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Kapitel 1

Es war einer der wärmsten Tage dieses bisherigen Jahres. Die bloße Luft flimmerte, der Teer auf den Straßen bildete seit dem späten Vormittag eine ernstzunehmende Gefahr für loses Schuhwerk und der der Stadt nahe gelegene See war über und über mit Familien und Jugendlichen gefüllt. Nichts bewegte sich in den schmalen Gassen zwischen den Häusern, kein Lüftchen wehte und obwohl einzelne Autos die Hauptstraße entlang fuhren, wirkten die Wohnsiedlungen und Einkaufscentren wie ausgestorben. Nicht einmal Mücken und andere lästige Insekten summten in der Luft, kein Vogel flog, kein Hund bellte bei dieser Hitze. Das einzige, was man vernehmen konnte, waren die Geräusche der Rasensprenger, die in den Gärten der Einfamilienhäuser ganze Arbeit leisteten. Am Himmel waren keine Wolken zu sehen, nur die Sonne knallte brutal auf die roten und schwarzen Dächer der Stadt und versenkte manchen Menschen die Haut. Obwohl in den Nachrichten schwere Gewitter für den Abend angekündigt waren, lag noch keine Schwüle in der Luft, sie war trocken wie Staub und sie roch nach Schweiß und nasser Erde. Gelegentlich ratterten Jalousien herunter und Vorhänge wurden zugezogen, wenn die Sonne wanderte. Ein einziges Lebenszeichen der Innenstadt. Weiter Stadtauswerts, hin zum Park, zum See und zu der besten Eisdiele der Stadt nahm die Geräuschkulisse jedoch rasant zu. Aus dem Tumult der Menschen drangen Schreie und Lachen nach außen. Es schien, als habe sich der zentrale Punkt der Zivilisation aus der Stadt weg bewegt und nur wenige hatten der Versuchung, sich anzuschließen, wiederstanden und waren zurück geblieben.

 

Jenne drehte sich wieder auf den Bauch und machte ihren iPod lauter, um mit der Musik die Geräusche der Menschenmassen zu überdecken. Sie lag auf dem Balkon des Mehrfamilienhauses im zweiten Stock auf ihrem zwei Meter mal ein Meter Handtuch und versuchte, sich auf das Buch in ihren Händen zu konzentrieren. Es war ein Abenteuer-Liebesroman und sie hatte die fesselnde Stelle erreicht, in der das Mädchen von ihrem Helden gerettet werden würde, als dumpfe Stimmen an ihr Ohr drangen und sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie zuckte erschrocken zusammen und nahm einen der Kopfhörer aus dem Ohr. Dann wandte sie sich um. Ihre Mutter stand in der Tür, weiter kam sie auch nicht, denn der Balkon war zugegeben nicht der größte. Jedenfalls schaute sie bittend auf ihre 16 jährige Tochter herab, die verwirrt den Kopf schüttelte. "Sorry Mum, ich hab gerade nicht zuhören können, was hast du gesagt?" " Ich hab dich gefragt, ob du eben Milch und Toilettenpapier kaufen gehen könntest", wiederholte diese freundlich, fügte lächelnd ein "Danke Schatz" an, bevor Jenne auch nur die Chance auf eine Antwort hatte und verschwand wieder im Innern der Wohnung. Jenne grummelte ein "immer ich" vor sich hin, legte sorgfältig das Lesezeichen zwischen die Seiten und anschließend das Buch neben das Handtuch. Sie huschte wie ihre Mutter vor ihr durch die schmale Glastür in das kühle Wohn- und Esszimmer, das an den Balkon grenzte und lief durch den Flur in ihr Zimmer. Sie durchquerte dieses, eher überschaubare Reich, in dem neben einem gewöhnlichem Bett, einem winzigen Schreibtisch samt Stuhl und dem grünen Sessel nur noch der überdimensionale Kleiderschrank platz fand. Ja, das hatte sie sich nicht nehmen lassen, ihren Traumkleiderschrank. Auf diesen lief sie jetzt zu und öffnete zielsicher eine der vier Schubladen. Nach einem kurzen Blick entschied sie sich dann aber doch gegen Top und Hotpants und für eines ihrer Sommerkleider. Hier wurde die Wahl wesentlich kniffliger. Auf einer der Kleiderstangen hingen dichtgedrängt fast zwanzig ihrer Lieblingsstücke, die alle getragen werden mussten. Es brauchte seine Zeit, bis sie sich nach mehrerem Hin und Her endlich das einfarbige Hellblaue über den braunen Bikini streifte, in dem sie auf dem Balkon gelegen hatte. Das Kleid ging bis zur Hälfte ihres Oberschenkels und hatte dort ein breites Bündchen. Oben war es ähnlich gestaltet, das ärmellose Teil musste um den Hals hinten ähnlich wie ein Bikini zusammengebunden werden und wurde auch hier von einem Bund gesäumt. So fiel es wie ein Sack um ihren schlanken Körper. Jenne betrachtete sich kurz in dem Spiegel, der an der Tür des Kleiderschrankes angebracht war und nickte. Um ihr Outfit abzurunden legte sie noch schnell eine Peace Kette, braune Ohrringe und mehrere Lederarmbänder um, ehe sie sich ihre braunen langen, welligen Haare zu einem lockeren Seitenzoft zusammenband, der ihr über die Schulter fiel. Sie griff sich ihren ebenfalls braunen EastPack Rucksack, der gleichzeitig auch als Schultasche diente und eilte in die Küche. Ihre Mutter wartete schon ungeduldig, wie es schien. Sie blickte immer wieder auf die Uhr, holte zwischenzeitlich weitere Kochutensilien zu denen, die auf der Anrichte standen und tippte mit den Fingern auf die Holzoberfläche. Erleichtert blickte sie auf, als Jenne die Küche betrat. "Das hat aber wieder gedauert", sagte sie sichtlich beeindruckt von dem Kleid. "Wow, das ist ja süß! Woher hast du das denn? Ist das neu? von H&M? oder Vero Moda?" "Mu-um!", seufzte Jenne genervt und schnappte sich die Einkaufsliste, die schon fertig geschrieben neben dem Stiftebecher lag. "Ach ja", Jenne's Mutter schlug sich sachte mit der Hand gegen den Kopf, "du solltest ja einkaufen gehen. Hier ist das Geld. Ich hab noch ein paar Sachen dazugeschrieben, ich hoffe, das macht dir nichts. Das Geld sollte reichen und wenn nicht, lass die Melone einfach weg." Sie drückte ihrer Tochter zwanzig Euro in die Hand, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und lächelte. "Danke, du bist echt die beste", grinste sie und obwohl Jenne zuvor noch ein wenig sauer gewesen war, lächelte sie zurück. "Ich weiß. Ach und Mum, ich brau...", aber bevor sie zu Ende reden konnte schallte ein ohrenbetäubendes Schreien aus dem Flur. "Sorry, Schätzchen, aber ich glaube mein Typ wird verlangt." Frau Schneider lief in den Flur und bog in das letzte Zimmer auf der rechten Seite. Jenne verdrehte die Augen. Warum bekam ihr kleiner Bruder bitte soviel Aufmerksamkeit? Klar, er war ein Baby, gerade mal zwei Jahre alt und vielleicht hatte es einige Komplikationen bei seiner Geburt gegeben, aber war jetzt nicht alles wieder normal? Hatte er nicht überlebt? War er nicht wieder kerngesund? Wieso kapiert ihre Mutter das einfach nicht?! Ein wenig verletzt ging Jenne zur Wohnungstür, schlüpfte in ihre weißen 3-Euro Schuhe von Primark, nahm den Schlüssel von der Magnetleiste, öffnete die Tür und zog sie hinter sich behutsam ins Schloss. Dann sprang sie die vier Treppenabchnitte herunter und trat durch die Haustür ins Freie.

Seit ihr Vater den Beruf gewechselt hatte, arbeitete er den ganzen Tag und kam nur abends nach Hause. Die Wochenenden über war er meist so müde, dass er kaum etwas zu Stande brachte und reagierte auf kleinste Dinge manchmal sehr gereizt. Jenne verstand ihn und war ihm nicht böse deswegen. Sie konnte sich vorstellen, wie schwierig es sein musste, eine vierköpfige Familie alleine zu ernähren. Ihre Mutter, die zwar eigentlich nur ihre Stiefmutter war, da ihre Leiblich ein paar Tage nach ihrer Geburt starb, arbeitete nicht. Sie sorgte für den Haushalt, die Besorgungen, Einkäufe und verwaltete außerdem das Haushaltsgeld - eigentlich, denn seit Manuel auf der Welt war, fiel die Hälfte der wirklich ätzenden Arbeit auf sie - Jenne - zurück. Es war das fünfte Mal diesen Monat, dass sie einkaufen ging und dabei handelte es sich nicht nur um Kleinigkeiten. Mit einem raschen Blick über die Liste bemerkte sie, dass auch dieses Mal wieder einiges zu dem Toilettenpapier und der Milch hinzugekommen war. Sogar putzen musste sie seit neuestem gelegentlich und von ihrem Taschengeld des letzten Monats hatte Jenne auch noch nicht viel gesehen, obwohl es schon Mitte Juli war. Sie liebte ihre Mutter wie eine richtige, sie lebte schließlich auch schon mit ihrem Vater zusammen, seit sie zwei gewesen war, und verstand die Sorgen um den Baby-Manuel, aber manchmal würde sie am liebsten einfach 'NEIN' sagen. Ihr war klar, zumindest hoffte sie das, dass diese Phase irgendwann zu Ende gehen würde. Dann hätte sie auch wieder mehr Freiraum und Freizeit und solange würde sie es noch aushalten, das hatte sie ihrem Vater versprochen, als sie sich letztens ausgesprochen hatten. Also schlenderte Jenne den gepflasterten Weg zur Straße runter und dann diese bis zur nächsten Kreuzung hinunter. Sie besaß kein Fahrrad und hatte auch in ihrem alten zu Hause keins gehabt. Dort war sie überall mit dem Skateboard hingefahren und so gut sie es auch konnte, zum einkaufen war Laufen definitiv vorteilhafter.

Eigentlich hatte sie nichts dagegen, das einzige, was sie wirklich daran hasste, einkaufen zu gehen, war die Tatsache, dass zwischen ihrem Haus und dem Supermarkt die meistbefahrenste Straße aus der Stadt zum See entlang führte, die, egal um welche Tageszeit man sie überquerte, immer von Jugendliche auf ihren Fahrrädern oder Rollern genutzt wurde. Man konnte schlicht weg nicht unentdeckt einkaufen gehen, denn irgendeinen kannte man immer. In Jennes Fall war das sogar noch leicht untertrieben. Sie war mit ihrer Familie erst Ende des Schuljahres, also vor knapp zwei Monaten in diese Stadt gezogen, als ihre Mum erklärt hatte, dass Manuel auch ein eigenes Zimmer brauchte und das in der alten Wohnung wohl nicht gehen würde. Für Jenne war zu dieser Zeit keine Welt zusammen gebrochen. Sie war nur ungefähr eine halbe Stunde von ihren alten Freundinnen getrennt, eine Strecke, die ihr Vater täglich mit dem Auto zurücklegen hatte müssen und deshalb einen Umzug in die Stadt vorgeschlagen, in der er arbeitete, um die Zeit der Fahrt zu sparen. Gesagt - getan. Alle hatten für diesen Umzug Kompromisse eingehen müssen, aber letztendlich überwogen doch die positiven Aspekte. Jenne bekam ein größeres Zimmer, eine neue Einrichtung und die Möglichkeit, jeden Tag shoppen zu gehen. Ihr Vater konnte täglich eine Stunde länger schlafen und ihre Mutter sich in der geräumigeren Wohnung voll ausleben. Und obwohl sie also erst seit mehreren Wochen hier wohnte und auf Grund des sich zum Ende neigenden 10. Schuljahres auch nicht hatte zur Schule gehen müssen, kannte Jenne schon ziemlich viele Leute. Naja, eigentlich kannten viele sie. Auslöser war das Treffen mit Amelie gewesen, einem der beliebtesten Mädchen der Gegend, wie sich später herausstellte. Nach der ersten Woche des Umzugsstresses hatte Jenne sich gleich nach einem oder mehreren Teilzeitjobs umgesehen, ihr Kleiderschrank musste schließlich gefüllt werden, und bewarb sich auch in der Eisdiele in der Nähe des Sees, wo sie freundlich angenommen wurde. Auch Amelie arbeitete dort und zeigte viel Interesse an der 'Neuen'. Durch das fast täglich Treffen, Reden und die gemeinsamen Kunden, über die sie sich regelmäßig kaputt lachten, entstand bald eine vielleicht einseitige Freundschaft, denn auch wenn Jenne froh war, sich es mit Amelie nicht verscherzt zu haben, mochte sie so oberflächliche Menschen wie sie einer war eigentlich nicht. Das vertraute Verhalten der beiden und das Arbeiten an einem so öffentlichen und populärem Ort ließ Jenne schnell bekannt werden und mit der Zeit sprachen sie auch immer mehr Leute an, die anscheinend gut mit Amelie befreundet waren. Schon innerhalb der ersten Wochen gehörte sie so bald zu der 'In'-Clique des Viertels, das in der Stadt auf Grund des Sees allgemeines Ansehen besaß. Kurz gesagt, sie gehörte zur Elite, zu Verona, Mia, Lana, Alexa und natürlich Amelie. Die um sie herumscharwenzelnden Jungs aufzuzählen vermochte Jenne nicht. Es waren zu viele, sich ähnelnde, ständig wechselnde und langweilige Typen, die es einer Erinnerung nicht Wert waren, wie sie fand. Jungs im Allgemeinen interessierten sie eher weniger. In ihrer alten Stadt und auf dem anderen Gymnasium hatte sie ihrer Meinung nach genug Miseren und Herzzerbrechen miterlebt, um sich sicher sein zu können, dass eine Beziehung nur in wenigen Fällen etwas gutes hervorzubringen vermochte. Nicht dass sie Jungs hasste, nein, soweit wäre sie nicht gegangen, aber sie verachtete sie ein wenig, ihre dumme Art, Mädchen zu beeindrucken, mit ihnen zu spielen und sie fallen zu lassen, ihre dummen Sprüche, ihre provozierende Art und ihr Glaube, Mädchen in nichts nach zu stehen. Sie war sich bewusst, dass sie sich ähnlich verhielt, doch wusste sie, dass sie Jungs, was die meisten Fähigkeiten anbelangte, nicht das Wasser reichen konnte und bewunderte das auch. Alles was sie tat war, sich auf eine GEISTIG höhere Ebene zu stellen, was Jenne nicht als falsch erachtete. Außerdem, und das sagte sie sich immer wieder, war sie durchaus bereit, zu lernen, sich eines besseren belehren zu lassen, eine Option, die die nach ihr rational-denkenden Jungs anscheinend nicht in Betracht zogen.

Jenne traf ihre Clique immer wenn sie arbeiten musste, denn die vier anderen Mitglieder klebten wie Pech an Amelie und verbrachten die drei Stunden gerne in der Eisdiele, bis Amelie und Jenne ihre Schürzen ablegten und den weiteren Tagesplan mit ihnen besprachen. Aus solchen Unternehmungen klinkte sich Jenne allerdings lieber aus, erfand Ausreden, um nach Hause gehen zu können, denn der Zeitvertreib der Mädchen beschränkte sich meist auf das einfache Angaffen und Anflirten von Jungs, worauf Jenne keine Lust hatte. Hin und Wieder konnte sie sich jedoch nicht entziehen und gerade an solchen heißen und schönen Tagen wie heute war es schwer, eine Ausrede zu finden, nicht an den See zu wollen, sie hatte sich geschlagen geben müssen. Es war ungefähr halb eins, ihre Schicht dauerte heute, einem Wochentag, nur zwei Stunden und begann um eins. Sie musste zugeben, bessere Arbeitsbedingungen konnte sie sich kaum vorstellen, bei einer Bezahlung von 5 Euro die Stunde waren das täglich immerhin zehn Euro. Um drei würde sie sich dann zusammen mit den Mädels, wie sie sich gegenseitig nannten, auf den Weg zum wie immer restlos überfüllten Strand machen, was noch nie ein Problem für die sechs dargestellt hatte. Jedes Mal hatten sie irgendwen getroffen, der ein wenig Platz freigehalten hatte, immer an der selben Stelle, immer zur gleichen Uhrzeit, an Zufälle glaubte Jenne schon lange nicht mehr, der Platz war zu perfekt. Er lag bis halb vier, wenn die Sonne am stärksten schien im Schatten einer großen Eiche und danach in der wärmenden Sonne. Es waren keine fünf Meter bis zum schmalen Sandstrand und es bot sich über die steinige Eingrenzung und Sicherung der Böschung ein perfekter Blick auf die künstlich angelegte Sprunggrube mit dem Drei- und Fünfmeterturm. Auch der Weg zum Kiosk, der neben Eis und Bonbons auch Pommes, Cola, Bier und V+ verkaufte, war kurz und brachte vor allem Amelie und Mia ständig dazu, Jungs mit Wünschen zu beordern, die sich dann gefügig auf den Weg machten, gut beobachtet von ihren Herrinnen. Ein weiterer Bonus des reservierten Rasens war die Blick zu dem Bademeisterhochstuhl, der ziemlich genau gegenüber auf der anderen Seeseite lag. Mit einem Fernglas, dass komischer Weise immer irgendwie dabei war, wurden die Handlungen und Unternehmungen des Bademeister, einem ca. neunzehnjähriger 'Hottie', wie Alexa ihn nannte, verfolgt, um nicht zu sagen, dass er gestalkt wurde. Und als das nicht schon genug wäre liefen ständig alle neuen Badegäste vorbei, da der See ähnlich wie ein Freibad über einen Eingang verfügte. Es gäbe keinen perfekteren Platz um den gesamten See herum, soviel stand fest, und das wussten Jenne's Freundinnen genau.

