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Kapitel 1

„Verschwinde, du Hexe und bete darum, dass ich dich nicht meinen Reitern überlasse!“
Der König ist außer sich. Er hat sich das Laken um die Hüfte geschlungen und geht erregt zwischen Bett und Kamin auf und ab. Die Frau hat hastig das Gemach verlassen, die Kleider mit beiden Armen zusammen gerafft. Auf dem Gang vor dem Schlafgemach des Monarchen ist unterdrücktes Gelächter zu hören. Harmuth nimmt eine silberne Glocke vom Tisch mit den Früchten. Sein Leibdiener erscheint, ein grauhaariger, sehr aufrecht gehender Mann mit undurchdringlicher Mine.
„Was sollte das, Drosten? Wie könnt ihr mir eine Naburi auf das Lager lassen?“ Der König deutet auf das zerwühlte Bett.
„Sie werden immer gerissener, Eure Majestät. Es ist kaum noch möglich, sie von unseren Frauen zu unterscheiden“, erklärt der Diener mit ruhiger Stimme.
Seine knappen Gesten wirken nicht sonderlich untertänig. Der Mann war bereits Kammerdiener bei Harmuths Vater und ist dem König mehr ein väterlicher Freund denn ein Lakai.
„Was sind das nur für Zeiten, mein Freund“, stöhnt der König und lässt sich auf dem Scherensessel neben dem Kamin nieder. Drosten reicht ihm einen Becher mit angewärmtem Gewürzwein.
„Es sind die Unruhen im Norden, Sire“, antwortet der Diener mit einer knappen Verbeugung.
„Ja, ich weiß, es brennt rings um unser Reich und unsere Verbündeten sehen tatenlos zu!“ Harmuth schlägt seine Schwertfaust in die linke Hand. Er blickt grimmig. Die Augen unter seinen eisgrauen buschigen Brauen blitzen. Die Stirn ist gefurcht und wird durch eine steile Narbe über der Nasenwurzel gespalten. Das lange gletscherfarbene Haar hängt ihm wirr ins Gesicht. Der König ist ratlos und sein Zorn wirkt wie ein dünner Film Stärke, unter dem das Alter den Stoff zu erodieren begonnen hat.

„Ihr hättet in Erwägung ziehen sollen, das Bündnis mit dem Westen zu erneuern, indem Ihr das Angebot Verdonces annehmt“, sagt Drosten vorsichtig.
„Ha!“ fährt der König auf und der Becher kracht gegen die Wand mit dem Gobelin, der eine Jagdszene darstellt. Der Wein färbt die Heldengestalt, die den König verkörpern soll, hässlich dunkel.

„Angebot nennst Du das! Ich nenne es eine Demütigung, mir die Vettel ins Ehebett legen zu wollen!“ „Zumindest hat sie das richtige Blut in den Adern, Majestät!“ hält ihm der Diener entgegen. Er ist hinüber gegangen und hebt das verbeulte Trinkgefäß auf.

„Ich kann das nicht!“ ruft Harmuth aus und reckt etwas theatralisch die Hände zur niedrigen Decke.
„Wabbliges Fleisch; man muss sich hindurch wühlen, ständig schwitzt dieses Weib und riecht schlecht…“ Harmuths Gesicht ist eine Maske des Ekels.
„Es wäre nur der Form halber, Sire. Sie muss Euch nur diesen Sohn schenken.“
„Oh, Drosten, hab Erbarmen mit deinem König, nicht auch noch diese Schmach! Einen Thronfolger von einer Zuchtsau aus dem Westen!“
„Majestät sollten mehr an die Vorteile denken, die eine solche Verbindung unserem Reich brächte. Zumindest ein Teil unserer Grenzen würden sicher beschützt.“ Drosten steht beflissen und mit unbewegtem Gesicht neben der Tür.

„Darf ich Majestät noch etwas bringen?“
„Schaff‘ mir ein Weib her und eines, das vernünftige Augen und einen gesunden Schoß hat.“ Der Diener entfernt sich mit einer exakt bemessenen Verbeugung.

 

Dorsten erreicht etwas kurzatmig die Küche über die enge Wendeltreppe, die hinter seiner Kammer hinab führt. Dromari ist allein und hantiert mit einem Schürhaken in der großen offenen Feuerstelle. Sie erschrickt etwas, als sie den Kammerdiener bemerkt. Sie deutet einen Knicks an, streicht sich das Haar aus dem Gesicht und rückt ihre Kleider zurecht. Drosten nimmt es nicht wahr. Er ist in Gedanken.

„Wie alt ist Kharthari jetzt?“ will er von der Köchin wissen. Sie verhält in ihrer Bewegung, sieht den Fragenden misstrauisch an.
„Sechzehn. Zur Apfelblüte. Warum fragt Ihr das?“
„Schick‘ nach ihr. Der König will sie sehen.“
„Das ist nicht Recht, Herr. Sie ist versprochen.“
„Wer ist er? Er kann sich glücklich schätzen. Vielleicht trägt sie ja bald des Königs Bastard.“
„Sie ist noch so jung.“ Der Köchin versagt die Stimme.
„Sie blutet. Sie kann bei einem Mann liegen und empfangen. Tu‘ was ich sage, Frau.“ Seine Stimme klingt barsch, aber nicht so streng, wie sie sein sollte. Er wendet sich abrupt zur Tür und steigt zurück zu seiner Kammer. Wenig später klopft es zaghaft.

„Ja!“ Drosten schaut von seinem Pult auf. Vor ihm liegen Papiere, er steckt die Feder in den Halter zurück. Durch die nur spaltbreit geöffnete Tür schiebt sich eine schmale Gestalt, bleibt dort verzagt im Halbdunkel stehen. Drosten hebt die Kerze etwas an, damit er in das Gesicht seiner Besucherin sehen kann.

„Ah, Kharthari. Komm näher.“ Er wendet sich ihr ganz zu. Das Mädchen tritt in das Licht. Ihre Augen sind mandelförmig wie es sich gehört für ein Mädchen der Khurkusi, mandelförmig und groß und von makellosem Grün. Das Gesicht ist schmal, die Wangenknochen hoch. Der Mund von blassem Purpur, wohl geschwungen. Der Hals, der aus dem gekräuselten Kragen des Kleides entspringt, wirkt sehr grazil. Der Körper des Mädchens ist schmal, die Hüftlinie verschwimmt unter dem Stoff des Kleides. Die Köchin hat Recht: Dieses Mädchen ist noch ein Kind, ist vor ihrer Blüte und doch von betörender Anmut. Sie zittert, wie sie da vor ihm steht. Das Flackern der Kerze irisiert in ihren Augen.

„Leg das Kleid ab, Kind, ich muss dich untersuchen“, sagt der Mann und seine Stimme klingt sanft. Sie tut, wie ihr geheißen und verdeckt schamhaft ihre Blöße mit den langen dünnen Händen.

„Du musst Dich nicht fürchten, Madhoni [1], es ist eine große Ehre, beim König liegen zu dürfen. Komm näher.“ Er untersucht das Mädchen, betastet die kleinen, flachen Brüste, den Bauch, die schmalen Hüften. Er schiebt seine Hand zwischen ihre Oberschenkel. Sie verkrampft sich. Er hält ihre Hände fest, die ihn abwehren wollen. Sie weint ein wenig.

„Ich muss wissen, ob Du rein bist“, erklärt er ihr geduldig. Sie sträubt sich nicht länger.
„Zieh Dich wieder an“, sagt er und macht eine knappe Geste mit der Hand, die er eben noch zwischen ihren Beinen hatte.
„Komm mit mir. Wisch‘ dir die Tränen aus dem Gesicht. Der König mag es nicht, wenn Menschen um ihn herum traurig sind.“ Sie erreichen die schmale Tür zum Gemach des Königs.

 

„Sire, das Mädchen, nach dem Ihr schicktet.“ Drosten schiebt Kharthari in den Raum. Sie zittert und hält den Blick gesenkt. Ihre Finger kneten einander nervös.
„Ein Knicks!“ zischt Drosten halblaut. Das Mädchen verbeugt sich unbeholfen.

„Lass uns allein!“ herrscht der König vom Kamin her. Drosten zieht sich zurück.
„Komm näher, Mädchen. Ich kann Dich nicht richtig sehen dort im Halbdunkel.“ Die Stimme des Königs klingt etwas verwaschen. Er hat den Krug mit dem Gewürzwein fast zur Neige geleert.
„Wie ist dein Name?“ will er wissen, während sie zögernd und mit niedergeschlagenen Augen auf ihn zu geht. Sie nennt ihn mit piepsiger, tränenerstickter Stimme.

„Sprich lauter mit deinem König, Mädchen!“ herrscht er sie an. Sie wiederholt ihren Namen und steht vor dem alternden Mann mit den farblosen strähnigen Haaren, dem ungepflegten Bart und den blutunterlaufenen Augen. Er mustert sie, taxiert sie, seine Augen sind schamlos und gierig. Er streckt die Hand nach ihr aus und sie weicht eine Winzigkeit zurück. Seine Augen verengen sich einen Moment. Er springt aus seinem Scherensessel auf, ergreift sie bei den Schultern und stößt sie grob vor sich her hinüber zum zerwühlten Lager. Sie hat keine Chance, dem brutalen Griff des Königs zu entgehen.

Die Wachen auf dem Flur vor dem Schlafgemach hören die halbe Nacht hindurch die Schreie und das Wimmern des Mädchens. Sie wechseln ratlose Blicke. Das Grinsen ist ihnen vergangen.

 

Als Drosten das Gemach des Königs betritt, zieht vor den verhängten Fenstern ein aschfahler Morgen herauf. Es regnet seit Stunden und es ist kalt. Der Winter kommt früh in diesem Jahr. Der König liegt auf seinem Bett, auf den linken Ellenbogen gestützt. Das rechte Bein hat er aufgestellt, das Knie ragt aus dem Laken hervor, das er sich nachlässig übergeworfen hat. Die Innenseiten seiner Schenkel sind blutbeschmiert, wie sein geschrumpelter Penis, der aus der eisgrauen Wolle seiner Schambehaarung hängt. Drosten wendet den Blick ab. Drüben in der Ecke neben dem Fenster, weit außerhalb des Lichtkreises der Kerzen, hockt eine zusammengesunkene Gestalt. Sie ist nackt und zittert, obwohl es warm ist im Raum. Das linke Auge starrt blicklos ins Nichts, während das rechte von einem purpurfarbenen Bluterguss zugeschwollen ist. Die noch vor ein paar Stunden grazile Nase ist grotesk geschwollen und Blut rinnt noch immer aus der Wunde, die das freiliegende Nasenbein gerissen hat. Der schmale Körper ist übersät von blauen Flecken und den Malen, die des Königs Bisse hinterlassen haben. Blut läuft unter dem Mädchen hervor und bildet eine dunkle Spur auf dem kostbaren Teppich.

„Das war nicht ganz das, was ich mir vorgestellt hatte, mein alter Freund, aber es war auf seine Art ganz nett. Jetzt schaff es mir aus den Augen. Sag Hauptmann Dhrumt, er soll sie und den Knaben, dem sie versprochen ist, in den Grenzwald nach Süden schaffen und dort zum Sterben zurück lassen. Sag‘ ihm, ich erkläre die kleine Schlampe und ihren Bräutigam als vogelfrei. Nähern sie sich weiter als einen Tagesritt der Feste, darf jedermann sie töten."

„Was ist geschehen, Majestät?“ Drosten ist beinahe bestürzt.
„Sie ist sehr widerspenstig, diese Kleine. Hast Du das gewusst?“ Des Königs Augen flackern und sein Grinsen legt ein paar schiefe gelbe Zähne frei.
„Nein, Majestät, es tut mir leid, Euch diese Umstände gemacht zu haben.“ Der König winkt ab und macht gleich darauf eine wegwerfende Handbewegung in Richtung des Mädchens.

„Schaff‘ sie weg. Sie wird mir keinen Sohn gebären, denke ich.“ Drosten rafft das zerrissene Kleid des Mädchens vom Boden, geht zu ihr hinüber.
„Bedecke dich, Metze. Du hast Schande über Dich gebracht.“ Er wirft ihr das Kleid zu, zerrt sie gleich darauf an den Oberarmen in den Stand. Sie starrt ihn aus ihrem einen grünen Auge an und scheinbar durch ihn hindurch. Seine lebenslange trainierte Selbstbeherrschung verhindert, dass er erschauert. Er schleift sie nachgerade aus der Tür zu seiner Kammer. Dort legt er ihr einen Arm um die Schulter und hebt sie hoch. Sie stöhnt.

„Ich weiß, Kind. Es wird vergehen.“ Er legt sie auf sein Bett, wirft die Decke über sie, dass nur mehr ihr Haar zu sehen ist. Dann öffnet er die Tür zum Flur. Die Fackeln sind herunter gebrannt, lange Schatten tanzen an den Wänden.

„Rhecanz“,  ruft Drosten halblaut.
„He, du Taugenichts, wach auf!“
Gleich darauf sind Schritte zu hören. Ein Junge, kaum älter als zwölf, eilt herbei. Er sieht verschlafen aus und schaut schuldbewusst.
„Es ist wichtig, Junge und es eilt. Geh und wecke den Hauptmann der Wache. Order vom König. Dann gehe zu Dromari ins Haus der Frauen. Lasse dich nicht abweisen. Die Köchin soll hier her kommen.“

Der Junge läuft los. Drosten geht zurück in seine Kammer, sieht nach dem Mädchen. Das gesunde Auge starrt noch immer und das entstellte Gesicht ist eine Maske des Entsetzens. Er steht am Fenster, sieht hinunter auf den Hof der Feste. Die ersten Mägde sind bereits auf den Beinen und eilen mit allerlei Vorräten hin und her. Drosten seufzt. Hier in seiner Kammer und allein gestattet er sich die eine oder andere Gefühlsäußerung. Er hat einen schwierigen Gang vor sich. Aber es duldet keinen Aufschub. Er ordnet seine Kleider, wäscht sich mit etwas Wasser aus der irdenen Kanne neben dem Bett. Das Mädchen regt sich kurz.

„Hast Du Durst, Kharthari?“ fragt er. Er setzt den Becher an ihre Lippen. Der rechte Mundwinkel ist aufgerissen und verschorft. Sie trinkt einen winzigen Schluck und das starrende Auge wird für einen Moment wieder menschlich.

 

Der Major Domo sieht erschrocken und verschlafen aus, als der Leibdiener Drosten in dessen Arbeitszimmer führt. Er hat einen Hausmantel über geworfen, der schon bessere Tage gesehen hat und er ist unrasiert.

„Wir müssen handeln, mein Herr, es wird höchste Zeit.“
„Wovon sprichst Du?“ stellt sich der Haushofmeister dumm. Er weiß sehr wohl, wovon Drosten redet.

„Er hat Kharthari übel zugerichtet. Kein Mensch tut so etwas, ich schwöre es bei allen Göttern auf dieser Seite der Welten.“
„Es wird also wieder schlimmer. Was können wir tun?“
„Die Hexe muss kommen und es richten.“
„Bist Du von Sinnen? Die HEXE? Er hat erst gestern eine aus seinem Bett gejagt. Er ist gewarnt, er ist misstrauisch.“
„Wir müssen es tun. Er wird sich und uns alle hier verderben.“
„Sein Vater hat…“
„Sein Vater war ein starker und edler Mann, Herr. Harmuth ist ein schwacher König und ein schlechter Mensch. Sein Blut ist nicht rein, Herr. Thorami hat bei einer aus dem Süden gelegen, die hat ihn vergiftet. Dann hat er Harmuth gezeugt und ihm das Gift ins Blut gelegt. Wir wussten damals noch nichts von diesen Weibern und was sie vermögen.“

„Was schlägst du vor, Drosten?“
„Dhrumt wird Kharthari und Shanthor nach Süden in den Grenzwald bringen, auf Geheiß des Königs. Er hat beide vogelfrei erklärt und verbannt. Dhrumt schuldet mir noch einen Gefallen. Er wird der Hexe unsere Botschaft überbringen. Sie wird dafür sorgen, dass er Stillschweigen bewahrt.“

Der Haushofmeister schüttelt bedenklich den Kopf.
„Können wir der Hexe trauen?“
„Nein, natürlich können wir ihr nicht trauen. Sie wird einen heftigen Tribut einfordern, aber ich habe eine Idee, wie wir das ausnutzen können.“
„Du brütest einige Ideen zu viel aus, Herr Kammerdiener, für meinen Geschmack. Ich würde sie auch am liebsten gar nicht wissen wollen.“
„Ich kann Euch beruhigen, Herr, es geschieht alles zum Wohle des Königs und des Reiches.“

 

Wenig später ist Drosten zurück in seiner Kammer. Das Mädchen schläft. Dann hämmert es heftig gegen die Tür. Die Köchin steht im Zimmer, bevor Drosten noch ein „Herein“ hervor bringen kann. Sie ist aufgebracht und ihre Kleidung ist liederlich, weil sie überstürzt den Weg hier her genommen hat. Drosten sieht ihre weiße Haut schimmern. Sie folgt seinem Blick und zieht das Tuch enger um ihre Schultern.

