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Das Licht

„Da ist Besuch für Sie, mijnheer Martens“, sagte die Stimme der Haushälterin  mit ihrem singenden Akzent von der Tür her. Simon Martens, der noch immer zur Hälfte im zähen Sumpf seines Alptraumes gefangen war und sich nur mühsam ans Ufer seines erwachenden Verstandes retten konnte, drehte langsam seinen Kopf in ihre Richtung. Mit einiger Kraftanstrengung gelang es ihm, die blutunterlaufenen Augen zu öffnen. Obgleich das Zimmer in tiefe, bräunliche Schatten getaucht war, stach das wenige Licht der Gaslampen im Flur ihm mit glühenden Nadeln ins Gehirn. Er hob die Rechte vors Gesicht, das zu einer mürrischen Grimasse verzogen war.
„Ich will niemanden sehen!“, rief er mit einer Stimme, die er selbst nie mit sich selbst in Verbindung gebracht hätte. Sie quoll ihm brüchig und krümelig über die geschwollene Zunge, die sich in seinem Mund wie ein wattiger Fremdkörper ausnahm.

„Simon, mein genialer Freund!“, erscholl es plötzlich mit nach gerade infernalischer Lautstärke und ekelerregender guter Laune durch den Raum. Martens fuhr von seinem Lager auf; Zorn flammte in seinem fein geschnittenen Gesicht auf.

Der lautstarke Besucher drang mit langen elastischen Schritten in die Mitte des Raumes vor, sah sich kurz um, hob beschwichtigend die Hand gegen die aufbegehrende Haushälterin und rümpfte gleich darauf verächtlich und amüsiert die schmale Hakennase.

„Es tut mir wirklich leid, mijnheer Martens“, rief die rundliche Holländerin mit dieser etwas weinerlichen Resignation in der Stimme, „Er ließ sich nicht aufhalten!”

“Schon gut, Linda. Das lässt er sich selten“, sagte Martens heiser. Vorsichtig öffnete er die Augen und erfasste den Eindringling mit missmutigem Blick.

„Du bist ein vermaledeiter Quälgeist, Johannes Rosenhain!“, rief er, inzwischen mit festerer Stimme und schwang seine Beine aus dem Bett. Beim Aufrichten verzog er für einen Moment vor Schmerzen das Gesicht.

„Linda, Sie gute Seele dieses Hauses, seien Sie so gut und bringen Sie ihm einen starken Kaffee und wenn es geht, ein wenig Zitronensaft darin. Ich würde mit ein oder zwei Scheiben Toast, einem ihrer legendären Pancakes und zwei Spiegeleiern Vorlieb nehmen. Ach – ein Glas Orangensaft, wenn Sie so freundlich wären!“, setzte Rosenhain hinzu, während er sich anschickte, die Vorhänge vor den hohen Fenstern zurück zu ziehen.

„Aber...“, hob die Frau mit deutlicher Bestürzung in der Stimme an, „woher soll ich ...“. Eine breite, grelle Lichtbahn stürzte in den Raum und ließ Myriaden von Staubteilchen aufblitzen wie Meteoriten. Martens hob stöhnend die Hände vor das verzerrte Gesicht.

Rosenhain wandte sich geschäftig nach der barmend in der Tür Stehenden um, griff in die Tasche seines Gehrocks, ließ einige Geldstücke in ihre überrascht ausgestreckte Hand fallen, dass diese mit ihrem hellen und gleichsam massiven Klang Zeugnis über ihren Wert ablegten.

Linda verstummte im Moment, formte mit ihrem Mund ein überraschtes O und verschwand, einen Knicks andeutend. Rosenhain schloss hinter ihr betont leise die Tür zum Gemach seines Freundes. Der Frohsinn wich indes zusehends aus seinem Gesicht und hinterließ einen seltsam ratlosen Zustand, den man mit etwas Fantasie als baustellenartig hätte bezeichnen können. Er trat an den Kaffehaustisch in der Nähe des Fensters, der genauso mit allerlei seltsamen Utensilien überhäuft war, wie die beiden zierlichen Stühle, die rechts und links davon schwer bepackt Wache standen. Achtlos wischte der Besucher den Rechten der beiden leer und setzte sich schwer, streckte die langen Beine von sich, nur um sogleich zu Martens herum zu fahren.