Jenne seufzte, als sie um die Häuserecke auf die Hauptstraße bog und die Querpassage zum See in Sichtweite kam. Auch wenn der Hinweg meist nicht das Problem war, kamen ihr an dieser Stelle immer die Gedanken an den Rückweg, wie sie mit einer riesigen Klopapierpackung unterm Arm den Bürgersteig entlang stapfte. Das blöde an einer In-Clique waren die Neider. Jeder war neidisch, egal ob sie Plätze freihielten oder Essen brachten, das konnte ihr keiner erzählen und wenn sie mindestens zu zweit waren, hielt sich die Risikobereitschaft der anderen auch in Maßen, doch sie, die neue, mit Klopapier und ähnlichem in der Hand war ein gefundenes Fressen. Bis jetzt hatte sie sich gut geschlagen, war erst zweimal der zweiten angesagten Clique über den Weg gelaufen und das einigermaßen gut überstanden, sie hatte sie stumpf ignoriert. Natürlich wusste Jenne, dass das keine dauerhafte Lösung war und sie auf Dauer als feige und arrogant abstempelte, deswegen musste sie was ändern, aber sie flehte, dass nicht ausgerechnet heute der Tag sein würde, an dem sie ihnen ein drittes Mal über den Weg laufen würde, denn ein Wiedersehen nur drei Stunden später am Strand war bei so einem Wetter unvermeidlich. Sie seufzte ein weiteres Mal und bemühte sich, nicht merklich langsamer zu werden, als sie sich der Straße näherte. Irgendwann erreichte sie schließlich den Zebrastreifen, der unnötigerweise auf den dunklen Asphalt gepinselt worden war. Nicht nur, dass sie über die Straße musste, nein, sie wurde auch noch von wartenden Leuten angestarrt, setzte sie nur einen Fuß auf die weißen Balken. Sie schaute aufmerksam aber mit gesenktem Blick erst nach rechts und dann nach links, ließ noch einige Fahrräder und ein Auto passieren und machte den ersten von durchschnittlich 7 Schritten durch die Hölle. Sie hatte gelernt, sich komplett auf die Straße zu konzentrieren, um Konflikten, ausgelöst von Macho-Jungs oder Zicken-Queens aus dem Weg zu gehen, so zählte sie automatisch die Schritte, die sie von dem sicheren Bürgersteig trennten, der wie eine einsame Insel im offenen Meer genau vor ihr lag. "Oh, hi Jenne", kam es von der Seite und sie erwiderte ein einfaches "hi" ohne aufzusehen oder Interesse, wer sie da gegrüßt hatte, es würde eh keinen Unterschied machen, dachte sie sich, wie viele von denen kannte sie schon beim Namen? Nach fünf weiteren "hi" 's erreichte Jenne das 'Ufer' und legte die hundert Meter bis zum Supermarkt zügig zurück. Sie schaute auf die Uhr. Sie hatte fünf Minuten gebraucht, genau wie immer, auch wenn es ihr jedes Mal unheimlich lang vorkam. Sie schnappte sich einen Einkaufswagen, den sie mit Hilfe eines Chips von den anderen löste und kramte die Einkaufsliste mit einer Hand hinten aus ihrem Rucksack, dann ging es los. Gewissenhaft lief sie durch die Gänge, griff hier ins Regal, nahm da vom Wühltisch, packte dies und jenes in den Einkaufswagen, der sich langsam füllte. Schlussendlich holte sie eine schöne Wassermelone aus der Obstabteilung, wog sie kurz zufrieden in den Händen und schlenderte zur Kasse. Die Schlange war nicht sonderlich lang uns so musste Jenne kaum warten, bis sie dran kam. Nach etlichem Piepen und Scannen schaute die Frau lächelnd auf. "21,30 Euro bitte", sagte sie und legte schon die Absperrung wieder zurück, die man hinter seine Waren aufs Fließband zu pflegen legte. '21,30 Euro?!?' schoss es Jenne in den Kopf und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Auch wenn sie wusste, dass sie kein Problem verursachen würde, kam es blöd, wenn eine 16-jährige nicht in der Lage war, genug Geld zum Einkaufen mitzunehmen. Es war ihr peinlich. "Ich hab nur 20 Euro", sagte sie also entschuldigend und deutete auf die Melone, als die Verkäuferin genervt fragte, was sie zurück beordern solle. Auch die anderen Kunden, die hinter ihr warteten, murrten schon ein wenig und Jenne spürte, wie sich ihr Kopf langsam erhitzte und mit Sicherheit knall rot anlief. Als sie endlich das Wechselgeld in der Hand hielt, schob sie den Einkaufswagen zu den Ablageflächen, um die eingekauften Dinge in den Rucksack zu packen. Sie hatte sich nicht getraut, auch noch damit den Fluss der Kasse aufzuhalten. Als sie gerade versuchte, die Tasche zu schließen setzte ihr jemand eine Wassermelone unter die Nase, sodass sie erschrocken zurück taumelte, dann blickte sie auf. Ein Junge in ihrem Alter und einem großen Einkaufsbeutel in der einen Hand balancierte die riesige Frucht in der anderen. "Hier", sagte er und hielt ihr die Melone entgegen, "ich schenk sie dir". Und als Jenne keine Anstalten machte, sie zu nehmen, legte er sie neben ihren Rucksack. "Man sieht sich", murmelte er im Vorbeigehen und war im nächsten Moment durch die elektronische Tür verschwunden. Jenne blinzelte verwundert und schüttelte energisch den Kopf, dann nahm sie ihre Einkäufe und das soeben erhaltene Geschenk, brachte den Einkaufswagen weg und machte sich auf den Rückweg. Sie war noch immer durcheinander von dem Zwischenfall, der sich gerade ereignet hatte. Sie wusste, sie hatte sich komplett blamiert. Und auch wenn sie sofort verlegen wurde, wenn sie nur an den Typen dachte, wusste sie, dass sie vollkommen überreagierte. Sie war nicht verknallt oder gar verliebt, sie war nur einfach nicht gut darin, auf solche spontanen Aktionen zu reagieren und schämte sich im Nachhinein lange dafür, dass sie sich im ersten Moment immer einbildete, ihr Gegenüber würde sich für sie interessieren. Sie merkte erst, dass sie an der Querstraße stand, als eine höhnische Stimme sie in die reale Welt zurück holte, so tief war sie in Gedanken versunken. Sie blickte verwundert auf. "Na, mal wieder einkaufen?", lachte Denise, eine derjenigen, die definitiv nicht zu den, wenn auch falschen Freunden Amelies zählten. "Ja", antwortete Jenne ruhig, auch wenn es sie Mühe kostete, sich zu beherrschen, "stört's dich?" "Nein, gar nicht" kam der Konter und ehe Jenne eine Möglichkeit hatte, sich galant zurück zu ziehen, zog Denise ihr Handy aus der Tasche. "Bitte lächeln", sagte sie und hielt die Kamera auf Jenne gerichtet. In ihrem Kopf ging es blitzschnell. Die Lösung zur Umgehung des Problems eines hässlichen oder peinlichen Fotos war schnell gefunden: es durfte nicht hässlich sein. Sie ließ ihre linke Hand zusammen mit dem Klopapier in Sekunden hinter ihrem Rücken verschwinden und hielt die Melone graziös in die Höhe, als wolle sie Werbung machen, setzte sie ihr strahlenstes Lächeln auf und hörte das Geräusch des Auslösers. Dann machte sie sich schleunigst aus dem Staub, ehe ein weiteres Foto geschossen werden konnte, eine unzufrieden guckende Denise zurücklassend. Das Foto war wahrscheinlich gar nicht so schlecht.

"Ich bin wieder da-a", rief sie in den Flur, nachdem sie die Treppen heraufgesprungen war, die Tür aufgeschlossen und den Schlüssel zurückgelegt hatte, bekam aber nur ein dringliches "Sch-sch" aus dem Kinderzimmer ihres Bruders als Antwort. Genervt hievte sie ihren Rucksack in der Küche auf die Anrichte und machte sich daran, die Besorgungen in Kühlschrank und Schränken zu verstauen. Ihre Blicke wanderten dabei immer wieder auf die Uhr über dem türlosen Durchgang, der in das Esszimmer führte, sie musste sich beeilen, es war bereits zehn vor eins. Nach einem hektischen Einräumen sprintete sie in ihr Zimmer, erntete auch dafür ein mahnendes "Sch-sch", schlüpfte aus dem Kleid und öffnete die linke Tür des Kleiderschrankes. Hier befanden sich Blusen im Überfluss. Zufrieden nahm sie eine weiße, leicht dursichtige vom Holzbügel und knöpfte sie sich sorgfältig zu. Zum arbeiten sah das mit einer Schürze einfach seriöser aus, wie sie fand. Anschließend kramte sie in einem der Fächer nach einer hellen Hotpants, wühlte ihr Handy aus dem Rucksack und schnappte sich eine weinrote Umhängetasche, in die sie in aller Eile eine Decke, einige Handtücher, ihr Buch, dass sie schnell vom Balkon holte, Sonnencreme und ihr Portemonnaie warf. Ein letzter Blick in den Spiegel verriet ihr, dass ihr Make-up noch perfekt saß und sie verließ ihr Zimmer Richtung Tür. Dieses Mal zog sie lockere Flip-Flops an, krallte sich ihre Sonnenbrille vom Regal und verließ zum zweiten Mal an diesem Tag die Wohnung.

Draußen angekommen öffnete sie erst mal ihren Zopf, wuschelte ihre Haare kräftig durch und setzte ihr Sonnenbrille gekonnt auf die voluminöse Pracht, dann machte sie sich auf den Weg. Um zum See und ihrem daneben gelegenem Arbeitsplatz, der Eisdiele, zu kommen nutze sie natürlich nicht die Straße, die sie auf dem zum Supermarkt überquert hatte. Es bedeutete zwar keinen Umweg von Zeit oder Streckenlänge, aber Jenne zog es vor, die etwas abgelegenere Route zu gehen, zwischen den Gärten und dann ein Stück am Ufer des Sees lang, das kein Strand war und nicht zu dem Freibad zählte. Pünktlich um eins erreichte sie das Café '------------'. Sie betrat es durch den Hintereingang und gelangte so in den Organisationsraum, wie er genannt wurde, in dem die Schürzen, Blöcke, Kugelschreiber und alles sonst noch aufbewahrt wurde, was zum Kellnern und Servieren benötigt wurde. Mit einem Blick auf Amelies Haken und Fach stellte sie zufrieden fest, dass sie bereits da war und beeilte sich, sich ihre Schürze umzubinden, um mit ihrer Schicht zu beginnen. Im Café selbst wurde sie sofort von ihrer Freundin in die Arme geschlossen und begrüßt, was ihnen böse Blicke vom Chef einbrachte. Jenne nickte ihm entschuldigend und lief zu einem der Tische, um Bestellungen aufzunehmen, hörte aber wohl noch das "ich muss dir was erzählen", das Amelie ihr vorher ins Ohr raunte.

Es waren zwei anstrengende Stunden, wie nicht anders zu erwarten an so einem Tag und Jenne war froh, als sie ihre Schürze ablegen und ins Lager zurück räumen konnte. Anschließend ließ sie sich mit einer ebenso erschöpften Amelie neben die vier Mädchen fallen, die mal wieder über einem Eisbecher auf sie gewartet hatten. Nach dem üblichen Klatsch und Tratsch, wer jetzt mit wem zusammen oder eben nicht mehr zusammen war, welche Urlauber und Campingplatznutzer heiß oder nicht so heiß waren und welche Farbe wohl der neue Bikini von Amelie haben konnte, was sie partout nicht verraten wollte schlug Amelie vor, die anderen sollten schon mal vorgehen, um den Platz zu sichern und Jenne und sie würden nachkommen. Jenne schaute verdutzt auf, aber die Situation klärte sich schnell. Amelie wollte ihr von den wichtigen Ereignissen des letzten Tages erzählen. Die anderen Mädchen hatte sie bereits am Abend bei ihrem gemeinsamen Sport, dem Yoga, unterrichtet. Jenne ging Yoga dann doch ein wenig zu sehr in die 'Tussen-richtung', weswegen sie das Angebot, sie mal mitzunehmen, dankend abgelehnt hatte. Mia, Alexa, Verona und Lena ließen ihre Königin tatsächlich nach einer kurzen Argumentation sitzen und zogen von dannen. Amelie bestellte zwei Spaghetti-Eis, wobei sie großzügig verkündete, sie würde zahlen, und fing an, ihre Geschichte zu erzählen.

"Mhm" murmelte Jenne und kratzte weiter mit ihrem Löffel an den letzten Überbleibseln ihres Spaghetti Eises herum, während sich ein weiterer Redeschwall über ihr erbrach. Hin und wieder blickte sie kurz auf, um Amelie nicht das Gefühl zu geben, es würde sie nicht interessieren, was aber weit untertrieben war. Schon nach den ersten zwei Sätzen war Jenne klar gewesen, dass es sich bei Amelies Erlebnissen um einen Jungen handelte, den sie gestern zum ersten Mal getroffen hatte, wie sie erzählte. Ab da an hatte Jenne auf Durchzug gestellt. Wenn eine ihrer neuen Freundinnen dieses Thema anschlug, wollte sie keine Ratschläge oder Besserwisserin, sondern bloße Unterstützung und die Bestätigung, alles richtig gemacht zu haben oder sie wollten schlicht weg ihre unwiderstehliche Art anhand eines Beispiels hervorheben. Egal welche der zwei Absichten Amelie dieses Mal verfolgte, konzentriertes Zuhören, dass bei dieser Hitze, die trotz der Ventilatoren im Café herrschte, eh kaum möglich war, war nicht erforderlich. Irgendwann schien aber auch Amelie das Ende ihres Berichtes erreicht zu haben und schaute Jenne erwartend an. "Hört sich doch interessant an", sagte diese, ein wenig vorsichtig und hoffend, dass dieser Satz sie zufriedenstellen würde und ihr das Wiederholen der Details erspart blieb, wozu sie nicht in der Lage gewesen wäre. "Dachte ich mir, das du das sagst", grinste Amelie, anscheinend mit dem Gedanken, ihre Freundin echt gut zu kennen und fing dann an ihr Eis zu essen, das in ihrer Schale bereits anfing, sich in einen cremefarbenen See zu verwandeln. "Ach ja, er meinte, er wäre heute auch am See", nuschelte Amelie irgendwann zwischen zwei der letzten Löffel ihres Eises und Jenne wusste was das bedeutete. Es würde ständig gekichert, gelacht, geredet und vor allem beobachtet werden. Sollte der neue Typ außerdem ins Beuteschema Amelies passen, wovon Jenne mal ausging, würden die Sprungtürme heute außerdem einen wichtigen Mittelpunkt der Aufmerksamkeit darstellen und weil der Typ wahrscheinlich nicht alleine kommen würde, würde sie keine ruhige Minute finden können, ohne ein "oh, wie süß" oder "ich glaub der steht auf dich" und "ach quatsch, auf dich". Das Buch konnte sie vergessen. Sie war verärgert darüber, dass sie seit drei Stunden an ihrer Lieblingsstelle festhing und noch keine Aussicht auf weiterlesen bestand. Sie war, weiß Gott nicht, kein Bücherwurm, aber dass sie nicht mal zwei Minuten zeit fand, um das Kapitel zu beenden gab ihr zu denken. "So wir können los", rief Amelie, sprang auf und griff nach ihrer Tasche. Dann lief sie zur Theke und bezahlte die Eis. Ungeduldig wartete sie an der Tür, bis Jenne sie eingeholt hatte, dann liefen auch sie in Richtung See.

Jeder, der mit Fahrrad kam, stellte dieses in die Fahrradständer ein wenig oberhalb des Eiscafés, sodass hier nur Fußgängerverkehr herrschte und man schnell den See erreichen konnte. Auch Jenne und Amelie steckten nur kurze Zeit später ihre Saisonkarten in den Automaten und betraten gut gelaunt das 'Freibad'. Egal wie nah der Liegeplatz der Clique lag, auf dem Weg grüßten gefühlte hundert Menschen und Amelie schenkte jedem ihr schönstes Lächeln. Für Jenne war es kaum auszuhalten, neben diesem Sonnenschein herzugehen, aber irgendwie schaffte sie es doch, sich ein Augenrollen zu verkneifen und hoch erhobenen Hauptes die bereits ausgebreiteten Decken der Mädchen zu erreichen, die die Neuankömmlinge mit einer Umarmung und einem Küsschen-links-Küsschen-rechts begrüßten, bevor sich alle wieder setzten. "Er ist schon da", platzte es gleich aus Mia heraus und fing sich damit böse Blicke der anderen drei ein. "Wir wollten doch mit ihr an ihm vorbei laufen und sie überraschen", zischte Alexa, machte dann aber eine wegwerfende Handbewegung und fing ebenfalls an, Amelie zu berichten. "Er liegt ein bisschen näher am Sprungturm, zusammen mit vier oder fünf anderen Typen, ich kann dir sagen, kein schlechtes Bild", sie kicherte kurz und auch Lena und Mia schmunzelten. " Und sie haben ihr Können schon einmal gaanz kurz zum Besten gegeben", warf Verona ein und nickte zum Sprungturm. "Außerdem", flüsterte Alexa wieder und holte tief Luft, "hat er nach dir gefragt!" Mia quiekte leise auf: "echt? Das hab ich gar nicht mitbekommen!" "Wie auch, du musstest ja ständig diesen Sven oder wie der hieß anstarren", stichelte Verona und ein Hauch von rot erschien auf Mias Wangen. Wieder kicherten sie. Ein etwas ungeduldig wirkendes Räuspern Amelies ließ sie jedoch verstummen. "Also wo lagen sie noch gleich?", fragte sie ernst, sich auf das wesentlich konzentrierend. "Einfach zu den Umkleidekabinen laufen, du kannst sie gar nicht übersehen", antwortete Alexa und deutete unauffällig auf das längliche, weiße Gebäude, über dem ein Schild mit der Aufschrift 'Changing rooms' hing. Jenne hatte keinen blassen Schimmer, warum das auf Englisch geschrieben war, aber da es keinen weiter sonst zu stören schien, schob sie diesen Gedanken schnell wieder bei Seite. "Gut, dann werde ich mich mal umziehen gehen", lächelte Amelie und zwinkerte ihren Freundinnen zu, ehe sie sich zum Gehen umwandte. "Sollen wir nicht mitkommen?", wollte Lena noch wissen, aber Amelie schüttelte nur den Kopf, ohne sich umzudrehen. 'Sie will die Aufmerksamkeit ganz für sich', dachte Jenne, sagte aber nichts, es war ihr egal. Nach zehn Minuten Gerede von Sven, die Mädels waren sich jetzt sicher, dass er so hieß, kam Amelie wieder in Sichtweite und Jenne wusste nicht, ob es ihr nur so vorkam, aber es wurde ruhiger. "Wow", flüsterte Mia und Lena nickte. Amelie sah 'wow' aus. Ihre langen wasserstoffblonden Haare, sie waren gefärbt, dass wusste Jenne, fielen ihr locker über die Schulter und um die Hüften, ihre Tasche trug sie elegant in der Armbeuge, während sie irgendetwas auf ihrem Handy tippte. Der neue Bikini war ziemlich knapp, wie Jenne fand. Er war grün, mir beigen Perlen besetzt, ließ ihre eh schon leuchtenden Augen strahlen, unterstrich Amelies gebräunte, reine Haut und betonte ihre Oberweite und ihren runden Arsch, um den sie wahrscheinlich jedes Mädchen der Stadt beneidete. So ließ sie sich schließlich neben Alexa, Verona, Mia, Lena und Jenne fallen, ein klares Siegerlächeln auf den Lippen. Tatsächlich dauerte es keine fünf Minuten, bis man übertrieben lautes Grölen vom Sprungturm vernehmen konnte. Die Blicke der Mädchen flogen zu den Jungs, die, wie Jenne beobachtete, auch immer wieder zu ihnen rüber schielten. "Sag mal Jenne", wendete Alexa sich an sie und begutachtete sie von oben bis unten, "wieso ziehst du nicht auch endlich die Bluse aus, du hast doch nichts zu verstecken". Sie zwinkerte Jenne zu und diese nickte. Jetzt zu wiedersprechen würde nur eine endlose Diskussion darüber, wie hübsch sie war, herbeiführen, worauf Jenne gut verzichten konnte, obwohl es ihr überhaupt nicht passte, in dem Moment, in dem die Jungs ständig ein Auge auf die Gruppe Mädchen hatten, sich im Bikini zu präsentieren. Für einen kurzen Augenblick kam Jenne der Gedanke, Alexa habe das mit Absicht gesagt, weil sie das Unbehagen, das durchaus in ihr aufgestiegen war, bemerkt hatte, aber diesen Gedanken verwarf sie wieder und machte sich stattdessen daran, ihre Bluse aufzuknöpfen. Vom Sprungturm schallten unnötige Pfiffe zu ihr, welche sie mit einem geübten Todesblick unterbot, was die auf ihr lastende Aufmerksamkeit leider nicht kleiner werden ließ und auch Amelie hatte anscheinend ein Problem mit dem andauernden Szenario, sodass sie sich aufrecht hinsetzte, darauf bedacht, den Jungs wenigstens ein wenig Sicht zu nehmen und bat Lena anschließend, ihr doch bitte den Rücken einzucremen, was diese freudig tat. Jenne war es nur recht so. Sie entschied sich dafür, die Hotpants erst mal noch anzubehalten, um Amelie nicht noch schlecht gelaunter erleben zu müssen und streckte sich zufrieden auf der Decke aus. Nachdem Lena Amelie zufrieden gestellt hatte legten diese sich auch hin und schauten schmunzelnd zu den Jungs herüber, die immer noch übermütig am Wasserrand tobten und sich kaum Macho-like vom Fünfmeterturm stürzten. Irgendwann wurde es Jenne zu blöd, diese müden versuche, die Aufmerksam des wahrscheinlich ganzen Freibads zu erregen, dass sie sich auf den Rücken drehte - sie hätte schließlich schlecht ihren Kopf ans Fußende und ihre Füße ans Kopfende legen können - und sich genüsslich die Sonne ins Gesicht scheinen ließ.

