen Fremden mit blondem gelocktem Haar und markantem bartlosem Gesicht, seltsam gekleidet für eine so gefährliche Reise und die Unbill des Wetters hier am See.
Allein, Utta hatte es nicht über sich gebracht, den Mann sich selbst und damit dem sicheren Tod zu überlassen. Erinnerungen tauchten auf.
Sie hatte erst vor Jahresfrist ihren Mann an den ersten Herbststurm über dem See verloren und ihr Lager war einsam seither und kalt. Die Arbeit auf dem Acker und mit den Ziegen war schwer ohne die kräftigen Arme eines Mannes. Ihr Trauerjahr neigte sich dem Ende. Die Göttin würde ihren Blick milde auf sie richten, wenn sie sich wieder mit einem Mann zusammen tat. Womöglich war es ihr dann vergönnt, einem gesunden Knaben das Leben zu schenken. Die Göttin würde ihre schützende Hand über sie halten, diesmal bestimmt.
Als sie die Rufe des Mannes am Ufer durch den Sturm und das Schneetreiben vernahm, war sie sich sicher, dass dies das Zeichen der Segensreichen für sie war. Wie sonst hätte sie sich erklären sollen, dass gerade sie die schwachen Laute durch das Chaos des Sturmes hatte hören können? Von dieser Ahnung getrieben, war sie hinaus gelaufen in die hereinbrechende Dämmerung, den Umhang fest um den Körper gezogen, dass der Wind, dieser böswillige Troll, ihn ihr nicht fortreißen konnte. Sie war den gefährlichen, rutschigen Pfad hinab geeilt zum Ufer und hatte das Brechen des Eises vernommen, das Flüstern der Geister des Wassers, die sich nährten vom Fleisch und den Träumen der Menschen, die unvorsichtig genug waren, um diese Jahreszeit schon dem Eis zu vertrauen.
Fast hätte sie die Gestalt am Ufer übersehen. Das Schneetreiben war dicht und die eisigen Kristalle fegten ihr schräg ins Gesicht. Sie kämpfte sich am schmalen Uferstreifen unterhalb des Abbruchs zu ihr hin, kniet nieder. Der Mann lag auf dem Gesicht und für einen Moment fürchtete sie, sie käme zu spät. Dann jedoch regte er sich, hob den Kopf, versuchte, sich aufzurichten. Er schien zu schwach zu sein, denn er sank stöhnend zurück. Utta sah, dass der ganze Körper unter dem nassen Umhang bebte und schlotterte. Sie wusste, dass die Zeit knapp wurde und lief los. Ihr Weg führte sie zuerst zum Haus des Dorfältesten. Er, so nahm sie an, würde wissen, was zu tun war. Aber statt seiner kam Hanna an die Tür, die zweite Frau des Ältesten, eine streitsüchtige Rothaarige, die fast zehn Jahre jünger als ihr Mann war und ständig ihr missmutiges Gesicht im Dorf spazieren trug. Utta mochte sie nicht besonders, aber es half nichts, sie musste sich eilen. Es gab einen kurzen mürrischen Wortwechsel, am Ende erfuhr sie jedoch, dass Utz im Langhaus zu finden war, wo er sich mit einigen Männern des Dorfes zur Beratung hatte treffen wollen.
Der Sturm schien noch zugenommen zu haben und die Dämmerung wurde rasch tiefer. Utta rannte, den Umhang gerafft, hinüber zum Versammlungshaus, das im Zentrum des Dorfes weit in den See hinaus ragte. Sie trat ein und der Wind riß ihr fast die schwere Tür aus der Hand. Die Männer sah ihr entgegen und verstummten. Utta trat an den grob gezimmerten Tisch und fasste ihren Mut zusammen, redete den Dorfältesten an. Dessen Augen verengten sich einen Moment, aber er sagte nichts, bis sie geendet hatte.
„Ein Fremder, sagst du?“, fragte er bedächtig nach und strähnte seinen eisgrauen Bart.
