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Miguel

 

Die Stadt ist wie im Fieber. Im Mittelalter mochte solche Stimmung geherrscht haben, wenn die ersten Pestopfer vor den Toren verbrannt wurden und Ratten am helllichten Tag über die Gassen liefen. Im Unterschied zu früher ist dieses Ungeziefer heute gänzlich anderer Natur. Es liegt was in der Luft. Die Laufbänder der Nachrichtenticker am unteren Bildrand der überdimensionierten Flachbildschirme kennen nur noch ein Thema: Flüchtlinge. Griechenland ist vergessen. Griechenland ist nur mehr der Ausgangspunkt der „Balkanroute“.

(Weiß eigentlich jemand, wie man dessen habhaft werden kann, der diesen Begriff in Umlauf brachte?)

Ich mag die Stadt nicht sonderlich. Zu viele Menschen, zu viele Leben auf zu engem Raum. Babylon an der Spree, Sprachgewirr und Perfektion im An-einander-vorbeireden. Moscheen bedrohen und Synagogen sind bedroht? Zu schnelle Urteile auf allen Seiten.

Ich mag die Menschen, die den seit Tagen Wartenden zu Hilfe geeilt sind mit Wasser, Essen und Kleidung.

Das ist die Stadt auch.

Woran werden wir uns dereinst erinnern, wenn wir an diese Tage zurück denken? Woran denken wir zurück, wenn wir uns der Bilder erinnern, als ein nicht enden wollender Strom von „Trabis“ und „Wartburgs“ durch eine freudentrunkene Menschenmenge rollte?

Wie lange hat es gedauert, bis aus den Brüdern und Schwestern „Besserwessis“ und „Jammerossis“ wurden und wie lange werden wir noch brauchen, bis wir auch in unseren Köpfen die Todesstreifen wieder aufgeforstet haben?

 

Ich bin auf dem Weg vom Büro nach Hause. Die U-Bahn ist gut gefüllt. Ich zähle vier Sprachen, nein fünf, wenn ich das Kauderwelsch hinzuzähle, mit dem sich das Mädchen dort über das Smartphone verständigt. Ich sitze am Ende des Abteils auf einem dieser Klappsitze und sehe den Schlauch der Bahn hinab, wie er sich hinter mir her schlängelt, all die Menschen im Bauch. Auf dem Schoß mein Tablet, im Kopf halbgare Gedanken für eine Geschichte. Die Menschen hier drin haben nichts zu tun mit dem, was ich gerade schreibe. Sie gehören trotzdem dazu. Irgendwie gehören sie dazu, ob ich will oder nicht.

Ich schreibe, weil ich mich dann davon stehlen kann. Ich bilde eine Enklave aus meiner eigenen Welt, eine Aura aus scheinbarem Desinteresse. Ich ignoriere das dürre Mädchen mit den abgerissenen Klamotten, das, einen schmutzigen Pappbecher in der Hand, emotionslos ihren Text herunter leiert. Ich werfe nichts in diesen Becher. Nicht, weil ich herzlos bin, sondern weil ich ratlos bin und mich schäme. Was immer ich ihr geben würde, es würde keines ihrer Probleme lösen. Es wäre immer zu wenig. Es wäre vermutlich immer falsch.

Billige Ausrede?

Mag sein.

In der Mitte des Wagens beginnt ein kleiner, älterer Mann mit grauem Schnauzer auf einem reichlich abgeschabten Akkordeon zu spielen. Ich erkenne vage die Melodie eines Partisanenliedes vom Balkan. Eine Frau mit sehr schwarzem Haar und vor drei vier Jahren noch schönem Gesicht fällt in das Spiel mit einer Geige ein und singt in einem Idiom, das mal an Italienisch und manchmal an Russisch erinnert. Unvermittelt wechselt die Begleitung zu „Kalinka“ und beide geben ihr Bestes.

Nimmt irgendjemand die beiden wahr?

Über ihnen läuft in den Doppelmonitoren stumm und manisch das „berliner fenster“ und zitiert eine zweifelhafte Wahrheit eines zweifelhaften klugen Mannes, dessen Namen ich nicht kenne. Filmvorschauen ohne Ton. Wir sind alle irgendwie amputiert, dass wir uns das gefallen lassen!

Ich kehre dem Ausschnitt meines Daseins gedanklich den Rücken.

Auf dem Tablet ist meine Welt. Eine Welt ohne Rückschritt-Taste! Das diszipliniert.