„Was hat dieses Ungeheuer ihr angetan!“ Sie beugt sich über das Bett mit dem schlafenden Mädchen. Drosten hält die Frau sanft zurück.
„Hör zu Frau. Es eilt. Sorge dafür, dass der Junge reisefertig ist. Es bleiben nur ein paar Minuten. Sorg‘ auch dafür, dass sie warme Kleidung haben und Proviant für eine Woche.“
„Flucht? Sie sollen fliehen? Wohin? Seht Euch das arme Ding doch an!“
„Nicht Flucht, Verbannung. Dhrumt bringt beide in den südlichen Grenzwald. Sie sind vogelfrei und dürfen sich der Feste nicht weiter als einen Tagesmarsch nähern. Geheiß des Königs.“

Dromari wird blass. Ihre Hände krallen sich in den groben Stoff ihres Brusttuches.
„Dieses Scheusal. Erst schänden und dann fortjagen wie Hunde. So ist kein Mensch, so ist kein König!“ Das letzte Wort spricht sie fast tonlos vor Zorn und Verachtung. Drostens Gesicht bleibt unbewegt.
„Du musst eilen, Frau. Der Hauptmann ist bereits auf dem Weg hierher.“ Damit entlässt er die Köchin aus seiner Kammer.

 

Kapitel 2

Der kleine Zug kämpft sich seinen Weg durch die endlos scheinende Einöde des Vorgebirges. Der böige Westwind treibt Sand und Eiskristalle vor sich her. Kaum, dass man die Hand vor Augen sieht. Shanthor treibt sein Reittier an, um die wenigen Schritte bis zum Tier Khartharis aufzuholen. Das Mädchen schwankt bei jedem Schritt und droht zu stürzen. Shanthor drängt sich dicht neben sie und versucht sie zu stützen.

„Wir rasten bald, Khar. Du musst nur noch ein wenig durchhalten. Am Feuer wird es Dir besser gehen und die heiße Suppe von der Köchin wird Dich gesund machen. Du wirst sehen.“
Das Mädchen hebt ein wenig den Kopf. Ihr verwüstetes Gesicht ist völlig ausdruckslos. Die Lippen sind bläuliche Striche, das verletzte Auge hat eine tief violette Farbe angenommen und die Nase steht noch immer in einem fürchterlichen Winkel zur Seite. Das verkrustete Blut hat schwarze hässliche Male hinterlassen. Der Junge wendet den Blick ab. Seine Fingerknöchel, die sich um die Zügel krampfen, werden weiß. Er treibt sein Tier vorwärts zur Spitze des Zuges.

„Hauptmann, ich bitte Euch, wir müssen rasten! Sie wird sterben!“ schreit er hinauf gegen den Wind. Hauptmann Dhrumt reitet ein Küstenvlogh, ein großes und starkes Tier mit dichtem falbem Fell. Die gedrehten Hörner geben ihm etwas Bedrohliches. Die Stimme des Jungen erreicht den Ostmannkrieger erst nach einigen verzweifelten Rufen.

„Wo willst Du hier einen Rastplatz finden, Narr? Schau Dich um!“ Der Hauptmann macht eine knappe Geste mit dem behandschuhten Schwertarm. Shanthor sieht ein, dass der Krieger Recht hat. Die Hochebene bietet nirgendwo Schutz. Es gibt keine Bäume, es gibt kein Wasser. Dem Jungen schwindet der Mut. Die Sorge um seine verletzte Churathi[2] täuscht ihn darüber hinweg, wie ängstlich und verzagt er sich fühlt. Die Kälte frisst sich in seinen Körper und die Ungewissheit, was mit ihnen geschehen wird, nagt an seinem Mut. Indes kommt Bewegung in die Spitze des Zuges. Einer der Kundschafter scheint zurück gekehrt zu sein. Hauptmann Dhrumt gibt das Zeichen zum Halten, steigt von seinem Vlogh. Der Naburi-Bastard macht ein paar knappe Gesten, deren Sinn Shanthor nicht versteht. Dann, von einem Moment auf den anderen ist er wieder verschwunden. Der Ostmann kommt nach hinten. Beim Proviantkarren hält er und winkt den beiden Gefangenen und den acht Männern der Wache, sich um ihn zu scharen. Der Karren bietet ein wenig Schutz vor dem Heulen des Windes.

„Wir nähern uns dem Einstieg. Bei diesem Wetter ist es sehr gefährlich, den schmalen Steig zu benutzen. Wir können nicht reiten sondern müssen die Tiere führen. Eure Mhaki“, er deutet auf Shanthor, der Kharthari von ihrem Tier geholfen hat und sie jetzt mit einem Arm umfangen hält, damit sie nicht zusammensinkt.
„Eure Mhaki sind geschickte Kletterer. Lasst sie voraus gehen, sie treten nie fehl und finden den rechten Weg fast blind.“
Der Hauptmann schaut kurz zum tief hängenden Wolkendach über sich.
„Wir haben nicht viel Zeit, um ins Tal zu gelangen. Nach Einbruch der Dunkelheit erwartet uns in der Wand nur der Tod. Wird sie das schaffen?“ fragt er an den Jungen gewandt. Er wartet die Antwort nicht ab.

„Was wird hiermit?“ will einer der Wachmänner wissen und legt seine Schildhand auf den Karren.
„Ladet auf, was ihr tragen könnt und was wir für drei Tagesritte noch benötigen. Den Zugbankhern nehmt das Joch ab. Sie kommen allein zurecht, bis wir wieder hier sind.“
Shanthor schaut dem riesigen Krieger verzweifelt nach, wie der zurück an die Spitze des Zuges stapft.

"Khar, wir müssen laufen. Komm, stütz Dich auf mich, ich helfe Dir.“ Er richtet die zusammengesunkene Gestalt mühsam auf.
„Khar, hörst Du mich?“ ruft der Junge bittend. Tränen laufen ihm über die staubigen Wangen. Kharthari richtet sich etwas auf, hebt den Kopf. Ihr eines Auge klärt sich auf wundersame Weise zu einem klaren, strahlenden Smaragd. Sie schaut ihren Churantar[3] an.
„Shan, ich höre Dich.“ Flüstert sie und es klingt heiser. Sie müht sich auf die Beine, beißt sich vor Schmerz auf die Unterlippe. Der eingerissene Mundwinkel beginnt erneut zu bluten. Einer der Wachmänner wirft ihnen zwei prall gefüllte Beutel mit Proviant vor die Füße:

„Tragt das, oder krepiert.“ Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Schon nach wenigen Metern beginnt sich der Sandboden unter ihren Füßen südwärts zu neigen. Felsen treten wie Gebeine zu Tage. Sie erreichen den Eingang einer Schlucht, deren schmaler Grund steil abwärts führt. Unheimliche Geräusche dringen von unten herauf.

„Lasst Abstand zum Vordermann, damit niemand in die Tiefe gerissen wird, wenn jemand den Halt verliert.“ Shanthor erschauert bei dem Gedanken. Wie Dhrumt befohlen hat, lassen Khar und er die Mhaki voraus gehen. Immer wieder dreht sich der Junge zu seiner Versprochenen um. Sie schwankt etwas aber sie bleibt nicht zurück. Der Wind heult unheimlich durch die schmale Schlucht und zerrt an den Kleidern der Menschen und dem Fell der Reittiere. Nach wenigen Schritten öffnet sich die linke Wand der Schlucht und gibt den Blick frei auf ein atemberaubendes Panorama. Die Wand fällt steil ab und der Pfad, den sie gleich darauf betreten, ist ein kaum drei Fuß breites Sims. Der Wind fegt über die kleine Karawane hinweg, die sich langsam vorwärts tastet. Im Tal unten zeichnet sich der Waldrand als dunkle, ausgefranste Linie ab. Der Abstieg dauert zwei Stunden und Mensch und Tier sind am Ende ihrer Kräfte, als sie den Fuß des Abbruchs erreichen. Zwischen niedrigen zerzausten Nadelbäumen finden sie etwas Schutz für ein Nachlager.

„Macht Feuer!“ befiehlt der Hauptmann. Er sieht besorgt aus, obwohl sie es bis hierher geschafft haben und das Ziel der Expedition greifbar nahe ist. Er ruft seine Wachmänner zusammen.

„Ich muss keinem erklären, wo wir uns hier befinden, denke ich“, hebt er an und schaut in die Runde. Die Gesichter der Männer sind vom Abstieg gezeichnet und ernst. Einige nicken bedächtig. Die Nacht bricht herein und vom Waldrand her werden die Stimmen der Tiere laut. Die Mhaki drängen sich dicht an einander und sind unruhig. Kharthari liegt in ein Fell gehüllt in der Nähe des Feuers und zittert. Sie ist erschöpft und hat Fieber. Shanthor benetzt ihre spröden, aufgeplatzten Lippen mit Feuchtigkeit. Mehr kann er nicht tun. Seine Versuche, ihr von der heißen Brühe einzuflößen, die er am Feuer aufgewärmt hat, blieben bisher erfolglos. Keiner der Wachleute kümmert sich um die beiden. Dhrumt würdigt sie keines Blickes. Er weiß zu genau, dass die Wildnis ein besserer Wachposten ist als all seine Männer. Hier läuft niemand einfach fort vom schützenden Feuer. Wenn doch, dann in den sicheren Tod. In der Nacht legt sich der Sturm, die Wolken ziehen weiter und lassen einen sternenübersäten Himmel zurück. Es wird bitter kalt.

Shanthor erwacht aus einem unruhigen Schlummer und spürt, dass etwas nicht stimmt. Das kleine Lager ist von Unruhe erfüllt. Die Reittiere stampfen den Boden und schnauben vor Angst. Der Junge hört das aufgeregte Flüstern heiserer Männerstimmen. Das Feuer ist ein von Asche grauer rötlich schimmernder Hügel geworden. Der Junge erhebt sich von seinem Lager neben der leise und flach atmenden Kharthari. Er nimmt ein paar dürre Äste vom Holzvorrat und versucht, die Feuerstelle wieder zu beleben.

„He Junge, lass das. Willst Du sie direkt zu uns führen?“ Der Wachmann mit der Narbe über dem linken Auge kickt das Holz von der Asche.

„Wen meinst Du?“ fragt Shanthor und sieht den Mann von unten herauf an.
„Ach, frag‘ nicht so dumm“, versetzt der und kehrt zurück zu seinen Kumpanen, die sich um den Hauptmann versammelt haben.

„Khar, kannst Du mich hören?“ erkundigt sich der Junge flüstern und legt sich neben das Mädchen.
„Was ist, Shan?“ antwortet sie fast sofort und ihre Stimme klingt rau aber klar.
„Die haben Angst. Irgendetwas ist da draußen, was ihnen Angst macht. Sie werden uns nicht beschützen, weißt Du.“ Shanthor spürt, wie das Mädchen neben ihm nickt.
„Wir sind vogelfrei, Shan. Niemand wird uns beschützen.“
„Doch, ich“, sagt er trotzig. Eines der Mhaki stößt einen grässlichen Schrei aus, plötzlich ist das Lager erfüllt von Kampflärm. Ein hohes schrilles Kreischen fährt Menschen und Tieren ringsum in die Glieder. Die Stimme Dhrumts durchdringt das Durcheinander mit unerbittlicher Klarheit:

“Facht das Feuer an, ihr Narren!“ Shanthor fährt auf und greift hinüber zum Holzstapel. Der Wachmann mit der Narbe reißt ihm die Äste aus den Händen. Dann wird er von einer furchtbaren Gewalt zur Seite geschleudert. Asche und Funken stieben auf, während er mit einem Bein durch die Feuerstelle strauchelt. Er stößt einen kehligen Schrei aus, der schnell in einem gurgelnden Geräusch verebbt. Shanthor hört reißende Geräusche nur wenige Schritte von sich entfernt. Schmatzen. Er kämpft das Entsetzen nieder, robbt auf allen Vieren hinüber zum Holz und erfasst einen derben Knüppel. Dann wirft er dürre Zweige hinüber zum Feuer. Die Glutreste liegen offen und mehrere kleine Zweige fangen Feuer. Es wird heller. Dort neben der verkrüppelten Gestalt des Baumes hockt ein seltsam verunstaltetes Wesen und schlingt die dampfenden Gedärme des Wachmannes herunter. Das Aufflackern des Feuers lässt es herumfahren. Graues, ölig glänzendes Fell, kleine, angelegte Ohren an einem schmalen Kopf, der nach vorn in einer spitzen Schnauze mit einem mächtigen Raubtiergebiss mündet. Die Augen irisieren im Schein des flackernden Feuers metallen. Wieder erklingt dieser grelle Schrei. Das Wesen duckt sich zum Sprung. Ein Speer taucht von der Seite auf und fährt dem Tier wie ein Blitz in die Flanke. Es bricht sofort zusammen. Shanthor sieht nach rechts, dort flammt eine Fackel auf und der Junge hört die Rufe der Wachen. Er kriecht hinüber zum Feuer und legt weitere Zweige und Äste auf die Flammen. Der Lichtkreis erweitert sich und Shanthor sieht sich um. Dort drüben, gerade außerhalb des Scheins sieht er die Läufe einer weiteren Bestie. Weiter links glitzern die Augen eines weiteren Tieres. Sie sind eingekreist von den mordlustigsten Kreaturen des Südwaldes: Waldkatzen! Kharthari hat sich aufgerichtet und schaut sich mit angsterfüllten Augen um. Shanthor streckt die Linke nach ihr aus.
„Komm ans Feuer, Khar. Sie scheuen das Licht!“ ruft er ihr zu und blickt sich hecktisch nach allen Seiten um. Das Mädchen kommt auf ihn zu gekrochen. Das unstete Licht des Feuers macht ihr Gesicht zur Maske einer alten Frau. Von rechts werden erneut Schreie laut, Kommandos werden gerufen, ein Mann ruft mit entsetzlichen hysterischen Schreien um Hilfe, verstummt gleich darauf. Kharthari drängt sich entsetzt an Shanthor. Er legt einen Arm um sie, die Rechte mit dem Knüppel hoch erhoben. Der Küstenvlogh, der weiter drüben  neben dem Pfad an einen Baum gebunden war, stößt einen Kampfruf aus. Mit dumpfem Ruck reißt das Lederband und das Tier stürmt davon. Vloghs sind gefährliche Tiere, die selbst von den Lighuren[4] der Küstenebene gefürchtet werden. Sie sind ihren Reitern treu ergeben und werden diese nie in Gefahr im Stich lassen. Der massige Körper bricht durch das Dickicht des niedrigen Gehölzes. Shanthor hört den heftigen Aufprall und das Geräusch brechender Knochen. Das grelle Kreischen erstirbt in einem Schmerzenslaut. Dhrumts Stimme erklingt heiser, als sein Tier heranstürmt. Shanthor stößt einen gellen Schrei aus und reckt die Rechte empor. Dann greift hinter ihm eine der Bestien an. Kharthari stößt Shanthor zur Seite und wirft sich zu Boden. Die Klauen des Angreifers verfehlen den Jungen um Handbreite. Das Feuer stiebt auf und die Bestie stößt einen Klagelaut aus, fährt aber  sofort herum. Mit schrecklich gebleckten Zähnen, an den Boden gepresst und knurrend umschleicht sie die Flammen in Richtung des Jungen. Mit schmerzhaft hohem Sirren ereilt ein metallisch glänzender Pfeil die Kehle der Bestie, die sofort tonlos zusammenbricht. Shanthor wird vom Boden hoch gerissen. Er versucht sich zu wehren, aber der Griff ist unerbittlich. Mit Windeseile entfernt er sich vom hellen Schein des Feuers. Ein knorriger Ast peitscht ihm das Gesicht. Mit schwindenden Sinnen hört er die Stimme Khartharis seinen Namen rufen.

 

Kapitel 3

Als der Junge das Bewusstsein wiedererlangt, findet er sich in einem seltsam erhellten Raum. Im Hintergrund hört er gedämpfte Stimmen in einer Sprache reden, die er nicht kennt. Es ist warm hier.  Der Boden, auf dem er liegt, ist weich gepolstert. Obwohl sein Kopf schmerzt und er das unangenehme Gefühl hat, sich erleichtern zu müssen, möchte er für immer in diesem Schwebezustand verharren.

Dann fällt ihm Kharthari wieder ein und schon ist es vorbei mit dem anheimelnden Gefühl. Er zwingt sich, die Augen ganz zu öffnen und sich aufzusetzen. Er sitzt auf einem Lager aus Fellen von graubrauner Farbe, die von Tieren stammen, die Shantor unbekannt sind. Obwohl es hell ist, sind nirgendwo Fackeln oder Lampen zu entdecken. Es scheint fast, als leuchteten die Wände aus sich selbst heraus. Der Boden neben dem Lager ist aus glänzendem Material, dessen Maserung an Holzplanken erinnert. In einiger Entfernung erregt eine Gruppe von Menschen seine Aufmerksamkeit. Aus ihr ragt Dhrumt hervor wie ein Riese. Shanthor fühlt sich seltsam erleichtert, den Hauptmann zu sehen, auch wenn dieser keine besonders freundliche Aufgabe zu erfüllen hatte. Der Rest der Leute - Shanthor fällt auf, dass es durchweg Frauen zu sein scheinen- ist dem Jungen völlig unbekannt und fremd. Sie tragen weiße fast durchscheinend zarte Gewänder, die ihnen bis zu den Knöcheln reichen. Die halblangen Ärmel sind mit sandfarbenem Fell verziert, das ständig die Farbe zu wechseln scheint. Die Frauen tragen sehr langes helles Haar von einer Farbe, die Shanthor noch nie gesehen hat.