„Ich denke schon“, sagte sie etwas ungeduldig, „Seine Kleidung sieht der unseren nicht ähnlich und er hat keinen Bart.“
Die Männer am Tisch sahen einander an und ihre Blicke waren beredt.
„Was sollen wir da jetzt machen, Weib?“, erkundigte sich Karl, ein kleiner, mausgesichtiger Mann mit verschlagen blickenden Schweinsäuglein. Utta vermied es, ihn direkt anzusehen, denn beim Anblick seiner gespaltenen Oberlippe wurde ihr regelmäßig übel. Die vier anderen Männer am Tisch nickten zu seinen genuschelten Worten.
Es erhob sich ein lebhaftes Hin und Her unter ihnen, bei dem Utta zusehends ungeduldiger wurde. Utz hob die Rechte und die Männer verstummten.
„Ist er bewaffnet?“, fragte er sie und sein Blick nahm etwas Stechendes an.
Utta zögerte einen Augenblick. Baute ihr der Älteste da gerade eine Brücke? Seine Miene verriet es nicht.
„Möglich. Er lag auf dem Bauch und sein Umhang verbarg sie vielleicht. Wenn er zu einer Armee gehört, wäre es vielleicht nützlich, ihn zu befragen.“
„Du bist klug, Utta, Karlas Tochter. Wir sollen ihn befragen, hier befragen, meintest du das?“ Der Alte hob die eisgraue, buschige Augenbraue mit der Narbe darüber. Die Männer sahen abwechselnd zu ihm und zu ihr.
„Holen wir ihn her, bevor die Kälte ihn frisst oder die Tiere.
So war der Fremde ins Dorf am See gelangt und weil Utta sich für sein Schicksal so eingesetzt hatte und ihr ein Ernährer im Haus fehlte, hatten sie beschlossen, dass sie ihn pflegen sollte. In Wahrheit wollte niemand im Dorf mit dem blonden, bartlosen und schmächtigen Kerl zu tun haben. Er war ohnehin halb tot, als sie ihn in das Langhaus schleppten und würde einige Zeit brauchen, bis er wieder bei Kräften wäre, wenn er überhaupt über den Winter kam.. Sollte die vorwitzige Witwe sich seiner annehmen.
„Du träumst!“, sagte seine Stimme sanft hinter ihr. Er war an sie heran getreten und umfing sie mit seinen Armen. Eine Geste, an die sie sich auch nach zwei Jahren nicht gewöhnt hatte. Ihr verstorbener Mann war gut zu ihr gewesen, was letztlich vor allem hieß, dass er sie nicht schlug und sie nicht die schwersten Arbeiten zu verrichten ließ. Zärtlichkeit allerdings wäre ihm seltsam erschienen. Martin war zärtlich. Sie verstand nicht, warum, aber sie verstand, was ihr Körper ihr darüber erzählte.
Später, sie lagen eng bei einander unter den Schaffellen und hörten dem Wind zu, der um das Haus fauchte, erzählte Martin von seiner Heimat und seiner bevorstehenden Reise. Sie sah ihm beim Schein des heruntergebrannten Herdfeuers ins Gesicht. Wenn er erzählte, bekam es mitunter einen kühnen und entschlossenen Ausdruck, aber zumeist war es schwärmerisch und schien fast von innen zu leuchten. Sie sah seine Sehnsucht nach den großen Städten, dem Treiben der Menschen seines Stammes, deren Speisen und ihren Vergnügungen. Das Leben hier am See war rau und für jemanden wie ihn eintönig und voller Langeweile.
„Wirst du dann in dieser Stadt bleiben? Du hast so strahlende Augen, wenn du von ihr erzählst. Ich denke, du wirst uns hier schon bald vergessen haben, oder?“ Sie sah ihn wieder mit diesem Vorwurf in den Augen an. Seine Hand lag auf ihrer Schulter und streichelte sie mechanisch. Er ließ sich Zeit mit der Antwort, lauschte in sich hinein. Schließlich schüttelte er sachte den Kopf.