„Du musst mir helfen, Simon!“, rief er aufgeregt in dessen Richtung, ganz so, als wüsste dieser bereits, worum es bei seinem Ansinnen ginge.

„Wie lange ist sie schon verschwunden?“, erkundigte sich der Angesprochene, während er den Gürtel des Hausmantels zu Recht zurrte.

Rosenhain sah zu Martens auf, wie er nun sehr aufrecht und in diesem eleganten Morgenrock vor ihm stand, das Gesicht inzwischen verborgen hinter dieser perfekten Maske aus distinguierter Langeweile, zu der nur die inzwischen fast wachen grünen Augen nicht passen wollten.

„Seit gestern. Ich hatte sie noch nach Hause gebracht, bevor ich in den Club gefahren war. Aber woher weißt du...?“

„Mein lieber Freund, beleidigst du mich mit einer Frage nach dem Offensichtlichen?“, entgegnete Martens mit dieser unnachahmlichen selbstgefälligen Ungeduld in der Stimme und ein paar gezierten Handbewegungen.

Linda trat mit einem Tablett durch die Tür, blieb ein wenig hilfesuchend mitten im Zimmer stehen, nicht wissend, wo sie die dampfenden Köstlichkeiten abstellen sollte. Rosenhain leerte den Tisch, wie er zuvor schon seine Sitzgelegenheit von dem sinnlosen Krimskrams befreit hatte. Sein Gastgeber quittierte es mit einem säuerlichen Gesicht.

Linda zog sich zurück und die beiden Männer aßen schweigend.

Schließlich lehnte sich Rosenhain trotz seines angespannten und besorgten Gesichtes einigermaßen zufrieden ...

 

„Augenblick mal, das kann ja unmöglich Euer Ernst sein, mein Herr!“, rief Martens und drehte sein markantes Profil schräg gegen die stuckverzierte Decke.

 

„Wovon, um Himmels Willen, redest du, Simon, mein Freund? Natürlich ist das mein Ernst!“, rief Rosenhain verwundert und sah seinen Freund besorgt an.

Der winkte ungehalten ab, deutete in meine Richtung und sagte mit galligem Spott:

„Ich rede mit diesem Herrn Möchtegern-Autor, der vermeint, uns gleich Marionetten an sinnlosen Fäden durch seine Fantasiewelt zerren zu können. Hält sich für fähig, eine Detektivgeschichte schreiben zu können und hat doch nicht die geringste Ahnung, worauf es dabei ankommt!“

 

„Lieber Freund, ich wusste ja nicht ...“, setzte Rosenhain verstört an und machte Anstalten, sich zu erheben. Martens brachte ihn mit einer raschen Handbewegung zum Schweigen. Dabei ließ er keinen Blick von mir. Langsam wurde mir etwas unheimlich.

 

„Ihr könnt den Leser doch nicht so ganz ohne Informationen lassen, werter Herr Autor!“, begann Martens, erhob sich, ergriff die Aufschläge seines Hausmantels. Unter den erstaunten Blicken seines Freundes und den meinen hob er an, dozierend im Zimmer auf und ab zu laufen.

„Das Prinzip des Vorenthaltens von Informationen ist wahrlich nicht neu und fast immer eine totsichere Methode, Spannung zu erzeugen. Aber ...“ -  Martens blieb stehen, drehte sich schwungvoll halb um seine Achse um mich zu fixieren – „... dies hier ist ein anderer Fall. Ihr gebt mich – zweifellos der Held Eurer kleinen Geschichte und angelegt als begnadeter Detektiv vom Schlage eines Sherlock Holmes – dem Unglauben und  Gelächter Eurer Leserschaft preis, wenn Ihr mir die Erkenntnis des Verschwindens der geliebten Person so ganz und gar ohne Kostprobe meiner geradezu verblüffenden Beobachtungsgabe und meines Kombinationstalents sozusagen gratis in den Kopf stopft.“

Ganz plötzlich  wurde Martens von einem Hustenanfall geschüttelt, der ihm jedes Weitersprechen unmöglich machte. Ich gebe zu, ich konnte mich eines kleinen amüsierten Lächelns nicht erwehren. Seine Blicke waren für einen winzigen Moment panisch und voller ahnungsschwerer Erkenntnis. Dann kam er zu Atem.