In der Mitte der Gruppe steht eine Frau, die einen seltsam geformten Stab in der Rechten hält. Ihr Haar ist zu einem kunstvollen Gebilde aus Zöpfen und Bändern frisiert und von ihrem schmalen Gesicht geht eine stille Hoheit aus, die Shanthor frösteln lässt. Das muss so etwas wie die Herrin in dieser Behausung sein, vermutet der Junge. Im Hintergrund erblickt er weitere Lager gleich dem, auf dem er sitzt. Sie scheinen mit Verwundeten belegt zu sein. Zwei hellhaarige Frauen sind offenbar um diese bemüht.

Wo ist Kharthari? Shanthor steht auf und merkt sofort, dass ihm schwindelig wird. Außerdem wird er gewahr, dass er bis auf ein weißes hüftlanges Hemd nackt ist. Erschreckt und beschämt versucht der Junge, seine Blöße zu bedecken.
Die Gruppe ist auf ihn aufmerksam geworden. Eine der Frauen kommt zu ihm herüber. Shanthor ist auf die Felle zurück gesunken. Er fühlt sich elend und zittrig; er fürchtet, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Er sieht der Frau bangen Blickes entgegen. ‚Was ist mit ihren Augen‘, fragt er sich und kann den Blick nicht abwenden.

„Der Wald ist freundlich, junger Fremder“, begrüßt die Hellhaarige ihn und ihre Stimme klingt eigentümlich hoch und singend. Sie formt die Worte in seiner Sprache seltsam, aber es macht ihm ein schönes Gefühl, ohne dass er weiß, warum. Nur diese Augen! Er reißt seinen Blick los.
„Möchtest du etwas essen oder trinken? Kann ich sonst etwas für dich tun?“ Sie setzt sich mit einer überaus anmutigen Bewegung zu ihm auf die Felle. Sie hat schlanke Hände mit sehr feinen, langen Fingern, die in silberfarbenen Nägeln auslaufen, die Shanthor entfernt an die Krallen eines Vogels erinnern. Ihre Nähe macht den Jungen noch unsicherer. Wie kann er sie fragen, wo hier der Abtritt ist? Ihr Gesicht wird ganz kurz von einem Lächeln verzaubert und in ihren Augen scheinen winzige farbige Funken zu tanzen. Sie hebt die Linke und weist auf die linker Seite des langestreckten Raumes.

„Du wirst Dich säubern wollen, junger Fremder. Hinter dem Vorhang dort wirst Du finden, was Du suchst.“ Sie erhebt sich und reicht ihm die Hand. Ehe er sich versieht, hat sie ihn in den Stand gehievt. ‚Sie ist viel stärker, als sie aussieht‘, denkt er nebenher. Auf etwas wackeligen Füßen und das Hemd vor sich herunterziehend trippelt er zur bezeichneten Stelle in der Wand. Erst beim Näherkommen wird der Vorhang deutlicher sichtbar. Dahinter ist ein kleinerer Raum, dessen vier Ecken von der Decke her beleuchtet werden. Nach einigem Suchen erahnt der Junge, wozu die seltsamen Nischen an den Wänden zur Rechten genutzt werden und ist froh, sich zu erleichtern. Er findet einen Krug aus halb durchscheinendem Mineral, das lauwarmes Wasser enthält. Nischen mit Aushöhlungen laden dazu ein, sich zu waschen. Auf Konsolen liegen Stapel von weichem Stoff. Shanthor benutzt sein Hemd, um sich abzutrocknen. Die Umgebung ist so fremdartig, dass er sich ganz und gar unwirklich vorkommt, gerade, als stecke er in einem Traum fest, von dem noch nicht klar ist, ob er sich zu einem Alptraum oder etwas Schönem wenden wird. ‚Ob Kharthari dies alles schon gesehen hat‘, fragt er sich und da ist sie wieder seine Sorge um die Churanti. Hastig kehrt er in den großen Raum zurück.

 

„…deshalb müssen wir in die Feste zurück kehren, versteht das doch!“ Dhrumt’s Stimme dröhnt Shanthor entgegen. Der Hauptmann ist aufgebracht. Seine Augen sind dunkel vor Zorn. Der Kreis der hellhaarigen Frauen hat sich etwas vergrößert, ganz als fürchteten sie eine Tätlichkeit des Kriegers. Verblüfft stellt Shanthor fest, dass der Hüne keinerlei Waffen trägt. Ist er ein Gefangener? Sind sie alle hier Gefangene der seltsamen Frauen? Shanthor versucht, die Hellhaarige zu finden, die vorhin kurz mit ihm gesprochen hat. Leider sehen die Frauen in dem Kreis alle gleich aus. Nun, dann muss es auch ohne sie gehen. Zunächst muss er seine Kleider wiederfinden. Nur in diesem Hemd herum zu laufen, kommt dem Jungen zunehmend wie eine bewusste Kränkung vor. ‚Sie machen sich wohl über uns lustig‘, überlegt er kurz, aber dann erinnert er sich an das feengleiche Gesicht und wie es durch das Lächeln verzaubert wurde. Shanthor hat ein warmes Gefühl in der Brust, wenn er wieder daran denkt. Er stiehlt sich an der Gruppe vorbei in den jenseitigen Teil des Raumes. Hier liegen vier Verwundete. Einer hat tiefe Kratzer im Gesicht und das linke Auge verloren. Einem anderen hat eine der Bestien den rechten Unterarm abgebissen. Shanthor wendet rasch den Blick ab. Endlich, ganz hinten in der Ecke, wo es ein wenig schummerig ist, findet er die schlafende Kharthari. Er kniet sich neben ihr Lager, beugt sich über sie.

„Du solltest sie nicht wecken, Junge“, sagt eine leise Frauenstimme hinter ihm. Er wendet den Kopf und erblickt jene Frau mit der seltsam verschlungenen Frisur. Shanthor zuckt unwillkürlich zurück. Die Frau spricht Khurkusi ohne Akzent. Ihre Augen strahlen in reinem Grün.

„Was ist mit ihr?“ Shanthor erhebt sich. Er zerrt an seinem Hemd und erinnert sich wieder daran, dass er seine Kleider suchen wollte.
„Sie war sehr erschöpft und verängstigt, als wir euch fanden. Der Schlaf des Waldes wird ihr gut tun. Deine Kleider haben wir für dich gereinigt. Du findest Sie in der Nische neben deinem Lager. Mharthoni hast du ja schon kennen gelernt. Sie wird dir gern helfen, dich zu Recht zu finden.“
„Sagt, Herrin, wo sind wir hier?“
„Herrin? Ich bin keine Herrin, für dich nicht und für meine Schwestern auch nicht. Bitte nenne mich Khalah. Wir sind in der Heimstadt der Frauen des Waldes. Wir sind Waldmenschen, in Deiner Sprache heißen wir ‚Naburi‘, die Hexen.“ Shanthor kann nicht verhindern, dass er kurz zurück zuckt. Zu viele Gräuelmärchen hat er gehört von diesem Hexenvolk im Süden. Khalah hat seine Reaktion sehr wohl bemerkt. Sie lächelt kurz und in diesem winzigen Moment bemerkt Shanthor, wie sich ihre Augen verändern, als gleite ein Regenbogen durch sie hindurch. Sie reicht ihm die Hand.

„Sei ohne Furcht, Junge. Bei uns bist Du in Sicherheit. Der Wald ist gut zu uns Menschen.“ Er kann nicht umhin, die Hand zu ergreifen. Ihre Finger sind kühl und glatt wie die Haut einer Beinlosen[5] aus den Auen am Fluss. Sie führt ihn hinüber zu der Gruppe Frauen. Shanthor wird immer verlegener. Er hat noch immer keine Hose unter dem Hemd. Dhrumt steht inzwischen etwas abseits und spricht leise mit einem der verbliebenen Wachmänner. Dieser scheint sogar unverletzt.

„Schwestern, dieser junge Mann ist Shanthor aus der Feste. Er ist unserer Schwester Kharthari versprochen. Ihm war das gleiche Schicksal zugedacht, wie ihr. Mharthoni, wirst Du ihm zur Hand gehen, bis er sich bei uns eingelebt hat?“ Die Angesprochene neigt leicht den Kopf. Sie gibt Shanthor ein Zeichen mit der Hand. Shanthor folgt ihr bis zu seinem Felllager. Sie öffnet in der Wand neben dem flachen Podest eine Nische. Dort liegen Shanthors Sachen sorgfältig zusammengelegt. Sie reicht sie dem Jungen.

„Es muss dir nicht unangenehm sein, vor uns unbekleidet zu sein, Shandor. Wir sind Menschen und Menschen werden ganz ohne Kleidung geboren.“
„Shanthor, ich heiße Shanthor“, verbessert der Junge sie. Er ist hochrot im Gesicht und es ist ihm umso deutlicher anzusehen, wie unangenehm ihm das alles ist.
„Shanthor“, wiederholt die Naburi und lauscht ihrer eigenen Stimme nach. Shanthor schlüpft derweil in seine Beinkleider. Nach kurzem Zögern streift er sich das Hemd über den Kopf und reicht es Mharthoni hinüber. Sie schaut ihn fragend an, nimmt das Kleidungsstück entgegen. Shanthor hat sich inzwischen sein eigenes Hemd und die Weste übergestreift. Plötzlich wird ihm bewusst, wie rau sich das Hemd auf Schultern und Rücken anfühlt. Auf jeden Fall fühlt er sich nun, so vollständig bekleidet, schon viel sicherer.  
„Bist du hungrig, Shanthor?“ fragt Mharthoni und bemüht sich, den Namen richtig auszusprechen. Jetzt, da sie die Sprache darauf gebracht hat, fällt dem Jungen auf, wie sehr sein Magen knurrt. Er nickt.

„Ein wenig schon“, gibt er zu. Er möchte nicht unverschämt klingen.
„Dann komm‘ mit mir in die Küche. Wir Schwestern essen erst wieder nach Sonnenuntergang, aber du musst nicht so lange warten.“ Damit wendet sie sich zum Gehen. Wieder erkennt Shanthor die Tür mit dem Vorhang erst, als er schon beinahe davor steht. Er versucht, heraus zu finden, wie das funktionieren mag, aber Mharthoni wartet nicht. ‚Es sind doch Hexen‘, geht es ihm durch den Kopf.

Sie durchqueren einen Flur, der von seltsamen leuchtenden Flecken an der gewölbten Decke erhellt wird. Die Wände sind mit wunderschönen Darstellungen geschmückt, die das Leben der Waldmenschen zu schildern scheinen. Auch sie scheinen auf wundersame Weise zu strahlen. Shanthor läuft durch diesen Flur wie durch einen Traum.

Die Küche ist fast ebenso groß wie der Raum, aus dem sie gekommen sind. Es ist warm hier und es duftet ungewohnt. Die ganze Schmalseite des Raumes wird von einem Herd eingenommen, auf dem glänzende Gefäße stehen. Von einigen steigt Dampf auf.

Zwei Frauen in graubraunen Gewändern und gelblichen Kopftüchern eilen geschäftig hin und her. Eine ist klein und untersetzt und das Gewand kann nur schwerlich verbergen, dass sie ein wenig füllig ist. Ihr Gesicht ist fast rund wie der Blaue Mond im Sommer und wirkt sehr freundlich. Sie hat dunkle lebhafte Augen. Die andere ist wie die anderen Naburi schlank und hochgewachsen. Sie wirft den Ankömmlingen einen raschen Blick zu und ihre Augen signalisieren diese irritierende Art mit einem Regenbogen zu Lächeln. Mharthoni deutet nach rechts auf eine Gruppe von Tischen mit Sitzbänken.

Shanthor wählt einen Tisch ganz hinten an der Wand und lässt sich dort nieder. Sein Blick irrt durch den Raum, der ihm so fremd und seltsam vorkommt, dass er sich nicht entscheiden kann, ob er Furcht empfinden soll oder Freude. In offenen Nischen in den hellgefärbten Wänden finden sich allerlei Gefäße unterschiedlicher Farbe, Größe und Form. Nicht bei allen lässt sich sofort erraten, wofür sie gut sein mögen.

Die kleine Frau kommt zu ihnen an den Tisch. Ihr Lächeln lässt zwei Reihen schneeweißer Zähne sehen und wirkt ansteckend. Sie zwinkert Shanthor zu.

„Nun Junge, was isst Du am liebsten?“ erkundigt sie sich. „Bohnen und Shwart[6]“, entschlüpft es Shanthor, der schon beim Gedanken an dieses Gericht vermeint, den köstlichen Duft zu riechen.
„Du bist ein Feinschmecker, wie ich sehe“, entgegnet die Köchin und lacht. Das klingt noch ansteckender. Shanthor muss wider Willen schmunzeln.
„Ich bin Khilda, mein Junge. Ich bin eine Khurkusa, weißt du, aber ich bin schon sehr lange hier und ich sage dir, du bist ein Glückspilz. Bohnen und Shwart also. Ich will sehen, was sich machen lässt.“
Sie eilt davon. Mharthoni steht noch immer neben dem Tisch und sieht den Köchinnen bei der Arbeit zu.
„Warum setzt Ihr Euch nicht?“ fragt Shanthor, dem es zunehmend peinlich ist, hier auf sein Essen zu warten, während die Frau sich die Beine in den Bauch steht.
„Wir Schwestern essen erst in ein paar Stunden.“
„Deshalb könnt Ihr Euch doch trotzdem zu mir setzen, oder ist das verboten?“ Die Naburi schaut ihn an und lacht. Langsam gewöhnt sich der Junge an den verwirrenden Anblick der schillernden Augen.
„Verboten? Nein, so etwas gibt es hier nicht. Wir haben Regeln, an die wir uns halten, aber Verbote?“ Sie schüttelt den Kopf.
„Möchtest du, dass ich mich zu dir setze?“
„Ich fände es schöner“, gesteht Shanthor und weiß nicht, ob er damit nicht zu weit geht. Wieder ist er sich unsicher. Sie setzt sich ihm gegenüber auf die Bank und schaut ihn an.
„Danke“, sagt er halblaut. Inzwischen fragt er sich, ob das eine gute Idee war, denn jetzt erwartet die Frau vielleicht, dass sie mit einander reden. Er ist doch nur ein Junge, ein Stallbursche in der Feste. Was soll er mit einer Frau reden, zumal mit einer Hexe?

„Was bedeutet das Wort Hexe in deiner Sprache, Shanthor?“ Marthonis Stimme klingt noch immer weich und singend bei dieser Frage. Wenn sie ungehalten ist oder zornig, dann hört man ihr das auf jeden Fall nicht an. Aber warum fragt sie ihn das gerade jetzt? Es ist fast, als könne sie seine Gedanken lesen!
„Du hast Recht, Shanthor, das kann ich. Wir Schwestern können das alle.“ Der Junge ist starr vor Schreck. ES SIND HEXEN!

 

Kharthari dämmert langsam herüber aus dem sturmumbrausten Land ihres beklemmenden Traums. Sie möchte schreien, aber sie fürchtet, dies könnte die wilden Waldkatzen zu ihr locken. Die Angst schnürt ihr die Kehle zu und nimmt ihr fast den Atem. Als eine kühle aber sanfte Hand sie am Handgelenk berührt, schrickt sie zusammen und erwacht.

Sie schaut in eine ernstes schmales Gesicht, eingerahmt in sehr feines fast weißes Haar, das kunstvoll zu einander durchwirkenden Zöpfen geflochten ist. Die Augen dieser Frau haben etwas Tiefes, Fremdes und doch flößen sie dem Mädchen keine Furcht ein, im Gegenteil. Kharthari spürt, wie die Furcht des Traumes sie endgültig flieht und eine große Ruhe sie umfängt. Ihre verkrampften Muskeln lockern sich.

„Willkommen, Schwester“, sagt die Frau und die Stimme klingt wunderbar weich. Kharthari schließt kurz die Augen und lauscht dem Klang nach.
„Wo bin ich?“ Das Mädchen schlägt die Augen auf und versucht, sich aufzurichten. Khalah drückt sie sanft auf das Lager zurück.
„In Sicherheit. Ich bin Khalah, Schwester des Waldes. Du bist unser Gast.“ Kharthari versucht in dem Gesicht der Naburi zu lesen. Hoffnung und Zweifel widerstreiten in den Zügen des Mädchens, das noch immer von den Verletzungen der letzten Tage entstellt ist.