„Du machst dir unnötig Sorgen, Weib. Du wirst sehen, sobald der See wieder frei vom Eis ist, werde ich zu dir zurück kehren“, erklärte er mit fester Stimme. Ihre Augen verloren ihre Traurigkeit und ein Lächeln verzauberte ihr Gesicht. Er liebte sie, wenn sie dieser Zuversicht nachgab. Er küsste sie und sie schmolz unter seiner Umarmung.
Drei Tage später, kurz nach Tagesanbruch verließ er sie. Er sah nicht mehr aus wie ein Abgesandter des Konsuls von Augusta Vindelicum, als der er vor zwei Jahren ausgeschickt worden war nach Brigantum am Südufer des großen Sees. Er trug Schafsfelle, derbe Gamaschen aus Wildschweinleder und eine Mütze aus dem Fell eines Hasen. Er schritt langsam und bedächtig aus. Der erste Frost hatte die Erde hart gemacht und Reif hatte die Äste der Bäume und Sträucher überzogen. Der knorrige Stab in seiner Hand gab ihm Halt.
Utta sah ihm nach, die Arme vor der Brust verschränkt. Der auffrischende Wind zerrte an ihrem Tuch, das sie um Kopf und Schultern gelegt hatte. Er war schon ziemlich weit weg, als er noch einmal zurück schaute. Sie winkte zögernd, nicht recht glaubend, er könnte sie noch sehen. Aber er winkte zurück. Es gab ihr einen Stich ins Herz. Dann war er außer Sicht und sie ging den Steg zurück ins Haus über dem See, dessen Wellen ihr eintöniges Lied flüsterten.
Sie stand etwas verloren im Wohnraum des Hauses, das ihr plötzlich wie eine Hütte vorkam. Martin hatte ihr von den Häusern seiner Heimat erzählt und wie viel heller und geräumiger sie waren. Utta konnte sich das alles nicht wirklich vorstellen, aber die Begeisterung ihres Mannes war auf diffuse Weise in ihr Denken eingesickert. Ohne ihn wirkte der Raum auf einmal kalt, düster und leer. Sie fröstelte, machte sich daran, das Herdfeuer wieder in Gang zu bringen.
„Einsam ist’s auf einmal, oder?“, sagte hinter ihr die süffisante Stimme Hannas. Sie stand in der Tür, die Rechte in die Hüfte gestemmt und ein humorloses Lächeln im Gesicht. Utta fuhr herum und hatte kurz Mühe, ihren Schreck und ihre Trauer zu verbergen. Dann richtete sie sich ein wenig auf und setzte ihrerseits ein feines Lächeln auf, das ihre Augen freilich aussparte.
„Was kümmert’s dich, Hanna? Dein Nest ist doch warm und du wirst schon sehen, wie du über den Winter kommst, oder? Um mich mach dir mal keine Sorgen weiter.“
„Alle machen sich Sorgen im Dorf, musst’ wissen“, sagte die Ungebetene und besah sich ihre Fingernägel. Utta kreuzte hinter dem Rücken die Finger.
„Ach so? Warum?“, tat Utta scheinheilig. Sie trat langsam auf Hanna zu. Dass sie den Schürhaken in der Hand hatte, war ihr nicht bewusst. Erst als sich Hannas Blicke an dem Haken festzusaugen schienen, nahm sie es zur Kenntnis. Mit einem kleinen amüsierten Lächeln stellte sie ihn neben die Feuerstelle und richtete sich wieder auf.
„Nun, Mancher fragt sich, wohin er denn so spät im Jahr aufgebrochen sein mag, dein Mann. Aber, wart’, ich glaub gar, er war gar nicht so richtig dein Mann, oder?“ Die trübgrünen Augen sah sie von unten herauf verschlagen an. Wieder zuckten ihre Mundwinkel zu diesem gehässigen kleinen Lächeln.
