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Die Frage

„Was denkst du, hat Gott ein Gewissen?“, fragte Tim ihn unvermittelt. Es war zu dunkel, als dass er in der Lage gewesen wäre, dessen Gesicht unter dem Helm zu erkennen. Sie hockten in diesem halb fertig ausgehobenen Graben, starrten angestrengt in das Dunkel vor sich und bemühten sich, das Zittern ihrer Körper zu unterdrücken. Es war die Nacht auf den zwanzigsten Januar und es regnete in Strömen, seit Stunden schon. Ab und zu mischten sich große, nasse Flocken in den Regen, der beim Auftreffen auf die Metallflächen ihrer Schützenpanzer umgehend gefror. Die Fahrzeuge waren bereits von einer ganzen Schicht Eis wie kandiert.

„Ruhe da vorn. Es wird nicht gequatscht!“, fauchte eine heisere, helle Stimme von rechts. Das war Unteroffizier Wedelmann, ihr Gruppenführer. Tim meinte immer, wenn einer seinen Namen zu Recht trüge, dann dieser kleine Kerl mit dem rotblonden Haar.

„Der wedelt doch vor dem Leutnant ständig mit dem Schwanz, der Schleimer!“, pflegte er hin und wieder zu sagen und es war ihm herzlich egal, ob der übereifrige Unteroffizier in der Nähe war oder nicht.

„Halt doch einfach die Klappe, wenn Erwachsene sich unterhalten!“, knurrte Tim neben ihm. Thomas legte ihm seine nasse und vor Kälte fast gefühllose Hand auf den Arm. Mitunter waren die ständigen Reibereien zwischen den Beiden ganz amüsant. Im Augenblick jedoch gingen sie ihm auf die Nerven.

Überhaupt ging ihm diese ganze Sache hier langsam mächtig auf die Nerven: Der Dreck, die Nässe, die Kälte, die in die Knochen kroch und den Willen aushöhlte. Er hatte keine Lust, seinen dreiundzwanzigsten Geburtstag an diesem Waldrand zu verbringen und womöglich auch noch drauf zu gehen. Nein, ganz und gar keine Lust.

„Und, was denkst du?“, fragte Tim wieder halblaut.

„Wie kommst du darauf, dass ich bei diesem Schiet-Wetter denken könnte. Alles eingefroren.“

„Genau das wollen die ja, dass wir  zum Denken aufhören“, stellte Tim zischend klar. Er hatte die komische Angewohnheit, sich von fremden Dialekten von Fall zu Fall seltsame grammatische Wendungen auszuleihen. Thomas hatte noch nicht heraus, was er damit bezweckte, war aber viel zu mürrisch und durchgefroren um zu fragen.

„Nun sag schon: Hat er oder nit? Ein Gewissen ...?“

„Gefreiter John, halten Sie endlich Ihre Klappe!“, bellte Wedelmann aufgebracht. Neben ihnen waren die schmatzenden Schritte des Unteroffiziers vernehmbar. Gleich darauf stand er hinter ihnen. Der Graben war noch nicht tief genug ausgehoben, was selbst ihn dazu zwang, in gebückter Haltung zu stehen. Thomas musste es nicht sehen, er wusste, dass Tim grinste. Für ihn war das die einzig angemessene Haltung für den kleinen Schleimer.

„Sie beide, mitkommen!“, schnauzte er, was unter normalen Umständen vermutlich ein gutmütiges Lachen hervor gerufen hätte, denn seine Stimme drohte umzukippen und weckte Assoziationen zu einem kleinen trotzigen Jungen. Aber die Umstände waren nicht normal. Sie lagen an diesem Waldrand, nur wenige hundert Meter entfernt von diesem drei Meter hohen Zaun, der im Vokabular der neuen Mächtigen nur „Außengrenze“ genannt wurde. Es war kalt, es regnete und der Regen gefror. Kein Wetter, auch nur einen Hund vor die Tür zu jagen.