„Ist Shanthor auch…, ich meine hat er es auch…“ Ihr Blick wird angstvoll. Wieder versucht sie, sich aufzurichten. „Er ist wohl auf und gerade mit einer meiner Schwestern in der Küche. Du bist geschwächt von der Reise und dem, was dir widerfahren ist. Können wir dir etwas zur Stärkung bringen?“
Khartaris zuckt bei der Bemerkung der Frau leicht zusammen. Ihr gesundes Auge füllt sich mit Tränen. Khalah streichelt ihre Wange und wischt dann die Träne fort, die die Wange hinab läuft.

„Ich werde dir helfen, Schwester, dieses Leid hinter dir zu lassen.“ Hinter Khalah taucht die Naburi-Köchin auf. Sie balanciert auf einem Tablett eine Schale, von der leichter Dampf aufsteigt. Daneben steht ein Becher aus weißem durchscheinenden Material, in dem sich eine bernsteinfarbene Flüssigkeit abzeichnet.

Kharthari bekommt einen Hauch des Duftes in die Nase, der von der dampfenden Schale ausgeht und plötzlich verspürt sie einen heftigen Hunger. Seit Tagen hat sie kaum etwas zu sich nehmen können. Eine der anderen Schwestern eilt herzu und gemeinsam betten sie das Mädchen auf dem Lager aus Fellen, dass es fast aufrecht sitzen kann.
Vorsichtig und mit schmerzverzerrter Miene kostet sie von der Suppe, darauf bedacht, den verletzten Mundwinkel nicht in Berührung mit der heißen Flüssigkeit kommen zu lassen. Der Hunger jedoch ist stärker als jede Vorsicht. Der Löffel wird flinker und schließlich reißt die Wunde wieder auf. Ein dünner Faden hellroten Blutes rinnt am Kinn vorbei und tropft auf die Felldecke. Erschrocken hält Kharthari inne.

„Es tut mir leid“, sagt sie hastig und verschüttet fast den Rest aus der Schale.
„Schon gut, Schwester, das ist nicht schlimm. Iss dich satt, wir kümmern uns um deine Wunden, wenn du soweit bist.“ Khalah hält die Hände des Mädchens und sieht ihr ins Gesicht. Das Beben der Hände verebbt. Kharthari trinkt gierig von der Flüssigkeit aus dem Becher. Sie ist herb und erfrischend wie die Früchte des Thonga-Baumes unten in der Ebene vor der Feste. Und sie macht sie fast augenblicklich sehr müde und schläfrig. Ihr fallen die Augen zu und die Schwestern bringen das leere Geschirr in Sicherheit.

„Bringt sie in den Behandlungsraum. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“ 

Khalah erhebt sich vom Lager des Mädchens. Hauptmann Dhrumt tritt von hinten an sie heran. Man sieht ihm an, dass er sich um einen freundlichen und verbindlichen Tonfall bemüht.

„Herrin des Waldes. Auf ein Wort, bitte.“
„Der Wald hat keinen Herrn, Hauptmann!“ weist die Naburi ihn scharf zurecht. Für einen Moment sind ihre Augen finster vor Zorn.
„Verzeiht. Aber es ist wichtig. Wenn wir vor dem Winter unsere Heimat noch erreichen wollen, müssen meine Männer und ich unverzüglich aufbrechen. Das Wetter wird schlechter und in einer Woche kann der Pfad nach oben unpassierbar sein. Von den Stürmen der Hochebene ganz zu schweigen. Ihr müsst uns ziehen lassen!“
Sie hebt ihr Gesicht zu dem des riesigen Mannes empor, was ihre Haltung unerhört stolz aussehen lässt.
„Niemand hat Euch in unser Land gebeten, Krieger. Ihr kamt mit Waffen und zwei armen verzweifelten und geschändeten Kindern hierher mit der Absicht, die Beiden sterben zu lassen. Ihr wärt um ein Weniges selbst gestorben, wenn wir nicht zur Stelle gewesen wären. Mich kümmert Euer König nicht, Hauptmann. Ihr aber sagt mir nicht, was wir müssen. Jetzt habe ich zu tun.“

Sie lässt den Ostmann stehen und eilt aus dem Raum. Dhrumt sieht der Naburi nach und ballt die Fäuste, dass die Knöchel weiß hervortreten. Der unverletzte Wachmann tritt zu ihm.

„Ich würde ihr gern den dürren Hals umdrehen, Hauptmann“, flüstert er mit zusammengebissenen Zähnen.
„Hüte deine Gedanken, Whrath. Diese Hexen können in deinen Kopf sehen“, entgegnet der Hauptmann ebenso leise. „Wir müssen hier raus, egal wie“, zischt Whrath erregt. Er fasst den Hauptmann am Arm. Der dreht sich halb zu seinem Untergebenen herum sieht herunter auf die Hand. Zögernd nimmt sie der Soldat fort.

„Wir sind tief im Berg, wir haben weder Waffen noch Ausrüstung. Wenn die Hexen es nicht zulassen, sehen wir nicht einmal die Tür zum Abtritt, verdammt. Erzähl‘ du mir nicht, was wir müssen, Holzkopf.“
„Wollen wir nur zusehen und abwarten?“ Dhrumt fährt herum und ergreift den Mann wütend am Kragen seines Hemdes. Mühelos hebt er ihn hoch, so dass ihrer beider Gesichter einander ganz nahe sind.
„Genau das, Whrath, genau das. Wenn du leben willst, wirst du nicht einmal daran denken, einer dieser Frauen auch nur ein Haar zu krümmen. Wir sehen und warten und wir bekommen unsere Chance. Und wir handeln, wenn ich es sage. Klar soweit?“

Er setzt Whrath vor sich ab, glättet mit einer aufreizend sorgfältigen Bewegung seiner Pranken das zerknautschte Vorderteil des Hemdes.

„Such dir jemanden zum Spielen“ faucht er und wendet sich ab. Es brodelt in ihm. Diese Hexe mit ihrem hochmütigen Getue geht ihm gewaltig auf die Nerven. Nichts täte er lieber, als das, was sein Wachmann ausgesprochen hat. Aber Dhrumt ist nicht dumm. Er hat Augen im Kopf und einen untrüglichen Instinkt für brenzlige Situationen. Diese Hexe ist mächtig und sie wird keine Sekunde zögern, ihn diese Macht spüren zu lassen. Es muss einen anderen Weg geben.

Am zermürbendsten ist das untätige Warten für den Krieger. Sein Leben lang war er rastlos, als Landsknecht bei den Fürsten im Osten, die unablässig ihre Fehden gegen einander austrugen, später als Unterführer einer Grenzbefestigung im Süden, noch jenseits des Waldes. Da machte er die ersten Erfahrungen im Umgang mit den Naburi. Verschlagen, hinterhältig und feige, so hat er sie kennengelernt. Leider eben auch überaus klug und gerissen.

Sie vermeiden die offene Schlacht, weil sie dem offenen Kampf körperlich nicht gewachsen sind. Aber was ihnen an Stärke und Kühnheit fehlt, machen sie mit taktischer Raffinesse und einer beeindruckenden Waffentechnik wieder wett. Dazu kommt ihre besondere Gabe. Nicht alle verfügen darüber, aber weitaus mehr, als einem lieb sein kann. Diese hier, diese ‚Schwestern des Waldes‘, wie sie sich selbst nennen, sind geradezu teuflisch gut, wenn es darum geht, in fremde Köpfe zu schauen. Dhrumt traut ihnen noch allerhand mehr zu als das, aber bisher haben sie noch nichts davon sehen lassen. Er möchte es auch nicht ohne Not darauf ankommen lassen.

Das Stöhnen eines seiner Männer reißt den Hauptmann aus seinen Gedanken. Es ist Ghrumpt, der sich im Fieber hin und her wirft. Sein Armstumpf hat wieder zu bluten begonnen. Dhrumt eilt zu ihm hinüber, kniet neben dem Mann, ergreift dessen verbliebene Hand. Der Krieger ist kein besonders feinfühliger Mensch, aber er spürt eine tiefe Verbundenheit und Verantwortung für seine Männer. Das Schicksal dieses Kerls hier rührt ihn an. Neben seiner Erfahrung und seinem besonderen kriegerischen Talent schätzen ihn die Männer der Feste deshalb besonders. Sie wissen, dass er sie nie sinnlos opfern wird.

Dhrumt spürt seine Hilflosigkeit angesichts des Zustandes seines Kämpfers und beißt die Zähne auf einander. Verfluchte Mission. Hätte der König die beiden gleich auf einen Pfahl gesteckt, wären sie nicht in dieser Lage. Der Hauptmann schaut sich um. Der Raum hat sich geleert. Zurück geblieben sind nur seine Verwundeten und die beiden Hexen, die zur Pflege der Männer abkommandiert scheinen.

„Schwester!“ ruft Dhrumt mit rauer Stimme hinüber. Er kennt die Namen der Weiber nicht und selbst wenn, sie sehen alle gleich aus.
„Schwester, er braucht Hilfe!“ ruft er noch einmal. Endlich scheint eine der Hexen ihn gehört zu haben. Sie kommt herüber. Ihr Gesicht ist ausdruckslos, ihre Augen sind dunkel. Sie lässt sich mit einer raschen und unglaublich geschmeidigen Bewegung auf die Knie nieder. Ohne Umschweife schiebt sie Dhrumt zur Seite. Dieser spürt eine fast unbändige Kraft in dieser beiläufigen Bewegung des schmalen Frauenkörpers.

Er starrt die Naburi fassungslos an. Die lässt sich nicht beirren. Mit raschen Bewegungen löst sie den von Blut getränkten Verband des Mannes. Was zum Vorschein kommt, verschlägt Dhrumt schier den Atem. Der Gestank ist betäubend und der Anblick des schwärzlich verfärbten rohen Fleisches dreht ihm den Magen um.

„Götter“, entfährt es ihm. Er hält sich die Hand vor Mund und Nase.
„Helft mir, ihn in den Behandlungsraum zu bringen. Es eilt, er wird sterben.“
Die Hexe wirft ihm einen schnellen Blick aus ihren abgrundschwarzen Augen zu. Dhrumt fröstelt.

„Whrath, rasch, pack mit an!“ ruft er den kurz zuvor Gescholtenen zu sich. Der ist im selben Moment zur Stelle. Er hat den größten Teil seiner Gesichtsfarbe gegen ein teigiges Grau eingetauscht, aber er packt tapfer die Beine des Verwundeten. Dhrumt hat ihn unter den Achseln erfasst und so folgen sie der Naburi in einen benachbarten Raum. „Legt ihn hier hin, rasch“, fordert sie und weist auf ein hüfthohes Podest, das mit weißem Stoff bezogen ist. Die Männer tun, wie ihnen geheißen.

„Verlasst den Raum, bitte. Dies ist nichts für eure Augen und Nasen, glaubt mir.“
„Was habt Ihr vor mit ihm?“ will Wrath aufbegehren. Die Naburi schaut ihn über die Schulter hinweg an, wortlos. Dhrumt fasst Whrath derb bei der Schulter und schiebt ihn aus dem Raum zurück in den Lazarettraum.

„He, was soll das? Was hat die Hexe vor mit ihm?“ versucht Whrath sich zu widersetzen. Dhrumt schaut ihn finster an, hebt kurz die Schultern.

„Das wissen die Götter. Ich will’s eigentlich nicht wissen. Ich hoffe nur, er überlebt es. In der Feste warten Frau und drei Kinder auf ihn.“

„Wenn wir die je wiedersehen“, entgegnet Whrath mit provozierendem Unterton. Dhrumt überhört den aufsässigen Tonfall.
„Werden wir“, sagt er und schaut nach wie vor auf die Stelle an der Wand, wo sich der Vorhang zum Behandlungsraum befinden muss. 
„Das schwöre ich.“

Kapitel 4

Der Wald war unter der Last des Schnees und der bitteren Kälte geradezu erstarrt. Es war fast unnatürlich still. Da sich die Naburi mit ihren Schneeschuhen fast geräuschlos bewegten, war jedes Geräusch erstorben, nachdem der Eingang zur Heimstatt sich geschlossen hatte. Unter den hohen Kronen der Bäume, die schwer an ihrer Schneelast zu tragen hatten, war es selbst um diese Mittagszeit nicht besonders hell. Der Schnee reflektierte die tiefstehende Sonne und doch schien es, als sei sie bereits im Untergehen begriffen.

Trotzdem blinzelte Shanthor unter dem Glanz, der ihn umgab. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er seit Wochen kein Sonnenlicht gesehen haben musste. So ganz klar war das nicht, weil sie dort unten im Berg einen anderen Tag-Nacht-Rhythmus hatten. Der Junge hätte sich gern etwas die Beine vertreten, aber sie waren nicht zum Spaß an die Oberfläche gekommen. Die Schwestern wollten die Vorräte an Fleisch und Gemüse auffrischen. Shanthor war ganz und gar unklar, woher sie diese Vorräte in dieser Eiswüste zu nehmen gedachten, aber er hatte in den letzten Wochen gelernt, dass die Schwestern zu Erstaunlichem imstande waren. Wann immer er Kharthari ins Gesicht schaute, wurde ihm dies erneut bewusst. Das Mädchen stand wenige Schritte hinter ihm. Sie war ganz und gar in weiße Felle gehüllt, ihr Haar unter einer Kapuze aus weißem Fell verborgen. Weiße Wölkchen standen ihr vor Mund und Nase und ihre Augen leuchteten so intensiv grün, dass es eine Freude war, sie anzuschauen.

Die Wunden warenverheilt, die Nase gerichtet und nichts deutete mehr auf die grausigen Verletzungen hin, die seine Churanti in jener Nacht beim König davon getragen hatte. Sie war fröhlicher geworden und Shanthor sah sie inzwischen des Öfteren lachen. Aber sie war nur noch in Gesellschaft dieser drei Schwestern anzutreffen, die sie in allen möglichen Kunstfertigkeiten der Naburi unterwiesen. Shanthor hatte sie seit ihrer Rettung vor den Waldkatzen nicht eine einzige Minute unter vier Augen sprechen können. Inzwischen begegnete sie ihm mit einer gewissen Scheu, die ihn kränkte. Aber dies war nicht der Moment, sich über diese Entfremdung zu sorgen. Sie waren im Wald. Die Schwestern pflegten zu sagen: “Der Wald ist gut zu den Menschen, aber erbarmungslos zu Träumern.“

Shanthor wusste, was sie damit meinten. Wenngleich sie alle nur Frauen waren, gab es offenbar kein Handwerk, das sie nicht beherrschten. Khalah hatte Mharthoni gebeten, den Jungen in ihre wichtigsten Pflichten in der Gemeinschaft einzuweisen. Seither wusch Shanthor mit der Naburi Wäsche, säuberte er die Waschräume und half in der Küche, sorgte für Brennmaterial und frisches Wasser. Jeden zweiten Tag übte Mharthoni mit ihm waffenloses Kämpfen. Er war immer wieder überrascht, wie gewandt und stark die Frau dabei war. Auch nach drei Wochen Training hatte Shanthor nicht den Eindruck, er hätte im Ernstfall gegen seine Lehrerin eine Chance. Das kränkte den Jungen mitunter und machte ihn wütend. Aber Mharthoni lehrte ihn, dass Wut ein schlechter Ratgeber war, wenn es ums Kämpfen ging. Aber manchmal saßen sie nach dem Training einfach nur zusammen im Großen Raum der Heimstatt und unterhielten sich. Manchmal lachten sie sogar zusammen, was Shanthor besonders gefiel, weil dann das Gesicht der Naburi zu strahlen begann, dass man meinte, Funken stiegen über ihr auf.

„Shan! He, aufwachen!“ Hinter ihm hört er das unterdrückte Zischen von Kharthari. Sie hat Recht, er war nicht bei der Sache. Die drei Frauen waren bereits ein ganzes Stück voraus. Shanthor folgte ihnen hastig. Mharthoni sah sich kurz nach Ihnen um und machte eine knappe Geste mit der Rechten: leise! Sie folgten einem kaum sichtbaren Pfad durch das verschneite Dickicht des Waldes. Die schrägstehende Sonne steckte gelbrote Lichtklingen durch die schmalen Öffnungen im Kronenmeer der Baumriesen. Zuweilen hörte man das Brechen eines Astes, der die Last des Schnees nicht mehr zu tragen vermochte. Shanthor und Kharthari verhielten, wann immer ein solches Geräusch durch den Wald hallte und wechselten unsichere Blicke. Die drei Kundschafterinnen strebten ruhig und mit sorgfältig gewählten Schritten ihrem Ziel zu. Nach einer gefühlten Ewigkeit blieben sie stehen und winkten den beiden, näher zu kommen.