„Weißt’, Hanna, wer sich beim Dorfältesten ins noch nicht ganz kalte Lager geschlichen hat, sollte sich sehr genau überlegen, was sie sagen sollt und was besser nicht. Mein Martin ...“ – Utta hob dabei kurz die Stimme – „... mein Martin war vor der Göttin so sehr mein Mann wie der Utz für dich, auch wenn das Dorf dazu keinen Segen gegeben hat. Er ist zu seinem Tribun nach Augusta Vindelicum aufgebrochen. Aber ich denk mir gerade, dass du nicht wirst wissen können, wo oder was das wohl sein kann. Tu’ dir selbst einen Gefallen und red’ von Dingen, die du verstehst.“ Uttas Stimme begann vor verhaltenem Zorn zu zittern. Hanna sah es mit einigem Vergnügen.
„Was, wenn er nicht zurück kommt, dein Martinus? Oder er kommt mit Soldaten im Gefolge?“
„Er kommt zurück! Auf die Göttin hat er’s geschworen!“, fauchte Utta und bedauerte kurz, dass sie den Haken fort gestellt hatte. Ihre Hände pumpten zu kleinen weißen Fäusten.
„Und behaupte nicht so einen Unsinn von meinem Mann!“, sagte sie halblaut und kam Hanna bis auf einen Schritt nahe. Die sah etwas irritiert aus.
„Soldaten! Was sollen die denn hier wollen? Dir deine kostbare Bronzefibel wegnehmen?“ Utta lachte verächtlich auf.
„Du solltest deinen Gatten nicht so lange mit dem Frühstück warten lassen, Hanna!“, sagte sie abschließend in süßem Ton. Die Verachtung biss Hanna geradezu in die Waden.
„Du solltest dich in Acht nehmen, Utta. Der Winter ist lang und hart. Gut möglich, dass du von der einen oder anderen Gabe aus dem Dorf wirst abhängen, wenn der Hunger nagt.“
„Die wird sie bekommen, Weib, wie es Brauch und Sitte ist in diesem Dorf! Scher dich an deinen Herd und führ hier keine schändlichen Reden mit deiner gehässigen Einfalt!“
Utz stand in der Türöffnung und verdunkelte mit seiner Gestalt den Himmelsausschnitt.
Hannas Gestalt sackte ein wenig ins sich zusammen. Ihre Schultern fielen nach vorn und sie senkte den Blick, bevor sie sich ihrem Gatten zuwandte. Nur einen kurzen Blick in sein missmutiges Gesicht wagte sie, dann versuchte sie an ihm vorbei das Freie zu gewinnen. Utz hielt sie am Arm fest.
„Nimm dich in Acht, Weib! Dein Gift macht Unfrieden. Das dulde ich nicht!“ Sie senkte den Blick noch weiter, ihr Kinn zitterte leicht. Er ließ sie aus und sie verschwand.
Der Dorfälteste trat ein und schloss die Tür.
„Hör nicht auf das Geschwätz von ihr“, sagte er zu Utta gewandt und sah sie direkt an.
„Sag mir lieber, was dein Mann dort will in der Fremde. Müssen wir uns wappnen gegen unliebsame Besucher?“
„Ach Utz, ich verstehe doch nichts von diesen Dingen. Er ist auf dem Weg in diese Stadt zu seinem Konsul, wie er das genannt hat. Aber du kennst ihn doch, er würde nie etwas Böses über unser Dorf bringen!“ Sie machte eine beschwörende Geste.
„Er selbst vielleicht nicht, Utta. Diese Leute da in dem Heerlager sind gierig und achten die Gesetze unseres Landes nicht und auch nicht unsere Götter.“
„Aber Utz. Doch mein Martin nicht!“
„Er ist einer von ihnen und er nennt sich Martinus.“
„Er opfert der Göttin, genau wie wir!“
„Was beweist das?“, fragte der Mann halblaut. Er trat an Utta heran, legte ihr eine Hand auf den Arm.
„Lass dir raten, Weib. Vergiss den Fremden. Er wird nicht zurück kommen und wenn dann nicht als Freund, fürchte ich. Du solltest dem Werben eines guten Mannes aus der Gegend folgen. Eine halbe Tagesreise von hier in Richtung Norden ist ein kleines Dorf. Ich schicke Nachricht, dass deine Trauerzeit endet. Es wird sich ein Mann für dich finden.“
Er tätschelte ihr väterlich die Hand und Utta erschauerte. Sie sah in das ernste Gesicht des Ältesten.