Sie schon, denn es galt Kriegsrecht. Da waren Hunde besser dran als Wehrpflichtige.
„Keller, Friedrich, sie übernehmen!“, rief Wedelmann und die beiden Angesprochenen quittierten den Befehl.

Tim erhob sich und Thomas hielt ihn am Arm fest.

„Ruhig, Großer. Das hier ist kein Spiel. Da kannst du nur verlieren“, raunte er ihm zu.

„Da haben Sie verdammt recht, Soldat“, griff der Unteroffizier den Satz auf. Seine helle Stimme bekam einen triumphierenden Klang.

„Folgen!“ sagte er und wieder sollte seine Stimme streng klingen. Sie übergaben ihre Nachtsichtgeräte und folgten dem Vorgesetzten, der mit raschen Schritten dem verschlammten Graben folgte. Nach knapp fünfzig Metern bog er in Richtung Waldrand ab und die beiden Soldaten wussten nur zu gut, wohin dieser Stich des Grabens führte.

Nach wenigen Biegungen erreichten sie den flach ansteigenden Hügel und durch einen Schlitz in der Zeltbahn blitzte kurz ein Licht auf. Sie hatten den Unterstand des Zugführers erreicht. Gleich daneben hockte als pechschwarze Silhouette dessen Schützenpanzer in seiner Feuerstellung, abgedeckt mit einem Tarnnetz. Der Regen prasselte leise auf die Metallflächen.
„Rein da, Sie Unruhemacher!“, fauchte Wedelmann und hob die Plane an.

„Unruhestifter, wenn schon, denn ...“, murmelte Tim. Thomas rammte ihm im Vorbeigehen kurz den Ellenbogen in die Seite.
„Halt die Klappe!“, fauchte er ihn leise an.
Die drei traten gebückt in den Unterstand. Der war tief genug in den Hang gegraben worden, dass man sogar darin stehen konnte, wenn man nicht gerade ein massiger Mann von fast zwei Metern war, wie Tim John. Sein Helm streifte die grob behauenen Stämme, aus denen die Decke des Unterstandes bestand. Von einem hing eine Lampe und verbreitete gelbes Licht, das auf die beiden durchgefrorenen Soldaten und den Unteroffizier geradezu heimelig anmuten musste. In der Ecke links, gleich neben der niedrigen Pritsche stand ein kleiner Ofen, auf dessen Abdeckung eine verbeulte Aluminium-Kanne stand und leise summte. Es roch nach Kiefern, Kaffee und lange getragenen Stiefeln.

Am Tisch in der Mitte des Unterstandes stand Oberleutnant Siegfried Müller. Er mochte Anfang vierzig sein, aber er bemühte sich sehr um eine aufrechte Haltung. Als Reserveoffizier war er erst wenige Wochen nach Verhängung des Kriegszustandes reaktiviert worden. Im zivilen Leben – konnte sich noch jemand an diese Zeit erinnern, da es ein solches Leben gegeben hatte? – war er ein arbeitsloser Lehrer gewesen, dessen Fächerkombination unter den veränderten politischen Verhältnissen nicht mehr benötigt worden war. Aber irgendwie fand sich Müller in diesem neuen Leben ganz gut zurecht, ja man hätte sagen können, das er es in gewisser Weise genoss.

Er hob den Kopf von seiner Lektüre und fasste den kleinen Unteroffizier ins Auge. Der straffte sich machte vorschriftsgemäß Meldung, was angesichts seiner schmächtigen Gestalt ziemlich lächerlich wirkte. Müller unterdrückte den Anflug eines amüsierten Lächelns. Er mochte diesen Wedelmann nicht, aber dessen hast hündische Ergebenheit schmeichelte ihm auf der anderen Seite auch wieder. Kerle wie der hätten ihn als Lehrer nie ernst genommen. Seit er die zwei Sterne auf seinen Schultern trug, hatte sich das radikal verändert. Müller mochte das, er mochte es sehr.

