Cover

Gregor

Er saß schon in der Bahn, als sie zustieg. Der Platz ihm gegenüber war noch frei und sie setzte sich. Die graue, regenschwere Stadt huschte an den Fenstern vorbei. Ein Anblick, der ihr aufs Gemüt schlug. Sie sah ihm ins Gesicht. Es wirkte schmal, angestrengt und irgendwie zu alt. Eine frisch verschorfte Schramme zog sich über seine rechte Augenbraue. Die Unterlippe war aufgesprungen. Das graue Sweatshirt wies ein paar braune Flecken auf: getrocknetes Blut. Sie sah woanders hin. Vermutlich hatte er sich irgendwo geprügelt. Sie hasste Gewalt.

 

Schneller Rücklauf

 

Das kalte Neonlicht der Unterführung malt nachblaue Schatten in sein Gesicht. Er friert und er hat seit einer Ewigkeit nichts gegessen. Es ist Zeit, hier zur verschwinden. Um diese Zeit kommen kaum noch Leute vorbei und wenn, dann weiß man nie, was passieren kann. Gregor verpackt die Gitarre, klaubt mit der klammen Rechten das Kleingeld aus der Mütze. „He, kiekt ma, wen wa hier ham!“, kräht die helle Stimme eines Jungen hinter ihm. Gregor dreht sich nicht um. Er beeilt sich. Aber es hat keinen Zweck. Sie sind zu viert, sie riechen nach billigem Bier und sinnlosem Hass. Am Ende liegt er zusammengekrümmt, fast wie in Fötusstellung auf dem feuchten, schmutzigen Beton der Unterführung und das Blut unter ihm wirkt im Licht der Neonröhren fast schwarz. Das Geld ist weg, aber die Gitarre ist noch heil. Seine rechte Hand auch. Die Linke, das ist eine andere Geschichte.

 

Er saß mit geschlossenen Augen und hatte Kopfhörer auf. Die Kabel waren geflickt mit Heftpflaster. Unter seiner Wollmütze quoll langes, dunkelbraunes, strähniges Haar hervor. Es war wohl lange nicht gewaschen worden. Seine Jeans wohl noch länger nicht. Sein rechtes Knie wippte im unhörbaren Rhythmus der Musik. Seine Rechte war wie in einem Riff auf dem Griffbrett der Gitarre neben sich erstarrt. Sie sah, dass er fast unmerklich die Lippen bewegte, ganz so, als flüsterte er einen geheimnisvollen Text. Der Adamsapfel an seinem langen Hals hüpfte tatsächlich auf und ab. Sie wusste nicht zu sagen, was sie an diesem Mann so faszinierte. Eine seltsame Traurigkeit umgab ihn wie eine Aura. Er öffnete die Augen und ihre Blicke begegneten sich. Dunkle Augen, ein irgendwie versonnener Hilfeschrei. Sie schlug die Augen nieder. Ihr Blick fiel auf seine linke Hand. Sie steckte in einem schwarzen, speckigen Handschuh, dessen Finger abgeschnitten waren. Irgendwie wirkte die Hand seltsam unförmig, als wären die Finger verkrümmt.

 

Schneller Rücklauf

Er wusste instinktiv, dass es falsch war, als er sich auf den Sitz der Maschine schwang. Sie war viel schwerer als das Moped, mit dem er heimlich geübt hatte. Er hatte Angst und er hatte dieses untrügliche Gefühl, dass etwas Fürchterliches passieren würde. Aber da waren die höhnisch grinsenden Gesichter der Jungs. Sie hatten ihm gesagt, dass er bei ihnen mitmachen dürfte, wenn er die Prüfungen bestehen würde. Dies hier war die letzte, die alles entscheidende. Er musste nur heil auf der anderen Seite der alten Kiesgrube ankommen. Seine Hände waren schweißnass und sein Herz raste in seiner Kehle, als er den Gang einlegte und die Kupplung kommen ließ... „Wir haben getan, was wir konnten, aber wir sind keine Zauberer“, sagte der Arzt zu seiner Mutter. Dann ließ er sie stehen und ging fort. Später saß sie am Bett des Jungen und versuchte, ihn zu trösten. Nach diesem Tag werden die Schmerzen in der Hand nie ganz aufhören.