„Du willst mich los werden!“, rief sie zwischen Erstaunen und Abscheu und brachte zwei Schritte zwischen sich und ihn.
„Es wäre das beste für dich und das Dorf“, sagte er.
Der Kerl war alt, hager und hatte schiefe gelbe Zähne. Seine gelblich verfärbten Augen geisterten unstet umher, sein Blick berührte ungeniert ihr Gesicht und ihre Gestalt wie mit eklen Fledermausflügeln. Utta stand vor ihm und ihr war übel. Seit Tagen war ihr eigentlich nur noch übel und was immer sie auch aß, es wollte nicht drin bleiben. Sie sah elend aus, aufgedunsen und mit tiefen Augenringen. Die Nächte in dem einsamen Haus über dem See verbrachte sie oft genug schlaflos und tränenreich.
Gerda, die Kräuterfrau am Ende des Dorfes hatte sie nur aufmerksam angesehen und dann wissend gelächelt.
„Das vergeht, mein Kind“, hatte sie gemurmelt, „In ein paar Wochen geht es dir wieder besser. Du trägst ein Kind unter dem Herzen. Hast du das nicht gewusst?“
Utta hatte es geahnt, aber der Gedanke hatte sie geängstigt. Seit Martin nicht mehr da war, gab es immer mehr Dinge, die sie ängstigten. Die nur schlecht verborgene Ablehnung des Dorfes, die misstrauischen Blicke, das Verstummen der Gespräche der Frauen, wenn sie zum Wasserholen kam.
Der Winter aber, die Dunkelheit und die Stürme, die über den See fegten und meterhohe Schneewehen hinterließen, dies alles drückte sie nieder. Die Einsamkeit drückte sie nieder.
Aber diese Einsamkeit war nie und nimmer so groß, dass sie dieser Vogelscheuche in sein Haus dort im Norden folgen würde. Niemals!
„Sie kriegt das Kind von einem Andern!“, sagte der Hagere nuschelnd. Seine Zunge fuhr sich über die bärtige Oberlippe. Utta nahm alle Kraft zusammen, sich nicht hier im Langhaus zu übergeben. Ihr trat Schweiß auf die Stirn.
„Warst du ihm gegeben vor der Göttin, Weib?“, fragte er sie direkt.
„Nein. Aber er war trotzdem zwei Jahre mein Mann und ist es für mich immer noch.“
„Und wo ist er jetzt?“ Die Frage klang fast höhnisch.
„Auf einer Reise.“ Das Verhör zerrte an ihren Nerven und ihren Kräften. Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden.
„Ich würde sie nehmen, unter einer Bedingung“, sagte der Mann und schaute den Ältesten mit einem zugekniffenen Auge listig an.
„Bedingung? Nimm sie, oder lass es!“, sagte Utz vom Tisch her entschieden. Er begann die Idee, diesen Kerl hier her zu holen, bereits zu bereuen.
„Was soll das? Ich kann sie ja nicht mal mehr bespringen, wo sie dieses Balg da unter dem Herzen trägt. Am Ende füttere ich beide durch. Das ist kein guter Handel!“
„Ich bin auch kein Schaf, um das man feilscht!“, fauchte Utta ihn an, machte kehrt und war zum Haus hinaus, bevor jemand etwas sagen oder tun konnte.
Die frische Winterluft tat Utta gut. Sie blieb am Ende des Steges stehen und holte tief Luft. Sie sah zurück, sah den schmalen Streifen Licht, der unter der Tür zum Langhaus hervorschimmerte. Langsam ging sie zurück, trat ein. Im Haus erstarb jedes Wort, alle Augen richteten sich auf sie.