„Was gibt es, Unteroffizier? Was hat unser Doppel-T nun wieder angestellt?“ Müller richtete sich auf, kam um den Tisch herum, blieb jedoch in gebührendem Abstand stehen, weil ihm rechtzeitig klar wurde, dass er würde zu dem großen Kerl aufsehen müssen. Keine Haltung, die er als respekteinflößend genug empfand.

„Der Gefreite schwatzt in einer Tour und vernachlässigt seine Pflichten auf Posten. Es ist absolute Ruhe befohlen, aber er verletzt diesen Befehl, obwohl ich ihn ermahnt habe, den Mund zu halten!“

Müller sah von Wedelmann zu John, dann zu Thomas und wieder zurück. Er seufzte etwas gekünstelt, setzte sich sichtbar gelangweilt mit einer Gesäßhälfte auf die Kante des Tisches.

„Unteroffizier, was wollen Sie denn nun von mir? Sie sind der Vorgesetzte dieser Beiden. Machen Sie sich gefälligst gerade und verschaffen Sie sich verdammt noch mal Respekt!“

„Herr Oberleutnant, es ist nur, dass wir ...“, hob Wedelmann mit einer Stimme zwischen Eifer und Weinerlichkeit an, zu widersprechen. Müller brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

„Also, meine Herren vom Diskussionsklub, was gibt es denn so Wichtiges, dass Sie es unbedingt auf Horchposten bereden mussten? Ihnen ist der Bedeutung des Begriffes Horchposten klar, Gefreiter?“ Müller hatte die Stimme leicht gehoben. Bei ihm klang das eindeutig nach Ärger.
„Jawohl, Herr Oberleutnant!“, stieß Tim laut hervor, reckte das Kinn vor und sah den Offizier herausfordern an. Der stumme Schlagabtausch der Blicke der beiden endete unentschieden.

„Also?“, hakte der Offizier nach und eine kleines Lächeln spielte um seinen Mund.

„Der Gefreite John hat mich ...“, begann Thomas, aber Müller brachte auch ihn mit einer unwirschen Handbewegung zum Schweigen.

„Sie reden nur, wenn Sie gefragt sind, Soldat“, wies er ihn mit gefährlich leiser Stimme zurecht, wandte sich wieder Tim zu.

„Ich höre?“

„Ich wollte von Soldat Kramer wissen, ob er glaube, dass Gott ein Gewissen hat“, antwortete Tim mit versteinerter Miene. Dann herrschte einen Moment Schweigen, in dem sogar das Bullern des Ofens in der Ecke zu hören war und das Prasseln des Regens auf dem Dach des Unterstandes.

„Steht die Beantwortung dieser Frage in irgendeinem Zusammenhang mit ihrer derzeitigen Aufgabe dort draußen, Gefreiter?“, erkundigte sich der Oberleutnant und ließ sich von der Tischkante gleiten.

„Ich denke schon, Herr Oberleutnant“, antwortete Tim mit fester Stimme. Thomas kannte den Freund seit Jahren und hörte diese kleine renitente Nuance heraus. Im Gesicht des Offiziers arbeitete es. Vermutlich hatte auch er das Provokante der Antwort sehr wohl zur Kenntnis genommen.

Wedelmann schnaubte verächtlich und warf John einen mehr als beredten Blick zu. Thomas, der ihm am nächsten stand, schüttelte fast unmerklich den Kopf. Sollte heißen: Junge, mach es nicht noch schlimmer! Der Unteroffizier nahm es nicht zur Kenntnis.

„So, so, Sie denken schon. Soll ich Ihnen sagen, was ich denke, Gefreiter?“ Müller baute sich zwei Schritte vor dem Hünen mit dem eingezogenen Kopf auf, die Hände auf dem Rücken verschränkt und tatsächlich auf den Fußgelenken wippend wie seine eigene Karikatur eine Möchtegern-Despoten.