Auf der nächsten Station steigen ein paar Jugendliche zu, laut, selbstbewusst und präsent. Rücksicht sieht anders aus und klingt auch nicht so. Da macht Schreiben keinen Sinn mehr. Ich verlasse meinen Aussichtsposten am Ende des Wagens und gehe nach hinten, fort von den Störenfrieden mit ihrer Unbekümmertheit. Ihr Lachen folgt mir. Die Bahn macht einen Schlenker und ich falle fast zwischen die Bänke.

Murmele Entschuldigungen. Das „berliner fenster“ erzählt vom Transfermarkt der Bundesliga und welche Berühmtheit gerade über welchen roten Teppich stolziert. Ich bin wieder nicht darunter! Welche Überraschung.

Ich wechsele die Bahn, steige aus dem Bauch der Stadt hinauf ins Licht. Touristen mischen sich mit Menschen auf dem Nachhauseweg. Bauarbeiter mit offenen Bierflaschen unterhalten sich, ich vermute auf Polnisch, aber das ist nicht sicher. Ich stehe an der Metallbrüstung zur Rolltreppe, habe mein Tablet abgelegt und lade meinen Text neu. Vor mir schiebt sich die schmale Gestalt eines Jungen mit dunklem Teint, abgewetztem Basecap und zu groß geratener Collagejacke aus den Katakomben ins Blickfeld. Er hat rasche ängstliche Augen, die über die Menschen auf dem Bahnsteig huschen. Seine Haltung ist etwas gebückt und er wirkt fast gehetzt. Ich klappe die Abdeckung über das Display des Tablets und lasse es in meinen Rucksack gleiten. In der sonnengetränkten Ferne sehe ich meine Bahn einbiegen. Der Junge verschwimmt in der Menge, die zur Bahnsteigkante drängt.

Ich finde einen Platz mitten im Wagon. Weiter hinten sehe ich auch die Baseballmütze des Jungen. Ich hole meine Schreibarbeit wieder hervor. Vier Stationen Zeit für eine vage Idee.

„...glotzt du so, Affe. Verschwinde nach Hause!“, tönt es von vorn. Eine heisere Stimme, die schon akustisch zu einem großen, vierschrötigem Mann gehören mag. Ein bellendes Lachen folgt und wird sekundiert von zwei anderen Stimmen, heller und mit kaum verhohlenem Spott vergiftet.

Ich sehe kurz auf. Das Tablet lädt meine Datei und ich muss warten. Da sehe ich sie.

Ein gefährlich armseliges Dreigestirn steht dort im Gang des Wagons. Der Wortführer - zweifellos ist er das, denn er überragt die beiden anderen in fast allem - ein bulliger Mann Ende dreißig, verunstaltet von zahlreichen Tätowierungen im Gesicht und die Arme herunter bis zu den Fingerknöcheln, bewegt sich mit herausfordernder Selbstsicherheit langsam auf mich zu. Die beiden hinter ihm sind schmächtiger, der eine auch wesentlich jünger und sein Gesicht von den Folgen einer bösen Akne weitgehend zerstört. Sie haben das Haar bis auf eine kleine, gelverschmierte Insel längs der Schädelmitte kahl geschoren. Schwarze Shirts beweisen ihre Zugehörigkeit zu einer mir gänzlich fremden Gruppe. Ich kann die Aufschrift auf dem Shirt des Großen nicht ganz entziffern und habe, ehrlich gestanden, auch wenig Interesse daran.

Mein Interesse gilt dem Jungen. Er kommt rückwärts auf mich zu. Er setzt die Füße unsicher einen hinter den anderen und im Gang zwischen den Sitzen liegen und stehen Taschen, Rucksäcke, steht das eine oder andere noch unbeteiligte Bein. Er wird stürzen, das scheint unvermeidlich.