„Wir sind gleich am Ziel. Bleibt bei uns und erschreckt nicht. Euch wird nichts geschehen“, erklärt Mharthoni mit halblauter Stimme. Die Beiden nicken wortlos. Die Wochen bei den Schwestern haben sie gelehrt, dass es auch Zeiten gibt, zu denen man besser schweigt. Eng bei einander und nach allen Seiten sichernd betritt die kleine Gruppe eine kleine, fast kreisförmige Lichtung, die fast völlig in blaupurpurne Schatten getaucht ist. Der Schnee auf der Fläche scheint unberührt und fast hüfthoch zu liegen. Aber im Wald ist nichts, wie es scheint. Plötzlich sind sie umringt von weißgewandeten Gestalten, die mit Speeren und Bögen bewaffnet die Lichtung betreten. Ihre Gesichter sind vermummt und ihre Haltung wirkt bedrohlich. Die Gruppe rührt sich nicht von der Stelle. Einer der Bewaffneten gibt eine Zeichen und dann geht alles sehr schnell: Mharthoni und die beiden anderen Schwestern drängen die beiden Khurkusi nach Westen an den Rand der Lichtung, wo das Unterholz sich teilt und einen schmalen Spalt frei gibt. Im Dämmer erkennen Shanthor und Kharthari einen Pfad festgetretenen Schnees, der in einer dunklen Öffnung endet: Der gut getarnte Eingang zu einer Naburi-Heimstatt. Es geht rasch bergab. Bald begegnen sie den ersten „Lampen“, die die jungen Leute bereits aus der Schwestern-Heimstatt kennen und von denen Shanthor zu gern wüsste, wie sie das Licht erzeugen. Niemand sagt auch nur ein Wort, weder in Khurkusi noch in Naburi. Die Atemwolken vor ihren Gesichtern werden dünner, verschwinden. Dann betritt die Gruppe den Vorraum der Heimstatt. Die Bewaffneten legen ihr Gerätschaft in Wandnischen, schütteln Schnee von den Kapuzen, entblößen ihre Gesichter. Shanthor ist erstaunt und erfreut: Es sind Männer! Männer mit stechend hellgrauen Augen unter buschigen weißen Brauen. Die Nasen klein und stumpf, darunter schneeweiße Bärte. Shanthor wüsste nicht zu sagen, wie alt diese Männer sind.

„Legt eure Kleider ab, es ist warm hier. Wir werden die Nacht hier verbringen.“ Mharthoni sagt das mit dem Anflug eines Lächelns. Shanthor kann den Grund dafür nicht erkennen.

Die Männer, es sind sechs und sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich, stehen im Halbkreis um die Ankömmlinge herum. Sie wechseln ein paar kurze Bemerkungen in der melodischen Sprache der Naburi. Einer der Männer macht eine kleine Geste in Richtung Mharthoni. Seine Augen „lächeln“ nach „Hexenart“ mit einem raschen Aufblitzen des Regenbogens. Mharthoni antwortet auf gleiche Weise. Shanthor ahnt: die beiden sind befreundet! Er fühlt einen seltsamen Stich in der Brust.

Die Männer begrüßen die Schwestern und die beiden jungen Leute nach Naburi-Sitte mit dem Berühren der Handflächen. Shanthor schlägt die Augen nieder, als Mharthonis Freund ihn begrüßt.

„Du glaubst, wir sind ein Paar?“ fragt der Mann und wieder huscht das Farbmuster durch sein Gesicht.
„Du irrst dich, Shangor. Sie ist meine Schwester. Wir haben die gleiche Mutter.“
Er legt dem verdutzten Jungen eine Hand auf die Schulter und geleitet ihn in den Großen Raum der Heimstatt. Sie werden von rund zwanzig Männern verschiedenen Alters und Aussehens empfangen. Im Unterschied zu der sehr ruhigen und fast andächtigen Atmosphäre in der Heimstatt der Schwestern geht es hier sehr viel lauter und fröhlicher zu. Die Männer umringen die drei Schwestern und bestürmten sie mit Fragen in Naburi. Der Raum ist erfüllt vom melodischen Singsang.

Shanthors Begleiter weist auf einen Tisch etwas abseits.
„Setzen wir uns, Shangor. Ich bin neugierig, wie es da ist, wo du herkommst.“
Shanthor sieht sich nach Kharthari um, die am Eingang stehen geblieben ist und deren grüne Augen strahlen wie Smaragde aus dem sagenumwobenen Meer im Süden.
„Kommst Du mit?“ erkundigt sich Shanthor und streckt die Hand nach ihr aus.
„Geht nur, ich komme gleich“, gibt sie zur Antwort.

Shanthor sieht, dass sie etwas ganz anderes im Sinn hat. Er zuckt die Achseln und folgt dem Naburi zu dem Tisch und schiebt sich auf die Bank an der Wand.

„Woher kommst Du, Shangor? Du siehst so – anders aus, als die Menschen, die ich kenne“, überfällt ihn der Naburi, kaum dass er Platz genommen hat.
„Shanthor. Ich heiße Shanthor, Sohn des Mhell. Ich komme aus der Feste.“
„Oh verzeih meine Unhöflichkeit, Shanthor. Ich bin Nurmi, Sohn der Khalah. Schön, dich bei uns zu haben. Ich möchte viel von dir lernen.“ Nurmis Gesicht erglänzt regenbogenfarben.
„Du bist Khalahs Sohn?“ entfährt es Shanthor überrascht. Er hatte immer die Vorstellung gehabt, diese Frau wäre so ganz und gar unnahbar, ganz wie eine Priesterin. Aber sie hat einen Sohn! Dann muss der Vater ein angesehener Mann unter den Naburi sein.

„Nein, Shanthor, das ist bei uns nicht so. Wir kennen unsere Mütter aber nicht unsere Väter. Naburi leben nicht in – wie sagt ihr dort im Norden dazu – ‚Familien'. Frauen und Männer leben getrennt und treffen nur zu bestimmten Gelegenheiten zusammen. Die Frauen empfangen die Kinder und sind dann bis zu deren Erwachsensein für sie da. Die Männer sorgen für die Frauen und beschützen sie, so wie wir hier.“

Er macht eine Armbewegung ins Rund.
„Dann seid ihr Krieger?“ will Shanthor wissen. Seine Augen glänzen.
„Krieger? Wir mögen keinen Krieg, Shanthor. Wir bewahren den Frieden für den Wald und für alle, die drin leben.“

Nurmi sagt das ganz ohne Stolz oder Pathos. Shanthor ist verwirrt. In seiner Welt gilt der Krieger als Wunschtraum jedes werdenden Mannes. Er selbst ist in dieser Vorstellung groß geworden, einst ein großer Krieger zu werden.

„Wie könnt ihr das, wenn ihr keine Krieger seid?“
„Wir kämpfen, wenn es nicht anders geht.“, entgegnet der Naburi und ein Schatten fliegt über sein Gesicht.
Gleich darauf aber lächelt er wieder und diesmal sogar in der Art von Khurkusi-Menschen. Er zeigt zwei Reihen makelloser Zähne.

„Wie ist das Leben in der Feste?“ will er wissen. Shanthor bläst die Backen auf. Was soll er sagen, wie beginnen? „Ich bin Stalljunge. Ich versorge die Vlogh und Mhaki des Hofes. Ich kann sogar ein Küstenvlogh reiten.“
„Vlogh? Sind das diese großen schweren Tiere mit den gedrehten Hörnern? Ich habe davon gehört. Sie sollen gefährlich sein.“
„Manche sind etwas störrisch und wild, aber eigentlich sind sie ganz umgänglich, wenn man sie an sich gewöhnt hat…“

Der Nachmittag vergeht für die beiden wie im Flug.

 

„Sie ist schwanger. Sie weiß es noch nicht, aber schon bald wird sie es merken. Was willst du dann tun?“
Dhrumt geht in dem kleinen Raum auf und ab.
Khalah folgt ihm mit ihren grünen Augen und unbewegten Gesichts. Ihre langen schlanken Hände ruhen in ihrem Schoß. Das lange weiße Haar fällt ihr in sanften Wellen über die Schultern bis hinab zur Hüfte. Es scheint mit dem Weiß ihres Gewandes zu verschmelzen.

„Ihr helfen, das Kind zu bekommen, was sonst?“
„Verstehst du nicht, es wird ein Königsbastard sein. Wenn es ein Knabe wird, hat es Anspruch auf den Thron der Feste. Bist du dir im Klaren darüber, was das bedeutet?“
„Zunächst wird es einmal ein kleines hilfloses Menschenkind sein, geboren von einem ebenso hilflosen Menschenkind. Sie werden unsere Hilfe brauchen. Ich sage es dir immer wieder, großer Mann, mich kümmert dieser König der Feste nicht. Solange er dort oben bleibt, ist mir sein Schicksal und das seines Herrscherhauses gleichgültig. Dir kann es das auch sein, mein Lieber, du stammst nicht von dort und niemand kann dich zwingen, dorthin zurück zu kehren.“

Khalah sieht seine gerunzelte Stirn und spürt die Ungeduld in seinen Gedanken. Trotz all der Wochen hier in der Heimstatt kommt sein Herz nicht zur Ruhe. Seine Gedanken kreisen unablässig um Treue, Loyalität und Pflichtgefühl. Die Naburi bewundert insgeheim diese Leidenschaft und Hartnäckigkeit, mit der sich der Mann seiner selbst auferlegten Bürde widmet, wie er unablässig aufbegehrt gegen das Eingesperrt sein in diesem Luxuskerker, wie er es empfindet.

Aber Khalah hat andere Pläne mit dem Krieger aus dem Osten. Verwegene Pläne, zugegeben, Pläne, die gegen Regeln ihrer Schwesternschaft verstoßen und weitreichende Folgen für die Naburi des Waldes haben können. Trotzdem ist sie fest entschlossen und guten Mutes, dass ihr Vorhaben gelingen wird. Sie kann es spüren. Sie kann seine Blicke spüren, sie hört die Nuancen in seiner Stimme, sie registriert jede kleine Veränderung in seiner Wortwahl. Am Ende, so weiß Khalah, wird er ihr zufallen.

„Was geschieht, wenn der König dieser Feste stirbt und es keinen Thronerben gibt?“
„Dann wird es Krieg geben. Die Fürsten des Ostens und Verdonce im Westen werden versuchen, das Reich in ihre Gewalt zu bringen. Es liegt so zentral, es kontrolliert die wichtigsten Handelsrouten, es ist die Drehscheibe, auf der die Welt sich bewegt. Am Ende werden sie es zerfetzen und zu Grunde richten. Der Rat wird es nicht verhindern können. Ich kenne diese Aasfresser.“

Den letzten Satz äußert der Riese mit aufrichtigem Bedauern. Er steht vor Khalah in seinem weißen Gewand und seine Hände suchen noch immer instinktiv den Gurt um seine Hüften, die Daumen dort einzuhaken. Er dauert die Naburi ein wenig.

„Wird der Krieg den Weg in unseren Wald finden?“ will sie wissen. Das Thema ist heikel. Es berührt empfindlich Bereiche ihrer Gedanken, die besser noch unausgesprochen bleiben.
„Niemand kann das vorhersagen, Hexe, nicht einmal eine weise Frau wie du. Ich wäre an deiner Stelle darauf vorbereitet.“ Er sagt das Wort ‚Hexe‘ mit jenem Unterton, der Khalahs Hoffnung Nahrung gibt.
„Der Wald wird uns schützen“, sagt sie.
„Wer aber schützt den Wald? Sie werden kommen, auf der Suche nach Holz für ihre Befestigungen, für ihre Karren und Belagerungstürme. Sie werden ihn niederbrennen für ihre Felder. Heere brauchen viel Nahrung. Denke an meine Worte.“
„Die Wege zu uns sind nicht allzu schwer zu verteidigen, das weißt du doch, großer Mann.“
„Bis jetzt, weise Frau, bis jetzt. Bis jetzt herrscht Furcht im Reich vor der Macht der Hexen hier unten im Süden. Wenn die Not größer wird, könnte es sein, dass sie ihre Furcht überwinden. Was ist mit euren Stämmen im Osten? Ich habe gegen sie Krieg geführt und ich habe ihre Schwächen gesehen. Sie könnten sich mit den Fürsten der Steppen verbünden und euch in die Flanke fallen.“

Der Satz verdunkelt das Antlitz der Naburi für mehr als einen Augenaufschlag. Sie erhebt sich geschmeidig, steht dem Mann auf einen halben Schritt gegenüber, sieht zu ihm auf.

„Spielst du mit mir, Hexe?“ fragt er sie und ein leises Lächeln erhellt kurz sein kühnes und finsteres Gesicht.
„Ich kenne die Gepflogenheiten eurer Weiber nicht, großer Mann. Wir treiben keine Scherze mit unseren Männern.“ „Ich bezweifle, dass sie den Aufwand rechtfertigen würden, wo sie doch ohne die Weiber ihres Stammes leben wollen“, entgegnet Dhrumt und sein Lächeln vertieft sich.

Khalahs Gesicht sieht für einen Moment irritiert aus. Dann verschließt es sich zur alltäglichen Maske der Unverbindlichkeit. Dhrumt spürt, wie der besondere Moment verstreicht.
„Die Schwestern sind mit den Vorräten zurück“, erklärt Khalah und verlässt grußlos den Raum, der dem Hauptmann als Quartier dient.
‚Verdammt‘, durchfährt der Fluch seine Gedanken. Er unterdrückt ihn schnell. Es ist nicht klar, wie weit die Fähigkeiten der Hexe wirklich reichen. Dhrumt verbirgt seine Gedanken und Pläne tief in seinem Innern. Er will und muss die Frau für sich gewinnen, um seine Absichten verwirklichen zu können. Er spürt in ihrer Gegenwart mitunter diese Schwingungen, als wäre ihm die Naburi auf eine besondere Weise zugetan. Er hütet sich, den Gedanken Gestalt annehmen zu lassen, dass sie eben doch ein Weib sei und ihm zu guter Letzt nicht würde widerstehen können. Er weiß, dass diese Art zu denken und zu urteilen schnell fatale Folgen haben könnte.

Das Schwierigste ist, dass er sich mit Niemandem hier besprechen kann. Whrath ist ein Hitzkopf ohne Verstand, Ghrumpt seit seiner Rettung durch die Schwester Vharthoni dieser hoffnungslos verfallen und für keinen vernünftigen Gedanken mehr zu haben. Die anderen Männer sind brave Soldaten aber zu keinem halbwegs gescheiten Gespräch über die Raffinesse dieser List in der Lage.

Er selbst hasst Schliche und Intrigen aus tiefer Seele. Seine Leidenschaft gehört dem offenen und ehrlichen Kampf mit Schwert, Schild und Lanze. Wohl aber ist er klug genug, zu verstehen, dass es hier nicht ohne die verhasste Verschlagenheit eines Verdonce-Unterhändlers geht. ‚Die Göre ist schwanger‘, sinniert Dhrumt und verlässt ebenfalls das Quartier in Richtung des Großen Raumes.
‚Womöglich ergeben sich daraus ein paar neue Möglichkeiten.‘

 

Ein Vogel steigt über dem Wald auf. Seine Schwingen sind mächtig und dazu gemacht, ihn in große Höhen zu tragen. Seit ein paar Tagen weht der Wind mit weichen Böen aus Süden. Der Winter neigt sich dem Ende. Der Vogel findet die warmen Aufwinde am Abbruch der Hochebene. In weiten Spiralen steigt er empor, überwindet die Bruchkante und richtet seinen Flug nordwärts. Die schräg stehende Sonne lässt seine Fittiche golden und blutig aufleuchten. Und dann ist der Vogel plötzlich verschwunden. Die Naburi nennen ihn Harbhar, „Geisterschwinge“. Er ist selten, scheu und geschickt darin, sich den Blicken der Menschen zu entziehen. Niemandem ist es bislang gelungen, einen zu fangen und abzurichten. Niemand, von dem man weiß.

 

Rhimthak liegt in seinem Schlafgemach und träumt. Es ist ein angenehmer Traum und das bärtige, feiste Gesicht des Haushofmeisters wird von einem beseelten Grinsen erhellt. Ohne Zweifel einer jener Träume, die ihre klebrigen Spuren in der eisgrauen Schambehaarung des Mannes hinterlassen und verräterische Flecken in den Tüchern. Plötzlich stiehlt sich ein falscher Atemzug in die bebende Altmännerbrust des Träumers. Das Grinsen verlischt und macht einem Ausdruck zwischen Überraschung und Furcht Platz. Der Schlaf wird unruhiger, die Lider unter den buschigen Brauen flackern. Die Hände zucken und flattern wie junge Tauben zu ungefähren Abwehrbewegungen empor. Rhimthak flüstert hastig unverständliche Worte, unterbrochen von einem unterdrückten Stöhnen. Offenbar fürchtet er im Schlaf zu ersticken, denn er versucht, etwas von seinem Hals zu zerren, wirft sich hin und her.

Schreit.
Erwacht, sitzend in seinem Bett, bedeckt mit dem öligen Schweiß der Angst und heftig pumpendem Atem.
Er schaut voller kaum unterdrückter Panik hinüber zum schmalen hohen Fenster seines Schlafgemaches. Noch ist es draußen finster und schwere Wolken fliehen vor den heranbrausenden Fönwinden des Südens.