 

Er richtete sich auf, seine Rechte fuhr über seine Augen, griff dann wieder zum Instrument. Er machte Anstalten, auszusteigen. Sein Knie berührte das ihre, als er sich erhob.
„’tschuldigung“, hörte sie ihn murmeln.
Das Hosenbein der Jeans war zerrissen und gab den Blick frei auf das magere Knie, das sie eben gestreift hatte. Ein leiser Schauer durchlief sie. Er stand neben der Tür, die Gitarre über der Schulter. Schmal, fragil, fast verwahrlost, so lehnte seine Gestalt dort. Sein rechter Fuß klopfte mit verschlissenem Sneaker unablässig diesen Rhythmus. Seine Augen folgten den Bewegungen vor dem halb blinden Fenster, unstet, fast abwesend und eine Spur ängstlich. Die Bahn bremste, fuhr in die Station ein. Menschen erhoben sich, drängten zur Tür. Ihr Blick fiel wie zufällig auf den nun leeren Platz vor sich. Dort lag ein flacher, schmaler, aluminiumfarbener Gegenstand, fast in die Ritze gerutscht: ein USB-Stick! Ein heißer Schreck durchfuhr sie. Vermutlich hatte der Mann den Stick verloren! Sie langte hinüber und nahm ihn an sich. Er war noch warm vom Körper seines ahnungslosen Besitzers. Die Bahn kam zu Stehen und die Menschen strömten auf den Bahnsteig. Sie zögerte verwirrt einen Moment, dann sprang sie hastig auf, um ihm zu folgen. Das Signal über der Tür leuchtete auf und die Tür schlug vor ihr zu. Sie presste ihr Gesicht an die Scheibe und versuchte den Mann mit der Gitarre in der immer schneller vorbeihuschenden Menschenmenge auszumachen. Ein Stück gekachelte Mauer tauchte blitzartig vor ihr auf, gefühlt nur wenige Handbreit entfernt. Sie zuckte zurück. Ihre Hand krampfte sich um den Stick. Enttäuschung trieb ihr kleine, hektische Flecken ins Gesicht. Sie sah sich im Spiegelbild und ertappte sich dabei, wie sie an ihrer Unterlippe nagte. Sie hasste es, wenn sie das tat. Glücklicherweise bemerkte sie es seltener, als sie ahnte.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie auf dem Bahnsteig stand, auf dem sie ihn verloren hatte. Hilfesuchend sah sie sich um. Fahrgäste trieben auf ihren einsamen Inseln an ihr vorbei. Niemand, den es gelohnt hätte anzusprechen und nach dem Mann mit der Gitarre zu fragen. Zwei Minuten nachdem sie ausgestiegen war, kam ihr eine Ahnung, wie unsinnig ihr Unterfangen in Wahrheit war. Trotzdem verließ sie den Bahnsteig und begab sich in den von Leuchtstofflampen erhellten Bauch des Bahnhofs. Unschlüssig stand sie an der Abzweigung von der drei Tunnel in verschiedene Richtungen führten. Menschen kamen ihr entgegen, ausgespuckt von U-Bahnen. Hier trafen zwei Linien auf einander.

Aufs Geratewohl folgte sie einem der gekachelten Gänge. Plakate in Glaskästen versprachen längst vergangene Kulturgenüsse, Plakate überschrien einander. An der niedrigen Decke flackerte hektisch eine Neonröhre.

Als sie ihn hörte, war sie noch eine Treppe über ihm, aber irgendwie hatte sie von einem Moment zum anderen keinen Zweifel. Sie hörte das hastige Klacken ihrer Absätze auf dem Betonboden, als sie ihre Schritte beschleunigte. Eine irrationale Furcht trieb sie, er könnte ihr wieder entwischen, wenn sie sich nicht beeilte.