„Ich denke, dass mir scheißegal ist, ob Sie da einen Zusammenhang sehen! Ihre Aufgabe ist es, diesen Zaun dort draußen zu schützen und zu verhindern, dass Menschen ihn unbefugt und unter Verletzung der Sicherheit unseres Vaterlandes überwinden. Alles andere, Gefreiter, ist intellektuelles Geschwätz, für das hier und heute Nacht kein Platz ist. Haben wir uns verstanden?“

Eigentlich hatte Müller sich diese Ansprache als wohl temperierten Steigerungslauf gedacht, der mit diesem kontrollierten Paukenschlag seinen Abschluss finden sollte. Ein inszenierter Ausbruch von Überlegenheit, wenn man so wollte.

Als er nun fertig war, war sein Gesicht von ungesunder Purpurfarbe, ein Speichelfaden hing ihm von der Unterlippe und er rang etwas nach Luft. Rasch drehte er sich zur Seite.

„Jawohl, Herr Oberleutnant!“, belferte neben mir der Gefreite John. Seine Stimme klang kräftig und fast schneidend. Er hatte eine trainierte Stimme, immerhin war er früher Solist in einem Gospelchor gewesen, bevor sich die politischen Verhältnisse verändert hatten.

„Herr Oberleutnant, gestatten Sie eine Bemerkung?“, fragte er und dämpfte seine Stimme auf ein normales Maß. Thomas verbiss sich ein Schmunzeln, weil er nur zu genau ahnte, dass sein Freund dieses Spiel mit seiner Stimme mit reichlichem Kalkül spielte.

„Nichts gestatte ich, Gefreiter. Sie werden mich hier nicht in eine sinnlose theologische Diskussion verwickeln, während sich da draußen Tausende von Fremden unserer ‚Aussengrenze’ näheren, unter ihnen wahrscheinlich eine Menge gefährlicher Terroristen. Schluss damit, John! Gott und Gewissen! Machen Sie, dass Sie auf Ihren Posten kommen!“

Die drei salutierten und verließen den Unterstand. Wenige Schritte entfernt hielt Wedelmann die zwei auf.

„Sie haben den Oberleutnant gehört, John. Ab sofort herrscht absolutes Schweigen auf Posten. Sie werden Ihren Horchposten zweihundert Meter weiter nach vorn verlegen, Gefreiter. Ich erwarte alle fünfzehn Minuten Meldung über Funk. Sie gehen allein. Haben Sie mich verstanden?“

„Damit überschreitest du kleiner Pisser deine Kompetenzen, das ist dir klar oder?“ Tim trat auf den Unteroffizier zu. Thomas schob sich vor den Freund, hielt ihn auf.
„Unteroffizier, Sie hatten ihren kleinen Sieg da drin. Lassen Sie es gut sein. Was soll er da vorn allein machen, was er nicht auch aus der vorgeschobenen Stellung sehen und hören kann. Wir halten ab sofort die Klappe. Ich sorge dafür.“ Thomas’ letzte Worte klangen so freundlich wie beschwörend. Wedelmann zögerte eine Winzigkeit lang, dann spürte Thomas mehr, als er es sah: sein Versuch war gescheitert.

„Keine Chance, Kramer. Ihr beiden tanzt mir nicht mehr auf der Nase herum“, zischte er und wandte sich demonstrativ zu seinem Schützenstand um. Zwei Schritte später drehte er sich in der Dunkelheit noch einmal um.

„Wollen Sie da Wurzeln schlagen? Wegtreten, im Laufschritt!“

John und Kramer kämpften sich durch den inzwischen fast knöcheltiefen Schlamm des Grabens zu ihrer vorgeschobenen Stellung vor. Der Regen hatte sich inzwischen dazu entschlossen, endgültig in Schnee überzugehen. Eine dünne Schicht hatte sich über den aufgeworfenen Deckungswall des Grabens gelegt.

„Ich dreh ihm das dürre Hälschen um, das verspreche ich dir, Tommy!“, raunte Tim humorlos, während er das Nachtsichtgerät anlegte und sein Funkgerät überprüfte.