Rosenhain seinerseits war gleichfalls aufgesprungen, bereit, dem in Not Geratenen beizuspringen. Martens hob abwehrend eine Hand.

„Ich werde später wieder kommen, wenn es dir recht ist. Mir will scheinen, dass du es gestern Abend etwas zu gut gemeint hast mit diesem eidgenössischen Gebräu.“

„Unsinn, Johann, es geht mir gut. Hast du dich noch nie gefragt, ob wir wirklich Herr unserer Entscheidungen sind?“ Martens stand vor seinem Freund, hatte sein aristokratisches Gesicht etwas erhoben und hielt Rosenhain bei den Schultern. Eine durchaus erstaunliche Geste, wenn man seine sonst überaus beherrschte Art in Rechnung stellte.

„Doch, das eine oder andere Mal schon, denke ich“, entgegnete der voller Ungeduld, beließ aber die Hände, wo sie waren.

„Du willst nicht wissen, woher ich weiß, dass sie verschwunden ist?“, fragte Martens und sein Gesucht spiegelte leichte Enttäuschung. Schließlich gab er sich zufrieden, kehrte zu seinem Platz am noch nicht abgeräumten Frühstückstisch zurück, nicht allerdings bevor er sich nicht seine Meerschaumpfeife gestopft und mit einem Fidibus am monströsen Kamin  in Brand gesteckt hatte. Sofort war die Luft erfüllt vom süßlichen Duft des mit Vanille fermentierten Tabaks. Rosenhain, der die seltsame Leidenschaft seines Studienkollegen nie verstanden und schon gar nicht geteilt hatte, ertrug den Gestank mit säuerlicher Mine.

„Ich kann es mir vorstellen, mein Freund. Ich bin in großer Sorge, wie du dir denken kannst.“

„Ich muss alles wissen, was du weißt, jedes Detail. Wir müssen in ihre Wohnung fahren, wahrscheinlich haben die Entführer Spuren hinterlassen oder eine Nachricht mit Forderungen“,  erklärte Martens und inzwischen wirkte er hell wach und konzentriert. Rosenhain sah ihn dankbar an und nickte stumm.

 

 

 

Die Wohnung sah furchtbar aus. Jemand hatte etwas gesucht und das Unterste zu Oberst gekehrt. Rosenhain stand wie erstarrt in der Tür zum Salon und schüttelte fassungslos den Kopf.

„Arme Rosalie“, murmelte er unausgesetzt.

Simon Martens stand in mitten des Chaos aus umgestürzten Möbeln, zerfetzten Wäschestücken,  Scherben von Porzellan und misshandelten Büchern und ließ den Raum auf sich wirken. Seine Sinne waren weit geöffnet, geschärft, seine Gedanken leer und Gefäßen gleich, die Flut an Eindrücken zu empfangen, zu filtern und zu Informationen zusammen zu sintern.

Er wurde ruhig und methodisch.

Ich sah ihm in den Kopf und spürte die fast euphorische Anspannung, sah durch seine Augen gleichsam auf  mehreren Spektren auch die winzigsten Details überdeutlich. Zugleich wollte mir schier der Schädel platzen von all den Erinnerungen und Erfahrungen, die sein übersteigertes Hirn mit den auf ihn einstürmenden Bildern, Gerüchen und Strukturen zur Deckung bringen suchte. Dabei hatte ich das beklemmende Gefühl einer unaufhaltsam über ihn herrschenden Ekstase, die ihn immer weiter trieb. Fühlte so ein hochspezialisierter Fährtenhund? Ich schlug die Augen nieder, bevor mich Übelkeit übermannen konnte. Er tat mir leid. Was tat ich ihm an?

Er sah sich unwillig zu mir um.

„Ihr solltet Euch zurück halten in dieser Sache, Herr Autor. Es gibt Dinge, die Ihr nicht versteht und solltet Ihr noch Tausend Jahre älter werden als ihr ohnehin schon seid.“

Seine helle und überaus bornierte Stimme erklang diesmal direkt in meinem Kopf und erzeugte das seltsame Gefühl, als zupfe jemand leibhaftig an meinem Innenohr.