Sie hatten alle eine Zeit lang unter in der Hitze verweilt, als sich Amelie plötzlich erhob und mit einem Ton verkündete, jetzt ins Wasser zu gehen, der weder Fragen noch Widerspruch duldete, doch Alexa und Co verstanden auch so und kicherten. Der Neue Typ, Sven und die anderen hatten sich ein wenig vom Sprungturm entfernt und 'planschten' nun im seichten Wasser, eine Chance, die Amelie sich nicht entgehen ließ. Auf diese Weise konnte sie ihr volles Programm 'Ich bin so hilflos' abziehen, ohne irgendeine Szene veranstalten zu müssen. Und Jenne wusste was das hieß: kreischend aus dem Wasser springen, wenn einer der Jungs 'versehentlich' zu nah neben ihr her rannte und sie vom kühlen Nass erwischt wurde, 'unabsichtliches' in-den-Jungen-stolpern, weil da irgendeine Wurzel, ein Stein oder sonst was am Seegrund lag und das verzweifelte Retten ihrer Haare und ihrer Schminke. Jenne sollte Recht behalten. Die sechs schlenderten, nachdem sie ihre Hotpants doch ausgezogen hatte, erst nur am Strand entlang, höchstens bis zu den Knöcheln im Wasser und kicherten albern herum, den Blicken der Jungs wohl bewusst. Dann trauten sie sich immer weiter rein, sogar fast bis zu den Knien. Jenne schüttelte kaum merklich den Kopf, ihr war das mehr als peinlich. Allerdings war es tatsächlich so voll, dass es nicht wirklich auffiel, dass sie ausgerechnet bei den Jungs in den See liefen, also entschied sie sich dafür, bei ihren Mädels zu bleiben, denn jetzt alleine rauszugehen, war möglicherweise noch ein bisschen peinlicher. Sie versuchte das Beste draus zu machen, versuchte, nicht so übertrieben zu handeln und alles aus ein wenig Entfernung passieren zu lassen. Einfacher gesagt als getan. Die Jungs waren anscheinend auf die Idee gekommen, Fangen zu spielen, oder einer wollte einen Racheakt üben, Jenne wusste es nicht genau, jedenfalls rannten und sprangen sie wild um die sechs herum, kreisten sie ein wie Schafe und fürchteten sich anscheinend nicht vor Körperkontakt, denn bevor  irgendeiner reagieren konnte, hatte der eine, anscheinend Sven, Mia von hinten um die Hüfte gefasst und ihr ein "bitte beschütze mich" ins Ohr geflüstert, was sie auf der Stelle rot anlaufen ließ. Ein verschmitztes, aber zufriedenes Lächeln erschien flüchtig auf seinem Gesicht, ehe er sich wieder daran machte, seinem Widersacher zu entfliehen.

Geschätzt brauchten Amelie und Alexa, die sich am längsten vor dem richtigen Schwimmen drückten eine halbe Stunde, um immer hin bis zu den Schulter ins Wasser zu tauchen und sich überreden zu lassen, mindestens bis zu einer der Bojen zu schwimmen, die das Gebiet der Boote kennzeichnete. Auch diese Diskussion wurde in einer Lautstärke abgehalten, die es unumgänglich machte, die Jungs nicht davon in Kenntnis zu setzen, was der Plan war und so war es wenigstens für Jenne keine Überraschung, als sie auf der Hälfte des Weges von fünf wild kraulenden Schwimmern überholt wurden, die erschöpft an der Boje warteten, als die Mädchen diese im lockeren Plauderbrust erreichten. Jetzt wurde es WIRKLICH bedrückend!! So eine Situation kannte Jenne. Niemand traute sich etwas zu sagen - glaubte sie. "Hey, schön dich hier wiederzusehen, war gestern echt toll mit dir", lächelte ein braungebrannter, dunkelhaariger Typ, der sich sichtlich bemühte, seine Muskeln anzuspannen. Es war an Amelie gerichtet. "Ja, wirklich eine Überraschung, ich hatte auch echt Spaß", antwortete die und brachte ihren unwiderstehlichen Augenaufschlag. Langsam entwickelte sich ein belebtes Gespräch über Fußball, Schule und andere Allerweltsthemen, an dem sich jeder beteiligte. Auch Jenne verstand sich auf anhieb gut mit den Jungs, was sie zwar ein wenig überraschte, ihre Meinung aber nicht ändern würde, denn das Gespräch lief den gewohnten Gang: Jungs sprachen über ihre Hobbies und die Mädchen bewunderten sie. Nach etlichen Witzen, lustigen Geschichten und manchen spitzen Bemerkungen unter den Jungs wurde es für Amelie und die anderen der Clique sichtlich anstrengend, sich noch länger an die Boje zu klammern. 'Yoga eben', dachte Jenne, die für ihren Teil noch nicht außer Atem war. In ihrer alten Stadt war sie regelmäßig zum Kickboxen gegangen, hatte hier aber noch keinen Verein entdecken können. "Meint ihr, ihr schafft es noch zurück, oder sollen wir euch eskortieren?", kam es von Sven, als auch er bemerkte, das die Stimmung der 'Ladies' von Minute zu Minute sank. "Danke, ja", kam es von Mia, ein bisschen zu schnell, aber darüber sahen alle schmunzelnd hinweg und gemeinsam machten sich die elf zurück zum Ufer. Dieses erreichten sie ohne Zwischenfälle, abgesehen von dem geglückten Versuch von Tim, Amelie zu döppen, was ihm WIRKLICH böse Blick einbrachte. Oh ja, sie war auf dem Tiefpunkt. Nicht mal ihr neuer Typ, Jonas, konnte sie in ihrer Wut bremsen. Am Strand hatte sie sich jedoch wieder gefangen und watete entschlossen und mit erhobenem Kopf, als strotze sie vor Kraft, aus dem Wasser, die anderen folgten. Sie musste den Jungs auch den Vorschlag gemacht haben, sich zu ihnen zu legen, denn die Gruppe holte sofort ihre Taschen und Handtücher, Decken waren Jungs ja nicht cool genug, und breiteten alles neben denen der Mädchen aus. Jennes Blicke flogen zur Uhr, als sie sich ein wenig abtrocknete. Es war bereits fünf, also würde sie nur noch eine Stunde hier sitzen und ihnen beim blamieren zu sehen können. Zugegeben, ein wenig süß war's ja – wären sie zehn Jahre alt und nicht sechzehn gewesen. Sie ließ sich wieder auf ihren Platz sinken und versuchte angestrengt, ihren Rücken zu bräunen, denn anders als manche andere – sie schaute zu Amelie – wurde sie nicht einfach so so schnell braun. Die Sonne brannte heiß auf ihren Rücken und obwohl sie wusste, dass sie morgen wahrscheinlich einen Sonnenbrand haben würde, war sie im Moment zu faul, um sich einzucremen und hoffte nur, es würde nicht so schlimm werden, als sie eine kühle Hand auf ihrer Haut spürte. Jonas, der sein Handtuch ihr gegenüber gelegt hatte, wohl weil bei Amelie schon Sven und Tim lagen, strich ihr sanft über den Rücken. "Verdammt heiß", sagte er, Jenne musste ihn wirklich verstört angeguckt haben, und er wurde gleich darauf total rot. "Also dein Rücken", stammelte er. "Du kannst ihn eincremen, wenn es dich stört", murmelte Jenne nur. Die Gänsehaut, die sie bekommen hatte, war bei dem ersten Blick auf ihn verschwunden und nachdem er wirklich die Tube Creme nahm und ihr vorsichtig den Rücken damit massierte, ja, man musste 'massieren' sagen, verstand sie, wieso es den anderen Mädels so viel Freude machte, die Jungs umher zu scheuchen – es fühlte sich wirklich gut an. Die bohrenden Blicke von Amelie ignorierte sie, Jenne war sich sicher, Jonas würde in nicht mal drei Minuten genug haben und sich wieder ganz ihr widmen, außerdem stand sie nicht auf ihn, da war sie sicher. Er machte den Eindruck, Liebe und ähnliches nicht ganz so ernst zu nehmen, wie es manche anderen taten, somit passte er wahrscheinlich perfekt zu Amelie, die, soweit Jenne das beurteilen konnte, ähnlich Ansichten teilte.

 'Wow', dachte Jenne, 'er ist echt gut'. Genüsslich schloss sie die Augen und öffnete sie erst wieder, als ein fröhlich 'Hallo' durch die runde ging, Hände abgeklatscht wurden und das Gekicher wieder losging. Sie wusste nicht, wie lange sie gedöst hatte, Fakt war, Jonas Hände lagen immer noch auf ihrem Rücken und noch immer flogen flüchtige Blick Amelies auf sie zu. Noch etwas benommen richtete Jenne sich auf, strich Jonas' Hand von ihrem Rücken und wühlte in ihrer Tasche nach etwas zu trinken, fand aber nichts. Sie griff nach ihrem Portemonnaie und machte sich auf den Weg zum Kiosk, dessen Schlange bis zum Eingang reichte. Sie seufzte, als sie das bemerkte, kehrte um, zog ihre Hotpants an und stellte sich dann erst an. Die Mädchen konnten ihr sagen, was sie wollten, sie wollte sich nicht ständig präsentieren und beobachtet werden. Dass sie den Neuankömmling nicht beachtet hatte, war ihr nicht aufgefallen und es war auch gewiss keine Absicht gewesen, aber bereuen tat sie es auch nicht, bis jetzt. "Und, was holst du dir?", fragte eine Stimme von hinten. "Das hat dich, glaub ich, nicht zu interessieren", antwortete sie schlecht gelaunt ohne sich umzudrehen. Auf so etwas hatte sie jetzt echt keine Lust. "Und wenn ich dich einladen will?" "Brauchst du nicht" "Was ist los, schlecht gelaunt?" 'Alter, nervt der', dachte Jenne und wünschte sich, doch etwas zu Trinken mitgenommen zu haben oder wenigstens eine kürzere Schlange, um nicht noch bestimmt zehn Minuten vor diesem Kerl stehen zu müssen. Die einzige Lösung, die sie auf die schnelle fand, war, ihn zu beten, ihr die Cola mit zu bringen und sich so erst mal vor ihm zu retten. Also drehte sie sich um. "Ja, ganz schlechte Laune", sagte sie mit einem Augenaufschlag, der dem von Amelie hoffentlich ziemlich nahe kam und so viel Sarkasmus, dass sie befürchtete, er würde es merken. "Aber weißt du was, du kannst was tun. Würdest du für mich ne Cola mitbestellen und mir zu meinem Platz bringen? Ich lieg da vorne, siehst du?" Sie deutete auf die Gruppe Jugendlicher. Der Typ schaute sie skeptisch an, dann nickte er. "Glaub aber nicht, dass ich solche Sachen öfters mache", murmelte er und schüttelte den Kopf, als Jenne ihm das Geld geben wollte. "Ich hab's doch gesagt, ich lad dich ein." Glücklich machte Jenne sich auf den Weg zurück zu ihrer Decke, wohlwissend, dass das ihre schlechteste Schauspielvorstellung gewesen war, die sie in ihrem bisherigen Leben dargeboten hatte, und legte sich wieder neben die anderen. 'Klar, als wenn er das nicht öfters macht', dachte sie belustigt, ehe sie sich den Fragen der anderen stellen musste. "Was hast du denn jetzt gekauft?", fragte Mia, die schon in Svens Armen lag, ein wenig verwirrt. "Irgend so ein Typ hat gesagt er lädt mich ein und bringt mir gleich 'ne Cola". Jenne drehte ihren Kopf aus der Sonne und zu den anderen hin. "Und wie sah der aus?", wollte jetzt Alexa wissen und Jenne seufzte. "Ihr seht ihn doch gleich". "Das ist nicht das selbe", behauptete Lena, die sich hingesetzt hatte und in eine Gummibärchentüte griff, die anscheinend einer der Jungs mitgebracht hatte. "Oh man", murmelte Jenne "Er ist ca. ein-ein halb Köpfe größer als ich, hat straßenköterblonde Haare, ein Haarschnitt – mhm - ja ungefähr so wie Tim" - sie deutete auf die 'Surferfrisur' – "ja, ich glaub das war's." Sie zuckte mit den Schultern, als die Mädchen sie fassungslos ansahen. Sie achtete irgendwie selten auf solche Sachen. "Gut das wir ihn gleich sehen", maulte Verona, "deine Beschreibung passt auf jeden zweiten hier." Jenne nickte nur und drehte sich auf den Rücken. Solange die Sonne noch so stark schien wollte sie sie auch nutzen.

Der Typ stellte die Cola-Dose genau neben Jenne's Ohr, die sich bei dem dumpfen Geräusch erschrocken aufrichtete, wobei die Dose umfiel. "Gut, dass ich sie noch nicht geöffnet hab", lachte der Typ und ließ sich auf dem freien Handtuch nieder. Dann stellte er noch drei Pommes Mayo in die Mitte der Decke und legte mehrere Gabeln daneben. "Danke Zain", nuschelte Sven mit einem der 'Gabeln', es waren Eisstiele mit zwei Spitzen, im Mund. Er hatte es wieder Jennes Erwarten geschafft, sich aus Mias Umklammerung zu befreien, die weniger glücklich auf ihrem Platz zurückgelassen worden war. Jenne stutzte kurz, der Typ vom Kiosk war also der Neuankömmling gewesen, kümmerte sich aber nicht weiter drum, sondern trank genüsslich ihr Cola. Sie überwand sich zu einem angebrachten "Danke" und stellte die Cola-Dose neben ihre Tasche, darauf bedacht, genügend Sicherheitsabstand zwischen sich und sie zu bringen, denn jetzt war die Dose offen, ehe sie sich wieder hinlegte. Sie hatte keine fünf Minuten ihren Frieden. "Darf ich dir den Bauch eincremen." 'Den BAUCH?!", schoss es ihr durch den Kopf, und sie spürte die Hitze in sich aufsteigen. Was war das denn für 'ne Frage!? Aber ehe sie auch nur ein kleines 'Nein' erwidern konnte, machte Amelie sich ihre Entscheidungsfreiheit zu Eigen. "Oh ja, und Jonas cremt meinen Bauch ein!" Sie lächelte Jenne zu und sie wusste, dass es kein Entkommen gab, also nickte sie zögerlich. Sie hatte mal in einer Zeitschrift gelesen, dass das 'Rar-machen' eine Methode sein sollte, um sich Typen zu angeln und das ZU 'Rar-machen' das genaue Gegenteil bewirkte, ihr eigentliches Ziel, aber mit Amelie konnte ihr das nicht so recht gelingen, das spürte sie genau. Zain schnappte sich die Tube und begann, ein wildes Muster auf ihren Bauch zu fabrizieren. Die kalte Creme ließ Jenne kurz erschaudern und sie sah ein Schmunzeln auf seinem Gesicht. Ihn anzusehen, wie er so guckte, könnte sie nicht ertragen, nicht, wenn er genauso lange eincremen würde wie Jonas, der, soweit hatte sie das nachgerechnet, gute 20 Minuten an ihr gesessen hatte. "Macht es dir was aus, wenn ich lese?", fragte sie aus dieser merkwürdigen Position von unten liegend heraus und sah, dass er den Kopf schüttelte. Sie kramte kurz in ihrer Tasche und förderte den Liebes-Abenteuerroman zu Tage. Vorsichtig schlug sie die richtige Seite auf, steckte das Lesezeichen hinten ins Buch und begann zu lesen. "Hey das hab ich auch schon gelesen, es ist wirklich gut. Am Ende kommt…" – sie fiel ihm ins Wort. "Weißt du was? Das ist" – sie machte eine Pause, als suche sie nach einem Wort, das ihre Ansicht perfekt beschrieb - "ganz toll, aber ich ziehe es vor, SELBER zu lesen". Sie hatte den ersten Teil mit so viel Enthusiasmus belegt, dass der zweite, desinteressiert klingende Teil gut zur Geltung kam, wie sie fand. Tatsächlich verstummte Zain und sie suchte die Zeile, in der sie unterbrochen worden war. Kurz darauf hörte sie schrilles Gekicher vom anderen Handtuch zu ihrem Kopfende. Jonas kitzelte Amelie. Man war der cool. Sie spürte, dass auch Zain versuchte, sie zu necken und verdrehte die Augen hinter ihrem Buch. "Versuch's gar nicht erst", murmelte sie und hob das Buch hoch, um ihm einen bösen Blick zuzuwerfen, mit Erfolg. Jenne beeilte sich, das Kapitel zu Ende zu lesen, denn ruhiges Lesen konnte man das hier nicht nennen. Der Held rettete seine Freundin, besiegte den Bösewicht, in diesem Fall irgend so ein wiedererwachtes Monster, und führte seine große Liebe dann sicher aus dem Vulkan. Jenne schlug das Buch zu. Das letzte Kapitel würde sie heute Abend zu Hause verschlingen. "Spann mal deinen Bauch an", hörte sie Zain sagen, als von dem anderen Handtuch bewundernde Worte über Amelies Körper laut wurden. "Nein", gab sie zurück. Sie würde nicht auch noch Complimente-Fishing betreiben, wie sie so etwas nannte. "Aber wenn ich dich kitzle, spannt er sich automatisch an oder?", fragte Zain daraufhin herausfordernd und Jenne schluckte hörbar. "Okay, okay", sagte sie dann und spannte ihre Bauchmuskeln an. 'Lieber freiwillig als gezwungen', dachte sie, denn gekitzelt zu werden konnte sie nicht abhaben, vor allem nicht von Fremden. "Wow", flüsterte Zain, anscheinend mehr zu sich selbst als zu ihr und fuhr mit seinem Finger die leichten Fugen nach, die durch die angespannten Bauchmuskeln entstanden. Ja, sie hatte ein leichtes Six-Pack. Jenne verdrehte die Augen, dann setzte sie sich hin, die Hand von Zain hielt sie somit auch ab, weiter einzucremen. "Okay", murmelte sie, für die anderen gerade noch so hörbar, und begann, sich ihre Bluse anzuziehen. Zain schaute sie verwundert an und auch die anderen guckten ein wenig überrascht. Jenne deutete nur zur Uhr. Es war kurz vor sechs, für sie höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Sie packte ihr Handtuch wieder in die Tasche, brachte die leere Tube Sonnencreme, von der sich im Nachhinein jeder reichlich bedient hatte, zum Mülleimer, steckte sich das Portemonnaie in die Hosentasche, hängte die Sonnenbrille in ihren Ausschnitt und schulterte schließlich die Umhängetasche. Die anderen Mädchen waren aufgestanden und sie holte sich von jeder eine Abschiedsumarmung. Dass auch die Jungs aufgestanden waren ignorierte sie, nur Zain, der sich genau vor sie stellte, konnte sie schlecht wie Luft behandeln. "Du musst um sechs nach Hause?", fragte er und seine Stimme klang ein bisschen spöttisch. Jenne hörte aber auch etwas Unsicheres und schmunzelte in sich hinein. Hatte da jemand seine Ehre verletzt? Ihr war es egal. Er schien nicht der Typ zu sein, der sich schwer tat, neue Mädchen abzuschleppen, aber er war noch nicht fertig. "Wie alt bist du, dass deine Mutter dich so kontrolliert? Zehn?" Er lachte. Das ärgerte Jenne. "Du willst mir vorschreiben, wann und wohin ich gehe?", konterte sie und sah Überraschung in seinen Augen aufblitzen. "Wer bist du? Mein Freund?" Mit diesen Worten schlüpfte sie graziös an dem wie versteinerten Zain vorbei und entfernte sich Richtung Ausgang. Sie hob ein letztes Mal die Hand ohne sich umzudrehen, der Aufmerksamkeit, die immer noch auf ihr ruhte wohl bewusst, dann war sie draußen.