„Dies ist mein Dorf so gut wie eures. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Mein Mann war einer von euch, ihn hat der See genommen, wie so viele schon vor ihm. Ich gehöre hier her und werde nicht weg gehen. Tut mir leid, Wolf, es ist nicht wegen dir. Ich habe einen Mann und ich trage sein Kind.“ Sie legte ihre Hand auf ihren Leib. In das verblüffte Schweigen hinein drehte sie sich erneut um und ging. Niemand hielt sie auf.
Die Wintertage schleppten sich einsam, kalt und dunkel durch ihr Leben. Sie war allein inmitten des Pfahldorfes. Man mied sie. Niemand sprach mit ihr. Niemand half ihr, als ihr Zustand ihr kaum mehr gestattete, ihre tägliche Arbeit zu verrichten. Ihr Körper schrie vor Schmerzen und Tränen liefen allzu oft in ihren immer dünner werdenden Getreidebrei. Sie sah unförmig, ungepflegt und nicht selten verwirrt aus. Aber je weiter die Zeit voran schritt, umso ruhiger und gefasster wurde sie tief in ihrem Innern. Sie wusste, dass sie einen Sohn unter dem Herzen trug. Die Göttin hatte ihr Träume von ihm geschickt, viel Nächte lang immer die selben glücklichen Bilder.
Das Kind kam und Utta brachte es zur Welt. Niemand war da und rief die Kräuterfrau, niemand brachte den Geburtsstuhl. Der heftige Sturm verwehte ihre Schreie in der Nacht. Er verwehte auch die ersten Schreie des Knaben. Sie starb nicht, auch wenn es nah dran war.
Der Knabe überlebte und er war kräftig. Sie nannte ihn Martin. Sie opferte der Göttin von dem wenigen, was ihr geblieben war. Als auch das aufgebraucht war, fasste sie sich ein Herz, wickelte den Kleinen in warme Felle und stapfte durch den Neuschnee zum Haus des Ältesten.
„Was willst du?“, herrschte Hanna sie grob an, starrte auf das kleine Bündel in Uttas Armen. Ihr war Kinderglück bisher verwehrt geblieben und Neid sprach aus ihren Augen.
„Mit Utz reden, nicht mir dir“, versetzte Utta weniger scharf als sie es eigentlich vor hatte. Sie war als Bittstellerin gekommen.
„Er ist nicht ...“
„Wer ist da, Weib?“, rief die Stimme des Alten ungeduldig.
„Utta. Ich komme, dich an dein Versprechen zu erinnern!“, rief sie, das Kind an sich pressend, bevor Hanna etwas sagen konnte.
„Versprechen? Ich wüsste nicht ...“ Mit diesen Worten trat er an die Tür, schob Hanna bei Seite. Er sah Utta ins Gesicht, sah die Strapazen und die Einsamkeit, die dort ihre Spuren hinterlassen hatten. In den Fellen regte sich der Knabe.
„Warum lässt du sie so vor der Tür stehen, Närrin! Ist das jetzt üblich in diesem Dorf?“ Er bedeutete Utta einzutreten.
„Welches Versprechen habe ich dir gegeben, Weib?“, fragte er nicht unfreundlich. Utta seufzte kurz auf.
„Du hast gesagt, dass niemand mir die Hilfe versagen würde in diesem Dorf, wenn denn Not wäre. Es ist Not, Utz. Wir werden verhungern, der Kleine und ich.“
„Du hättest in den Norden gehen können! Aber dieser Fremde hat dich stolz gemacht und störrisch. Zahl den Preis dafür!“ Hanna spuckte Utta ihren Hass, ihren Neid und ihren Triumph ins Gesicht, das eigene Antlitz eine abgrundtief böse Fratze. Utz schlug ihr mit einer raschen Bewegung der Rechten rücklings die Hand ins Gesicht.
„Du hässliches, neidzerfressenes Ungeheuer! Halt dein dreckiges Maul und geh mir aus den Augen!“ polterte er sie herrisch an. Greinend wie ein Kind verzog sie sich in den Hintergrund des Hauses.