 

„Was ist, hast du etwas entdeckt?“, fragte aufgeregt Rosenhain, der inzwischen aus seiner Starre erwacht war. Martens hob seine Rechte, als wollte er den Freund abwehren. Er legte den Kopf schief, lauschte. Drehte sich rasch herum und schritt durch die Trümmer der Einrichtung bis zur Wandtäfelung im Hintergrund, blieb dort stehen. Legte die schmalen gepflegten Hände flach auf das dunkle Holz der Täfelung, brachte sein Gesicht dicht an eine bestimmte Stelle fast in Höhe seines Kopfes. Schnüffelte tatsächlich.

„Hier fehlt etwas. Jemand hat etwas entfernt. Versuch dich zu erinnern, Johannes. Was war hier an dieser Stelle an der Täfelung?“ Martens sah seinen Freund eindringlich an. Der rieb sich verzweifelt die Stirn, suchte krampfhaft nach einer Erinnerung. Er sah sich hilfesuchend im Raum um, gestikulierte und murmelte Unverständliches vor sich hin.

Martens sah ihn mit wachsender Ungeduld an, trommelte mit den Fingern auf das Holz der Wandverkleidung.

„Warte, warte!“, rief Rosenhain, lief hinüber zur Fensterfront des Zimmers und schob den Vorhang eines der hohen Fenster zur Seite.

„Hier ist auch so ein Schild, soweit ich mich erinnere“, erklärte er und deutete auf eine Stelle zwischen den beiden Fenstern. Martens trat näher, wechselte einen prüfenden Blick mit seinem Freund und schaute noch einmal auf die Stelle, auf die der wies. Das Holz an dieser Stelle schien eine Nuance heller zu sein und Martens scharfe Augen nahmen den seltsamen Umriss dort wahr. Allein, das, was Rosenhain ihm dort hatte zeigen wollen, war verschwunden. Er wurde sich dessen bewusst und ein erstickter Laut entrang sich seiner Kehle. Martens indes wandte sich der gegenüberliegenden Wand zu, watete durch den Schutt und die Trümmer hinüber, betrachte die Wand aufmerksam um dann versonnen zu nicken.

„Was ist?“, fragte Rosenhain verzagt.

„Wie sah dieses Schild aus, das dort fehlt? Kannst du es beschreiben?“, fragte Martens und seine Stimme bebte vor Erregung. Rosenhain schüttelte verzweifelt den Kopf.

„Eine Art Wappen mit Spitzbögen oben und unten. In der Mitte ein Tierkopf mit einem Ring im Maul, fast wie ein Türklopfer. Ziemlich unheimlich, wenn du mich fragst.“

„Wer hat vor Rosalie hier in diesem Haus gewohnt?“, fragte Martens nachdenklich. Er strich mit den Fingern die Kontur des helleren Schattens nach, der sich ihm an der Wand über der Anrichte offenbart hatte.

„Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht, dass Rosa das mir gegenüber mal erwähnt hat. Sie ist ja, wie du weißt, noch nicht so lange in der Stadt.“

Martens drehte sich wieder um sich selbst, die Hand nachdenklich an seinem Kinn. Dann blieb er abrupt stehen, schlug sich mit der Rechten Faust in die Linke.

„Wir müssen mehr wissen über diese Schilder! Komm, Johannes!“, rief er und stürmte aus dem Zimmer.

 

 

Das Licht der Gaslampe reißt nur einen kleinen Kegel Licht aus dem Dämmer, der sich inzwischen im Zimmer breit gemacht hat. Johannes Rosenhain reibt sich die Nasenwurzel. Das stundenlange Starren auf den alten Folianten wird immer anstrengender und frustrierender. Aber Martens lässt nicht locker. Er steht mit dem Rücken zum Schreibtisch am Fenster und schaut unverwandt hinaus in die hereinbrechende Nacht. Nebel wabert um die gelblichen Lichtflecken der Straßenlaternen. Wir sind nicht in London, aber auch Berlin kann mit solcher Atmosphäre aufwarten.