„Nichts dergleichen wirst du tun, du Hitzkopf. Du raffst es nicht, Teddybär, das hier ist so etwas wie Krieg! Sie können dich wegsperren, wenn du so weiter machst. Die blöde Tussi kriegt es fertig und peitscht sogar noch das Standrecht durch, dann knallen sie dich über den Haufen, wie du dich aufführst.“ Er sprach sehr leise aber auch sehr eindringlich. Dabei sah er vor seinem inneren Auge das ständig dreitagebärtige Gesicht des Freundes, sah sein Grinsen und sah, dass sein Nicken immer noch ein klein wenig verschmitzt aussah. Verdammt, Tim John, werde erwachsen!

Morgengrauen.

Sie waren fast am Erfrieren. Inzwischen lag der Schnee fast fünf Zentimeter hoch. Die Sicht war fast Null. Tims Stimme im Funk wurde immer leiser und Thomas spürte, dass selbst die Kräfte des Riesen dort vorn am Schwinden waren.
Müller hatte schließlich – für Thomas Geschmack viel zu spät - ein Einsehen gehabt und den Zug in den bereits fast fertig ausgebauten Mannschaftsunterstand befohlen, wo es Verpflegung – natürlich kalt – und ein wenig Trockenheit für die Männer gab. An Feuer war allerdings nicht zu denken. So saßen die Soldaten murrend und zitternd in ihren durchgeweichten Kampfanzügen an die Wände des Unterstandes gelehnt und sehnten den Morgen herbei, der etwas Licht und Zuversicht zu versprechen schien.

Thomas Kramer lag noch immer in der vorgeschobenen Stellung. Mit seiner Zeltplane hatte er sich ein wenig Schutz vor dem Schnee und dem eisiger werdenden böigen Wind verschafft. Regelmäßig suchte er mit dem Nachtsichtgerät und dem Feldstecher mit Restlichtverstärkung den Abschnitt vor ihrer Stellung ab. Ohne Ergebnis. Die Müdigkeit hängte sich bleischwer an die Lider des Soldaten. Immer öfter rieb er sich mit schmutzigem, sanddurchsetztem Schnee das Gesicht ab, das sich bereits taub anfühlte, um sich wach zu halten. Weder Wedelmann noch Müller dachten daran, ihn ablösen zu lassen.

„Hat Gott eigentlich ein Gewissen?“, flüsterte Thomas in einem seltsamem Zustand von Halbschlaf vor sich hin. Und bekam seine Antwort.

Plötzlich war der Abschnitt vor ihnen in das gleißende Licht von Scheinwerfern getaucht, deren Finger durch das Schneetreiben zu ihnen herüber tasteten. Fahrzeuge näherten sich von jenseits der „Außengrenze“, viele Fahrzeuge. Wahrscheinlich Lastkraftwagen und Busse.

Thomas war im nächsten Moment hell wach und aus dem Funk kam ein knapper, überrascht klingender Ruf. Thomas handelte völlig mechanisch. Er gab das verabredete Zeichen und wenig später waren die geflüsterten Befehle der Gruppenführer im Graben zu hören. Ausrüstung schlug gegen einander. Bei dem ersten Durchladen eines Sturmgewehrs ging es Thomas durch und durch. Er griff zu seiner eigenen Waffe, von der er wusste, dass sie unterladen und gesichert war. Ihm grauste bei dem Gedanken, sie durchzuladen und damit schussbereit zu machen.

„Verdammte Ösies, die wollen Reffies durch den Zaun lassen!“, hörte Thomas Klaus Donner sagen, einen knapp vierzigjährigen Kerl, über und über mit abartigen Tatoos bedeckt, von denen er behauptete, die meisten stammten von seiner Zeit im Knast, als man seine, wie er sagte „vaterlandstreue“ Bruderschaft ausgehoben und wegen diverser Terroranschläge verurteilt hatte. Unter der neuen Regierung waren viele von ihnen nicht nur begnadigt sondern auch gleich als Freiwillige geworben worden. Thomas rieselte es eiskalt den Rücken hinunter, als ihm klar wurde, dass dieser Kerl da hinter ihm ein leichtes Maschinengewehr mit einer Trommel Nato-Munition in den Fäusten hielt.

Müllers Stimme hallte über das Stellungssystem.