Es ist finster und doch glaubt Rhimthak einen Schatten auszumachen vor den Butzenscheiben. Ein Schatten, der ihn zu Tode ängstigt.
Ein trübes Licht erscheint auf der Türschwelle des Raumes. Rhimthaks Kammerdiener betritt das Schlafgemach, bleibt zwei Schritte weit im Raum stehen, hebt die flackernde Kerze etwas in die Höhe. Das Licht reißt kurz ein besorgtes Gesicht aus dem Dunkel.
„Was ist Euch Herr? Ich habe einen Schrei gehört“, erklärt die hohe Greisenstimme des alten Dieners dessen Erscheinen.
„Es ist nichts, Thorakh. Ein Alptraum. Das Essen zur Nacht, der Wein. Danke, alter Freund, geh‘ zu Bett.“
„Soll ich Euch nicht etwas bringen, Herr?“ beharrt Thorakh mit unterwürfigem, fast flehendem Tonfall.
„Nein. Geh jetzt. Ach, warte: zünde die Lampe auf dem Fenstersims an, bevor du gehst.“
Rhimthak lässt sich wieder in seine Kissen fallen. Der Diener tut, wie ihm geheißen, bleibt auf der Türschwelle stehen. Rhimthak ahnt mehr als er es sieht, dass der Diener mit seinem faltigen Gesicht und den hängenden, mit Altersflecken übersäten Tränensäcken erwartungsvoll zu ihm herschaut.
„Um der Götter Willen, Alter, bring mir etwas Wasser, meine Kehle ist wie ausgedörrt.“
Mit für sein Alter erstaunlicher Behändigkeit folgt der Diener der Bitte seines Herrn. Rhimthak nimmt ihm den Becher mit dem Wasser aus den leicht zitternden Händen, deren Finger von Gicht verkrümmt und knotig sind.
'Das Alter ist etwas Hässliches und Würdeloses', denkt der Haushofmeister und trinkt von dem kühlen Nass, dessen Geschmack ihn an einen Bach nach der Schneeschmelze erinnert.
‚Wann habe ich zuletzt mein Wasser aus einem Bach geschöpft? ‘ Überlegt er und reicht den Becher seinem Diener zurück.

„Danke, Thorakh, treuer Freund. Troll dich in dein Bett. Ich will nicht, dass du dich erkältest und dir die Schnitterin aufs Lager nimmst. Gute Nacht.“
„Gute Nacht, Herr.“ Der Schlaf indes flieht den Haushofmeister der Feste.
Vor den beschlagenen Butzen des Fensters graut farblos ein Spätwintermorgen herauf, als er beschließt, Drosten zu sich zu holen. Er spürt, dass Gefahr im Verzuge ist und er wird den Kammerdiener des Königs daran erinnern müssen, welchen Plan sie in jener Nacht im Herbst beschlossen hatten. Der Traum der Nacht ist verblasst, aber er hat eine deutliche Spur der Angst und Besorgnis in seiner Seele hinterlassen.

 

Drosten hat ein ungutes Gefühl. Trotzdem ist er hier her gekommen. Das könnte eine Dummheit gewesen sein, die einem Mann seiner Erfahrung nicht unterlaufen sollte. Allein die Umstände sind heikel, um nicht zu sagen höchst unsicher.
Rhimthak muss gewichtige Gründe haben, ihn unter diesen abenteuerlich anmutenden Umständen treffen zu wollen. Stimmen werden laut und Drosten zieht sich weiter in den Schatten der Gasse zurück, die ihm der Bote des Haushofmeisters genannt hat. Eine üble Gegend, in der sich Huren, Diebe und anderes Gesindel herum treiben. Hierher reichte die Macht der Feste nicht; wer hier verschollen ging, war verloren und kein Scherge des Königs würde hier unbequeme Fragen stellen, wenn er sein Leben liebte.

Hat Rhimthak gar vor, ihn hier zu beseitigen? Weiß der fette selbstgerechte Gockel etwas vom Verbleib des Wachhauptmanns, was ihm selbst entgangen ist? Drosten wappnet sich. Er hat keine Angst, er ist ein exzellenter Schwertkämpfer und trotz seines Alters gut in Form. Gedungene Mörder würden sich auf keine langen Händel mit einem wie ihm einlassen.
„Du bist nur schwer zu finden, Kammerdiener“, sagt im undurchdringlichen Dunkel vor ihm eine leise Stimme, an deren Krächzen Drosten sofort den Haushofmeister erkennt. Er folgt dem Klang der Stimme.

„Hier entlang. Nur ein paar Schritte.“ Weist der Dicke ihm den Weg. Er scheint diesen Auftritt hörbar zu genießen. Eine Hand zerrt Drosten in einen Hauseingang. Es wird kein bisschen heller, dafür stinkt es übel nach Fäkalien und verdorbenem Fleisch. Endlich ein schwacher Lichtschein, nur für wenige Momente. Drosten betritt einen Raum mit rauchgeschwärzter, niedriger Decke, die aus grob behauenen Balken besteht und von tiefen Rissen durchzogen ist. Eine Öllampe blakt erbärmlich an einem Wandhaken und reißt nur wenige Schritte Raum aus der Dunkelheit.

Fast am Rand des Lichtkreises steht ein schwerer Tisch auf dessen Bank eine Gestalt hockt, die ihr Gesicht verborgen hält. Im Hintergrund nimmt Drosten zwei weitere Schatten wahr.
Seine Linke zuckt zum Schwertgriff.
„Halt, halt, Kammerdiener. Hier sind wir in Sicherheit. Dies sind meine Leute.“ Rhimthak entzündet eine Kerze auf einem klobigen Kerzenständer aus einem angelaufenen Metall. Er bedeutet mit einer raschen Handbewegung dem Mann am Tisch, sich zu entfernen.
„Nimm Platz“, fordert er Drosten auf. Drosten folgt der Einladung.
„Was soll dieser Mummenschanz, Herr? Was gibt es so Schreckliches und Geheimes, dass wir es nicht in meiner Kammer oder Euren Räumen besprechen könnten, statt uns hier“, Drosten macht eine Handbewegung, die den Raum und die zwielichtigen Gestalten im Halbdunkel einschließt, “der Gefahr von Verrat und Meuchelmord auszusetzen?“

Drosten höfliche Anrede täuscht nicht darüber hinweg, dass er den Haushofmeister weder mag noch Angst vor ihm hat. Sie sind Kumpane bei einem Komplott gegen ihren Herrscher und für das Wohl des Landes, das macht sie gewissermaßen gleich. Der König würde nicht zaudern, sie beide auf benachbarten Pfählen reiten zu lassen, wenn er ihnen auf die Schliche käme.

„Habt Ihr Nachricht von Dhrumt?“, drängt Drosten den fetten Mann in der albernen Aufmachung eines Assassinen der Ostländer, als dieser sich in Schweigen hüllt. Drosten verspürt den Drang, ihm mit seinem Handschuh das spöttische Funkeln aus den Augen zu wischen.
„Nein“, antwortet Rhimthak halblaut und mit einem Mal ist jedwede Fröhlichkeit und Überlegenheit aus seinem Gesicht verschwunden. Er beugt sich vor und spricht halblaut weiter.

„Ich hatte gestern einen Traum. Einen schlimmen Traum. Ich hatte Besuch von der Hexe.“ Er deutet sich gegen die Stirn.
„Sie war hier drin. Ich habe sie gespürt, Drosten. Sie hat Dhrumts Botschaft erhalten, aber sie wird unser“, er senkt seine Stimme zu einem rauen Flüstern, “Problem nicht lösen.“

Drosten schaut dem Haushofmeister ins Gesicht. Er sucht nach Verrat, Spott, Eitelkeit, aber er findet nur Verwirrung und schlecht verhohlene Angst.
„Wollt Ihr mir wirklich sagen, dass Ihr mich wegen eines Traums hierher geholt habt? Herr, seid Ihr noch bei Sinnen?“ Drosten macht Anstalten, sich zu erheben. Zwei Männer treten von hinten rasch auf ihn zu. Dolche blitzen im Schein der Kerze. Rhimthak hebt rasch einen Arm. Die beiden verharren. Drosten lässt sich auf die Bank zurück sinken.

„Ihr glaubt das, Herr? Ihr glaubt, dieser Traum war eine Botschaft der Hexe? Habt Ihr nach ihr suchen lassen? Sie hätte in der Nähe gewesen sein müssen um dies zu wirken! Sie mag eine Hexe sein, aber auch sie vermag nicht, eine solche Entfernung zu überwinden mit ihren Flüchen und Beschwörungen.“
„Sie war weder in der Feste noch in den angrenzenden Vierteln. Ich hatte eine fette Belohnung für sie ausgesetzt. Du kennst die Gier unserer Wachen.“
„Und ihre Armut, Herr“, erwidert Drosten dumpf. Der Haushofmeister übergeht die Bemerkung geflissentlich.

„Was tun wir,“ fragt er statt dessen nach einer kurzen Pause. „Der Winter ist fast vorbei. In zwei oder drei Wochen, vielleicht schon zum Blauen Mond[7] wird der Pfad zum Grenzwald wieder offen sein. Dhrumt wird zurück kehren und er wird Kunde von der Hexe bringen.“

Drosten sieht Rhimthak bei diesen Worten fest in die Augen.
„Wir sollten solange warten, Herr.“
„Was, wenn du dich irrst und unser Hauptmann vermodert dort unten im Süden zwischen den Himmelsbäumen[8]? Was dann, Drosten? Wie viel Zeit bleibt uns noch, bis er soweit versunken ist, dass jede Hilfe zu spät kommt?“
„Ich weiß es nicht“, bekennt Drosten zähneknirschend.
„Wir müssen uns mit dem Gedanken auseinander setzen, den Rat der Fünfzehn[9] anzurufen.“

Drostens Gesicht erstarrt zu einer Maske und seine Handbewegung erstirbt jäh.
„Das bedeutet Krieg und Untergang der Feste. Wir würden beide als Hochverräter enden!“
„Nicht, wenn wir schnell handeln.“
„Wir müssen mit Bedacht handeln. Weder der Kanzler, noch Khalmendher würde einem solchen Schritt zustimmen. Sie haben des Königs Vertrauen und sie haben die Kontrolle über die Wachen und die Soldaten der Garde.“
Drosten wiegt den Kopf voller Zweifel.

„Aber beiden müsste doch längst klar sein, wohin es mit ihm führt. Die Schwäche seiner Herrschaft weckt allerlei Begehrlichkeiten bei den Baronen der Ebene.“
„Ich weiß.“ Drosten nickt. Er sieht auf, strafft sich, schüttelt gleichsam die Zweifel aus den Kleidern.
„Gibt es in diesem Rattenloch hier eigentlich keine Gastfreundschaft?“ ruft er auf Geratewohl in das Zwielicht. Rhimthak hebt beiläufig eine Hand und wenige später stehen Krüge und Becher auf dem Tisch. Das Bier ist warm aber es lässt sich trinken.
„Ihr müsst mit dem Kanzler sprechen, Herr. Auf Euch wird er vielleicht hören.“ Drosten legt dem Haushofmeister eine Hand auf den Arm, zieht sie aber schnell wieder fort. Rhimthak stößt ein humorloses Lachen aus.

„Rhosakher? Das ist ein Speichellecker. Der sucht doch insgeheim eine Möglichkeit, seine ‚Verwandschaft‘ mit ihm zu nutzen, seinen eigenen dürren Arsch auf den Thron zu hieven. Es fehlt nur Weniges, dass er ihn an Kindes statt annimmt. Verdonce wird das nicht tatenlos hinnehmen.“

„Haben wir denn eine Gewähr, dass die Hexe es wenden kann?“ fragt der Dicke nach einer Pause dumpfen Brütens.

„Ich bin mir sicher. Sie hat es schon einmal getan“, sagt Drosten und setzt seinen Becher heftiger ab, als nötig. Rhimthak sieht den Kammerdiener erstaunt an. Er winkt ungeduldig, dass die Krüge gefüllt werden.
„Es liegt in seiner Linie wie ein Fluch, ein Makel. Es trifft nur die Männer“, erklärt Drosten und seine Stimme sinkt zum Flüstern herab. Rhimthak neigt sich dicht zu ihm herüber.

„Thorami war nicht der Thronerbe, nicht sogleich. Er hatte einen älteren Bruder, Thorthaken, ein Berg von einem Mann, ein mächtiger Krieger und ein weiser zudem.“
Drosten trinkt einen Schluck aus seinem frisch gefüllten Becher, streicht sich über die Augen.

„Er kam siegreich zurück aus den Schlachten um die Minen bei Rhisumbhane. Alle feierten ihn als Helden und zukünftigen Dhorn, der die Reiche in Frieden und Größe vereinen würde. Aber er war nicht mehr der Alte. Er trank maßlos und wurde immer unberechenbarer. Eines Nachts erschlug er sein Weib im Rausch. Sie trug das vierte Kind unter ihrem Herzen.“
Drostens Stimme wird rau und er schweigt für ein paar Augenblicke.
„Dem König blieb keine Wahl, er verbannte Thorthaken von der Feste und schickte ihn in die Abtei von Khrathangathe. Die Priester des Ordens nahmen ihn nur widerwillig auf, weil sie seinen Jähzorn fürchteten. Die Ereignisse sollten ihnen Recht geben. Sie bezahlten ihre Gastfreundschaft mit dem Leben von einigen ihrer Brüder. Bis der Abt sich nicht anders zu helfen wusste, und einen Boten nach Süden entsandte.“

„Zur Hexe. Das war Frevel, wenn mich nicht alles täuscht“, wirft Rhimthak ein.
„Ihr mögt es so nennen, Herr, aber wenn, dann war es ein weiser Frevel. Die Hexe schickte den Boten zurück in die Abtei mit der Kunde, man möge ihr Thorthaken bringen, da sie sich nicht aus dem Süden fort wagen dürfe. Sie hatte Recht, nach den Übergriffen der Naburi auf die Dörfer der Südbaronie von Shunth hatte der König alle Naburi für vogelfrei erklärt und Kopfgeldjäger durchstreiften das Land. Alle brannten darauf, der Hexe habhaft zu werden, weil man sie für die Ursache allen Übels hielt. Man hätte ihr Gewicht in Gold aufgewogen, wäre sie dingfest gemacht worden.“

„Kammerdiener, du bist kein Bänkelsänger. Fasse dich kurz. Was geschah mit dem Verrückten?“ Drosten sieht Rhimthak mit finsterer Miene an. Die Fingerknöchel seiner Rechten sind weiß, wie sie sich um den Becher krampfen. „Die Brüder von Khrathangathe brachten Thorthaken in Ketten auf geheimen Pfaden zur Südkante. In der Nacht vor ihrem Abstieg wurden sie in ihrem Lager überfallen. In ihrer Not befreiten die heiligen Männer ihren Gefangenen. Er schlug die Strauchdiebe in die Flucht, wurde dabei jedoch schwer getroffen. Die Priester wähnten ihn der Schnitterin Gemahl, überließen ihn sich selbst und zogen heimwärts nach Norden.“

„Feiges Pack“, murmelte Rhimthak, dessen Stimme schon etwas verwaschen klang.
„Die Hexe fand ihn, mehr tot als lebendig. Sie pflegte und heilte ihn, niemand weiß wo und wie, Thorthaken ausgenommen.“
„Du meinst, er lebt noch?“ fuhr Rhimthak erneut dazwischen.
„Er kehrte nach mehr als einem Jahr zurück zu den Priestern. Mitten in der Nacht stand er vor dem Tor und bat bescheiden um Unterkunft und Verpflegung. Die Priester erkannten ihn und fürchteten, er würde sich für ihren Verrat rächen wollen. Sie verwehrten ihm den Zutritt zur Abtei.“ 
„Hat er sich gerächt? Hat er die Abtei geschliffen?“
„Niemand hat ihn je wieder gesehen.
„Das ist nicht dein Ernst, Kammerdiener!“ Rhimthak ist außer sich vor Enttäuschung.
„Er kam wenige Nächte später zu mir in die Feste. Niemand hat ihn kommen oder gehen sehen.“
„Zu Dir?“ 
„Ich war sein Leibdiener zu dieser Zeit, Herr.“
„Verdammt, Mann, wie alt bist du eigentlich?“ 
„Ich weiß es nicht Herr, nicht genau“, sagt Drosten und trinkt sein Bier aus.
„Was ist nun mit diesem Thorthaken geworden? Warum hat er nicht den Thron gefordert, da er doch wieder gesund schien. Oder war er’s am Ende nicht?“
„Und ob er’s war, so gesund an Leib und Seele, wie man‘s nur sein kann. Aber er war verändert. Er schien von innen, nun…“, Drosten suchte nach Worten,
„...zu leuchten. Er lächelte, segnete mich ganz wie einer der Priester und erklärte mir, es läge ihm nichts an einem Leben als Herrscher hier auf der Feste, wo er eingesperrt sein würde. Er wollte mir nicht sagen, wohin er gehen wollte. Er verschwand noch in derselben Nacht.“

„Warum weiß niemand um diese Geschichte?“
„Weil sie einem ruhmreichen Herrschergeschlecht nicht gut zu Gesicht steht. Ein irrer Gattenmörder, der von Priestern verraten und von einer Hexe gerettet und geheilt wurde, was denkt Ihr Herr, würde die Welt über so ein Geschlecht denken und reden?“
„Hat er Dir selbst gesagt, dass sie ihn geheilt hat? Ich meine, auch…“ Rhimthak macht mit dem Zeigefinger eine kreisende Bewegung neben seiner Schläfe.
„Das hat er, Herr und da war er klarer bei Verstand, als wir beide hier zusammen. Wir warten auf Dhrumt. Wir warten auf Kunde von der Hexe.“

Drosten erhebt sich. Keine der Gestalten macht Anstalten, ihn aufzuhalten.
„Ich gebe Dir nur knappe Frist, Kammerdiener“, sagt Rhimthak und macht eine reichlich unpräzise Bewegung mit seiner Hand. Sein Blick ist inzwischen etwas verschwommen und ein Speichelfaden läuft ihm von der Unterlippe. „Gebt Acht, Herr, dass Ihr unbeschadet nach Hause findet“, sagt Drosten und verlässt den Raum.