Marten schaut vor sich hin, er sieht sein Spiegelbild und dahinter mein konzentriertes Gesicht. Er scheint nicht zufrieden. Aber wann sind das unsere Geschöpfe schon einmal, eingesperrt zwischen einer endlichen Zahl Worte in einen winzigen Ausschnitt Zeit?

„Keines dieser Wappen, Simon. Ich erkenne keines davon wieder. Es ist zwecklos“, lässt sich Rosenhain vom Schreibtisch her vernehmen. Er reibt sich die Augen und sieht unglücklich aus. Marten dreht sich zu ihm herum, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Seine Haltung gleicht ein wenig der eines preußischen Offiziers.

„Dann müssen wir weiter suchen. Ich bin sicher, wir finden dieses Schild. Ich hatte vorhin, als du es beschrieben hast, das deutliche Gefühl, dass es mir irgendwoher bekannt vor kommt. Ein Bild, ein Illustration in einem Buch, eine Verzierung an einem Möbelstück …“ Martens wendet sich dem Bücherregal zu, das die gesamte Breitseite des Raumes einnimmt. Er streicht mit den Fingern andächtig die Buchrücken entlang, verharrt bei einem, zieht es halb heraus, betrachtet den Titel genauer, schiebt es zurück. Geht weiter. Bleibt erneut stehen. Erstarrt mitten in der Bewegung.

„Ich wusste es!“, ruft er plötzlich aus, wirbelt zu Rosenhain herum. Seine Augen scheinen fast Funken zu sprühen.

„Ein Bauwerk! Ein sehr besonderes Bauwerk. Ich weiß, wo wir es finden werden. Komm, wir haben es eilig, mein Freund!“

„Simon, warte! Wir suchen jetzt seit Stunden. Wohin willst du jetzt, wo es draußen dunkel und neblig ist?“

„Dorthin, wo es bei diesem Wetter um diese Uhrzeit am interessantesten ist, lieber Johannes: auf einen Friedhof. Wir brauchen einen Wagen und Lampen. Warum bin ich nicht früher drauf gekommen?“
Martens scheint fast aus dem Häuschen, so ungestüm redet er auf seinen Freund ein, während sie die Wohnung verlassen.

 

 

Die Straßen liegen feucht, dunkel und verlassen vor ihnen. Sie hasten vorwärts. Rosenhain flucht leise vor sich hin, weil sich keine Droschke blicken lässt. Martens scheint ihn nicht zu hören. Er hat den Kragen seines Mantels hoch geschlagen und sein Stock klackt angriffslustig auf das Pflaster. Endlich kommt das Klappern von Pferdehufen näher und Martens hebt die Hand mit dem Stock. Der Kutscher bringt das Pferd neben den Männern zum Stehen. Sein Gesicht ist im Schatten seiner Kopfbedeckung verborgen, aber der Klang der Stimme ist eindeutig. Martens kennt diesen Kerl und vertraut ihm. Er nennt ihm, den Schlag des Wagens schon in der Hand, das Ziel der Fahrt und der Kutscher lässt einen überraschten und ablehnenden Laut hören.

„Kein guter Christenmensch fährt um diese Zeit dorthin, Herr Martens. Nicht einmal Ihr solltet das tun, wenn ich Euch das raten darf.“

„Ich weiß, Karl. Es sind unaufschiebbare Dinge, die uns dorthin zwingen.“

„Das verschwundene Fräulein, denke ich“, sagt der Kutscher halblaut und mit rauer Stimme.

Martens, den Fuß auf dem Tritt der Droschke, fährt zu mir herum.

Herr Autor, bitte. Woher soll dieser arme Kerl in den Besitz dieses Wissens gekommen sein? Was ist das für ein Ablenkungsmanöver? Wir waren doch gerade so gut im Fluss!“

„Ich verstehe nicht ganz, Herr Martens! Die halbe Stadt redet davon. Die Haushälterin des Fräuleins hat die Polizei alarmiert. Die Wohnung soll verwüstet worden sein und vom Fräulein fehlt jede Spur.“ Der Kutscher klingt etwas beleidigt. Das Pferd beginnt unruhig zu werden. Martens sieht mich mit unverhohlenem Misstrauen über die Schulter hin an, schüttelt kurz den Kopf und schwingt sich in den Wagen, schlägt die Tür zu, etwas lauter, als es hätte sein müssen. Der Wagen setzt sich in Bewegung.