Er stand am Fuß der Treppe, hatte seine Mütze vor sich auf den dunklen Beton gelegt. Er spielte auf eine seltsame Weise Gitarre. Es klang fremdartig, ohne dass sie hätte benennen können, warum. Er hatte die Augen geschlossen und schien in seiner eigenen Klangwelt verschollen. Sie stand ein paar Stufen weiter oben und sah auf ihn hinunter. Eine seltsame Scheu hatte sie erfasst und hinderte sie, näher zu kommen. Sie hatte den Stick in der Hand, aber sie hatte ihn vergessen. Sie hatte vergessen, warum sie hier her gekommen war.

Sie lauschte. Und dann sang er. Es traf sie so unvorbereitet und tief, dass sie unwillkürlich den Atem anhielt und die Hand vor den Mund legte.

 

Schneller Rücklauf

 

Ein einzelner Spot reißt die schmächtige Gestalt dort oben auf der improvisierten Bühne aus dem Dunkel. Die Gitarre wirft grelle Reflexe ins Publikum. Stimmengewirr, ein paar Mädchen kichern, ganz hinten pfeift einer auf zwei Fingern. Gregor beginnt zu spielen. Das Mikrofon vor dem Schallloch der Gitarre beginnt zu koppeln. Er bricht ab, murmelt eine Entschuldigung, rückt ab vom Mikro. Ein paar unten im Saal klatschen und ein paar lachen. Das Lachen klingt ganz nahe an gehässig. Gregor schluckt, schließt die Augen und beginnt zu spielen. „Close your eyes, gimme your hand, can you feel my hard beatin‘…“ Gregor singt “Eternal Flame” von den Bangles. Er singt es in der Orginaltonlage, glockenhell und mit diesem besonderen Tempre. Die Gitarre klingt seltsam, fast als hätte sie einen Gehfehler, zöge ein Bein nach. Im Saal wird es plötzlich still. Als Gregor fertig ist, bleibt es noch für Sekunden still. Zögernd beginnt es links, dort, wo ein paar Lehrer sitzen, zu klatschen. Der Applaus pflanzt sich fort und von hinten kommen ein paar Pfiffe. Ein paar helle Mädchenstimmen rufen „Bravo“. Gregor verbeugt sich ungelenk und verlässt die Bühne. Später, draußen vor der Halle wird ihn seine Freundin zur Rede stellen. „Wie kannst du mich so blamieren mit dieser Schnulze, Mann!“, fährt sie ihn an und lässt ihn stehen. Ein paar Mädchen aus der Parallelklasse schauen herüber, stecken die Köpfe zusammen und kichern. Zwei Mädchen aus der Neunten kommen heraus und himmeln ihn an. Er nimmt seine Gitarre und Reißaus. Er steht am Ufer des schwarz da liegenden Flusses, beißt sich auf die schmerzenden Fingerknöchel der Linken und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.

 

Das Lied verklang und die besondere Akustik dieses Tunnels ließ es nachschwingen. Gregor öffnete die Augen und sah das Mädchen dort auf der Treppe stehen. Ihr Gesicht wirkte etwas verloren und verwirrt. Hatte sie Tränen in den Augen? Es war wohl doch nur das Licht. Sie kam zu ihm herunter, sehr vorsichtig. Sie hielt etwas sehr fest in ihrer rechten Hand, so fest, dass die Fingerknöchel weiß wurden.

„Das hast du in der Bahn verloren“, sagte sie mit belegter Stimme und hielt ihm die nun geöffnete Hand hin auf deren Fläche der Stick lag.
„Ach der“, sagte Gregor und sah ihr dabei nicht ins Gesicht, “kannst du behalten. Mein Rechner ist sowieso kaputt.“ Seine Stimme klang etwas heiser, was einen seltsamen Kontrast zu dem bildete, was sie eben noch gehört hatte: „Eternal Flame“.
„Du singst schön“, sagte sie, während sie auf den Stick in ihrer Hand schaute. Sie traute sich noch immer nicht, ihn einzustecken.