Jenne bog um die nächste Ecke und setzte sich auf eine aus roten Ziegelsteinen geklinkerte Gartenmauer und atmete tief durch. Sie hätte es keine Minute länger zwischen diesen eincrem-verrückten Typen ausgehalten, keinen Moment länger neben diesen kichernden Mädchen überlebt. Drei Stunden waren mehr als genug, fand sie. Natürlich musste sie nicht um sechs zu Hause sein, aber würde sie eine noch frühere Zeit angeben, würden die anderen wahrscheinlich skeptisch werden, egal wie dumm sie manchmal taten, denn welche Familie aß bitte um halb sechs Abendbrot?! Jenne schlenderte nach der kurzen Pause weiter die Straße entlang und bog dann in den Weg entlang der Gärten ein. Sie sog den Geruch nach blühenden Blumen und der nassen Erde ein, war froh über die leichte Brise, die aufgezogen war und beobachtete unauffällig die Familien, die auf ihren Grundstücken grillten. Es roch bald so gut, dass auch Jenne Hunger bekam und als sie einen Blick auf eine der Küchenuhren erhaschen konnte, stellte sie überrascht fest, dass sie bereits zwanzig Minuten auf dem Heimweg war. Sie beeilte sich ein wenig, lief mit zügigem Schritt weiter und kam um halb sieben zu Hause an. Ihre Mutter stand in der Küche, eine Schürze umgebunden und mit einigen Schweißperlen auf der Stirn über einen Kochtopf gebeugt. Sie schaute kurz auf, als die Haustür ins Schloss fiel und nickte Jenne kurz zu, dann schob sie Paprikastückchen von einem Brett mittels eines Messers in den Topf, sodass es kurz zischte und ein wenig spritzte. Durch die offene Tür konnte Jenne sehen, dass auch Manu in der Küche war. Aufgeregt saß er in seinem Hochstuhl und klammerte sich an sein Stofftier. Jenne ging weiter in ihr Zimmer, räumte ihre Tasche aus und hängte die nassen Handtücher zum trocknen auf einen Wäscheständer, der gerade noch ins Badezimmer gepasst hatte. Dann zog sie ihren Bikini aus und vernünftige Unterwäsche an, ehe sie sich ein langes, weites, in Used-optik gestaltetes, rotes Top über den Kopf streifte und die Hotpants wieder anzog, die nur minimal unter dem Top hervorguckte. Zugegeben, sie zog sich wirklich oft um, aber das auch nur in den Ferien. Jenne lief noch schnell auf den Balkon, um ihren iPod zu holen, ehe sie sich zu den andern beiden in die Küche setzte und wartete, bis ihre Mutter das Essen auf den Tisch stellte.

Es war halb acht, als alle aufgegessen hatten, ihr Vater machte mal wieder Überstunden und war nicht zum Essen nach Hause gekommen, und Jenne fertig war, die Küche aufzuräumen, die nach dem eigensinnigen Handeln ihres Bruders immer ein wenig verunstaltet wirkte. Wischen gehörte schon seit längerem zum Grundprogram, wenn gekocht wurde. Sie hatte sich schon darauf eingestellt, den Abend vor ihrem Laptop und vor allem mit dem Buch zu verbringen, als ihr Handy klingelte. Sie stürmte in ihr Zimmer und wühlte verzweifelt in ihrem Bett. Eigentlich müsste es da irgendwo liegen, da sie es morgens als Wecker benutze und dann einfach liegen ließ – aber es war nicht da. 'What the Hell' von Avril Lavigne verstummte kurz, nur um dann von neuem anzufangen und Jenne spürte die Ungeduld des Anrufers schon fast durchs Handy. Endlich erinnerte sie sich, dass sie es heute kurz in der Hosentasche gehabt hatte und rannte zum Kleiderschrank. In ihrer Ordnung, die wahrscheinlich nur sie durchschaute, hatte sie die Hose schnell gefunden und nahm den Anruf erleichtert entgegen. "Na endlich", drang eine genervte Stimme an ihr Ohr. Amelie. "Was gibt's", fragte Jenne, ohne auf den Ton anzuspringen. "Hast du Lust, heute Abend noch was zu unternehmen?" Der Ärger war wie runtergeschluckt. "Mhm, weiß nich, was habt ihr geplant?" Jenne hatte keine Lust. "Mit den Jungs 'nen DVD-Abend, du weißt schon Zain, Jonas, Sven, Tim, Henri und Mitch." Mit den Jungs, Amelie konnte sich das abschminken. "Ne, ich muss noch… … " Ihr viel nichts ein." Ja, was musst du noch? Hör auf dich da raus zu reden, komm doch einfach." Jetzt war's eh zu spät, sich aus dieser Situation zu retten und Jenne sagte niedergeschlagen zu. "Supi!!", freute Amelie sich am anderen Ende. "Wir treffen uns in zehn Minuten bei mir und dann fahren wir zu Jonas"  "Ich hab kein Fahrrad." Vielleicht konnte sie doch noch was reißen. "Was hast du in deiner alten Stadt gemacht?" "Skateboard" "Dann nimm das, bis gleich". Aufgelegt. Zu früh gefreut. Seufzend sah sie in den Spiegel. Das würde wohl so gehen, sagte sie sich, machte wieder einen lockeren Seitenzopf, steckte das Handy in ihre Hosentasche und zog sich Socken an. Zum Skateboarden konnte sie schlecht Flip Flops anziehen. Jenne ging ins Wohnzimmer, um ihre Mum zu fragen, aber die war so mit Manu beschäftigt, dass sie auch eingewilligt hätte ihr ein Pony zu kaufen, wenn Jenne gefragt hatte. Vorsichtshalber schrieb sie dann aber doch einen Zettel und pinnte ihn an das Notizbrett in der Küche.

Bin um spätestens 12 wieder zurück, hab

Schlüssel und Handy, mach' dir keine Sorgen,

Kuss, Jenne

 

Sie holte das Skateboard aus der Ecke neben dem Schuhschrank, zog ihre Nike-Schuhe an und schnappte sich eine schwarze Sommerjacke. Auch wenn es jetzt noch ziemlich warm war, wollte sie später nicht frieren.

Als sie bei Amelie ankam, wartete diese schon draußen vor der Auffahrt. Sie strafte ihr fünf minütiges Zuspätkommen mit einem 'kannst-du-nicht-einmal-pünktlich-sein' Blick und stieg auf ihr Fahrrad, ein pinkes. Jenne musterte sie flüchtig. Sie trug ein hellrosanes Spitzentop und einen hellbraunen Schlauchrock, der zum Fahrradfahren zwar nicht sehr Vorteilhaft war, aber, wie Amelie sicher hoffte, sich dafür in vielen anderen Situationen bewähren würde. Sie hatte natürlich keine Jacke oder ähnliches weder an noch mit, obwohl es schon um einige Grad kälter wurde. Das Ziel würde wahrscheinlich erst gegen Ende des DVD-Abends klar werden, wenn es wieder an den Heimweg ging. Ihre Haare hatte Amelie zu einem lockeren, geflochtenen Zopf nach hinten gebunden, was ihr wirklich stand. Geschminkt war sie kaum, nur ihre grünen Augen leuchteten aus Kajal und Wimperntusche regelrecht hervor. "Kommst du?", sie war schon ein gutes Stück voraus und Jenne beeilte sich, sie einzuholen. Sie holte ein Paar Mal Schwung und glitt neben Amelie die Straße entlang, froh, dass es ein wenig bergab ging.

Sie fuhren fast eine viertel Stunde lang und erreichten ein etwas älteres Gebäude ziemlich außerhalb der Stadt. Schon von weitem erkannte Jenne die Fahrräder, die ungeordnet vor der Haustür standen und war froh, dass sie so viele waren. Sie sprang von ihrem Skateboard und fing es auf, dann wartete sie, bis Amelie ihr Fahrrad abgeschlossen hatte und stieg die zwei Stufen zur Haustür hoch. Gewissenhaft überließ sie ihr das Recht zu klingeln und stellte sich neben sie, das Skateboard unterm Arm. "Ich komme", drang eine dumpfe Stimme durch die Tür nach außen und Jonas öffnete die Tür. Als er die Mädchen erblickte fingen seine Augen an zu blitzen. "Hey", rief er, sodass auch die im Haus Gebliebenen das Eintreffen von Jenne und Amelie bemerkten, "schön, dass ihr gekommen seid" Er umarmte jede der beiden und führte sie dann in ein geräumiges Wohnzimmer. "Sorry, wo kann ich mein Skateboard hinlegen?", fragte Jenne. Elf Augenpaare flogen auf sie zu und es war ihr sichtlich peinlich. "Stell's einfach in den Flur", antwortete Jonas und deutete auf eine Tür. Jenne nickte, stellte das Skateboard um die Ecke und ließ sich zu den anderen auf das Ecksofa plumpsen, die kurz grüßten. Auch Zain tat, als wäre am See nichts weiter Schlimmes vorgefallen und umarmte sie überraschend, als sie saß. In der Mitte zwischen Fernseher und Sofa, ein bisschen nach links verlagert, stand ein niedriger Tisch, auf dem sich Chipstüten und Bierflaschen stapelten. Sogar eine Flasche Roten stand daneben. "Welchen Film wollt ihr gucken?", fragte Alexa sofort. "Wir haben uns noch nicht entschieden", fiel Mia ein, mal wieder in Svens unmittelbarer Nähe. "Mir egal", murmelte Jenne und hoffte, weder einen perversen noch einen Action-Liebesfilm zu gucken, in dem die Kussszenen oft überhand nahmen. "Amelie, du kannst wählen zwischen 'Crank' und 'American Pie'." Verona hielt die DVD-Hüllen in die Höhe. Amelie überlegte kurz und ging dann auf das Regal zu, das eine der Wände komplett einnahm. Hier stapelten sich noch bestimmt mindestens 40 weitere DVDs. Konzentriert ging sie die Titel mit ihrem Finger ab und zog eine aus der Reihe. "Ich würde lieber das gucken", meinte sie schmunzelnd und drehte uns das Cover zu. Street Dance?! "Und ich hab auch noch eine Überraschung für euch" Jenne schwante nichts Gutes. " Ich hab uns als Gruppe zu einem Hip-Hop Kurs angemeldet." Stille. Begeisterung pur, aber als Amelies Gesicht langsam rot wurde versuchten ihre Freundinnen die Situation zu retten. "Das ist doch super" oder "Das wird lustig". Das übliche eben, nur Jenne hatte in Gedanken die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und sich gewünscht, nicht zu dieser Clique gezählt zu werden. Amelie kannte Jonas seit zwei Tagen, vorher war er nur eine flüchtige 'ich-kenn-jemanden-den-du-kennst'-Facebook Bekanntschaft gewesen, ohne Hintergrund. Die anderen kannte sie – seit heute und egal wie nett, sportlich und süß sie vielleicht alle waren, war das anmelden bei einem Kurs doch reichlich früh. Natürlich zahlte sie, wie sie versicherte und ehe die Stimmung noch erdrückender wurde, legte sie den Film ein, dessen Wahlkriterium jetzt klar auf der Hand lag – Begeisterung erwecken.

Tatsächlich sah das Unternehmen, an dem Kurs teilzunehmen, nach dem Film nicht mehr ganz so schwarz aus und 'wer weiß', dachte Jenne, 'vielleicht sagen die Jungs ab'. Das schien allerdings nicht der Fall zu sein. Mia war mit Sven umschlungen in einem der Sessel versunken und freute sich sichtlich auf die gemeinsame Zeit. Auch wenn er davon nicht besonders begeistert zu sein schien, konnte er, wollte er Mia 'halten', sich keinen Rückzieher erlauben und auch Jonas, dessen Stimmrecht und Überzeugungskraft innerhalb der Jungs-Clique dem von Amelie glich, war seit den paar intimen Stellen im Film und dem daraus resultierenden Körperkontakt beim Tanzen Feuer und Flamme, was anscheinend nur Jenne ein wenig beunruhigte. Ein netter Kerl, der gerne Macho war, so schätzte sie ihn ein – unterlegen. Was das Pärchen-Bilden anging lag die Rate in diesem Zimmer eh ziemlich hoch, wie Jenne mit einem Mal feststellte. Sie saß zwischen Alexa und Zain, wobei Alexa ständig von hinten irgendwas ins Ohr geflüstert bekam und dauernd kichern musste. Verona erging es da ähnlich. Sie lag ausgestreckt auf einer Decke auf dem Boden und ab der Mitte des Films hatte Tim sich dazu gesellt, er 'könne nicht mehr sitzen'. Zain schien das ebenfalls zu bemerken und rutschte auffällig unauffällig näher an sie ran. Mia hatte durchgesetzt, den ersten Teil der Twilight-Saga zu gucken, was die Situation für Jenne nicht unbedingt angenehmer werden ließ. Während des ersten Films hatten die Jungs immer wieder ordentlich zugelangt und neben dem Roten auch eine Flasche Wodka gekillt, von der Jenne keine Ahnung hatte, wo sie hergekommen war. Jedenfalls machte der Alkohol, den Zain intus hatte, ihn nicht erträglicher und Jenne sah schon mit Angst dem Hip-Hop Kurs entgegen, bei dem sie ihn Wohl oder Übel als Partner wählen musste. Der Film wurde nach der ersten Hälfte uninteressant. Alle hatten anderweitig 'zu tun' und Jenne ärgerte sich mit Zain herum. Er hatte ihr einen Arm um die Schulter gelegt und zeigte immer wieder auf die anderen. Dabei lallte er etwas wie 'willst du nicht auch' oder ähnliches und Jenne war geschockt, wie wenig Alkohol er vertrug. Okay, vielleicht hatte er die Wodkaflasche nicht gerecht mit den Jungs geteilt, die Mädchen hatten sich da eher zurückgehalten, aber man merkte doch, wenn man genug hatte. Als die Standuhr endlich viertel vor zwölf anzeigte, machte sie sich von ihm los und holte das Skateboard aus dem Flur. Dann ging sie zu Amelie, die komplett in Jonas Armen verschwunden war und zog sie auf die Beine. "Wir müssen los", sagte sie tonlos und Amelie guckte beleidigt. "Ohhhh, ist da jemand neidisch?", stichelte Jonas. "Ja genau", antwortete Jenne nur und zog Amelie zur Tür, die anderen kamen hinterher gestolpert. Alexa, Verona, Mia und Lena hatten offensichtlich nicht das Recht, eine Party nach der Queen zu verlassen und so machten sie sich noch vor Jenne und Amelie aus dem Staub, begleitet von ihren Typen, da man 'Mädchen nachts nicht alleine lassen durfte'. Angetrunken kam das weniger ehrenhaft. Letztendlich standen also nur noch die vier vor dem Haus. Jenne zog ihre Jacke an und war froh, sie mitgenommen zu haben. Amelie war froh, keine mitzuhaben. "Brr, ist das kalt geworden", murmelte sie, für alle verständlich aber mehr zu sich selbst und umschlang ihre Taille mit den Armen. Ein Wink mit dem Zaunpfahl. "Hier, du kannst meine Jacke haben" Jonas griff an den Garderobenhaken, der sich unmittelbar neben der Eingangstür befand und reichte sie Amelie, die sie dankend nahm und anzog. Sie schloss den Reißverschluss und lachte, als ihr der Kragen bis über die Nasenspitze reichte. Dann sog sie tief die Luft ein. "Sie riecht nach dir", flüsterte sie und Jenne hätte weglaufen können vor Lachen. Soweit war Amelie, dass sie die Stammsprüche auskramte. "Na dann" Jonas machte einen Schritt Jenne zu und drückte sie kurz, während Amelie sich von Zain verabschiedete. Dann wurde getauscht und während die anderen Beiden sich die Zunge in den Hals steckten, schloss Zain Jenne nur in seine Arme. Sie erwiderte die Umarmung. Wenn sie den Lover, oder Fast-Lover, es war ja noch nicht offiziell, ihrer mehr oder weniger besten Freundin umarmen konnte, warum dann nicht einen Typen, den sie genauso lange kannte, der aber noch Single war?

Zains Kreuz war breit und muskulös und weil er eh viel größer war als sie, fühlte es sich an, als würde er sie komplett umschließen. Er war warm und Jenne spürte seinen Atem an ihrer Wange. Seine ebenfalls muskulösen Arme drückten sie fest an ihn und als er sich kurz anspannte lief ihr ein Schauer über den Rücken, dann ließ er von ihr ab. Jonas und Amelie waren zu Jennes Erstaunen schon fertig mit verabschieden und sie saß bereits auf dem Fahrrad. Für Jenne hatte die Umarmung nur Sekunden gedauert, aber es mussten mehrere Minuten gewesen sein, Amelies genervten Blick zu urteilen. Jenne hob das Skateboard auf, das sie vor den Umarmungen beiseite gelegt hatte, warf es vor sich und sprang drauf. Dann machte sie sich mit Amelie auf den Weg Richtung Stadt. Amelie sagte merkwürdigerweise kein Wort. "Ist irgendwas?", Jenne konnte sie so nicht sehen. "Ich glaub, ich bin verliebt", seufzte sie und Jenne bereute schon wieder, überhaupt gefragt zu haben.