„Hast du davon gewusst? Von der Haushälterin und der Polizei?“, fragte Martens Rosenhain, der ihm gegenüber Platz genommen hat.

„Kein Wort, Simon, ich schwöre“, beteuert der und zieht die Achseln bis zu den Ohren.

„Das bedeutet, dass wir uns beeilen müssen. Wenn die Polizei sich der Sache erst annimmt, werden wir schwerlich noch etwas heraus finden können“, erklärt Martens seinem Freund, lehnt sich gleich darauf zum Fenster heraus und sieht mich wütend an.

 

„Ich werde nie verstehen, warum sich geniale Detektive immer als Konkurrenz zur Polizei begreifen müssen. Das ist kompletter Unsinn. Die Polizei kann wichtige Arbeit leisten und das wisst Ihr, oder? Warum müssen wir hier Klischees bedienen? Das ist billig!“

 

Der Wagen rumpelt reichlich unsanft durch ein Schlagloch und Martens schlägt heftig mit dem Kopf an, zieht diesen ins Wageninnere, nicht ohne zu rufen: „Das übrigens auch!“

Ich habe langsam genug von diesem vorwitzigen Möchtegern-Detektiv und seinen vorlauten Sprüchen!

Die Droschke entfernt sich und der Nebel wird hinter ihr verwirbelt. Ein halber Knochenmond erhebt sich zur selben Zeit mit kaltem Schein über den Horizont.

 

 

„Leise! Es ist nicht nötig, dass uns hier jemand entdeckt. Komm jetzt, hier entlang!“

Der Alte richtete sich vorsichtig auf und spähte mit angehaltenem Atem zwischen den schräg stehenden Kreuzen hindurch zum Hauptweg des Friedhofs. Der Nebel hatte sich gelegt, er spürte es in den Knochen und an den klammen Sachen, die er am Leib trug. Es war noch früh im Jahr und diese Nächte wurden langsam zu kalt für ihn, das wusste er. Allein, er wusste nicht, wohin er gehen sollte.

Raschelnd erhob er sich aus dem Laub, in das er sich vor ein paar Stunden vergraben hatte, halb ohnmächtig von der Wirkung der halben Flasche sauren Weins, die ihm ein barmherziger Mensch überlassen hatte. Jetzt verflog die Wirkung des Gesöffs und er fror erbärmlich. Mit steifen Gliedern, einem tauben Gefühl in der rechten Gesichtshälfte und dem pochenden Schmerz des vereiterten Backenzahns machte er sich daran, den beiden dunklen Gestalten auf dem Weg zu folgen. Ganz genau wusste er nicht, warum er dies tat. Irgendwie hegte er die leise Hoffnung auf eine Gelegenheit, etwas Geld für Essen, ein Bad und ein Bett zu ergattern.

Die beiden Männer unterhielten sich weiterhin flüsternd mit einander. Wurzner – alle nannten ihn nur Wurzner, solange er denken konnte – hatte keine Mühe, ihnen zu folgen. Als sie vor dem alten Grabmal stehen blieben, presste er sich rasch in den Schatten eines mächtigen, moosbewachsenen Grabsteines. Er sah zum Himmel hinauf und fluchte leise in sich hinein. Die Wolken wurden bereits silbrig vom Licht des Mondes und es war nur eine Frage der Zeit, bis er genug Höhe und Kraft gewonnen hatte um sich durch die Wolken zu schieben. Was sollte ihm dieses kalte und erbarmungslose Licht, das ihm in Nächten wie diesen vorgaukelte, Wärme abzustrahlen und ihn mit einer Freundlichkeit narrte, hinter der nur zu schnell der Tod lauern konnte.