Er deutete mit dem Kinn auf die Mütze zu seinen Füßen. Dann begann er, auf der Gitarre ein paar Saiten anzureißen, neigte den Kopf und drehte an den Wirbeln. Er summte den Ton leise mit. Fasziniert sah sie ihm zu. Er wirkte so konzentriert und versunken zugleich, als hätte er sie schon vergessen. Hatte er auch. Er schloss die Augen, zwang die schmerzenden Finger der Linken, die Saiten anzureißen. Es war dieses seltsame hinkende Zupfen. Seine Stimme setzte sich auf den schwebenden Klang. Der Tunnel hallte ein wenig wie ein kleines Kirchenschiff. Sie nahm das Handy aus der Tasche und begann, ihn zu filmen. Später hätte sie nicht sagen können, was sie dazu bewog. Es war eine Eingebung. Sie kannte das Lied nicht, das er sang. Der Text wirkte traurig und auf eine verwirrende Weise wahr.
Als er fertig war, öffnete er die Augen und sah das Handy.
„Was soll das. Mach es aus!“ rief er scharf. Sie steckte das Gerät schnell in die Jackentasche, darauf gefasst, dass er es ihr wegnehmen könnte. Aber er machte keine Anstalten. Er klimperte auf der Gitarre, verzog das Gesicht und hauchte in seine Linke. Die Finger in dem abgeschnittenen Handschuh sahen fast spinnenartig dünn aus. Sie wendete schnell den Blick ab.

„Hässlich, oder?“, sagte er mit einem humorlosen Lächeln.
„Was ist passiert?“, wollte sie wissen.
„Motorradunfall. Schon ewig her.“ Er klimperte wieder ein paar Griffe.
„Hast du ein Lieblingslied?“, fragte er plötzlich. Ihre Blicke trafen sich unvermittelt. Sie war mit einem Mal fast erschrocken, zuckte die Achseln. Ihr fiel nichts Brauchbares ein.
„Wie heißt du?“, fragte er. Wieder fummelte er an den Wirbeln der Saiten herum.
„Anna“, sagte sie nach kurzem Zögern.
„Da gibt’s so einen Song von Max Herre“, sagte er und schlug den ersten Akkord an.
„Ja, ich weiß“, sagte Anna hastig. Sie stopfte den Stick in die Jackentasche zu ihrem Handy.

„Ich muss los.“ Sie war schon fast auf der Treppe.
„He Anna, danke!“, rief er ihr mit dieser hellen, etwas heiseren Stimme nach. Sie stockte, ging die zwei Stufen zurück, zog die Hand aus der Tasche, ließ ein paar Münzen in die Mütze fallen. Ein Zwanzigcentstück kullerte davon. Sie hastete ihm nach, warf es zurück in die flache Mulde der Mütze. Sie mied seinen Blick. Seine Stimme hallte hinter ihr her, als sie fast fluchtartig die Treppe hinauf lief.

Sie wusste nicht, warum ihre Gefühle in ihr Sturm liefen, warum sie diese Scham gegenüber dem Unbekannten empfand, als sie das Geld in seine Mütze fallen ließ. Warum war sie so schüchtern und gehemmt gewesen und war vor dieser Stimme und der seltsam unfertigen Begleitung geflohen?

Die Fahrt durch die Stadt nach Hause schien ihr fast unwirklich. Sie sah sich in den Fenstern der S-Bahnabteile wie eine Fremde. Immer wieder tastete ihre Hand nach dem schmalen Metallstück, das ein fremdes Geheimnis zu bergen schien.