Sie war um kurz nach 12 zu Hause und bemühte sich, keinen Lärm zu machen. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und streifte sich die Jacke ab, die sie dann auf einen der Haken hing. Sie schlich ins Bad, putze sich die Zähne und lief anschließend in ihr Zimmer. Sie zog sich schnell ihr Nachthemd, ein übergroßes T-Shirt, an und ließ sich erschöpft auf ihr Bett fallen. Nach wenigen Minuten war sie eingeschlafen.

Konnte es noch schlimmer werden?                 

Kapitel 2

 

Auch wenn Jenne sich nach den vergangenen Erlebnissen gewünscht hatte, den kompletten nächsten Tag in ihrem Bett zu verbringen, wurde sie um Punkt acht von ihrer Mutter aus dem Bett gezerrt. Um acht!! Es lief ab wie jeden Morgen. Sie klopfte zweimal an die Tür und betrat dann voller Elan das Zimmer und ließ ein freudiges "Aufstehen, Schätzchen" erklingen, dass sich immer anhörte, als würde der schönste Tag in Jennes Leben auf sie warten – sie wurde jedes Mal aufs Neue enttäuscht. Anschließend schritt ihre Mum durch den kleinen Raum zu den Fenstern und zog die schweren, hellgrünen Vorhänge beiseite, sodass das Sonnenlicht hereinflutete. Egal wie müde Jenne noch war, schlafen konnte sie nicht mehr und der einzige Grund für dieses allmorgendliche Prozedere war – ihr kleiner Bruder. Er konnte nicht länger schlafen, nicht einen einzigen Tag und weil Jenne's Mutter sich morgens restlos überfordert fühlte, hatte auch ihre Tochter gnadenlos darunter zu leiden. In der Schulzeit stellte das zwar kein Problem dar, aber Ferien waren Ferien. Frühstück machen, mit ihm spielen, wickeln, spazieren gehen. Jenne verstand nicht, warum das nicht bis halb elf warten konnte. Sie zog sich ihre Decke über den Kopf, die ihr keine Sekunde später auch genommen wurde und stand quengelnd auf. Der gestrige Abend hatte Spuren hinterlassen, wie sie mit einem Blick in den Spiegel feststellte. Tiefe Ringe zeichneten sich unter ihren verschlafenen Augen ab und überhaupt ihr ganzer Körper wirkte ziemlich kraftlos. Sie schleppte sich ins Bad und nach einer halben Stunde sah sie nach der Dusche und dem Schminken fast aus, wie ein neuer Mensch. Gut – naja, was heißt gut, jedenfalls besser als vorher – gelaunt kreuzte sie in der Küche auf, in der ihre Mutter und Manu schon warteten. "Geh mit ihm spazieren während ich den Tisch decke und das Frühstück vorbereite", Sie deutete auf Manu, der sich schon völlig wach in der Welt umschaute. "Mum, er ist kein Hund", maulte Jenne, die hoffte, einfach auf dem Küchenstuhl sitzen bleiben zu können, auf den sie sich hatte fallen lassen. "Und bring Brötchen mit, das Geld liegt auf der Kommode im Flur" Ihre Mutter hatte den Einwurf überhört. "Okay, okay" gab sich Jenne geschlagen, am frühen Morgen nicht in Diskutierlaune, und beeilte sich beim umziehen. Keine fünf Minuten später stand sie in einer khakifarbenen Stoffhotpants mit Bündchen, einem einfach weißen Top, ok, es waren zwei, und Manu auf dem Arm im Flur. Sie schlüpfte in ihre Nikes, angelte mit ihrer freien Hand nach dem Geld und ließ es in ihrer Hosentasche verschwinden, ehe sie die Wohnung verließ. Im Erdgeschoss setzte sie Manu in den dort stehenden Kinderwagen und lenkte ihn geschickt durch und über die Türschwelle ins Freie. Es war schon ziemlich warm. Der Bäcker lag neben dem Supermarkt, sie würde also nicht allzu lange brauchen und so früh morgens fuhren nur wenige zum See. Ein Blick auf ihr Handy verriet ihr, dass es bereits zwanzig vor neun war – und dass Amelie sie schon zwei Mal versucht hatte, sie zu erreichen. 'Das muss gewesen sein, als ich duschen war', dachte Jenne und las die SMS, die zur Zeit der Anrufe ebenfalls eingegangen war.

"Hi, ich bins :* die jungs hatten ne total verrückte idee:

frühstück am see!!! also nich im freibad sonders i-wo auf den steinen

hast du lust mizukommen, alle andern haben schon zugesagt

ich kann dich i-wie nich erreichen aber schreib zurück ok?

Hoffe du kommst :*"

Wie konnten die nach dem Abend bitte alle schon wieder auf der Höhe sein? Und am See?! Ernsthaft? Am See?! Jenne hätte heulen können und startete eine Antwort-SMS:

"Mhh, kommt drauf an wie viel uhr bin grad erst aufgestanden

 und eigentlich noch voll müde"

Die Rückmeldung ließ nicht lange auf sich warten:

"Alexa komt auch ein bischen später wir andern gehen schon vor

 Ach ja wen du nich komst werd ich böse ;) "

Das mit dem böse werden war ernst gemeint, Smiley hin oder her, das wusste Jenne. Sie konnte nur hoffen, dass sie die anderen nicht ausgerechnet an der Querstraße abpassen würde, in diesem Moment ihre einzige Sorge. Sie wurde instinktiv schneller, während sie eine weitere SMS schrieb:

"Wo seid ihr den grad? Und wer bringt was mit?"

Amelie schien ihr Handy keine Minute aus den Augen zu lassen, nicht mal eine Sekunde:

"Grad angekomen also beeil dich und die jungs organisieren das

mach dir als keine sorgen kom nur endlich

es sieht so aus als würde hier jemand wahnsinig auf dich warten"

Erleichtert verlangsamte Jenne ihre Schritte wieder, sie konnte sie nicht treffen und da hatte sie auch schon die Straße überquert und den Becker erreicht. Immer noch froh, der ersten Katastrophe des Tages aus dem Weg gegangen zu sein überflog sie die SMS ein weiteres Mal, um eine passende Antwort zu geben. Sie stutzte. 'Auf sie warten'?! Den zweiten Teil der Nachricht hatte sie vorhin gedankenlos gelesen, so befreiend hatte sich das 'wir sind schon da' für sie angefühlt. Sie dachte kurz nach. Was sollte das denn jetzt?! Sollte das ein Köder sein? Damit sie sich beeilte? Amelie kannte sie wirklich nicht. Sie seufzte. Was konnte sie darauf schon antworten. 'Hey, ich bin eigentlich nich scharf drauf, egal-welchen-Typen zu treffen'? kam irgendwie blöd. Schließlich schrieb sie:

"Jemand wartet? Ich hoffe das bist du :* ja ich beeil mich

20 min, ok? Esst nich alles auf"

Gesendet. Sie steckte das Handy wieder in ihre Hosentasche. Es vibrierte zwar schon wieder, aber jetzt musste sie erst die Brötchen besorgen, die überfreundliche Fassade des Verkäufers bröckelte bereits. Mit der Brötchentüte in der Hand verließ sie den Laden wieder und lief Richtung Zuhause. Jenne hatte mitgedacht und ein paar weniger gekauft. Sie wollte sich gerade wieder ihrem Handy widmen, als Manu anfing zu schreien. 'Auch das noch', fluchte sie und versuchte ihren Bruder wieder ruhig zu bekommen. Sie musste durch die halbe Wohnsiedlung, mit einem lauten Baby war das morgens kein Spaziergang und trug nicht zur Integration in die Nachbarschaft bei, so viel war sicher. Jenne erkannte das Problem, als sie sich zu dem Schreihals beugte: sein Schnuller war weg. "Ernsthaft?", fragte sie sich laut und joggte mit dem Kinderwagen den Weg zurück zur Bäckerei. Das konnte sie jetzt gar nicht gebrauchen! Das Gesuchte fand sich tatsächlich neben der Tür des Ladens. Ein wenig erschöpft rieb sie ihn kurz an ihrer Hose sauber und steckte ihn Manu in den Mund. Sollte er an den Bakterien doch sterben. Mit finsterer Miene wollte sie sich gerade umdrehen und den Heimweg erneut antreten, als ihr eines der Plakate an der Gebäudewand ins Auge fiel. Es war Werbung für ein Fitnessstudio, das, so stand es geschrieben, neben zahlreichen Angeboten auch Boxen als Sportart zu Auswahl stellte – darunter auch Kickboxen. Ohne zu Zögern riss Jenne das Plakat einfach ab, steckte es sich in die Hosentasche und fingerte gleichzeitig das Handy heraus. Schmunzelnd lief sie nach Hause, nachdem sie die SMS von Amelie gelesen hatte, die ihr nicht die gute Laune nehmen konnte, auch wenn sie nicht ganz ihren Wünschen entsprach:

"Haha sehr wizig J du weißt das ich Zain meine :o

Und nein machen wir nich die jungs haben sich ein spiel überlegt und

wir warten bis alle da sind"

Sie hätte vielleicht stutzig werden sollen, wurde sie aber nicht. Stattdessen kam sie immer noch gut gelaunt zu Hause an. Ihre Mutter öffnete ihr die Tür. Jenne setzte Manu wieder in den Hochstuhl in die Küche, drückte ihrer Mum einen Kuss auf die Wange und verschwand mit den Worten "Ich frühstücke bei einer Freundin" und dem Haustürschlüssel wieder aus der Tür. Sie hielt kurz inne. Wusste sie überhaupt wo sie hin musste? Der See war groß und sie war nicht scharf drauf, einmal komplett herum zu laufen, ehe sie was in den Magen bekam - der Morgen war anstrengend genug gewesen. Sie schloss die Wohnung also ein weiteres Mal auf, schnappte sich das Skateboard aus der Ecke und war wieder weg. Um den See verlief glücklicherweise eine geteerte Straße, wodurch sich die Stecke auf Rollen weniger anstrengend zurücklegen ließ. Dieses Mal fuhr sie doch die von allen genutzte Straße entlang, mit der Hoffnung, den Weg der anderen zurückverfolgen zu können. An der Kreuzung von dem Rundweg vor den Fahrradständern stoppte sie kurz. Auf dem Boden waren tatsächlich Kreidepfeile gezeichnet worden, die nach links abbogen. Um Sicher zu gehen, dass die Pfeile auch wirklich von ihrer Clique beziehungsweise den Jungs kamen, kramte sie nach ihrem Handy.

"Den Pfeilen folgen?",

schrieb sie zu Amelie, die sogleich antwortete:

"Den Pfeilen folgen ;) "

Jenne zuckte mit den Schultern, das Handy verschwand in der Hosentasche, sie sprang auf ihr Skateboard und lenkte nach links. Sie musste nicht lange warten, bald tauchten weitere Pfeile auf und nach wenigen Minuten erreichte sie das Frühstückslager, ausgebreitet auf einer Decke. Amelie und auch Mia, Lena und Verona waren aufgesprungen um sie mit einer herzhaften Umarmung zu begrüßen. Von den Jungs waren nur Jonas und Zain aufgestanden und auch die umarmte Jenne, wenn auch nur halbherzig und kurz, was die zwei anscheinend bemerkten und etwas Unverständliches murmelten. "Jetzt fehlt nur noch Alexa", freute sich Mia, wie es aussah schon ganz gespannt auf das Spiel. "Erklärt doch schon mal", bettelte Amelie mit einem weiteren, perfekten Augenaufschlag und Jonas ließ sich erweichen. "Es ist ein bisschen wie Flaschendrehen" Jenne verschluckte sich am Orangensaft, trinken war schon erlaubt, und musste husten. Flaschendrehen? Jonas fuhr unbeirrt fort: "Jeder kommt der Reihe nach dran. Man muss einen Zettel ziehen. Einen hieraus" – er heilt einen Schuhkarton voller Papierschnipsel hoch – "und einen hieraus" – Tim zeigte auf einen weiteren– "auf dem einen steht, was man machen muss und auf dem anderen mit wem. Jungs und Mädchen sind dabei nochmal unterteilt" – er schmunzelte kurz- "Jede Aufgabe hat was mit Essen zu tun, also so was wie 'teile dir mit blablabla eine Erdbeere' oder so'", erläuterte Sven weiter. Die Mädchen kicherten bei dem Gedanken, Jenne hustete nur noch doller. "Alles in Ordnung mit dir?", fragte Jonas und Jenne konnte die scheinheilige Betonung deutlich heraushören, "wenn du nicht willst, können wir auch einfach alle ganz normal frühstücken" Funkelnde Blicke richteten sich augenblicklich auf sie und sie schüttelte den Kopf. "Das geht schon", stotterte sie schnell und war froh, dass die Mädels sich wieder abwandten. Sie seufzte innerlich. Wenn sie mit denen befreundet bleiben wollte, was fürs erste ganz außer Frage stand, schließlich wollte sie keinen Streit und Feinde, ehe die Schule angefangen hatte, musste sie Wohl oder Übel kooperieren. Sie ignorierte den Stoß in die Rippen, den Jonas Zain mit seinem Ellenbogen versetzte und hoffte mal wieder, das Beste aus dieser Situation zu machen und sie außerdem zu überstehen.

Ihre Hoffnung starb, als Alexa wild winkend um die Ecke bog und Jenne mit den anderen zur Begrüßung aufstand. Sie war verloren, endgültig, denn auch Alexa war hellauf begeistert von dem Spiel. Diesmal seufzte Jenne hörbar und setzte sich mit den anderen in einen Kreis auf die Decke, die auf dem Stein am Seeufer ausgebreitet war, die Zettelboxen und das Essen in der Mitte. Die Jungs hatten sich anscheinend richtig Mühe gegeben. In kleinen Dosen waren verschiedene Obstsorten gewürfelt, es gab Brötchen, Nutella, Marmelade, Aufschnitt und Käse, Orangensaft und sogar heißen Kaffee und Kakao, was bei den herrschenden Temperaturen um fast zwanzig Grad vielleicht ein wenig übertrieben war. Nachdem alle saßen und Alexa das Spiel noch einmal in der Kurzfassung erklärt worden war, ging es los.

Amelie durfte und wollte anfangen und zog aufgeregt einen der Zettel, auf denen die Aufgaben standen.

"Unterziehe deinem Partner einen Geschmackstest. Für jede richtige

Antwort gib ihm einen Kuss auf die Wange – Höchstpunktzahl: 7"

Sie zog den Zettel mit dem Namen: Tim. – Die Enttäuschung konnte sie nicht verstecken, aber sie nickte bereitwillig. Jonas verband Tim mit einem mitgebrachten Schal die Augen und ohne ein Wort einigte man sich auf sieben Früchte. Jenne hatte die Aufgabe anfangs für nicht so schwer befunden, aber als Sven jetzt noch weitere Dosen aus seinem Rucksack hervorholte, in denen sich weitere Obstsorten versteckt hielten, von denen sie noch nie gehört hatte, verwunderte es sie nicht, dass Tim nur drei der sieben Küsse kassierte. Danach kam Mia dran. Sie zitterte leicht, als sie ihre Hand in den Karton steckte und einen Zettel nahm. 

"Iss mit deinem Partner eine Brotstange wie es Susi und

Strolch in dem Film mit Spaghetti tun"

Sie kicherte und zog schnell einen Namen: Sven. Ihren erleichterten, glücklichen Seufzer konnte sie nicht unterdrücken und wandte sich zu ihm. Zain reichte ihnen eine der Brotstangen und die beiden fingen unter den Pfiffen der Jungs und dem Gekicher der Mädchen an, an dem Gebäck zu knabbern, bis sie sich in der Mitte trafen. Mia war rot wie eine Tomate geworden und auch Sven war nicht mehr so cool wie sonst. Peinlich berührt drehten sie sich wieder in den Kreis. "Los Alexa, du bist dran", murmelte Mia mit gesenktem Blick und Alexa nickte, dann streckte sie ihre Hand nach den Zetteln aus.

"Iss eine komplette Banane, die dein Partner mit dem Mund hält"

Jenne sah den Schauer, der Alexa über den Rücken lief. Ja, die Aufgaben wurden nicht besser. Und das gab ihr zu denken. Nach Alexa kamen nur noch Verona und Lena, bevor auch sie einen dieser Teufelszettel ziehen musste. Sie hatte sich schon extra am weitesten nach hinten gesetzt, um als letzte der Mädchen, sie hatte sich nicht getraut, zwischen zwei Jungs zu sitzen dran zu kommen, sodass sie direkt am Abhang saß und das bedeutete, mal wieder neben Zain hocken zu müssen. Dieser hatte sich aber wieder unter Kontrolle, anders als gestern Abend, und war anscheinend ein bisschen vorsichtiger geworden. Seine Erinnerungen waren also noch da. Die vorherrschende Sitzordnung sah also folgendermaßen aus: Mädchen links, Jungs rechts, wenn man auf dem Weg stand. Amelie und Jonas bildeten den einen Übergang, Zain und Jenne den zweiten, genau gegenüber. Sie seufzte leise. Vielleicht würde ja noch ein Wunder geschehen, das die Jungs verschwinden ließ oder so. "Alles okay bei dir?" Zain hatte den Seufzer gehört und schaute sie fragend an. "Jaaaa", gab Jenne langgezogen zurück und widmete sich wieder Alexa anstelle ihrer Gedanken, die gerade langsam den Namenszettel auseinanderfaltete. Die Luft knisterte förmlich vor Anspannung, nur über Jenne lag ein großes Loch Ruhe. Sie stellte fest, dass sie immer noch ein wenig müde war. Ihr Interesse an diesem Spiel minimierte sich auf bloße Anwesenheit. "Jonas" stand auf dem Zettelchen geschrieben und obwohl Amelie mit den dümmsten Argumenten versuchte, die folgende Aktion zu unterbieten, waren sich alle einig, dass es unfair gewesen wär, hätte Alexa ihren Partner oder die Aufgabe wechseln dürfen. Henri schälte eine Banane und reichte sie Jonas, der sie zwischen die Zähne nahm. Alexa stand auf, ging zu ihm hin und beugte sich  runter, dann fing sie an, langsam von der Banane abzubeißen. Sie begann außen, musste aber irgendwann auch das Stück essen, das von Jonas 'festgehalten' wurde. Das Kreischen von Mia und Lena wurde lauter, je weiter Alexa sich diesem Stück näherte und die Augenbrauen von Amelie bildeten eine immer tiefere Falte. Alle schienen Gefallen an diesem Spiel zu haben, besonders die Jungs, nur Jenne saß abweisend auf ihrem Platz. Egal wie lustig das gerade aussah, ihr kam ständig das Bild mit ihr anstelle von Alexa in den Kopf, sie hätte es schließlich auch sein können, die diese Aufgabe und diesen Namen ziehen hätte können. Bei den anderen Mädchen würde das zwar auch der Fall sein, aber diese schienen darüber nicht so beunruhigt wie Jenne. Schließlich hatte Alexa es geschafft, Jonas die Banane aus dem Mund zu essen. Sie war ihm wirklich nahe - ihre Nasen berührten sich fast - und ehe da noch weiteres passieren konnte, es sah da gerade ziemlich magisch zwischen ihnen aus, erregte Amelie Aufmerksamkeit. "Ich bin dafür, dass jetzt erst ein paar von euch drankommen", warf sie ein und zeigte auf die Gruppe Jungs. Diese nickten einstimmig und Jenne atmete leise tief durch. Jetzt würde sie die letzte sein, die sich einer der Herausforderungen stellen musste und auch wenn es durchaus sein konnte, dass ein Junge ihren Namen zog, stellte sie sich das nur halb so schlimm vor, wie als würde sie selber agieren müssen. Mitch zog zuerst, womit sich das mit der Reihenfolge auch schon erledigt hätte, denn er saß einfach mitten drin.  