„Männer! Wir werden diesen Abschnitt der ‚Außengrenze’ sichern. Hier werden heute keine Fremden unkontrolliert in unser Land einmarschieren.“

Thomas vernahm zustimmendes Gemurmel. Er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Allein, er  hatte seit einem halben Tag nichts gegessen.

„Männer, wir werden besonnen handeln und Blutvergießen vermeiden, solange uns niemand dazu zwingt. Geschossen wird nur auf ausdrücklichen Befehl. Die Gruppenführer haften mir persönlich für die Einhaltung dieses Befehls.“

Müllers Stimme kam in Thomas Richtung. Der hatte den irrwitzigen Gedanken, sich herum zu drehen und seine Waffe ...
„Was geht da bei euch vor?“, hörte er Tims Stimme im Kopfhörer.

„’Independence-Day’-Ansprache von Müller. Ich kotze gleich“, gab er zurück und hielt sich dabei die Hand vor den Mund.

„Sag nicht, die wollen anfangen zu ballern. Du glaubst nicht, was da vorn gerade abgeht. Frauen und Kinder steigen aus den Autos. Die Grenzer von der anderen Seite eskortieren sie. Wenn auch nur ein Schuß ...“

Über der Szene erblühten drei, vier gelbgrüne Leuchtfeuer an imposanten Fallschirmen und tauchten den Abschnitt in trübes, diffuses Licht. Groteske Schatten tauchten auf wie trunkene Gestalten und verschwanden wieder. In die Männer hinter Thomas kam Bewegung. Wieder das Gänsehaut verursachende Geräusch von scharf gemachten Gewehren.

„Finger von den Abzügen, verdammt!“, rief er verzweifelt nach hinten und ließ sich tiefer in seine Stellung gleiten. Er spürte, wie ihm trotz der Kälte Schweiß den Rücken herunter rann. Er merkte mit großer Bestürzung, dass er Angst hatte, Todesangst und dass er auf bizarre Weise die Gefahr hinter sich wusste und nicht dort vorn bei diesem verdammten seelenlosen Zaun.

„Was tut sich am Zaun?“, fragte die eisige Stimme Müllers im Kopfhörer. Thomas erschrak, sah sich um. Seit wann war der Bastard bereits online?

„Ich kann nicht viel erkennen. Die Leuchtraketen blenden meine Nachtsicht. Der Schneefall ist zu stark.“ Thomas erkannte Tims Stimme kaum wieder. Klang so Angst und Verzweiflung?

„Sind Menschen am oder auf dem Zaun? Gefreiter, antworten Sie!“

„Soweit ich sehen kann, nicht.“

„Sind Sie sicher?“

„Sicher? Hier ist nichts sicher, wenn Sie mich fragen. Was ich sehe, sind dass Frauen und Kinder, die wie Vieh auf den Zaun zu getrieben werden von Grenzern von der anderen Seite. Das sind Zivilisten, unschuldige Menschen. Herr Oberleutnant, Sie dürfen auf keinen Fall das Feuer eröffnen lassen!“
„Tim, verdammt, was redest du denn da!“, war Thomas versucht, in das Headset zu brüllen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt.

„Halten sie die Augen offen, Gefreiter und sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe!“

Thomas setzte seinen Feldstecher an die Augen. Die Bilder waren verzerrt und verschwommen, aber dann, endlich, sah er, was sein Freund von weiter vorn noch viel deutlicher sehen musste. Die ersten Menschen versuchten, am Zaun empor zu klettern. Thomas sah, wie Gestalten abrutschten, verzweifelt versuchten, sich fest zu klammern und stürzten. Er setzte das Glas ab. Seine Kiefer knirschten auf einander, so sehr presste er die Zähne zusammen.

„Oh nein, bitte nicht“, hörte er gleich darauf Tims Stimme, ein Flüstern, rau und fast tränenerstickt. Thomas hob das Glas wieder an die Augen, stellte die Schärfe nach. Der Zaun war durchbrochen! Menschen drängten durch den Spalt, hasteten, rannten, stolperten, fielen, rappelten sich auf. Kamen direkt auf sie zu!