 

Anna sitzt gebannt und mit hoch rotem Gesicht vor ihrem Laptop. Das Licht des Displays zeichnet groteske Schatten. Sie hat Kopfhörer aufgesetzt, um besser hören zu können. Sie hat den Stick geöffnet, kaum dass sie ihr Zimmer in der WG erreicht hatte. Sie sitzt noch in der Jacke und merkt es nicht. Eine eigenartige, kitzelnde Erregung hat von ihr Besitz ergriffen. Sie fühlt sich fast, als belausche sie einen Fremden bei etwas sehr Intimem.

Gregor singt. Die Videos sind grobkörnig, rotstichig und schlecht ausgeleuchtet. Manchmal sieht sein Gesicht maskenhaft und fremd aus mit tief in den Höhlen schimmernden Augen, manchmal ist die Gitarre etwas zu laut, dass der Gesang fast nicht zu verstehen ist. Aber von den zehn Liedern auf dem Stick geht eine gewaltige Magie aus. Anna hat keinen Zweifel, dass diese Lieder alle von ihm selbst sind.

Als das letzte Lied verstummt ist, spürt sie, dass ihr das Herz bis zum Hals schlägt. Hinter den brennenden Lidern kratzt das Salz ungeweinter Tränen und Anna weiß nicht, woher diese Traurigkeit sie umfangen hält.
Als es an ihre Tür klopft, schreckt sie zusammen, wischt sich instinktiv über die Wangen. Dann merkt sie, dass sie noch die Jacke an hat. Steffi, ihre Freundin, steckt den Kopf zur Tür herein.

„Was ist denn hier los? Warum sitzt du hier im Dunkeln?“ Das Deckenlicht flammt auf. Die Freundin nimmt Anna in Augenschein.
„Hast du geweint?“, fragt sie argwöhnisch und kommt näher.
„Nein, also nicht direkt“, weicht Anna aus. Sie klappt mit rascher Bewegung den Laptop zu.
Vergebens. Steffis Neugier und ihr fast untrüglicher Beschützerinstinkt sind erwacht.
„Hat sich Mike mal wieder gemeldet?“, will sie wissen und deutet auf den Computer. Anna schüttelt rasch den Kopf. Der Name weckt ein paar traurige Erinnerungen in ihr. Anders traurig als sie es beim Hören der Lider und im Angesicht der Videos gespürt hat.
„Aber du hast doch was, Kleine!“, ruft Steffi und geht vor Anna in die Hocke, greift ihr unters Kinn und zwingt ihren Blick zu sich. Anna gibt sich geschlagen, öffnet den Laptop. Startet das zweite Video in der Liste.
„Ja und?“, fragt Steffi. Anna zieht die Kopfhörerkabel aus der Buchse. Der kleine Raum wird von Gregors Stimme erfüllt. Anna sieht die flimmernden Bilder in Steffis Augen. Als wieder Ruhe ist, atmet Steffi einmal tief ein und aus. „Hammer. Woher hast du das?“

„Hat er in der S-Bahn verloren. Ich bin ihm hinterher und wollte ihm den Stick wiedergeben. Er hat ihn mir geschenkt. Der spielt in einem der U-Bahn-Tunnel.“ Anna nennt die Station.

„Straßenmusiker? Krass.“ Steffis Augen haben diesen verräterischen Glanz. Etwas nimmt hinter ihrer hübschen Stirn gerade Gestalt an.
„Den musst du auf YouTube hochladen“, sagt sie, richtet sich auf und stemmt die Hände in die Hüften. Ihre Augen blitzen angriffslustig. Anna schüttelt instinktiv den Kopf.
„Das dürfen wir nicht. Nicht ohne seine Erlaubnis. Er hatte sich vorhin schon so komisch, als ich ihn mit dem Handy gefilmt habe.“
„Du hast ein Video von ihm? Das wird ja immer besser!“

Natürlich muss Anna das Video zeigen und natürlich ist Steffi Feuer und Flamme. Dieser dampfwalzengleichen Energie ist Anna nicht lange gewachsen.