"Füttere deinen Partner mit gefesselten Händen mit Obststückchen"

Lena. Anscheinend sind nicht alle Aufgaben mit Liebesbeweisen verbunden, freute sich Jenne in Gedanken und ihre Hoffnungen, dieses Frühstück ohne schwerwiegende Konsequenzen hinter sich zu bringen, wuchsen. Lena und Mitch brachten das schnell zu Ende, aber anders als Jenne gedacht hatte, nahm Mitch keine Gabel in den Mund, sondern fütterte Lena kussähnlich. Lief da auch was?! Was war nur los mit ihren 'Freundinnen'? Waren hier alle soooo verzweifelt, als dass sie die nächste komplette Clique voller Jungs abschleppen mussten oder hatte Jenne eine Wette verpasst? Es war ihr ein Rätsel. Jonas sollte der nächste sein und Jenne spürte die Hand, die sich in ihren Arm krallte – Amelies Hand. Wann sie sich neben Jenne gesetzt hatte, war ihr ein Rätsel und im Moment war sie nicht sonderlich glücklich darüber, denn Amelie ging regelmäßig in ein Nagestudio. Dementsprechend bohrten sich ihre Fingernägel in Jennes Haut und sie befürchtete schon, es würde Anfangen zu bluten. Jedenfalls tat es einfach weh.

"Kaffee schmeckt nur mit – genau, Zucker. Trinke einen

ordentlichen Schluck schwarzen Kaffee und lecke dann die

mit Zucker bedeckten Lippen deines Partners ab"

laß er laut vor und grinste verschmitzt. Ihm schien die Aufgabe nichts auszumachen und Jennes Arm musste weitere Qualen erleiden. Gespielt langsam griff Jonas jetzt in den Namenszettel-Karton. 'Übertreib, die Welt wird es überleben', dachte Jenne, sagte aber nichts. Nachdem er erst selbst geguckt hatte, hielt Jonas das Zettelchen für die anderen lesbar hoch. Jenne. Die Fingernägel bohrten sich noch ein einmal kräftiger in ihren Arm, ehe die Hand von ihr abließ. Jennes Magen zog sich zusammen und sie bekam ein Schwindelgefühl. Das Wort 'Zufall' würde sie in Zukunft, wenn es noch eine gab, vorsichtiger gebrauchen. "Alles okay bei dir?" deutlicher Hohn schwang in Jonas Stimme mit, als er sich den Kaffee in eine Tasse goss. Lena tippte Jenne an, die daraufhin aus ihren Todesvisionen erwachte. Ihr Leben war an ihr vorbeigezogen, ihre schöne Kindheit, ihre Schulzeit, ihre alten Freundinnen, ihr Kleiderschrank. Sie wusste nicht, warum sie eine solche Angst verspürte. Es wäre nicht mal ein richtiger Kuss. Okay, es wäre schlimmer - irgendwie ekliger und…. näher und wahrscheinlich auch länger, aber im Grunde hatte es nichts zu bedeuten. liebestechnisch und so. Oder?!! Sie entspannte sich ein wenig. Das blitzen, dass sie aus ihren Augenwinkeln wahrnahm, musste Amelie sein, aber so sehr Jenne es sich auch wünschen mochte, aus dieser Nummer würde sie nicht raus kommen. "Jetzt mach schon", drängte Sven und grinste, "schmier' dir den Zucker auf die Lippen" 'Wieso finden das nur alle so lustig außer mir selbst – und natürlich Amelie', schoss es Jenne durch den Kopf, nahm aber schweigend den Zuckerpott und versuchte so gut es ging, ihre Lippen damit einzureiben. "Das reicht jetzt", maulte Amelie genervt und auch ein wenig verletzt, "bringt es endlich hinter euch" Jenne schluckte, als Jonas aufstand und auf sie zu kam und wich instinktiv ein wenig zurück, was im sitzen wahrscheinlich ziemlich ehrfürchtig ausgesehen haben musste. 'Schon wieder dieses gruselige Lächeln', dachte Jenne, als sich Jonas vor sie kniete, einen großen Schluck Kaffee nahm und ihrem Gesicht langsam immer näher kam. Sein braungebrannter Körper, seine dunklen Haare, seine weißen Zähne und die blauen Augen, einfach alles an ihm sah in Jennes Augen falsch aus. Seine Hand stützte er neben ihre Hüfte, sodass er sich über ihr hielt. Jenne konnte es nicht ändern, sie rückte Zentimeter für Zentimeter weiter nach hinten, Jonas mit ihren Augen fixiert. Gerade als er eine schnelle Bewegung in ihre Richtung machte, fuhr Jenne reflexartig von ihm weg – und bemerkte zu spät, dass der Stein, auf dem sie die Decke ausgebreitet hatten, endete. Ihre Hände, auf die sie sich ebenfalls abgestützt hatte, fanden keinen Halt mehr und sie fiel den halben Meter vom Fels in den See, wobei sie sich gehörig den Rücken aufschrammte.

Das Wasser war ziemlich kalt, es war ja auch noch früh, und brachte sie wieder zu Verstand. Sie schloss kurz die Augen und ordnete ihre Gedanken. Am liebsten wäre sie gar nicht wieder aufgetaucht, ewig unter Wasser geblieben, wo die Stimmen der anderen sie nicht erreichen konnten und sie in keine Liebestragödien verwickelt werden konnte. Und sie wollte auch nicht wissen, was da oben gerade los war. Amelie war wahrscheinlich zwar nicht mehr sauer, dafür sagte ihr ein Gefühl, dass sie Jonas ganz schön gekränkt hatte und so wie er ihr nachgeblickt hatte, als sie gestürzt war, würde er das nicht auf sich sitzen lassen, was allerdings erneut Stress mit Amelie bedeuten würde.         Wann hatte ihr Leben angefangen, solche Situationen heraufzubeschwören?! Wann hatte sie sich so tief in die Scheiße geritten?!

Erst gestern, oder nicht?!

Ein dumpfer Platscher direkt neben sich ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken und sie verschluckte sich bei dem Versuch, nach Luft zu schnappen. Panisch fing sie an, wild um sich zu schlagen, als eine Hand nach ihrem Handgelenk fasste und sie nach oben zog. Hustend tauchte ihr Kopf aus dem Wasser und jemand hielt sie an der Oberfläche, bis sie sich wieder beruhigt hatte. "Alles in Ordnung?", fragte Zain. Sie schaute zu dem Vorsprung. Mehrere Köpfe blickten besorgt zu ihnen herunter und Jenne nickte noch etwas benommen. Dann wurde sie Richtung Ufer geschleppt und Zain trug sie schließlich an einer flachen Böschung aus dem Wasser. Die anderen waren ihnen über den Weg gefolgt und Jenne errötete leicht. "Schon gut", murmelte sie und versuchte, ihn dazu zu bringen, sie abzusetzen, "Mir geht’s wieder gut" Aber Zain schüttelte nur den Kopf und blickte ihr besorgt in die Augen. Dann trug er sie weiter bis zur Decke, auf der Jonas immer noch regungslos kniete. Amelie und Co folgten. Jenne hatte gar nicht bemerkt, dass Jonas nicht mitgekommen war, um sie zu holen, aber das war im Moment ihre kleinste Sorge. Zain wollte sie einfach nicht absetzten. Irgendwo fand sie das schon süß, musste sie gestehen, aber die Angst, wieder auf irgendeine Masche reinzufallen überwog und sie machte sich schließlich frei. Erschöpft ließ sie sich auf die Decke sinken, darauf bedacht, den Abstand zum Rand zu wahren, und legte sich auf den Rücken. Die Sonne stand schon höher am Himmel und die Sonnenstrahlen wärmten sie über den Schock hinweg. Ein paar Vögel zogen vorüber und einige Wolken standen am Himmel, kein Wind wehte. Es wurde ihr schwarz vor Augen.

Jemand ohrfeigte sie zaghaft und Jenne blinzelte. "Siehst du, ich hab doch gesagt es funktioniert, genau wie in den Filmen", sagte Tim, der neben ihr stand und lächelte, die Stimmung wurde ein wenig lockerer. Erst jetzt merkte Jenne, dass ihr Kopf auf Zains Schoß lag und er ihr Gesicht vorsichtig in seinen Händen hielt. Sie atmete einmal tief durch und richtete sich dann langsam auf. Alexa reichte ihr eine Wasserflasche, woraus Jenne dankend einen großen Schluck trank, dann drehte sie sich zu Zain. "Hey… danke für das gerade", stotterte sie ein wenig unsicher und umarmte ihn kurz aber ehrlich, ehe sie aufstand und nach ihrem Skateboard griff. "Ich fahr dann mal." Sie sprang auf und entfernte sich, elf irritiert guckende Jugendliche zurücklassend. 'Tut mal nicht so, als sei ich grade fast gestorben', dachte sie sich noch, auch wenn ihr im Nachhinein klar wurde, dass das vielleicht der Wahrheit entsprach.

Jenne war froh, dass sie zwei Tops trug, dass es Sommer und warm war, dass Zain sie gerettet hatte und nicht Jonas, dass sie ins Wasser gefallen war, ehe die Aufgabe ausgeführt werden konnte und sie war froh über Zains Verhalten ihr gegenüber. Worüber sie nicht froh war, war die Tatsache, dass es soweit hatte kommen müssen. Sie wusste nicht, ob sie sich ihre Angst nur einbildete, ob sie Schuld war, ob sie überreagierte. Der Flyer von dem Fitnessstudio war verloren gegangen und ihr Handy, das sich zwar noch in ihrer Hosentasche befand, hatte dieses Abenteuer nicht überlebt. Zuviel Wasser. Auch ihre Schuhe schienen nicht ohne Schaden davon gekommen zu sein. Nikes. Nicht das billigste. Sie grummelte leise vor sich hin.

Auf dem Weg nach Hause trocknete sie schnell, sodass sie nicht mehr tropfte, als sie die Wohnung betrat – der Haustürschlüssel war glücklicherweise auch noch in ihrem Besitz – und Jenne beeilte sich, ungesehen in ihr Zimmer zu kommen. Sie konnte eine Moralpredigt jetzt nicht verkraften. Sie schaffte es tatsächlich, ohne von ihrer Mutter aufgehalten zu werden und warf sich auf ihr Bett, nachdem sie die nassen Sachen ausgezogen und ihr Schlaf-T-Shirt angezogen hatte. Nach einigen Minuten stumpfes Daliegen schnappte sie sich ihren Laptop vom Nachtschränkchen und öffnete das Firefox Fenster. Sie war noch unschlüssig, was sie machen wollte, deshalb meldete sie sich erst mal bei Facebook an. Eigentlich war sie nicht so oft on, aber spätestens seit sie bei Amelie in der Clique war, hatte sich ihr Account bewährt. Sie war gleich in die Gruppe der anderen fünf Mädchen aufgenommen worden und sie planten ständig Pyjama-Partys oder ähnliches und quatschten über Jungs. Man blieb auf dem Laufenden, so viel war sicher. Jenne checkte ihre Neuigkeiten und ging dann die Freundschaftsanfragen durch. Sie nahm noch lange nicht jeden an, aber dieses Mal hätte sie es sich auch denken können - Zain, Jonas und Co. Natürlich nahm sie sie an. So zimperlich war sie dann doch nicht und sie wollte nicht wissen was passieren würde, wenn einer von denen sie vor ihren Mädels darauf ansprach. Nachdem sie flüchtig alle neuen Bilder und Posts zur Kenntnis genommen hatte, loggte sie sich wieder aus. Liken und Kommentieren tat sie selten, und auch mit eigenen Bildern und Posts schmiss sie nicht gerade so um sich.  Außerdem gab es nichts schlimmeres, als angeschrieben zu werden, wenn man keine Lust hatte, zu schreiben, wie sie fand und beugte solchen Situationen instinktiv vor. Jenne startete eine ihrer Playlists und setzte sich an ihren Schreibtisch. Irgendwas musste sie jetzt machen und das erste, was ihr in den Sinn kam, war eine To-Do-List. Jeder machte so etwas hin und wieder, um ein Ziel zu erreichen, glaubte sie jedenfalls. Also nahm sie einen ihrer College-Blöcke aus der einzigen Schublade des Schreibtisches, schlug ihn auf, schnappte sich einen Kuli und begann zu überlegen. "Als erstes muss ich irgendwie an Geld für ein neues Handy kommen", murmelte sie vor sich hin. Denn außer für Amelies Anrufe und Unternehmungen diente es auch, um mit ihren alten Freundinnen in Verbindung zu bleiben. Sie hatten sich versprochen, in den Ferien zu treffen und aufgrund von verschiedenen Urlauben die vorletzte Woche ausgewählt. Da keiner von ihnen Facebook hatte und Jenne keiner weiteren Internetcommunity beiwohnte, schrieben sie regelmäßig SMS. 'Und das möglichst bald', fügte sie in Gedanken hinzu, ihr blieben zwei Wochen. Zusätzlich würden ihre abendlichen Aktivitäten ohne Handy drastisch eingeschränkt werden. Auf den Zettel kritzelte sie nur ein '1: Job suchen'. Ihre Gedanken flogen weiter, sie brauchte ein Hobby, wenigstens, um nicht 24 Stunden für Amelie und ihre Ideen zu Verfügung zu stehen. '2: Flyer wiederfinden und zum Tag der offenen Tür gehen'. Außerdem musste sie natürlich noch ihre verzwickte Lage mit Amelie und den Jungs in den Griff bekommen. '3: Leben ordnen'. Ganz einfach… Zufrieden faltete sie den Zettel und steckte ihn lesbar an ihre Pinnwand, die über dem Schreibtisch angebracht war. Diese Punkte würde sie jetzt nacheinander abarbeiten und in null Komma nix würde sie ihr Leben wieder genießen können. So weit so gut. Jenne entschloss sich, mit dem Bus in die Stadt zu fahren, um Punkt eins in Angriff zu nehmen. Ein Ferienjob für die letzten drei Wochen sollte reichen, um sich ein neues Handy leisten zu können. Das Geld, das ihr nach den ersten zwei Wochen noch fehlte, würde sie sich von ihren Eltern leihen. Der Betrag wäre nicht so groß, als dass rsie etwas dagegen sagen könnten, außerdem würde sie die Schulden ja auch schon zurückzahlen, sobald die Ferien zu Ende waren. Sie lief zu ihrem Kleiderschrank und war gerade fertig angezogen, eine dunkelblau karierte Hotpants und ein weiter geschnittenes, weißes Top mit Schriftzug, das sie auf der einen Seite schulterfrei trug und minimal ihren Bauch zeigte, als es an der Tür klopfte, ihre Mutter die Tür einen Spalt öffnete und ihren Kopf ins Zimmer steckte. "Telefon, Schätzchen", säuselte sie und hielt Jenne das Mobilteil entgegen, die es ihr verwundert abnahm. "Hallo?", meldete sie sich, ihre Mum war wieder zu Manu gelaufen, wie Jenne vermutete. "Hi, ich bin's" - "Amelie? Was gibt's?" – "Natürlich Amelie, wer denn sonst?" sie war leicht gereizt. "Ich wollt nur wissen wie's dir so geht, du weißt schon, nach dem Frühstück und so…" "Jaja, alles wieder gut. Habt ihr euch noch gut amüsiert?" "Ne, Jonas hat einen der Papkartons versehentlich umgestoßen, kurz nachdem du weg warst und dann haben wir einfach normal gegessen… war voll Schade, aber er meinte, er würde fürs nächste mal neue machen, also dann nicht für 'n Frühstück sondern irgendwas anderes, wir sind schon am planen. Wahrscheinlich zelten, was hältst du davon" "Ich muss gucken ob ich Zeit hab, ich such mir noch ein Job, mein Handy is drauf gegangen heute, wegen dem Wasser und so. Ich wollt gleich in die Stadt fahren mich mal umsehen." "In die Stadt? Das is ja ne super Idee, soll ich mal fragen ob noch welche mitkommen wollen? Ich muss eh mal wieder shoppen", Amelie lachte. Jenne lachte nicht. Meine Güte, von der bekam man wohl nie ne Pause. "Ist das nich ein bisschen kurzfristig? Ich wollte gleich schon los, der Bus fährt um kurz vor zwölf, glaub ich" "Keine Angst, wir sind schnell im organisieren" Das hatte Jenne befürchtet. "Also bis gleich an der Bushaltestelle, die bei dir, oder? Ich guck mal, wen ich so erreiche" "Ja, bis da…" Amelie hatte bereits aufgelegt. Jenne seufzte. Wenn das die restlichen Ferien über so weiter ging brauchte sie nach den Schulferien Ferien von Amelie. Sie erzählte ihrer Mutter kurz von dem Vorhaben, ließ das kaputte Handy vorsichtshalber aus und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Sie zog ihre Primarkschuhe an und lief zur Bushaltestelle. Sie war schon spät dran, es war bereits viertel vor zwölf, und bis zur Haltestelle waren es nochmal fünf Minuten.

Ein wenig außer Puste bog sie um die letzte Ecke und ihr Ziel kam in Sicht. Im ersten Moment war sie erleichtert, mehrere Leute saßen auf den zwei Bänken in dem kleinen Unterstand, ein Sicheres Zeichen, dass der Bus noch nicht da gewesen war. Auf den zweiten Blick aber erkannte sie, wer da saß und ihre Laune erreichte den Nullpunkt. Zwar waren anscheinend nur wenige gekommen, aber aus der Entfernung konnte sie Amelie und Jonas sicher ausmachen. Sie saß auf seinem Schoß, die Arme um seinen Hals gelegt und schmiss mit Komplimenten nur so um sich wie es schien. Als sie endlich ankam wurde sie auch von Zain begrüßt, der ebenfalls mitfahren würde, ansonsten war niemand da, den Jenne kannte. "Die anderen sind am See", sagte Zain als Antwort auf ihre fragenden Blicke, nachdem sie alle umarmt hatte. "Und warum seid ihr nicht da?", gab sie in einem bissigen Ton zurück. Amelie alleine hätte ihr auch schon gereicht. "Mal was anderes", murmelte Jonas gerade so, dass Jenne es noch hören konnte. "Aso", murrte sie. Dann kam der Bus und die vier stiegen ein. Es war schon ziemlich voll im Bus und Amelie quetschte sich natürlich neben Jonas. Zain hatte auch einen Platz in der Nähe ergattern können und machte Jenne mit einer unmissverständlichen Geste deutlich, sich auch neben ihn zu setzten. Sie überlegte kurz. Er hatte ihr am Morgen vielleicht das Leben gerettet, obwohl wenn sie genau darüber nachdachte, er auch Schuld gewesen war, dass sie sich verschluckt hatte. Jedenfalls hatte er sich nach dem DVD-Abend wesentlich besser verhalten als manch anderer – ihre Blicke flogen zu Jonas, der sichtlich gelangweilt Amelies Worten lauschte – und weil der Weg in die Innenstadt mit den Umwegen, die der Bus aufgrund seiner Route fuhr, fast eine viertel Stunde dauerte, drückte sie sich neben Zain. Mehrere Momente passierte nichts, aber irgendwann spürte Jenne, wie sich eine Hand zaghaft auf ihrer Schulter nieder ließ. Sie atmete tief durch. Sie hatte gerade einen Neuanfang starten wollen – dann eben nicht. Sie stand auf und setzte sich neben einen Mann weiter vorne im Bus, der an einer halbvollen Bierflasche nuckelte und ganz verfilzte Haare hatte. Sie rümpfte kurz die Nase und hoffte er würde bald aussteigen. Sie hörte Jonas schadenfrohes Lachen von hinten, das wahrscheinlich eher Zain galt als ihr und böse, bohrende Blicke in ihrem Rücken, aber all das kümmerte sie nicht. Sollte der Idiot ruhig sehen, dass sie lieber neben diesem Penner saß, als neben ihm! Der Penner fuhr leider die ganze Strecke mit und Jenne musste sich ihre Erleichterung eingestehen, an der Haltestelle 'Hauptbahnhof' endlich aussteigen zu können.