„Was brauchst du?“, fragte er knapp. Sie nannte ihm ein paar bescheidene Dinge. Er nickte, kratzte die Nase, die von bläulichen Äderchen durchzogen war. Hatte wohl etwas Frost bekommen, dachte Utta zusammenhanglos.
Am Abend des Tages brachten die Männer die Lebensmittel und Brennholz. Niemand sprach viel. Niemand nahm ihre Worte des Dankes zur Kenntnis. Als sie fort waren, stand Utta verloren im Dunkel ihres Hauses und spürte die Einsamkeit auf sich zu kriechen. Sie nahm ihren Sohn mit auf ihr Lager und sie wärmten einander.
Der Frühling kam und ging. Utta saß in der kräftiger werdenden Sonne und sah über den See. Die Tage waren wieder mit Arbeit und der Sorge um den kleinen Martin angefüllt, aber die Abende im sterbenden Licht am See gehörten ihren Sehnsüchten und Träumen. Der Junge lag vor ich auf den Fellen und strampelte munter. Er lachte sie an und sie erkannte das Gesicht seines Vaters. Das Haar war blond und lockig. Sie verbarg es nicht mehr vor den Menschen im Dorf. Sie wusste, dass hinter ihrem Rücken darüber getuschelt wurde. Es war ihr gleich. Der Knabe gab ihr die Kraft, weiter zu schuften und zu hoffen. Die Einsamkeit, die sie noch in den schier endlosen Wintermonaten bedrängt hatte wie ein Dämon, war ihr mehr und mehr zum Freund geworden. Manchmal hatte sie seltsame Gedanken, die ihr versuchten einzuflüstern, dass es keinen Unterschied mehr machte, ob er jemals wieder zu ihr zurück käme oder nicht. Zuerst hatte sie sich diese Gedanken selbst verboten, sich gescholten. Mit der Zeit aber hatten sie sich zunehmend angefreundet.
Eines Tages kurz vor Mittsommer erklang hinter ihr eine Männerstimme, deren seltsamer Akzent ihr sofort bekannt vorkam. Sie wandte sich um und sah sich einem fremdländisch aber edel gekleideten Fremden gegenüber. Ihr Herz wollte aussetzen.
„Bist du Utta?“, erkundigte sich der Fremde. Sie brachte kein Wort heraus und nickte nur.
„Ich bringe Nachricht von Martinus aus Augusta. Er bitte dich, mich zu ihm zu begleiten. Er möchte dich zu sich holen als seine Frau.“
In Utta stürzten tausend Gedanken wild durch einander. Sie würde ihren Mann, sie würde Martin wiedersehen. Sie würde ihm seinen Sohn bringen. Sie würde all die schönen und aufregenden Dinge sehen, von denen Martin ihr so oft erzählt hatte!
Aufgeregt bat sie den Boten ins Haus, bewirtete ihn mit frischer Milch und Brot und Käse. Sie begann hastig, Sachen für die Reise zusammen zu raffen. Ihr zitterten die Hände dabei.
Plötzlich, ganz plötzlich fühlte sie Angst und Panik in sich aufsteigen. Sie wusste nichts von dem Ort und den Menschen, zu denen sie im Begriff war zu reisen. Sie würde dieses Dorf, den See, ihr Haus, ihr Feld und die Herde nie wieder sehen. Dieser Gedanke schnürte ihr die Kehle zu. Sie hielt inne.
„Sag Martinus, wenn du zurück kehrst, ich werde hier auf ihn warten. Hier am See in seinem und meinem Haus. Mit seinem und meinem Sohn.“
„Bist du dir sicher?“, fragte der Bote besorgt. Sie nickte und unterdrückte die Tränen.
Am Morgen, als der erste Schnee fiel, wurde Utta vom auffrischenden Wind geweckt. Etwas am Dach hatte sich gelöst. Dann hörte sie Schritte den Steg hinauf kommen.
Texte: Andreas E. Jurat
Bildmaterialien: Albert Anker: "Die Pfahlbauerin" (Bestandteil des Wettbewerbs)
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2016
Alle Rechte vorbehalten
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