Gregor sieht Anna verständnislos an. Was hat sie da von YouTube gefaselt?
„Fast zehntausend Klicks in nicht einmal drei Tagen! Du bist berühmt!“, ruft Anna und fuchtelt wild mit den Armen. Ihre Augen leuchten und das Gesicht ist gerötet und sieht auf wunderbar unschuldige Weise schön aus.

Gregor spürt einen seltsamen Schwindel in sich aufsteigen. Er sieht nach unten auf die graue Wollmütze mit den paar angelaufenen Münzen auf dem Grund. Das ist die Realität! Unwillig schüttelt er den Kopf. Seine Augen sind feindselig zusammen gekniffen.
„Wie kommst du dazu, das einfach ins Internet zu stellen! Wer hat dir das erlaubt, verdammt?!“ Wut bricht aus ihm hervor und seine Stimme klingt auf einmal schrill. Unwillkürlich beginnt er, seine Linke zu massieren. Er tritt von einem Fuß auf den anderen und Anna weicht zwei Schritt vor ihm zurück an die Wand mit dem Feuerlöschersymbol. Ihre Freude verlischt. Angst, Scham und Wut widerstreiten in dem Zucken um ihren Mund.

„Aber du bist so gut!“, schreit sie ihn plötzlich an. Tränen und Frust schwingen in der Stimme mit. Sie wirft ihm den Stick in die Mütze und stolpert die Treppe hoch. Die Wut und die Tränen nehmen ihr fast die Sicht.

 

Schneller Rücklauf

 

Die schwere Eichentür fällt hinter ihm ins Schloss. Er steht auf diesem dämmrigen Flur, der weiter hinten von schrägen Sonnenbahnen erhellt wird. Irgendwo spielt jemand einigermaßen beeindruckend Piano und von einer anderen Ecke her hört man das rasche Stakkato eines Schlagzeugs. Gregor steht da, lässt all diese Eindrücke und den Geruch von Bohnerwachs und Staub auf sich wirken. Er ist wie betäubt. Seine Hoffnung liegt als nutzloser Lumpen auf der anderen Seite der Tür, unbemerkt von diesen ach so weisen und ach so elitären Menschen mit den Lesebrillen an bordeauxfarbenen Kordeln, den Strickjacken und den seltsamen Frisuren. Das milde, professionelle Bedauern in den Gesichtern, die verkniffene Skepsis in den von Alter und Selbstgefälligkeit schrumpeligen Mundwinkeln. Sie hatten ihn abgelehnt. Sie fanden seine Stimme ganz interessant aber nicht gefestigt genug. Und dieses seltsame Gitarrenspiel… „Woher haben sie diese Gitarre, wenn ich fragen darf?“, hatte sich einer hinter dem Tisch mit dem künstlichen Blumenstrauß erkundigt. Hatte sich sogar nach vorn gebeugt und die Brille auf der Nase nach oben geschoben. „Von meinem Onkel. Es ist eine Gibsy. Aber sie ist eigentlich für einen Rechtshänder gemacht.“ „Dachte ich mir doch. Interessant. Ja, eigentlich Jammerschade, mein Junge.“ ‚Ich bin nicht dein Scheiß Junge!‘, denkt es voller Hass in Gregor, ‚Ich muss hier raus!‘ Zwei Tage später wird die Gibsy im Schaufenster einer Pfandleihe hängen. Gregor hat sich fest vorgenommen, sie so bald wie möglich zurück zu holen. Allein, sie hängt gerade mal zwei Tage in dem Schaufenster.

 

Anna hatte Steffi bekniet, sie zu begleiten.
„Immerhin hast du mich zu dem allem überredet!“, ruft sie am Ende aufgebracht. Das Argument verfängt.

Die beiden Frauen – eigentlich sehen sie eher wie Teenager aus, wie sie da untergehakt den Tunnel entlang kommen – schnattern vor lauter Aufregung laut auf einander ein. Einige Passanten drehen sich sogar nach ihnen um und schütteln den Kopf. Oben an der Treppe angekommen klingt ihnen Musik entgegen und sie verstummen.