Ohne aufgehalten zu werden gelangt er durch den stinkenden Hauseingang ins Freie. Die frische Luft tut ihm gut und befreit ihn von dem dünnen Schleier vor seinen Gedanken. Der Kammerdiener des Königs hat viel zu bedenken auf dem Heimweg.

Kapitel 5

Das Mädchen ist bis ins Herz getroffen, Khalah sieht es und liest es als stummen Schrei in den verworrenen Gedanken. Die körperlichen Wunden, die dieser wahnsinnige König ihr geschlagen hat, mögen verheilt sein, aber ihre Seele ist noch immer wund und nun dies.

Kharthari trägt schwer an dieser Bürde und sie ist gezeichnet. Die grünen Augen leuchten nicht mehr, das schmale Gesicht wirkt noch schmaler, fast durchscheinend. Ihre Glieder wirken zerbrechlich, weil sie seit Tagen kaum etwas im Magen behält. Selbst die Schwestern wissen sich keinen Rat, was gegen diese Übelkeit zu tun ist. Khalah fürchtet, das Mädchen verspürt nur Widerwillen bei dem Gedanken an das Kind, das nun in ihr wachsen wird.

Dieses Zeugnis ihrer Qual und ihrer Schande wird von nun an immer für alle Welt sichtbar sein: „Sieh‘, sie hat bei einem Mann gelegen, sie ist ein leichtfertiges Ding…“
Khalah liest es in ihren Gedanken und erschrickt, wie herzlos die Menschen sind, von denen Kharthari das denkt. „Niemand wird Dich verurteilen. Hier bist Du bei Deinen Schwestern. Wir stehen Dir bei.“
Khalah spricht leise und eindringlich mit dem Mädchen, aber sie spürt, dass sie nicht durchdringt zu ihrem Herzen.

Shanthor betritt den Raum und bleibt angesichts der beiden Frauen am Vorhang stehen. Sein Gesicht spiegelt Besorgnis und Verlegenheit zugleich. Seit er weiß, wie es um Kharthari steht, verspürt er eine seltsame Scheu ihr gegenüber. Sie sind seit Kindesbeinen einander versprochen, wie es der Brauch wollte, aber Shanthor hatte nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, was dies eigentlich bedeutete. Irgendwann einmal würden Kharthari und er ein Paar sein, würden bei einander liegen. Shanthor schießt die Schamesröte ins Gesicht, wenn er dies denkt und dann bricht Zorn in ihm auf, weil dieser Teufel Harmuth seiner Churanti diese Schmach angetan hat.

Kharthari sieht auf und ihr Gesicht erstarrt. Die Augen füllen sich mit Tränen und sie wendet sich ab. Khalah legt ihr einen Arm um die Schulter und zieht sie sanft an sich. Ihr langes, feines, weißes Haar, das sie heute offen trägt, hüllt das Gesicht des Mädchens gnädig ein.

Shanthor versteht und zieht sich stumm zurück. Bedrückt und ziellos durchstreift er die Räume der Heimstatt und versucht, mit seinen Gefühlen und dem neuerlichen Unglück klar zu kommen. So findet ihn Mharthoni. Sie möchte ihn, einer Eingebung folgend, in den Arm nehmen, aber etwas in seinen Gedanken lässt sie zaudern. Sie legt ihm einen Arm um die Schulter. So sitzen beide eine Weile stumm auf einer Bank im Großen Raum. Mharthoni spürt, wie sich der Junge langsam entspannt.

„Sie sieht so…“ Shanthor sucht nach dem richtigen Wort. „… verletzt aus und traurig“, bricht es dann aus ihm heraus. Seine Stimme zittert und klingt sehr jung in diesem Augenblick. Mharthoni spürt, dass er den Tränen nahe ist und sie spürt auch, dass er sich dessen schämt. Sie wird diese Menschen wohl nie verstehen können. Diese seltsamen Ehrbegriffe, die sie einschnüren und ihnen ständig den Weg zu ihren wahren Gefühlen verstellen.

„Du liebst sie, nicht wahr“, sagt die Naburi und es klingt nicht wie eine Frage.
„Sie ist mir versprochen, seit ich denken kann. Ich sorge mich um sie, ja“, erklärt er und vermeidet es, Mharthoni anzusehen. ‚Er weiß noch gar nichts von Liebe‘, geht es ihr durch den Kopf. ‚Armer Junge. Sie pflanzen ihm als Knaben schon eine Verantwortung in den Kopf und lassen ihm keine Möglichkeit, selbst heraus zu finden, was und wen er will. Wie dumm sind die Menschen und einfältig.‘

„Urteile nicht so von oben herab, Schwester. Ihnen sind unsere Lebensweisen nicht weniger fremd als uns die ihren. Wir haben kein Recht, sie zu verurteilen.“

Khalah ist unbemerkt hinzu getreten und hat den Gedanken der Schwester erspürt. Das ist nicht üblich unter den Schwestern, sie achten für gewöhnlich die Privatheit der Gedanken der anderen. Mharthoni fährt überrascht herum und sieht zu ihrer Schwester auf. Verwirrung und Zorn huschen wie ein Regenschauer über ihr Gesicht. Dann senkt sie den Blick.

„Du hast Recht, Schwester“, sagt sie halblaut. Khalah setzt sich neben die Beiden. Shanthor rückt instinktiv etwas ab um die Naburi nicht zu berühren. Es ist eine seltsame Mischung aus Furcht und Ehrerbietung, die ihn dazu bringt.

„Du machst dir Sorgen um Kharthari, ist es so?“ Shanthor nickt nur stumm. Er schluckt.
„Du weißt, dass sie ein Kind erwartet von Eurem König“ Das Wort klingt aus dem Mund der Naburi verächtlich und Mharthoni sieht ihre Schwester aufmerksam an.
„Ich will dir nichts vor machen, Shanthor, es wird nicht einfach für sie sein. Ich fürchte, du wirst ihr auf diesem Weg keine Hilfe sein können. Ich glaube, sie wird eine Andere sein, bevor das alles vorbei ist. Du wirst sie wahrscheinlich verlieren.“

Der Satz schwingt unheilverkündend im Raum nach. Shanthor atmet heftig und seine Augen blicken unstet umher, als suchten sie für ihn einen Halt.

„Heißt das, ich darf sie nicht mehr sehen, sie nicht mehr besuchen?“
Die Bestürzung schwingt deutlich in der Knabenstimme mit und Mharthoni wird es schwer ums Herz. ‚Warum sagt sie ihm das jetzt, da er ohnehin schon so bedrückt und ratlos ist‘, fragt sie sich. In diesem Moment ist es ihr gleich, ob die Ältere sich wieder dieser Taktlosigkeit bedient und ihre Gedanken liest. Aber Khalah lässt nicht erkennen, ob sie etwas gespürt hat von den Zweifeln der jungen Naburi.

„Natürlich nicht, Shanthor. Ich fürchte nur, sie wird es nicht als Trost empfinden, weil sie sich vor dir als ihrem Churantar schämt. Sie glaubt, sie habe versagt und sei deiner unwürdig.“

„Aber das stimmt doch nicht!“ Begehrt der Junge auf. Nun rollen ihm doch Tränen über die Wangen.
„Dieses Schwein hat ihr das angetan!“
Mharthoni umfasst die Schultern den Jungen wieder. Sie spürt, wie der Körper vom Schluchzen geschüttelt wird.
„Ich weiß, Junge, aber das braucht Zeit. Kharthari braucht Zeit, um sich an dieses neue Leben zu gewöhnen und zu erkennen, was das Schicksal für sie bereit hält.“

„Was ist das?“, fragt Shanthor trotzig. Er wischt sich gedankenverloren die Nase mit dem Ärmel seines Hemdes ab. Mharthoni muss insgeheim lächeln.
„Ein Kind, für das sie Verantwortung tragen muss. Sie wird ihre Ausbildung zur Schwester abschließen, sobald sie die Geburt verkraftet hat.“

„Sie wird eine Schwester, eine von Euch?“ Der Junge springt auf.
„Was wird dann aus mir?“
„Ich möchte dir vorschlagen, im Frühjahr hinüber zu ziehen zu den Männern, bei denen ihr neulich wart. Ich weiß, dass du dich ganz gut mit meinem Sohn verstehst und er könnte dir vieles Nützliche beibringen, um aus dir einen nützlichen Naburi zu machen.“

„Aber Her…“ Shanthor ist außer sich, aber er spricht das Wort nicht zu Ende,
„Schwester, ich bin kein Naburi, ich bin ein Khurkusi, mein Khurku-Stamm ist seit sechs Generationen in den Diensten der Feste. Ich wollte ein Reiter der Garde des Königs werden, wenn ich das Alter erreicht habe.“
„Das wird dir nicht vergönnt sein, Shanthor.“
Die Worte Khalahs fallen wie Mühlensteine zur Boden.
„Dann bin ich dein Gefangener, Hexe?“ Shanthor brüllt seinen Schmerz und seine Erschütterung heraus.
Seine Augen sind finster wie Kohlen vor Wut und seine schmalen Hände sind zu weißen Fäusten geballt. Wie er da steht, scheint es nicht ausgeschlossen, dass er sich auf die Schwester stürzt. Diese sieht ihm gelassen ins Gesicht.

„Niemals!“ Shanthor stürmt aus dem Raum. Mharthoni will ihm folgen, aber Khalah hält sie zurück.
„Nicht, Schwester. Lass‘ ihm einen Moment Zeit, bitte. Sein Zorn ist ein schlechter Ratgeber und wir wollen ihm die Schmach ersparen, sich entschuldigen zu müssen.“
Das klingt weise und Mharthoni setzt sich wieder.
„Ich muss mich bei dir entschuldigen, Mharthoni. Es war nicht Recht, dir deine Gedanken zu stehlen“, sagt Khalah mit sanfter Stimme und richtet ihre grünen Augen auf Mharthoni. Die erwidert den Blick und ein Naburi-Lächeln huscht über ihre Augen.
„Ich weiß noch nicht, ob es klug war, den Jungen in deine Obhut zu geben, Schwester“, sagt Khalah nach einer kurzen Pause.
„Er ist mir sehr ans Herz gewachsen, Schwester“, sagt die Jüngere wie von ungefähr.
„Ich weiß, Mädchen, ich weiß.“
Sie legt Mharthoni eine Hand auf den Arm. Nur für einen Moment.
Die Schwestern berühren sich nicht sehr häufig.
Mharthonis Lächeln vertieft sich noch ein wenig und ihr Gesicht leuchtet.

„Danke, Mutter“, flüstert sie.

 

„Langsam, langsam Junge!“
Dhrumt hält Shanthor bei den Armen. Um nur Weniges haben sich die beiden vor dem Quartier der Wachleute verfehlt. Dhrumt hält den Jungen vor sich auf Abstand, schaut ihm prüfend ins Gesicht.
„Was ist los, Knabe? Sind das da Tränen?“ Der Krieger lässt von dem Jungen ab. Der wischt sich verschämt mit den Handballen die Augen aus.
„Die Hexe. Sie will aus Kharthari eine von ihnen machen. Sie will sie mir wegnehmen. Ich soll dafür zu den Kerlen in deren Heimstatt ziehen und ein ‚nützlicher Naburi‘ werden.“
Shanthor äfft die Stimme der Naburi nach. Dhrumt verbeißt sich ein Lächeln. Der Zorn des Knaben amüsiert ihn. Außerdem ist es nicht schlecht, wenn auch dieser kleine Träumer anfängt zu erkennen, welches Spiel diese Hexe spielt.
„Nun ja, junger Freund, mit deiner kleinen Freundin ist das ja nun so eine Sache“, beginnt der Hauptmann und merkt, dass ihm eine wenig der Boden unter den Füßen entgleitet. Er legt Shanthor einen Arm um die Schultern und sie betreten die Unterkunft der Wachmänner. Die meisten Soldaten liegen auf ihren Felllagern und dösen.
Whrath und Khrithangh, der Mann, der bei dem Überfall der Waldkatzen ein Auge verlor, sitzen an dem breiten Holztisch mit den fellbelegten Bänken und spielen Bankhert[10].

Whrath schaut auf, sieht die Ankömmlinge in seltsam vertrauter Haltung und kneift kurz die Augen zusammen. In seinem Gesicht steht unübersehbar die Frage, was diese Verbrüderung nun wieder soll. Dhrumt derweil füllt einen Becher mit Wasser und reicht ihn dem Jungen. Der trinkt verlegen einen Schluck und gibt das Gefäß zurück.

„Weißt du, schwangere Frauen, denen geht man besser aus dem Weg. Es ist nicht so einfach, mit ihnen auszukommen, glaub‘ mir.“

„Der Hauptmann kann ein Lied davon singen, hat er doch in so ziemlich jedem Kaff zwischen Shunth und Khurkusanth eine mit 'nem Bastard herumlaufen“, ruft Whrath vom Tisch herüber. Dhrumt schnellt herum und der Trinkbecher verfehlt den Soldaten nur um Haaresbreite. Sein Inhalt allerdings nicht.

„Überleg dir gut, was du sagst, Schwätzer“, knurrt der Hauptmann ihn an. Whrath trägt ein schiefes Grinsen zur Schau und wischt sich mit dem Ärmel seines Hemdes das Wasser aus dem Gesicht. Er zwinkert Shanthor zu.

„Es ist im Moment vielleicht nicht so leicht zu verstehen, aber ich sage dir, Junge, es wäre klug, dir die Kleine aus dem Kopf zu schlagen. Soll die Hexe sich um sie und das Kind kümmern, wenn es ihr gefällt. Andere Mütter haben auch schöne Töchter und die meisten davon haben kein Kind zu versorgen.“

„Aber wir sind…“, versucht Shanthor zu entgegnen.
Dass Dhrumts sich seiner annimmt, verwirrt den Jungen; was er ihm zu sagen hat, verwirrt ihn noch mehr.
„Ihr seid versprochen, ich weiß. Dieser uralte Brauch unter den Khurku-Stämmen. Ich hab’s nie ganz verstanden. Vergiss‘ es einfach. Das Schicksal hat andere Pläne mit euch, wie es scheint. Aber was deinen Umzug zu den Kerlen angeht, da werde ich mit unserer feinen Gastgeberin ein Wort wechseln müssen. Ich glaube, du ziehst so schnell nirgendwo hin.“

„Glaubt Ihr, Ihr könnt sie davon abbringen?“ Shanthor sieht zu dem Riesen auf.
„Wir werden sehen“, sagt der und ein seltsames Lächeln umspielt sein bärtiges Gesicht.

 

Später, es ist mitten in der Nacht und die Heimstatt liegt in tiefem Schlaf, erwacht Dhrumt von einem ungewohnten Geräusch. Es ist dunkel und er tastet nach der Lampe neben seinem Lager. Eine Hand berührt die seine und es wird schummerig. Dhrumt widersteht dem Reflex, die Hand abzuwehren. Seine Augen beginnen, sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Er erkennt die schmale Silhouette einer Naburi.

„Was führt dich hierher, Schwester Khalah?“ fragt er und die förmliche Anrede klingt etwas spöttisch.
„Ist dir meine Gesellschaft unangenehm, großer Mann?“ entgegnet die Naburi und beugt sich über sein Lager.
Ihre zweite Hand findet die behaarte Brust des Hauptmanns.

„Nun, das hängt davon ab, welche Absichten du gerade hast.“
„Ich will dir einen Wunsch erfüllen“, erklärt sie mit leiser singender Stimme. Ihr langes Haar gleitet wie ein Windhauch über seinen Oberkörper.
Dhrumt greift nach den Schultern der Naburi um sie auf das Lager zu ziehen. Khalah entgleitet ihm mühelos wie eine Böe.
„Wessen Wunsch gedenkst du zu erfüllen, Schwester, meinen oder vielmehr deinen?“ Dhrumt richtet sich auf, stützt sich auf die Ellenbogen.
„Du wirst meine Wünsche nie ergründen, Krieger“, sagt sie.
Die Stimme klingt jetzt dunkel, samten und geheimnisvoll. Dhrumts hat einen Moment Zweifel daran, ob es immer noch Khalah ist, die da spricht.
Da sind wieder ihre Hände auf seinem Leib. Sie drücken ihn sacht zurück auf das Fell. Mit einem Ruck streift sie die Decke von seinem Körper.
Er liegt nackt und bebend vor ihr und erschauert unter den tastenden Griffen der Hände, unter dem leisen Atem aus ihrem Mund, wenn sie seine heiße Haut liebkost. Sie schmiegt ihren schmalen, biegsamen Körper an den seinen. Das Haar bedeckt ihn wie ein schmeichelnder Guss.