"So, was machen wir jetzt?", fragte Jonas voller gespieltem Elan und Jenne überlegte kurz. Ich muss in ein Paar Cafés und fragen, ob jemand ne Aushilfe sucht, danach können ins Einkaufscenter gehen", schlug sie vor und Amelie nickte begeistert. "Zuerst helfen wir dir und dann helft ihr mir dabei, ein neues Kleid zu finden!", grinste sie. "Eine Freundin von meinem Dad betreibt hier irgendwo ein Café, da könnten wir zu erst fragen", schlug Zain vor. Er deutete nach links und die anderen schlossen sich ihm an. Nach nur wenigen hundert Metern betraten sie ein idyllisches Café, das ziemlich altmodisch eingerichtet war, wie Jenne fand, aber ehe sie etwas sagen konnte, stellte Zain ihr schon die Ladenbesitzerin vor und fragte auch gleich, ob noch eine Stelle frei wär, was Melanie bestätigte. Glücklich überrascht über das Angebot ließ Jenne ihr ihre Adresse und Telefonnummer da und steckte eine der Visitenkarten in ihr Portemonnaie. Mit dem Versprechen, noch heute Abend anzurufen, um Arbeitszeiten und ähnliches zu klären, verabschiedete sie sich und schlenderte mit den anderen in Richtung Innenstadt. Sie hatte in dem Café zwar noch keine Kellnerin gesehen, aber es war gut besucht und Jenne war sich sicher, sich mit den anderen Angestellten gut zu verstehen. Das verschlagene Gesicht Zains, dass ihr seid dem Besuch des Cafés aufgefallen war, führte sie auf einen, noch in der Planung liegenden Racheplan zurück und machte sich darüber keine weiteren Sorgen.

"Und wie ist das?" Amelie drehte sich einmal vor den dreien, die geschafft auf einer Bank neben den Umkleiden Platz genommen hatten. "Auch schön", murmelte Jonas, allerdings ohne sie auch nur angesehen zu haben, was sie sogleich zornig stimmte. Sie waren jetzt seit zwei Stunden auf der Suche nach einem geeigneten Sommerkleid, aber egal wie begeistert die anderen auch waren, Amelie wollte immer etwas noch schöneres finden und schleppte sie von Laden zu Laden, dieser hier, ein H&M, musste der sechste sein und Jenne und die Jungs waren leicht genervt. "Lass uns doch ein Spiel spielen", meldete sich Jonas, als Amelie mit vier weiteren Kleidern wieder in der Umkleide verschwunden war. 'Spiel?!' Jenne verband schlechte Erinnerungen an dieses Wort, aber Amelie steckte schon neugierig den Kopf durch den Vorhang. "Was für ein Spiel", wollte auch Zain wissen, in dessen Stimme deutlich Skepsis mitschwang. "Das hier ist ein H&M, also Sachen für Jungs und Mädchen. Wenn Amelie fertig ist, sucht ihr beiden ein komplettes Outfit für jeden von uns und wir suchen eins für jeden von euch, sodass am Ende jeder eins zum Anziehen hat." Er wandte sich an Amelie: "Und für dich finden wir bestimmt das hübscheste Sommerkleid!" er zwinkerte und hatte damit Amelies volle Unterstützung. "Komm schon Jenne", maulte sie, als sie den wiederwilligen Ausdruck auf ihrem Gesicht bemerkte. "Gönn dir auch mal ein bisschen Spaß" 'Den Gönn ich mir seit gestern und du kannst dir nicht vorstellen, wie lustig ich das finde', zog es ironisch durch Jennes Kopf, aber sie nickte nur. Amelie verschwand wieder hinter dem Vorhang und zog ihre eigenen Sachen an. Nachdem sie die Kleidchen zurückgegeben und sie die Größen untereinander offenbart hatten, für Amelie war es jedenfalls gewesen, als gäbe sie eines der unergründlichsten Familiengeheimnisse preis, gab Jonas das Startsignal und die Wege trennten sich. Zu viert hatten sich auf ein Zeitlimit von zwanzig Minuten geeinigt und während Jenne und Amelie die Rolltreppe hochfuhren verschwanden Zain und Jonas in dem Gedränge des Erdgeschosses.

Die beiden Mädels verschafften sich einen schnellen Überblick und fingen an, sich zu beratschlagen. Jenne schlug vor, etwas ein wenig peinliches herauszusuchen und Amelie erklärte sich nach einer kurzen Argumentation einverstanden. Jenne war froh, sie überredet zu haben. Sie war sich sicher, dass die Jungs vor keinem peinlichen Fimmel Halt machen würden. Für Zain suchten sie zuerst. Er sollte eine Lederweste, Nietengürtel sowie – Armbänder, eine zerrissene Buggy-Jeans und ein halsbandähnliches Accessoire bekommen. Jonas hingegen würde sich in einen weiten Pullunder und ein darunter gezogenes Hemd quälen. Dazu fanden sie eine Nadelstreifenhose und quitschgrüne Lackschuhe, welche Jenne als besonders passend befand und gleich noch ein lilafarbenes Paar für Zain mitnahm. Außerdem schnappten sie noch eine Schiefermütze vom Haken und begutachteten anschließend ihre Ausbeute. "Bei Mädchen kann man viel schlimmere Sachen suchen", murrte Jenne, auch die Schuhe konnten sie nicht zufrieden stellten. "Als wenn die so etwas machen", sagte Amelie voller Vertrauen und bedauerte es wohl doch, nicht ein normales Outfit zusammengestellt zu haben. Ehe die beiden aber noch umentscheiden konnten, flogen Jennes Blicke zu der Armbanduhr eines vorübergehenden Typen und sie zerrte Amelie zu der Rolltreppe, die vor einem der Puppen stehengeblieben war. "Komm jetzt, wir müssen wieder in die Umkleiden", seufzte Jenne, als Amelie ihr nur stolpernd hinterherkam. Die Jungs warteten im Erdgeschoss. Jeder von ihnen trug eine 'Shopping-back' und sie grinsten über beide Ohren. 'Mal gucken, ob du ihnen auch noch vertraust, wenn wir das hier hinter uns haben', murmelte Jenne zu sich selbst und schielte zu Amelie rüber, die winkte und zuckersüß zurücklächelte. "Na, fertig geworden?", fragte Jonas und versuchte, einen Blick auf die Klamotten zu erhaschen, aber Jenne reagierte blitzschnell und versteckte die Tasche hinter ihrem Rücken. "Ja, was ist mit euch?" Natürlich wurden auch ihr Einblicke verweigert, aber es sah zumindest nach mehr als nur einem Dessous aus, worüber sie schon mal erleichtert war. "Auf jeden Fall", lachte Zain und boxte Jonas auf die Schulter. Dann wandten sie sich um und liefen gefolgt von Amelie und Jenne zu den Umkleiden.

Jenne verlor das Gleichgewicht und musste sich auf den kleinen Hocker setzen, der in der Ecke stand, als sie ihr Outfit vor sich ausgebreitet hatte. Auch aus der Kabine neben ihrer machte sich Amelie bemerkbar, allerdings wusste Jenne nicht, aus welchem Grund. Sie jedenfalls war schockiert. Ein Top – es war ganz sicher KEIN Kleid, auch wenn sie keine Hose fand – hing vor ihrer Nase auf einem Bügel. Es war schwarz, einfarbig und hauteng. Außerdem trägerlos und, wie schon angemerkt, nicht sonderlich lang. Das schlimmste waren aber die unregelmäßigen Risse, die sich über das ganze Kleidungsstück querlaufend verteilten. Sie hatte schon mehrere Minuten verzweifelt nach einem weiteren Top oder ähnlichem gesucht, um etwas darunterziehen zu können, aber vergeblich. Sollte das ihr Ernst sein? Hatten Jonas und Zain tatsächlich dieses 'Ding' für sie rausgesucht?! Wohl oder Übel musste sie es dann doch anziehen, denn die anderen standen schon draußen und einer der beiden, Jenne konnte ihre Stimmen nicht unterscheiden, drohte schon, gleich reinzukommen, sollte sie sich nicht beeilen. Bei dem Gedanken an die Jungs in ihren stylischen Outfits wie sie vor der Kabine standen konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es musste wirklich peinlich sein, schließlich liefen alle anderen Kunden zwangsweise an ihnen vorüber und teilweise konnte Jenne Gekicher und Geflüster aufschnappen. Sie beeilte sich natürlich, aus Angst, wer-auch-immer würde sein Versprechen wahr machen. Unglücklich zog sie sich das Teil über den Kopf und achtete darauf, ihre Oberweite mit möglichst viel Stoff zu bedecken, was ein kleineres Problem war, denn die Risse waren auf dieser Höhe nur minimal angesetzt. Ihr hellblauer BH war trotzdem zu erkennen. Ein größeres Problem stellte dann aber tatsächlich die Länge des Tops da. Es reichte gerade so über ihren Arsch, wenn sie es nicht lang zog, was wiederum die Risse vergrößert hätte und sie es somit unterließ. Bewegungen waren ihr kaum möglich. Sie seufzte leise und setzte sich die Wollmütze auf ihre offenen Haare, die sie hinten teilte und sich nach vorne über die Schultern legte, auch um die übrigen stoffreien Stellen zu überdecken. Ihr war es ein Rätsel, wo die Jungs JETZT eine Wollmütze hernahmen und war sich ziemlich sicher, bei den Accessoires der Männerabteilung noch keine gesehen zu haben. Schließlich schlüpfte sie in gewöhnliche, schwarze H&M Schuhe. 'Wenigstens keine Pumps', dachte sie, aber dadurch stieg ihre Laune auch nicht gerade. Sie begutachtete sich noch einmal im Spiegel und präsentierte sich dann den anderen, die ungeduldig auf der Bank saßen, auf der vorhin auch Jenne gehockt hatte. Jonas und Zain sahen zum schreien komisch aus. Ein wenig in ihrer Würde verletzt kauerten sie mit gesenktem Blick und in ihren stylischen Outfits neben Amelie, die ein weißes Kleidchen trug, das unten mit einer hellgrünen Borte abschloss und ihre Augen betonte. Auch, wenn es sie ein wenig an eines der Basic Teile erinnerte, fand sie es doch unfair, dass sie selbst diesen Fimmel hatte anziehen müssen, den wahrscheinlich niemand ernsthaft zu kaufen gedachte. Sie räusperte sich kurz und die drei Augenpaare richteten sich gespannt auf sie. "Wow", hauchte Jonas und grinste. Auch Zain nickte anerkennend und Jenne funkelte sie kurz böse an. Amelie musterte sie von oben bis unten. Der Neid war ihr ins Gesicht geschrieben. Ja, Jenne empfand Mitleid, denn anders als sie selbst hätte sich Amelie in diesem 'Kleid' mit Sicherheit pudelwohl gefühlt. Klar – Aufmerksamkeit, was wollte Amelie mehr? "Amelie, das Kleid ist ja mega süß", sagte Jenne schnell, um weiteren Eifersuchtsanfälle, die zwangsläufig folgen würden, vorzubeugen "und ihr seht ja auch nicht schlecht aus" sie hatte sich neben Amelie gestellt und beide fingen an zu prusten. "Ja, das haben wir gut gemacht", murmelte Amelie schon ein bisschen lustiger und schlug bei Jenne ein. Die beiden hatten sich gerade wieder eingekriegt, als Jonas mit dem Handy vor ihnen auftauchte. "Komm wir machen ein Foto". Jenne warf ihm einen 'du-kleines-Arschloch'-Blick zu, aber weil Zain und Amelie sich schon neben ihn gestellt hatten, gesellte sie sich dazu. Amelie hatte sich dummerweise in eine Ecke gestellt, sodass Jenne sich gezwungener Maßen neben Zain stellen musste. Sie lächelte ihr Foto-Lächeln, das zum Glück nicht ganz so falsch aussah wie bei anderen und wartete auf den Blitz. "Und jetzt – cheese", rief Jonas. Alle sammelten sich um das Handy, um das Werk zu betrachten, nur Jenne beeilte sich, wieder in die Umkleide zu kommen und stand bald darauf in ihren eigenen Klamotten an der Kasse, wo sie auf Amelie wartete, die das Kleid doch kaufte, schließlich habe Jonas es ausgesucht – blabla. Natürlich war es schön, aber sie hatten auf ihrer Tour mindestens doppelt so schöne und passendere Kleider gesehen, als das Amelie jetzt dieses kaufen müsste, fand Jenne.

Die Jungs trafen sie am Ausgang, da diese schon mal vorgegangen waren. Jenne schaute auf die Uhr. Es war bereits halb vier und sie bekam langsam Hunger. Zain schien ähnliches zu denken, denn er deutete auf ein McDonalds Zeichen, das hinter mehreren Gebäuden sichtbar wurde. "Gute Idee", befand Jonas und sie liefen los. Es dauerte eine Weile, bis sie aus den Einkaufsstraßen raus waren und einen kleinen Park durchquerten. Dahinter sollte sich der Mc's befinden, wie Amelie versicherte. Während sie und Jonas Händchen hielten und sich ständig verliebt in die Augen schauten, ging Jenne zusammen mit Zain ein Stück dahinter. Jedes mal, wenn einer der beiden sich dem anderen zuwandte und ihm etwas ins Ohr flüsterte verdrehte Jenne sie Augen. 'Wie übertrieben', dachte sie bestimmt tausendmal, hörte bald aber auf, sich Gedanken zu machen und lauschte. Bekannte Geräusche erreichten sie und sie blieb unbewusst stehen. Die Turteltäubchen merkten das natürlich nicht, so sehr waren sie mit sich selbst beschäftigt, aber Zain blickte sich um. "Was ist?", fragte er, als Jenne sich nach einigen Augenblicken immer noch nicht rührte. "Hörst du das?", murmelte sie und versuchte, die Quelle zu lokalisieren, während auch Zain aufhorchte. Es klang ein bisschen wie das Rauschen des Meeres. "Klar, du meinst sicher den Skater-Park", antwortete er und wandte sich zum gehen. "Ein Skater-Park?" Jenne hatte nach seinem Arm gegriffen und schaute interessiert zu ihm auf. "Jap, gleich hinter der Biegung", gab er freundlich zurück, nachdem er ihre Hand registriert hatte "willst du kurz gucken gehen?" "Ja, das wär super, aber sollten wir die anderen nicht einholen und mit ihnen essen gehen?" "Quatsch, die haben eh besseres zu tun", sagte er und zwinkerte ihr zu, dann schnappte er ihre Hand und zog sie hinter sich her.

"Uhh, Zain, wer ist denn das?", tönte eine Stimme zu den beiden, als sie den geteerten Platz erreichten, auf dem sich mehrere Hindernisse wie Halfpipes und ähnlichem befanden. "Deine neue Freundin?" Einer der Jungs kam auf seinem Skateboard herüber gerollt und stoppte gekonnt. Dann musterte er Jenne, was Zain weniger zu gefallen schien. Er schob sich vor sie. "Und was wenn sie meine Freun…" "Nein, ich bin NICHT" – sie warf ihm einen bösen Blick zu und stellte sich wieder neben ihn – "seine Freundin, wir kennen uns durch Jonas, vielleicht kennst du ihn" Zain grummelte etwas und der Fremde lachte. "Hast mich fast gehabt", richtete er sich an Zain und streckte Jenne die Hand hin. "Hi, ich bin Alex", grinste er und Jenne schüttelte sie. "Jenne", sagte sie. "Warum bist du hier? Und wo ist dein Skateboard?", fragte er dann Zain, der kurz den Kopf schüttelte. "Wir sind mit noch zwei anderen in der Stadt gewesen und auf dem Weg zu Mc's. Jenne wollte nur mal vorbeischauen" "Soso, du interessierst dich fürs Skateboarden?" Alex richtete sich ein wenig auf. Jenne nickte. Sie wollte ihm nicht gleich auf die Nase binden, dass sie selbst auch eins besaß und einiges drauf hatte. Sie ließ ihre Blicke schweifen – die Anlage sah gut aus – und blieb bei Zain hängen. 'Er fährt also auch', dachte sie ein wenig bewundernd und musterte ihn genauer. In seinem T-Shirt und der kurzen Hose sah er aus wie jeder andere, aber die Narben und Schürfwunden an seinen Knien und Ellenbogen ließen Jenne schmunzeln. 'Soso, verborgene Talente'. Sie blinzelte und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch. Die Jungs schienen sich angeregt über einen Trick unterhalten zu haben, den Alex jetzt unbedingt vorführen wollte, jedenfalls machte er sich auf den Weg zur Halfpipe. "Sorry", schrie Zain, der gerade keine Möglichkeit gefunden hatte, ihn zu stoppen, zu ihm rüber, "aber ich glaub, wir müssen weiter" Jenne guckte ihn bittend an, aber er deutete nur auf seine Hosentasche, in der die Umrisse eines Handys deutlich wurden. Hatten die zwei nich noch fünf Minuten warten können, ehe ihnen aufgefallen war, dass Jenne und Zain fehlten? Sie verdrehte die Augen, winkte Alex noch zurück, folgte Zain, der schon vorgegangen war, eilig und holte ihn bald ein. "Du fährst also auch Skateboard?", fragte sie, ohne ihn anzusehen. "Ja, hin und wieder", gab er zurück, freute sich aber anscheinend über ihr Interesse. 'Jungs', ging es Jenne durch den Kopf, 'so leicht zu durchschauen'. Den Gefallen, sich weiter ins Rampenlicht rücken zu können, wollte sie ihm nicht tun, aber als sie nichts weiter sagte, fing er – natürlich – von selber an. "Schon seit drei Jahren glaub ich", murmelte er. "Ich bin ziemlich gut" Er warf einen Seitenblick auf Jenne, die die Mundwinkel ein wenig verzog. "meinen die andern", schloss Zain schnell und atmete leise, aber nicht leise genug, erleichtert aus, denn Jenne lächelte beeindruckt zu ihm hoch. Er erzählte noch ein bisschen von seinen Tricks und Erfahrungen, bis endlich der Mc's in Sicht kam.