Anna hält Steffi am Arm fest und legt einen Zeigefinger an den Mund. Sie stehen dort und lauschen. Als ein junges Paar die Treppe herauf kommt, fühlen sich die beiden Mädchen ertappt und steigen hinunter. Gregor erkennt Anna und ein kleines Lächeln huscht über das schmale Gesicht mit dem etwas schütteren dunklen Kinnbart. Inzwischen sind ihre Besuche häufiger geworden und er beginnt, sich an ihre stille, fast andächtige Gegenwart zu gewöhnen. Sie reden manchmal sogar über Alltägliches. Über die YouTube-Klicks reden sie nicht mehr.
Sie begrüßen sich und Anna deutet auf die Freundin.

„Sie hat die Sache mit dem Internet ausgeheckt!“ Gregor setzt ein schiefes grinsen auf und winkt Steffi zu. Er verbirgt seine Linke im Ärmel seines Sweatshirts. Von der U-Bahnseite des Tunnels nähern sich zwei Schwarzuniformierte. Gregor sieht sie kommen und sein Gesicht wird eisig. Er bückt sich und rafft seine Mütze mit dem Geld zusammen. Die Gitarre schnallt er auf den Rücken.

„Moment mal, nicht so eilig, junger Mann!“, ruft eine tiefe, kratzige Stimme. Anna sieht den vierschrötigen Mann und hat den dringenden Wunsch, sich für ihn zu räuspern. Dann sind die Uniformierten ran.

Gregor sieht ihnen mit einem Blick zwischen Resignation und Trotz entgegen. Seine Rechte massiert mechanisch seine behandschuhte Linke.
„Darf ich Ihre Spielerlaubnis sehen?“, fragt der Große und streckt fordernd die Hand aus. Der Zweite, kleiner mit rotblonder Bürstenfrisur und einem Gesicht, das einer Ratte ähnlich sieht, fasst die beiden Frauen ins Auge.

„Gibt’s hier was zu gucken? Gehen Sie doch weiter, bitte!“, sagt er mit einer näselnden Stimme. Beim „Sie“ stößt er heftig mit der Zunge an. Steffi verkneift sich ein Lachen.

„Ich glaube, das hier ist öffentlich. Wir dürfen hier stehen, so lange wie wir wollen, Wachtmänneken. Was wollen Sie eigentlich von dem jungen Mann?“

„Ich glaube, das geht Sie nichts an. Bitte behindern Sie nicht unsere Arbeit.“
„Ist schon OK, Steffi. Lass sein“, sagt Gregor in ihre Richtung. Der Heisere ist dicht an Gregor heran getreten. Dieser hat inzwischen eine reichlich zerflederte Brieftasche aus der Gesäßtasche seiner Jeans geholt und kramt ein etwas abgegriffenes Stück Papier hervor. Der Wachmann nimmt es mit spitzen Fingern, faltet es auf und beginnt zu lesen.

„Die ist abgelaufen, das wissen Sie doch sicher, oder?“, erkundigt er sich mit aufreizender Förmlichkeit. Er faltet das Schriftstück wieder zusammen, dann zerreißt er es dicht vor Gregors Augen, lässt die Schnipsel zu Boden rieseln. „Sie dürfen hier ohne Spielerlaubnis nicht musizieren. Ich verweise Sie hiermit. Sollten Sie dem nicht Folge leisten…“ „Ja, schon gut. Verstanden“, fällt ihm Gregor ins Wort.
Der Uniformierte greift plötzlich zu und zieht Gregor am Reißverschluss des Sweatshirts dich an sich heran.
„Pass auf Jungchen, mit wem du dich anlegst“, raunt der Heisere und seine Augen funkeln gehässig, „lass dir die Haare schneiden und lern‘ was Anständiges.“

„He he, du Arsch. Lass die Finger von dem Mann!“ Steffi hat ihre Hände am Arm des Großen, ehe dessen rattengesichtiger Kollege mit dem „S“-Problem auch nur reagieren kann.
„Finger weg!“ herrscht der Law-and-Order-Mann die Frau mit einem Seitenblick an.