Vorn beim Grabmal wurden Lampen entzündet. Wurzner duckte sich noch ein wenig tiefer in die Schatten. Etwas gab unter seiner Hand nach, rutschte fort, zerbrach und schnitt ihm in den Handballen. Der Alte presste den Handrücken vor den Mund, um nicht laut aufzustöhnen. Er spürte, wie Blut aus der Wunde tropfte. Das war schlecht, das war wirklich schlecht. Er hatte Männer gesehen, die an solchen Verletzungen ihre Gliedmaßen verloren hatten oder gar gleich ihr Leben. Er griff mit der gesunden Hand in die Leinentasche, die er an einer geflochtenen Lederschnur über der Schulter trug und tastete nach dem Rest Stoff, den er dort noch wusste. Er war nicht gerade sauber, aber er war das einzige, was ihm tauglich erschien, die Hand zu verbinden. Mit den Zähnen zurrte er den Knoten des provisorischen Verbandes fest und ließ die beiden dort vorn keinen Moment aus den Augen.

 

 

Martens hob die Lampe noch ein Stück höher und ihr gelblicher Schein fiel auf das Schild am Giebel des Grabmals. Das Flackern der Flamme ließ den Tierkopf in der Mitte wie lebendig erscheinen. Johannes Rosenhain nickte wortlos. Er hatte Martens eine Hand auf den Arm gelegt und krallte sich im Stoff seines Mantels fest. Ihn fror und er hatte Angst. Dieser Ort war ihm unheimlich mit seiner bedeutungsschweren Stille. Hätte er ein Käuzchen rufen hören, wäre ihm das vermutlich tröstlich erschienen, aber um diese Jahreszeit riefen Käuzchen nicht in diesen Breiten.

Martens sah ihn einen Moment mit seltsamem Gesichtsausdruck an, dann schüttelte er die Hand von seinem Arm und trat auf den Eingang des Grabmals zu. Leise murmelnd versuchte er, die Inschriften auf den Bögen über der zweiflügligen Tür zu entziffern.

„Wegner, Franz Wilhelm - sagt dir der Name etwas? Was hat Rosalie mit dieser Familie Wegner zu schaffen?“

„Ich weiß es nicht, Simon. Vielleicht ist es ja ein Zufall, vielleicht haben die Wegners mal in dem Haus gewohnt, wer weiß. Was wollen wir hier, Simon? Glaubst du, Rosa wäre hier auf diesem Friedhof versteckt?“

„Vielleicht? Wir müssen mit allem rechnen, lieber Freund. Kann nichts schaden, wenn wir etwas genauer nachsehen.“

Mit diesen Worten trat er entschlossen auf die Tür zum Grabmal zu und drückte die Klinge herunter. Mit einem furchtbaren Geräusch gab die Tür scharrend und knarzend nach. Martens hob die Lampe über den Kopf und trat durch die Tür.

„Simon, was tust du! Du kannst doch nicht einfach …!“ Rosenhain war kreidebleich geworden und er befürchtete, seine Knie könnten unter ihm nachgeben. Trotzdem folgte er dem Freund in das Gebäude.

Es ging eine Treppe hinab in einen ovalen Raum, in dessen Wände vier oder fünf Nischen eingelassen waren. In jeder der Nischen stand ein steinerner Sarkophag. An den Pfeilern zwischen den Nischen fand Martens Halterungen für Fackeln und nach einigem Suchen ein paar dieser Fackeln am hinteren Ende des Raums. Er bestückte die Halterungen und brachte die Fackeln zum Brennen. Das unruhige Licht verstärkte noch die unheimliche Atmosphäre, die bedrohlich auf Johannes Rosenhain zu kroch.

„Hier ist niemand“, flüsterte er halblaut und drängte sich an Martens. Der wich mit erstauntem Gesicht vor dem Freund zurück.
„Niemand, mein Freund, der dir etwas tun könnte. So viel ist sicher. Aber warte, siehst du das?“ Er deutete auf eine Stelle auf der rechten Seite des Raumes. Eine Platte aus Bronze war hier etwas abgeschrägt in die Wand eingelassen. Auf dieser von Patina grün schimmernden Platte hob sich das Wappen der Familie Wegner deutlich ab. Sie traten näher und Rosenhain hob seine Lampe darüber.