Der Rädelsführer sieht es auch und grinst. Er macht zwei schnelle Schritte und der Junge versucht, den Abstand zwischen sich und der Bedrohung wieder her zu stellen. Er strauchelt, dreht sich, einem Instinkt gehorchend, im Fallen herum um sich abzufangen. Sein Gesicht schlägt gegen die Haltestange und die linke Augenbraue erblüht dunkelrot. Er liegt benommen auf Händen und Knien, das Blut tropft auf den Wagenboden, zwei Finger breit neben die Leinwandschuhe eines teilnahmslosen Mädchens mit Kopfhörern in den Ohren und nicht viel dazwischen. Von der anderen Seite beginnt ein kleiner Hund, eine gelbgraue Promenadenmischung, an der Leine einer älteren Frau mit ebenholzfarbenem Gesicht und vielen schwarzen Zöpfen auf dem Kopf, die teilweise unter dem ethnobunten Kopftuch hervorquellen, lauthals und im Falsett zu kläffen. Der Hund drängt auf den Gang und vor die schweren Stiefel. Als die rechte Stiefelspitze ihn trifft, jault der Hund auf und ein paar empörte Rufe werden laut. Der Tätowierte dreht sich um, fasst einen jungen, hageren Mann mit schütterem Kinnbart ins Auge. Geht den halben Schritt zurück, beugt sich in die Sitzgruppe.

„Hast du was gesagt, Arschloch?“, fragt er heiser. Der Adamsapfel des Angesprochenen hüpft und nach einer sich endlos dehnenden Sekunde schüttelt er den Kopf.

„Nimm deine blöde Töle aus dem Weg!“, herrscht er die ältere Dame an. Die schaut mit diesen großen dunklen Augen, deren Weiß an den Rändern fast ein wenig bräunlich wirkt, zu ihm auf. Wortlos. Ohne Angst.

Ich ahne, dass sie dort, wo sie herkam, anderen Schrecken ins Auge sehen musste.

„Unerhört, das arme Tier so zu behandeln!“, beschwert sich die feine Stimme einer älteren Dame mir schräg gegenüber. Sie hat ein feines Gesicht, trägt eine randlose Brille und die Empörung eines Gutmenschen im Gesicht. Hektische Flecken geben dem Gesicht etwas fast Anmutiges.

„Halt‘ die Fresse, Oma!“, herrscht der Junge mit dem Akneschlachtfeld sie grob an und sie zuckt unwillkürlich zusammen.

Der Junge, dessen olivfarbenes Gesicht bereits beginnt, anzuschwellen, rappelt sich mühsam wieder auf die Beine.

Die Bahn bremst, die Bahn kommt zum Stehen. Der Ruck holt ihn wieder von den Beinen, lässt alle, die in den Gängen stehen, nach festem Halt greifen. Gunnar – mein spöttisches Ich hat ihn längst so getauft – greift daneben und muss wie ein angeschlagener Boxer auf die Knie. Als er sich aufrichtet, das Gesicht grimmig ob der Schmach, ist seine Linke blutig.

Das Blut des Jungen.

Angeekelt schüttelt Gunnar die Hand, presst zwischen den zusammengebissenen Kiefern etwas hervor, das wie „Niggerblut“ klingt. Der Junge liegt drei Schritte von mir entfernt und hat die Knie bis an die Brust gezogen. In die einsetzende Stille hört man ihn unterdrückt schluchzen.

Junge, du musst aufstehen!“, rufen meine verstörten Gedanken ihm zu. Ich weiß, dass ich eigentlich aufstehen, hingehen und ihm aufhelfen muss. Als ich neben meinem Sitz stehe, ist auch Gunnar wieder auf den Beinen. Unsere Blicke treffen sich. Ich schaue fort, aus dem Fenster, vor dem eine mit Graffitis beschmierte Betonwand die Welt aussperrt.

Mit staksigen Beinen gehe ich bis zum Ende des Wagons, lehne mich desinteressiert gegen die Stange neben der Tür. Weiter vorn kläfft der Hund der Frau mit den Zöpfen verstört.

Der Junge kommt auf mich zu, presst seine Hand gegen den Bauch. Ich sehe, dass das Handgelenk seltsam verdreht ist und ich sehe die Augen des Jungen, wie sie vor Schmerz und Panik überquellen. Er hat sich beim zweiten Sturz auf die Unterlippe gebissen und dort sickert hellrotes Blut hervor und tropft auf das schmutzig graue Shirt.

„Hey, komm her, ich will meine Hand sauberwischen!“, ruft Gunnar gepresst. Er kommt auf den Jungen zu und auf mich. Er winkt seiner Begleitung zur Linken.

„Hol mir den kleinen Scheißer her!“ Der Mann kommt schnell näher. Er hat irgendwie kein Gesicht, es ist wie in einem Alptraum.