Er versucht, sie zu packen, aber seine Hände und Arme gehorchen ihm nicht. Er ist wehrlos dem Spiel der Hexe ausgeliefert. Der Moment, als ihm dies klar wird, bringt grelle Furcht über ihn, aber sie vergeht so rasch, wie die Erkenntnis ihn anfällt. Er kommt mehr und mehr zu der Gewissheit, dass er in dieser Nacht sterben wird und er hat nur den einen Wusch, dass dieser Tod den Höhepunkt setzen möge auf den Zauber, dem er zweifellos gerade erliegt.

Sein Körper beginnt sich in Lust und flammende Leidenschaft aufzulösen, seine Gier nach Erlösung mündet in eine große Freude und Zuversicht, dass diese Erlösung ihm einen Blick auf eine neue unberührte Landschaft öffnen wird.

Die Naburi vereinigt sich mit ihm. Es ist kein Liebesakt, wie Dhrumt ihn kennt, es ist ein Verschmelzen mit dem wogenden Leib der Hexe, mit ihren Lippen, ihren kleinen flachen Brüsten und ihren langen festen Schenkeln. Sie flüstert ihm geheimnisvolle Worte in ihrer fremdartigen und melodiösen Sprache ins Ohr und Dhrumt glaubt, den tiefen Sinn der Worte zu verstehen.

Er weiß, er ist verloren.
Er weiß, er wird wiedergeboren werden, als ein Anderer. In diesem Wissen vergeht er im Sturm, der über sie beide hinwegfegt.
Sehr viel später, sie liegen noch immer in diesem rotgoldenen Dämmer auf den Fellen seines Lagers. Seine Hand gleitet durch ihr Haar wie durch seichtes Wasser. Er sieht vor sich im Dämmer das grüne Strahlen ihrer Augen. „Gehöre ich jetzt dir?“ erkundigt er sich mit rauer Stimme.
Er weiß es längst.
„Es war nie anders, großer Mann“, sagt sie.

 

„Ist das dein Ernst, Hauptmann! Ich kann es nicht glauben!“ Whrath ist außer sich vor Zorn und Überraschung. Was ihm der Hauptmann da eröffnet hat, ist eine Ungeheuerlichkeit.
„Es ist entschieden, Mann. Wir werden es tun“, sagt Dhrumt mit unbewegtem Gesicht.
„Was ist los mit dir, großer Krieger? Hat die Schwester dir dein Hirn raus gevögelt, dass du ihr einen solchen Dienst leisten willst?“
„Hüte deine Zunge, Whrath. Ich reiße sie dir sonst aus deinem Schandmaul und füttere die Waldkatzen damit.“ Dhrumt macht ein finsteres Gesicht, aber der Wachmann lässt sich nicht einschüchtern.

„Sie war doch in deinem Quartier vor ein paar Tagen, spät in der Nacht. Sie verließ dich erst gegen Morgen. Und sieh‘ dich an Hauptmann, du kleidest dich wie einer von ihnen. Hat sie deinen Schwanz genommen und dir ihre verrückten Ideen in den Kopf geblasen?“

Die Rechte des Riesen trifft den Mann unvorbereitet und wirft ihn zu Boden. Blut stürzt Whrath aus der Nase. Er wischt es fort und erhebt sich mit gequältem Grinsen.
„Also stimmt es. Du hast geschworen, uns hier heraus zu holen. Der Winter ist fast vorüber, in wenigen Wochen wird der Pass wieder frei sein und wir könnten zur Feste zurück kehren. Stattdessen willst du für diese verdammte Hure ein Heer aufstellen!“ Whrath schnäuzt Blut auf den Boden, dem großen Mann direkt vor die Füße.

„Du wirst böse enden, Hauptmann. Man wird dich auf dem höchsten Pfahl reiten lassen, den die Feste wird auftreiben können. Und ich werde ihnen dabei helfen, wenn ich kann. Du wirst mich töten müssen, Dhrumt, denn ich werde dir in dieser Sache nicht folgen.“

„Nicht ich werde dich töten, der Wald wird das für mich übernehmen. Die Schwestern werden dich ihm ausliefern und binnen drei Tagen werden nicht einmal mehr deine Knochen übrig sein, um in der Sonne zu bleichen.“

„Pah, ich fürchte diesen Wald nicht. Ich werde den Pass finden und den Weg zur Feste. Ich werde dem König berichten, wie sein feiner Hauptmann ihn wegen einer Hexe verraten hat.“
Dhrumt macht einen schnellen Schritt auf Whrath zu. Der weicht nicht zurück. Plötzlich sind die Hände von anderen Wachmännern an den Armen des Hauptmanns, zerren ihn zurück.

Dhrumt fährt herum.
„Was ist das hier, ein Aufstand?“, faucht er.
„Du bist nicht länger unser Anführer, Dhrumt. Du verrätst uns an diese Hexe. Wir wollen heim zu unseren Frauen und Kindern. Du willst uns hier noch weiter eingesperrt halten. Das machen wir nicht mit!“

Khrithangh’s Gesicht, entstellt durch die kaum verheilte Narbe und die leere Augenhöhle, drückt Wut und Empörung aus, aber dahinter auch Angst vor der rohen Gewalt des Hauptmanns. Dhrumt wendet sich wieder Whrath zu.
„Ist dir das eingefallen? Die Männer gegen mich aufzuwiegeln? Ich sollte dich auf der Stelle tot schlagen, wie einen tollen Khranther[11]!“

„Dann wärst du selbst des Todes, großer Mann“, sagt Khalah vom Vorhang aus.
Sie ist, wie immer, erschienen wie ein Geist. Die Männer haben sich zu der Naburi umgewandt.
„Was soll das, Schwester. Dies ist eine Sache zwischen meinen Männern und mir.“
„Du irrst dich, großer Mann. Ihr befindet euch unter dem Schutz des Waldes und niemand tötet in dieser Heimstatt einen Menschen.“

Die Naburi steht hoch aufgerichtet in ihrem weißen Gewand und ihre Augen scheinen nahezu zu glühen. Ein Raunen geht durch die Reihe der Männer. Die Spannung ist fast greifbar.
„Wir sprechen uns noch, Meuterer!“, sagt Dhrumt zu Whrath gewandt und zeigt mit seinem großen Zeigefinger in seine Richtung. Dann geht er schnell auf Khalah zu.

„Kann ich dich sprechen, Schwester? Allein?“
Er geht sehr dicht an ihr vorbei aus dem Quartier der Mannschaft. Sie folgt ihm wenig später. Er ist außer sich vor Zorn, als sie auf ihn zu geht.

„Was denkst du dir dabei, mir vor meinen Männern in die Parade zu fahren!“, faucht er sie an.
Sie sieht ihm mit ausdruckloser Miene ins Gesicht.

„Dies sind die Regeln dieser Heimstatt. Denkst du, du stündest über diesen Regeln, großer Mann, nur weil du stärker und größer als die Männer sind?“

„Ich bin ihr Hauptmann. Sie sind mir zu Gehorsam verpflichtet!“
„Du bist nicht länger ihr Hauptmann, Dhrumt. Der Mann – Khrithangh – hatte Recht. Du bist jetzt Heerführer der Naburi des Waldes.“
„Das ist nicht dein Ernst!“ protestiert er.
„Ich habe deinen Schwur, großer Mann.“ Sagt sie ruhig und lässt ihn stehen.

Kapitel 6

Harmuth starrt aus dem schmalen Fenster hinaus in den lichtlosen Morgen. Noch immer fällt Schnee aus dem niedrigen Himmel und noch immer wird es nachts eisig kalt. Die Bauern in den Dörfern rund um den Berg machen besorgte Gesichter. Die Vorräte sind nahezu aufgebraucht und die Zeit der ersten Aussaat rückt näher.

Die Äcker jedoch sind noch immer hart gefroren und stecken unter Schnee und Eis. Das Vieh in den Ställen verliert Fett und Fleisch, Milch wird knapp. Selbst hier in der Feste wird die Verpflegung karger und eintöniger. Mancher hat schon seine Zähne verloren und faulendes Zahnfleisch.

Gerüchte machen die Runde. Die Hexe aus dem Süden soll ihre Hand im Spiel haben, raunt das Volk und mancher weiß zu erzählen, der König selbst habe eine von den Hexen in Schimpf und Schande von seinem Lager gejagt. Wie das Volk sich erzählt, holen sich die Hexen ihre Kinder aus den Städten der Menschen, lassen sich von hohen Herren schwängern um ihre Hexengeschäfte verrichten zu können.

Harmuth glaubt nicht an diesen Unsinn. Die Hexe hatte es nicht auf seinen Samen abgesehen gehabt. Sie hatte sich seiner selbst bemächtigen wollen, davon war er überzeugt. Er hatte gesehen, was die Hexen mit seinem Bruder gemacht hatten. Vielleicht hätte diese damals ihn auch dazu gebracht, seiner Krone und seinem Geschlecht zu entsagen, um als Einsiedel in den kargen Höhen des Nordens zu fristen.

Der König zieht fröstelnd die Schultern hoch und rafft seinen Schlafrock fester zusammen. Das Feuer im Kamin ist fast erloschen und hier am Fenster kann er seinen Atem als kleine graue Wölkchen vor seinem Gesicht wahrnehmen. Er wird nach Drosten läuten, den Kamin in Gang zu bringen.

Er wendet sich ab vom Fenster. Sein Blick fällt vor sich auf den Teppich. Noch immer ist dieser schwarz vom Blut der kleinen Magd. Nichts hat vermocht, es aus dem Gewebe zu waschen; wie ein böses Omen sind die dunklen Umrisse der Lache sichtbar geblieben und nicht verblasst.

Manchmal erscheint ihm das Kind mit den großen grünen Augen und den zerbrechlichen Gliedern nachts in seinen Träumen. Sie hat geweint, sie hat sich gewehrt und sie hat nicht um Gnade gebettelt. Das hat seinen Zorn geweckt, diesen verfluchten roten Schleier vor seine Augen und seine Gedanken gezogen. Er hat sie übel zugerichtet in jener Nacht und dann fort gejagt zum Sterben in den Süden.

Eine Entscheidung, die ihre Folgen zeitigte: seine Wachen sind nicht zurück gekehrt und ohne Zeichen verschollen. Seine Festenwache ist seit Monaten ohne rechte Führung, weil der König sich scheut, einen neuen Hauptmann an die Stelle des verschollenen Dhrumt zu setzen. Der Haushofmeister bedrängt ihn um eine Entscheidung, aber der König zaudert. Er zaudert ohnehin oft in diesen Tagen.

Dabei steht es nicht gut um das Reich der Feste. Harmuth sieht es genau. Es gibt Tage, da erwacht er aus seiner Schwermut und erkennt glasklar, wie es steht. Obwohl er die Nacht durchwacht hat, fühlt der König, dieser Tag könne einer von den lichten werden.

Er geht hinüber zum großen Kamin. Unter der grauen Asche glimmt es noch. Der König beugt sich hinunter und rafft ein paar Kloben Holz aus dem eisernen Korb. Vorsichtig legt er Bhalibaumrinde[12] in die Glutfunken, wartet, bis sich erste Flämmchen gierig über die Späne mit dem würzigen Geruch hermachen. Dann legt er festeres Holz hinzu. Als die Flammen hoch steigen und das Knistern und Knacken der Knorren hörbar wird, reibt sich Harmuth wohlig die Hände. Wärme breitet sich langsam aus. Der König versucht vorsichtig, seinen Körper zu dehnen und zu strecken. Er verspürt eine sonderbare Kraft in seine Glieder strömen und ein Lächeln stielt sich auf seine spröden, rissigen Lippen. Plötzlich wird ihm bewusst, wie sehr er sich als Herrscher der Feste verkrochen hat in den letzten Wochen. Er sieht an sich herunter und bemerkt mit einer Mischung aus Verwunderung und Scham, dass er ungepflegt und verwahrlost aussieht. Die Beinkleider haben verdächtige Flecken von Gewürzwein und anderen Flüssigkeiten. Der Schlafrock sieht abgewetzt und schäbig aus. Harmuth nimmt ein silbernes Tablett vom Tisch neben dem Kamin und versucht, darin sein Gesicht zu erkennen.

Was er sieht, will ihm nicht gefallen. Und nun greift er doch zur Glocke, die den Kammerdiener herbei rufen wird. Dieser steht wenig später in der Tür. Sein Gesicht ist von Schlaf gezeichnet und noch nicht rasiert. Doch er ist angetan mit seiner tadellosen Uniform. Dabei mag dieser Mann ihm um die zwanzig Jahre an Leben voraus haben. „Drosten, mein treuer Freund. Mir will scheinen, dass wir uns in der letzten Zeit etwas haben- nun ja – gehen lassen. Ich wünsche dies zu ändern. Ein Bad, den Barbier und etwas Angemessenes zum Anziehen. Wir haben heute Einiges zu tun.“ Drosten verneigt sich mit unbewegtem Gesicht.

„Ach, und Drosten. Die Köchin soll mir ein Frühstück bereiten.“
Der Diener quittiert schweigend und verschwindet. Der König ist von seinem eigenen Elan erstaunt und amüsiert. Er klatscht laut in die Hände. Sein Blick fällt auf den Teppich vor dem Fenster.
„Diesen Schandfleck werden wir noch heute entfernen lassen!“ ruft er und seine noch immer etwas gelblichen und blutunterlaufenen Augen blitzen fast ungesund euphorisch.

Fußnoten und Erklärungen

[1] Madhoni Khurkusi “Braut des Auserwählten“. Geht zurück auf die Legende von Dhorn und Madhoni

[2] Churanti àKhurkusi für „Versprochene“ oder auch „Verlobte“. Der Brauch verlangt, dass Kinder eines Jahrganges unter Familien eines Khurku-Standes mit vier Jahren versprochen werden. Dieses Churantu-Gelübde wird von Jedermann innerhalb des Khurku-Ringes respektiert. Umworben dürfen nur Mädchen werden, die keine gleichaltrigen männlichen Anwärter haben. Zwillinge dürfen einander nicht versprochen werden. [Anmerkung des Autors]

[3] Churantar àKhurkusi für „Der Versprocheneà siehe Churanti

[4] Lighuren sind die größten Landraubtiere des Hohen Kontinents. Man vermutet, sie sind mit der letzten Großen Finsternis über die Südpassage eingewandert und haben sich vor allem in den Wäldern der Südlichen Unerforschten schnell vermehrt. Sie jagen in Rudeln zu ein bis zwei Dutzend Tieren und sind in der Lage, selbst Dickhörner -> Thrumarinthi zu erlegen.

[5] Beinlose àKhurkusi àShurrthak, eine Art Blindschleiche. Ein harmloses Reptil mit lederartiger Haut.

[6] Shwart àKhurkusi für ein Fleischgericht aus Rhathi und Harthori. Rhathi sind domestizierte Vögel der westlichen Ebene. Sie liefern neben ihrem sehr fetten und schmackhaften Fleisch auch Federn für Kissen und Polster, Eier für die traditionellen Rhathimhori, riesige Pfannen mit gedünstetem Gemüse und langsam gestockten Eiern.

Harthori dagegen sind Nagetiere von der Größe eines Wasserschweins. Sie werden vor allem vom gemeinen Volk gegessen, während die Herren den Verzehr des sehr aromatischen Fleisches als unter ihrer Würde ansehen.

[7] Der Blaue Mond ist ein monatlich wiederkehrendes Ereignis, das seinen Namen der Tatsache verdankt, dass zu diesem Zeitpunkt der blaue Trabant des Planeten den Zenit überschreitet. Er taucht für ein paar Nächte die Welt in azurfarbenes Licht von großer Schönheit. Der Legende zu Folge werden Kinder, die während dieser Nächte zur Welt kommen, mit besonderen Gaben der Götter geboren.

[8] Himmelsbäume nennen die Khurkusi die hochstämmigen Nadelbäume des südlichen Grenzwaldes. Sie werden mehrere Tausend Jahre alt und können in dieser Zeit sehr hoch wachsen. Dabei sind ihre weit auslandenden Kronen in der Regenzeit in den tief hängenden Wolken verborgen.

[9] Der Rat der Fünfzehn ist eine Ratsversammlung der Fürsten des Ostens, der drei Reiche des Südens und des Großfürstentums Verdonce. Er wird immer dann einberufen, wenn der Frieden und das Gleichgewicht dieser Seite der Welten durch Zwistigkeiten zu zerbrechen droht. Außerdem wird der Rat einberufen, wenn ein Herrscherhaus seines Herrschers beraubt wird und dieser ohne rechtmäßigen Thronerben bleibt. In diesem Fall entscheidet der Rat über die Einsetzung eines neuen Herrschers.

[10] Bankhert Khurkusià Brettspiel, ähnlich Dame

[11] Khranther Khurkusi à domestizierter Rudelhund

[12] Bhalibaum à Birkenholz. Die Rinde wird wegen der entzündlichen ätherischen Öle aus Fidibus gebraucht

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.09.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mit liebem Gruß: Gabi

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