„Das Licht!“, rief Martens plötzlich und seine Stimme überschlug sich fast. Sein Freund sah es nun auch: Auf dem Wappen erschien, wie aus der Tiefe leuchtend, das glühende Gesicht einer Katze. Ihre Blicke stachen seelenlos und unbarmherzig in die Augen der beiden Männer. Mit einem dumpfen Knall verloschen die Fackeln und die Lampen der beiden Männer und hüllten beide in absolutes Dunkel.

„Simon? Ich glaube, wir sind nicht allein“, wisperte Rosenhains Stimme tonlos. Und dann gellte ein Schrei durch die Finsternis.

 

 

„Was sollen wir mit ihm machen, Herr Kriminalrat?“, fragte der Wachtmeister und deutete mit dem Kopf in Wurzners Richtung. Der saß, die Hände um einen dampfenden Becher gelegt, auf der Bank im Flur des Polizeireviers und trank in kleinen Schlucken die heiße Zichorienbrühe. Das Zeug war gallebitter aber heiß.

„Lasst ihn in der Ausnüchterungszelle schlafen. Gebt ihm eine Decke und was zu Essen. Der arme Teufel hat nichts Unrechtes getan, denke ich.“

Mit diesen Worten drehte er sich zu seinen beiden nächtlichen Besuchern herum und fasste beide ins Auge. Johannes Rosenhain, Sohn einer der reichsten Bankiersfamilien der Stadt und Erbe eines sagenhaften Vermögens, saß wie ein Häufchen Unglück vor ihm und konnte noch immer das Zittern seiner Hände nicht unterdrücken. Sein eleganter Anzug war staubig und wies noch immer Spuren von Erbrochenem auf, auch wenn er sich bereits alle Mühe gegeben hatte, diese zu beseitigen. Der zweite Herr dagegen, der neben ihm seine Langeweile zur Schau stellte, war Simon Martens, ein ständig am Rande der Zahlungsunfähigkeit dahin schlingernder Schriftsteller zweifelhaften Rufs, der von sich behauptete, ein genialer Kopf und ein kriminalistisches Genie zu sein. Tatsächlich fiel er durch exzessiven Konsum von Absinth und anderen Drogen in diversen zwielichtigen Etablissements der Stadt auf, hatte bei einigen ziemlich finsteren Gesellen erhebliche Spielschulden, die er allerdings angeblich durch allerlei Taschenspieltricks immer wieder auszugleichen verstand. Er und Kriminalrat Schuster waren gute Bekannte. Nicht, dass Schuster diese Bekanntschaft besonders schätzte.

„Was haben Sie sich dabei gedacht, Herr Rosenhain? Mitten in der Nacht in das Grabmal einer der angesehensten Familien einzudringen, die Totenruhe zu stören und sich dann auch noch von einem Stadtstreicher einsperren zu lassen? Was haben sie da gesucht?“

„Da war eine Katze“, stammelte Rosenhain und sein Mund zitterte. Ein Speichelfaden glitzerte zwischen Ober-und Unterlippe. Schuster schlug die Augen nieder.

„Fräulein Rosalie Munster ist vermutlich aus ihrer Wohnung entführt worden. Wir hatten Grund zu der Annahme, dass ihr Verschwinden …“, begann Martens mit betont gelangweilter Stimme zu erklären, wurde jedoch barsch unterbrochen:

„Fräulein Munster ist nicht verschwunden. Sie hat sich bei uns gemeldet, als sie hörte, dass sie gesucht wird. In ihrer Wohnung ist eingebrochen worden und wir wollten Fräulein Munster bitten, uns eine Aufstellung aller gestohlenen und zerstörten Gegenstände zukommen zu lassen. Soweit ich weiß, ist sie inzwischen im Hotel „Unter den Linden“ abgestiegen.“

„Unter den …“, wiederholte Rosenhain mechanisch. Ihm rannen Tränen die Wangen herunter.

Martens sah mich über die linke Schulter des Kriminalrats verächtlich an, lächelte ein sehr sarkastisches Lächeln und spuckte mir entgegen: „Stümper. Hab ich nicht gesagt, Ihr seid unfähig, eine solche kleine Detektivgeschichte zu schreiben?“

Ich nickte nur stumm. Er tat mir irgendwie leid.

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Tag der Veröffentlichung: 31.03.2016

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