Ich ziehe den Jungen – ich habe ihn längst Miguel getauft – hinter mich. Der Mann sieht mich mit einer Mischung aus Verblüffung und Ärger an und bleibt vor mir stehen.

„Was ist Opa, willst du hier den Helden markieren?“, knurrt er mich an, dreht sich Beifall heischend um.

„Es reicht! Lassen Sie den Jungen in Frieden!“, sagt mein Mund und meine Zunge fühlt sich taub an. Meine Lippen auch. Ich bin mir sicher, jeder in diesem Wagon wird mein Herz galoppieren hören. Die Stille hier ist auf einmal rekordverdächtig.

„Ach ja? Sonst was?“, fragt der Gesichtslose und tritt an mich heran. Ich kann Bierdunst riechen, schlechte Zähne und Hass. Dummheit ist zumeist geruchlos.

„Was ist los mit Ihnen? Sind sie so mutig, sich an einem verletzten kleinen Jungen zu vergreifen und an einem alten Mann?“, frage ich und meine Stimme bebt nur wenig.

Gunnar schiebt sich in mein Blickfeld und verstellt mir die Sicht auf die anderen Passagiere. Ich stehe mit dem Rücken zur Wand, was nicht ganz stimmt, denn dort steht Miguel. Ich kann ihn hinter mir stöhnen hören.

Gunnar schiebt den Ungesichtigen zur Seite, kommt dicht an mich heran. Ich rieche den alten Schweiß und die Erinnerung an den Geruch von Kommissstiefeln steigt in mir auf. Ich spüre, wie die Angst dabei ist, meinen Unterleib zu verflüssigen. Ein Bild, das Stephen King in seinen Romanen manchmal verwendet und von dem ich nun weiß, wie es sich anfühlt: erbärmlich, hilflos und unwürdig.

„Geh aus dem Weg, Alter, der Bimbo gehört mir, verstanden!“

„Nein. Lassen Sie ihn in Ruhe. Was seid ihr nur für Menschen!“ Den letzten Satz rufe ich in die scheinbar atemlose Stille.

Gunnar packt mich bei den Aufschlägen meiner ausgeblichenen, alten Cordjacke. Die Nähte ächzen unter dem Griff. Er zieht mich mühelos zur Seite, streckt die Hand nach Miguel aus, der verzweifelt versucht, sich dem Griff zu entziehen. Ich remple Gunnar an und erschüttere sein Gleichgewicht. Er rudert kurz mit den Armen, scheint sich zu fangen. Die Bahn ruckt an, beschleunigt, stoppt noch einmal kurz und beschleunigt erneut. Ehe wir uns versehen, öffnet sich der Blick zum Bahnsteig. Ich öffne die Tür, zerre den Jungen hinter mir her. Menschen auf dem Bahnsteig, Getriebe. Mit einem Mal liebe ich das Gedränge. Miguel unterdrückt die Schmerzenslaute. Sein Handgelenk sieht unförmig aus. Ich drehe mich um, sehe das hassverzerrte Gesicht des Akneopfers, wie es hinter dem Fenster der Bahn mit wachsender Geschwindigkeit vorbeigleitet. Ich atme tief durch und spüre, wie meine Knie nachgeben wollen. Ich sehe mich nach einer Bank um, steuere darauf zu, lasse mich darauf sinken. Ich spüre, dass mein Unterkiefer bebt und den schier unbezwingbaren Wunsch, die Hände vors Gesicht zu schlagen, damit niemand die Tränen sieht: Tränen der Angst und Scham. Ich schaue mich um. Der Junge ist fort. Ich springe auf, meine Augen suchen den Bahnsteig ab. Ich laufe zur Treppe, die hinab führt zum Ausgang, hinaus in diese Stadt. Ich bleibe ratlos, mit hängenden Schultern auf der obersten Stufe stehen.

 

Als ich zu Hause bin, ist der Schock schon etwas altbacken und schafft es kaum noch, dass meine Hände zittern. Meine Frau schaut mich an. Ich stehe vor ihr und plötzlich ist alles wieder wie ein Kloß in meinem Hals. Ich nehme sie in den Arm und der Weinkrampf schüttelt mich eine Minute oder länger.

„Das Schlimmste“, sage ich ihr viel später, „das Schlimmste ist die Angst und die Scham, weil man so entsetzlich feige ist!“

Sie streichelt mir den Rücken und sagt nichts.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.09.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Isam und alle Flüchtlinge im Heim Oranienburg und im ganzen Land.

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