Es war einer der Schützenpanzer, der den ersten Schuss abfeuerte. Die ganze aufgestaute Anspannung des Infanteriezuges dort in der mehr schlecht als recht befestigten Verteidigungsstellung entlud sich in einer Salve aus zwanzig Kampfgewehren.

„Aufhören, aufhören!“, hörte Thomas das Rufen aus dem Funk. Das war keine menschliche Stimme mehr!

„Feuer halt! Feuer halt!“, brüllte er selbst aus Leibeskräften. Allein, der Lärm war ohrenbetäubend.

Plötzlich erklang ein schriller Schrei von weiter rechts aus einer der Stellungen der zweiten Gruppe. Rufe wurden laut, kulminierten in dem Ruf: Sanitäter!

Thomas registrierte nicht, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Er starrte wie gebannt durch seinen Feldstecher. Die Leuchtraketen waren am Verlöschen. Dunkelheit legte sich fast gnädig über die Szenerie.

„Tommy, bist du da?“, kam es flüsternd aus dem Funk.

„Ja Tim, ich bin da. Was ist los da vorn?“

„Ich weiß nicht Tommy.“

„Tim, alles in Ordnung?“

„Etwas hat mich getroffen, Tommy.“

„Bist du verletzt?“, fragte Thomas, ohne, dass ihm die Unsinnigkeit seiner Frage in den Sinn kam. Der Gedanke, Tim, der fast riesenhafte Tim John könnte verletzt sein, war für Thomas so weit weg von aller Wahrscheinlichkeit, dass es einen Moment brauchte, bis sich seine Tragweite in seine Bewusstsein gedrängt hatte. Dann aber brachen alle Dämme. Thomas sprang wie elektrisiert auf und stürzte los, nur von dem Gedanken getrieben, den verwundeten Freund zu finden und zu bergen, nach Hause zu bringen, weit weg von all diesem Irrsinn hier.

„Kramer, bleiben Sie stehen! Kramer, das ist Fahnenflucht!“ kreischte Wedelmann hinter ihm her.

„Tim ist verwundet. Ich hole ihn da raus! Knall mich ab, wenn du dich traust!“, schrie er über die Schulter. Einen winzigen Moment rechnete er tatsächlich damit, von einer Kugel getroffen zu werden und wunderte sich, dass er dabei keine Furcht empfand. Dann kehrte er zurück auf diesen Sturzacker und die Nacht auf seinen dreiundzwanzigsten Geburtstag.
Er fand Tim fast auf Anhieb. Er war bei Bewusstsein, aber das war fast genauso schlimm, wie das, was Thomas in dem kurzen Moment zu sehen bekam, als er seine Taschenlampe auf den Freund richtete. Ein Anblick, den er so tief in seinem Innern begrub, dass er nie auch nur ein Wort darüber verlor. Er versuchte, den Freund anzuheben und verfluchte seine eigene Schwäche und dessen Größe und sein kolossales, tödliches Gewicht. Tim schrie und weinte, dann endlich, schwanden ihm für ein paar Momente die Sinne.

Thomas begann, über Funk nach einem Sanitäter zu rufen. Er wurde nicht gehört. Das Schießen hatte aufgehört. Die Menschen hatten sich hinter den Zaum zurück gezogen.

Am Ende lag Tims Kopf auf Thomas’ Oberschenkel. Er kam wieder zu sich und diesmal war er klar und fast gefasst. Thomas wusste später nicht zu sagen, was ihm mehr zugesetzt hatte, die Schreie oder diese unnatürliche Ruhe des Freundes.

„Tommy, mein Freund“, sagte er mit verwaschener Stimme. Er versuchte, die Hand zu greifen, aber er war zu schwach.

„Ja, Tim“, sagte der und wandte alle Kraft auf, seine Tränen nicht hören zu lassen.

„Ich glaube, er hat keines. Wozu auch?“

 

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Tag der Veröffentlichung: 01.05.2016

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