Plötzlich ist der ganze Tunnel von einer Sekunde auf die andere von gleißendem Licht erhellt. Scheinwerfer sind von der Treppe auf die Szenerie gerichtet. Ein Fernsehkamerateam kommt die Stufen herab. Eine Gestalt, die Anna sofort bekannt vorkommt, schiebt sich, ein Mikrofon in der Hand, vor die Gruppe.

Die beiden Wachmänner starren peinlich berührt.
„Wir sind hier in den Untergrund von Berlin gegangen, denn hier ist der Arbeitsplatz von Gregor. Gregor macht hier Straßenmusik, also eher Tunnelmusik“, der Moderator macht seinen routinierten Scherz und hält dem Näselnden das Mikro unter die sommersprossige Nase.
„Was sagen die Sheriffs zu der Unterhaltung hier?“
„Jo, also es klingt schon nicht schlecht, was…“ Der Moderator wendet sich ab und Gregor zu.

Der schluckt und blinzelt in die Scheinwerfer. Sein Gesicht ist schmal und blass und seine Augen schimmern wie angelaufenes Silber. Er knetet seine Linke und seine Mundwinkel zittern. Anna sieht ihn und eine Welle aus Mitleid schwappt über sie hinweg. Was haben wir uns nur dabei gedacht!

 

Schneller Rücklauf 

 

Ein Vierjähriger kleiner Junge mit wachen, dunklen Augen und einem zu schmalen Gesicht steht auf einem großen Tisch in einer geräumigen Küche. Überall brennen Kerzen. Die Familie feiert Silvester, Onkels, Tanten, Cousinen und Cousins. Der Großvater, ein etwas weinseliges Lächeln auf dem Gesicht mit dem Dreitagebart, beginnt auf der Gitarre zu spielen und nickt dem Knirps auf dem Tisch zu. Der reckt das Kinn empor, hebt die Schultern auf diese grazil kindliche Weise und beginnt zu singen. Ein Lied, dessen Bedeutung er gar nicht kennt, ein belangloser Schlager, abgehört aus dem Radio. „Das Kind ist wie ein Schwamm, er saugt das alles nur so auf“, flüstert die Mutter, die weiter hinten am Türpfosten lehnt. Sie tupft sich mit einem zerknüllten Taschentuch Tränen aus dem Gesicht. Das Lied ist zu Ende. Alle klatschen und rufen „Bravo!“. Der Vierjährige strahlt und verbeugt sich artig, nach allen Seiten. „Noch eins, Gregor!“, ruft die etwas verwaschene Stimme seiner Tante Hanna. Der Junge strahlt und der Großvater schlägt die ersten Akkorde an. Gregor singt und die Stimme klingt so glockenhell und fröhlich. Die Familie feiert Silvester und Gregor ist ihr Star.

 

 

Gregor steht auf dieser gewaltigen Bühne und die Lichter zucken um ihn herum. Hinter ihm zählt der Drummer den Takt ein. Gregor hat noch immer dieses traumwandlerische Gefühl von Unwirklichkeit. Er schließt die Augen und seine Rechte greift den ersten Riff. Die Finger der Linken protestieren diesen winzigen Moment und schlagen dann die Saiten an.
„Immer wenn wir glauben, dass wir angekommen sind…“, singt Gregor.

Er hat die Augen geschlossen und er kämpft mit den Tränen und seiner Angst, wieder zu versagen. Im Backstage-Bereich steht Anna, ihr laufen die Tränen über das Gesicht und ihre Hände sind weiß vom Daumenhalten.

Oben in der letzten Reihe des Publikums steht ein Mann mit Hut, Vollbart und einer Brille. Er hat seine Gitarre an das linke Bein gelehnt und lauscht. Er lächelt und seine Augen glitzern verdächtig.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.11.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Danke an Gregor M.

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