"Wo ward ihr denn?" Vorwurfsvolle Blicke richteten sich auf die beiden. "Sorry", murmelte Zain und kratzte sich am Hinterkopf. Jonas lächelte wissend und setzte sich zu Amelie auf die Seite, sodass Jenne und Zain ihnen gegenüber Platz nehmen konnten. Auf dem Tisch standen bereits zwei Tabletts, gefüllt mit mehreren Bürgerschachteln, Portionen Pommes und Softgetränken. "Wir haben erst gemerkt, dass ihr weg seid, als wir bereits bestellt hatten", entschuldigte sich Amelie. "Nich schlimm", versicherte Jenne. Amelie war gerade gut gelaunt, was nur ganz vielleicht mit Jonas zu tun hatte. Jenne wollte das nur so lange wie möglich aufrechterhalten. Eine beleidigte oder verärgerte Amelie war schlichtweg anstrengend. Sie wollte gerade Zain bitten, aufzustehen, da sie zum Fenster durchgerückt war, als dieser Aufstand und ihr die Hand hinhielt. Sie musste ziemlich merkwürdig geguckt haben, denn Zain grinste. "Ich bring dir was mit. Was darf's sein?" "Ich nehme einen McFlurry mit Smarties und ChickenMcNuggets", entschied sie sich, nachdem sie kurz geblinzelt hatte. Dann gab sie Zain einen fünf Euro Schein in die Hand und er ging davon. "Was habt ihr zwei denn gemacht?", fragte Amelie neugierig, nachdem sie Zain lange genug hinterher gesehen hatte und sich sicher war, dass er sie nicht mehr hören könne. "Was glaubst du denn? Nichts. Wir sind nur an der Skaterbahn vorbeigekommen und eben angehalten." "Soso… ihr habt euch also alleine nach irgendwo verdrückt?" Sie hob kritisch die Augenbraue. "Verschweigst du mir auch nix?" "Ok, wir haben noch einen seiner Freunde getroffen, aber mehr war da nicht. Wenn du mir nicht glaubst, frag Zain selber." Jenne war genervt, hatte so etwas aber schon erwartet. "Werd ich auch", gab Amelie eingeschnappt zurück und legte ihren Kopf auf Jonas' Schulter. "Denn ER hat nicht ausgesehen, als wäre da 'nichts' passiert, nicht wahr Schatz?" Schatz?! Jenne schien echt was verpasst zu haben. Jonas funkelte sie interessiert an. "Bin deiner Meinung, Süße", sagte er aber nur und stibitzte eine Pommes vom Tablett. Süße? Ein Schauer durchzuckte Jenne. Was ging denn da ab? Nicht, dass sie sich nicht für Amelie gefreut hätte, sie freute sich, aber die Befürchtung, dass Jonas es nicht ernst mit ihr meinte, geisterte ihr durch den Kopf wie ein verfluchtes Gespenst. Sie würde nochmal mit ihr reden, nahm Jenne sich vor und ehe noch weitere Fragen gestellt werden konnten, kam Zain glücklicherweise zurück und setzte sich wieder neben sie. Dankend schnappte Jenne sich zu erst die ChickenMcNuggets und aß einen nach dem anderen genüsslich auf. Amelie und Jonas warfen sich währenddessen ununterbrochen verständnisvolle Blicke zu und Jenne ertappte sich dabei, wie sie zu Zain schielte, der gerade in seinen Hamburger biss. Er guckte zurück, in seiner Aktion aufgehalten. Jenne musste unwillkürlich lachen und Zain hätte beinah seinen Mundinhalt auf dem Tisch verteilt, hätte er nicht seine Hand vorgehalten. Danach verschwand er kurz auf der Toilette. "Letzte Chance, es von dir aus zu erzählen, ansonsten werden wir Zains Geschichte für voll nehmen", murmelte Jonas in meine Richtung und Amelie nickte unterstützend, Jenne hingegen schüttelte zum hundertsten Mal den Kopf, ChickenMcNuggets im Mund, sodass sie nichts erwidern konnte. "Ich hab doch gesagt, dass da nichts war", sagte sie klar nach hastigem Kauen und Schlucken. Sie wusste, dass sie hätte sagen können, was sie wollte. Im Endeffekt war dies ein Gespräch, das einzig Amelies und Jonas Unterhaltung diente und aus dem später die schlimmsten Gerüchte gemacht wurden. Ihre Version, egal, wie wahrheitsgemäß sie auch war, erfüllte einfach nicht die Kriterien, die sich die anderen beiden erhofft hatten und Jenne war wirklich gespannt, was Zain erzählen würde. Jonas und Amelie schienen tatsächlich sehnsüchtig auf Zain zu warten, der keine zwei Minuten später wieder an den Tisch kam. "Hey Zain", wandte sich Jonas schon an ihn, bevor der sich überhaupt setzten konnte. In seiner Stimme war deutlich zu hören, dass er etwas hören wollte, auch wenn er sich bemühte, einen lockeren, ungezwungenen und nichtfordernden Ton anzuschlagen. Jenne schnaubte leise und verschränkte die Arme unterm Tisch. "Was läuft da zwischen euch?" Allgemeiner konnte man so etwas nicht frage, dachte Jenne und auch Zain guckte nicht gerade erleuchtet. Ja, er wirkte im ersten Moment verwirrt und überrumpelt. Wahrscheinlich hatte auch er gemerkt, dass sich diese Turteltäubchen nicht mit der Originalfassung zufrieden geben würden und anders als Jenne, die nicht unbedingt soooo cool sein wollte, verfolgte Zain anscheinend das Ziel, auf keinen Fall bei Jonas in Ungnade zu fallen. Für seine Antwort brauchte er dementsprechend und Jenne war nicht entgangen, dass er vorher noch eine SMS von Jonas bekam, die sie allerdings nicht hatte lesen können. Zain räusperte sich kurz und es schien, als lege er sich die Sätze in Gedanken genau zu Recht. "Wir haben einen kleinen Abstecher unternommen" Leuchtende Augen auf der Bank gegenüber. "Ihr zwei ward so in euch vertieft… naja, wir haben uns halt ein wenig… vernachlässigt gefühlt." Die Augen wurden größer. Obwohl es tatsächlich der Realität entsprach hörte es sich doch ziemlich missverständlich an und Jenne warf Zain einen kritischen Blick zu, der grinste nur. "Tja, der Skater Park war halt in der Nähe und weil wir beide es jeder ein eigenes haben, schlug ich vor, mal gucken zu gehen. Ja, es war seine Idee, gestand sich Jenne ein und ließ ihn weiter erzählen. "Wir haben 'nen Kumpel von mir getroffen, Alex und…" Pause…"Er hat nach unserer Beziehung gefragt" Alarmglocken läuteten in Jennes Kopf. Das hier lief definitiv in die falsche Richtung! Es war die Wahrheit, genau das selbe hatte auch sie erzählt, aber es war falsch. Mit diesem Ton und den Umschreibungen hörte es sich bei Zein fast so an, als sei was Verbotenes passiert. Amelie krallte sich in Jonas Arm. Diese Geschichte schien beiden besser zu gefallen, aber noch war der Höhepunkt anscheinend nicht erreicht, denn Zain schielte immer wieder zu ihr rüber, wahrscheinlich dachte er, sie würde eingreifen. 'Ganz sicher nicht', dachte Jenne und atmete tief durch. Situation durchschaut. Würde sie ihn jetzt aufhalten, sah es so aus, als würde sie etwas verbergen wollen, und das durfte nicht passieren, also stand sie weiter schweigend da und registrierte den Hauch von Enttäuschung, der über sein Gesicht zog. Amelie rettete ihm das Leben und trieb Jennes über den Abgrund. "Was habt ihr geantwortet?", fragte sie und Jenne riss die Augen auf. Zains verschlagener Gesichtsausdruck verhieß nichts gutes. Und seine Augen funkelten, als er ihre Mimik bemerkte. "Wie haben keine genaueren Angaben gemacht", antwortete er verschwörerisch und zwinkerte überflüssiger Weise auch noch. Amelie kicherte. Ok, dachte Jenne, das war jetzt gelogen. "Ich hab gesagt, ich bin NICHT deine Freundin!", brauste sie auf, "was ist daran bitte NICHT eindeutig?" Alex würde das bezeugen können, nur deswegen traute sie sich, die Aussage in Frage zu stellen. "Aber du meintest das nicht so" "Wie sonst?" Was hatte er nur vor? "Du hast mich danach angestarrt. Alex hat's auch mitbekommen" Jenne merkte, wie es ihren Körper heiß und kalt durchlief. Was für ein Scheiß! "Und als wir weiter gelaufen sind, hast du dich seeeeehr interessiert gezeigt – an mir" Er zog das Wort so lange in die Länge, bis auch Jonas schmunzeln musste. "Soso, der Eisberg beginnt zu schmelzen" Jenne saß mit offenem Mund auf der Bank, neben Zain, gegenüber von Jonas, am Fenster und wäre sie nicht so eingeklemmt gewesen, wäre sie sicher rausgerannt. Jetzt hieß es, Ruhe zu bewahren, anders würde sie sich aus dieser Nummer nicht mehr retten können. "Erstens", sagte sie und atmete langsam aus "hab ich dich nicht angestarrt, weil ich IRGENDWAS von dir will, sondern weil ich nur erstaunt war, dass du auch Skateboard fährst. Im übrigen hab ich nich nur dich, sondern auch jeden anderen angestarrt, der da rum lief. Zweitens", sie starrte Zain in die Augen "war das mit dem Interesse zeigen mehr ein Scherz. Natürlich kann das jeder sagen, aber ich hatte dich lediglich gefragt, ob du also auch Skateboard fährst, den Rest der Unterhaltung hast du jawohl mit dir selbst geführt! Und wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich halte diesen Kindergarten einfach nicht mehr aus!" Zain machte keine Anstalten, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen und so quetsche sich Jenne gezwungener Maßen und mit einem genervten Seufzer an ihm vorbei, umarmte Amelie, die wie auf Kommando aufgestanden war und verschwand ohne eine weitere Geste nach draußen.

Was war das nun wieder gewesen? Jenne konnte es immer noch nicht glauben, als sie sich im Park in der Nähe einiger Skater auf eine Bank fallen ließ. Sie hatte ein Problem. Ihr Bus und leider auch der der anderen, fuhr nur jede Stunde, sodass sie noch 30 Minuten warten musste, ehe sie diesem Szenario endgültig entkommen konnte. Es war schon kurz vor fünf, Amelie, Jonas und Zain würden mit hoher Wahrscheinlichkeit denselben nehmen. Obwohl sie ja noch hätte im Park bleiben können, es war schließlich Sommer, also noch warm und hell, allerdings musste sie auch noch die Chefin des Cafés, Melanie, anrufen und da das um sechs schloss, sollte sie doch ein bisschen eher zu Hause sein. Sie seufzte und beobachtete die Skateboarder. Sie waren ein bisschen älter als sie selbst, vielleicht 18 oder 19 und probierten einiges aus. Jenne gähnte. Was sollte sie bitte noch eine Stunde lang tun? Nach einigen Überlegungen sprang sie auf und schlenderte auf die Jungs zu. Schon von weitem war es ihnen aufgefallen und sie boxten sich mehrere Male auf die Schultern. Jenne grinste und setzte dann ihr verführerischstes Lächeln auf. Sie blieb vor ihnen stehen und blickte zu ihnen auf. 'Sie sind größer als ich dachte', schoss es in ihren Kopf, aber jetzt musste sie da durch. Ihr Lächeln war falsch, ihre ganze Vorstellung würde gespielt sein, aber sie wusste, dass man bei den meisten Jungs nur mit einer Überdosis Weiblichkeit weiter kam, ohne sich herausfordernde Sprüche anhören zu müssen, auf die sie intuitiv antwortete und in 99% der Fällen zu Ärger führten, billige Anmachen ignorierte sie dann einfach. Augenaufschlag. "Hi-i", flötete sie und die ganze Aufmerksamkeit der Jungs fiel auf sie. "Ihr seid doch Profis, oder?" sie wartete nicht auf die Antwort. "Wo kauft ihr eure Klamotten? Also ich mein, habt ihr hier einen richtigen 'Skater-Laden'?" Sie hatte schon öfters von solchen Läden gehört, aber in ihrer alten Stadt hatte sie immer in ein normales Sportgeschäft gehen müssen, in dem das Flair irgendwie nicht so rüber kam und das hier war schließlich eine Großstadt. "Da hast du aber Glück Kleine" Ignoriert. "Gleich um die Ecke, keine 500 Meter ist das beste Geschäft der Stadt!" Ein oberkörperfreier Typ hatte sich in den Vordergrund geschoben und nickte einen der Parkwege rauf. Er stand lässig auf sein Board gestützt und musterte Jenne von oben bis unten. Typen waren doch alle gleich. "Darf ich fragen, wieso du das wissen willst?" "klar", Jenne machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ich brauch noch ein Geschenk für meinen Freund" Uuuund – Coolness verloren. "A-ach so", kam es zögernd und seine Kumpels prusteten schon hinter vorgehaltener Hand. "War nett euch getroffen zu haben. Und Danke nochmal" Weg war sie. Als Jenne sich sicher war, dass sie nicht mehr gehört werden konnte, fing auch sie an zu lachen und erntete einige skeptische Blicke von Passanten, denen sie einfach die Zunge rausstreckte. Der Tag war nicht gerettet, aber hatte definitiv an Wert gewonnen. Wie der Typ einfach geguckt hatte.

Sein Bild ließ sie immer noch schmunzeln, als sie den Laden betrat. 'Wow', dachte sie sich und guckte sich erstaunt um. Genauso hatte sie es sich vorgestellt, naja, hatten die Fotographien in ihrem Magazin ausgesehen. An zwei der Wänden hingen Halterungen mit Skateboards, die allesamt genial waren. In der Mitte standen mehrere Schuhregale mit verschiedenen Turnschuhen von Nike und ähnlichen Marken und weiter hinten befanden sich Ständer mit Klamotten. Aus an der Decke befestigten Boxen ertönte Musik und die Wände waren mit gewollten Graffitis besprüht. Der Boden bestand aus einem ungleichmäßigen Guss aus Teerähnlichem Material und alles in allem erinnerte der Laden an eine Street Szene. Erst schlenderte Jenne durch alle Regalreihen und suchte anschließend gezielt nach einem Paar Nikes, die ihren alten wenigstens etwas ähnlich waren. Dank der Hilfe einer der Bedingungen wurde sie auch schnell fündig. Ein weißes Paar mit dunkel blauen Nike-Symbol und Streifen. Danach suchte sie noch ein bisschen bei den Hosen, entschied aber dann, schon genug in ihrem Schrank zu haben und bezahlte schließlich. Als sie das Geschäft verließ, war es bereits Zeit, zur Bushaltestelle zurückzukehren und sie durchquerte den Park abermals. Die Typen, die ihr den Laden empfohlen hatten, lungerten immer noch in der Nähe der Bank und Jenne kam nicht daran vorbei, an ihnen vorüber laufen zu müssen. Sie bemühte sich, den Kopf gesenkt zu halten und es möglichst unauffällig hinter sich zu bringen – ohne Erfolg. "Hey", rief ihr der Typ ohne Oberteil zu, als sie es beinahe geschafft hätte und sie drehte sich langsam um. "Ja?", fragte sie gedehnt und hoffte, das hier würde nicht sonderlich lange dauern – der Bus wartete nicht. "Dein Freund hat also Schuhgröße 38? Wie groß ist er? So?", er hielt seine Hand auf Brusthöhe, tiefer als Jenne selbst groß war. Sie biss sich auf die Lippe. Ihr Schuhkarton, der natürlich nicht in die Tüte gepasst hatte, war deutlich zu sehen und die Schuhgröße, die fett draufgedruckt war, leicht zu lesen.

Es entsprach einfach nicht Jennes Natur, sich solche Sachen gefallen zu lassen.

"Darf ich denn nicht mit wem zusammen sein, mit wem ich will? Und wieso muss ich mich bitte vor einem Fremden rechtfertigen?" Vorwurf klang in ihrer Stimme mit und sie straffte die Schultern. Bloß nichts anmerken lassen, denn er richtete sich ebenfalls auf. "Alter, willst du frech werden?", er klang gereizt. Sein Sixpack glitzerte ein bisschen vom Schweiß und seine Hose hing nicht mal mehr auf halb acht. "Nein schon gut", murmelte sie, ohne allerdings ihre Haltung zu ändern. Sie versuchte, sich an dem Typ vorbeizudrücken und war froh, dass gerade mehrere Leute den Weg kreuzten, sodass Mr. 'Ich-bin-cool' keine Möglichkeit hatte, sie aufzuhalten. Ihre Schritte wurden trotzdem schneller, wie sie feststellte, während sie weiter lief und schaffte es erst, weniger unnormal zu gehen, als sie den Parkausgang erreicht hatte. Gruselig.

Sie war zehn Minuten zu früh, als sie die Bushaltestelle erreichte und setzte sich auf einen der so noch leeren Sitzplätze unter dem kleinen Abdach. Den Schuhkarton hob sie sich auf ihren Schoß und wollte gerade nach ihrem Handy und den Kopfhörern greifen, die sie mit Sicherheit dabei gehabt hätte, als ihr einfiel, warum sie überhaupt in die Stadt gefahren war. Es war kaputt. Sie seufzte und guckte vorüberlaufenden Leuten hinterher, schielte öfters mal in den Himmel oder bewunderte ihre Schuhe. "Ach was, aber mit dem Kindergarten in einem Bus fahren oder was?" Jenne schreckte von ihrer Beobachtung hoch. Jonas, Zain und Amelie hatten sich ebenfalls an der Bushaltestelle eingefunden und blickten von oben auf sie herab. Sie selbst schaute an ihm vorbei, immer geradeaus ins Nichts, als gäbe es da gerade etwas ultra spannendes und Jonas wandte sich kurz unsicher um, nur um sie dann abermals anzufahren. "Und wieso sind wir Kindergarten? Wir stehen wenigstens zu unseren Gefühlen!" "Wer keine Gefühle für jemanden hat, kann auch zu keinen stehen", antwortete Jenne tonlos, ohne das Geschehen auf der Straße hinter Jonas aus den Augen zu lassen. Dieser drehte sich zu den anderen beiden und murmelte etwas für Jenne unverständliches, ehe die drei sich in eine flüsternde Diskussion vertieften.

Endlich kam der Bus. Resigniert musste Jenne aber feststellen, dass lediglich Doppelplätze frei waren. Sie drängelte sich in den hinteren Teil und stellte die Tüte auf den Sitz neben sich und begann, unbeteiligt aus dem Fenster zu gucken. Die anderen drei hatte sie trotzdem bemerkt. "Ist hier besetzt?", fragte Zain höflichst, aber ironisch. "Siehst du doch – nein." Jenne hatte sich ihm zugewandt. Sie war sich sicher, dass er sie so ernster nehmen würde, außerdem hätte er damit wahrscheinlich ein Teilziel erreicht und sie hoffte, er würde schneller von ihr ablassen. Er lächelte sie verführerisch an. 'Bloß nicht die Augen verdrehen', ermahnte sie sich und lächelte zurück. "Echt jetzt, du kannst da nicht sitzen", antwortete sie bestimmt. Auch er schien sich konzentriert kontrollieren zu müssen, denn er nickte mit einem Funkeln in den Augen und stellte sich neben Amelie und Jonas, die etwas weiter vorne saßen. Jenne beobachtete ihn noch kurz, wie er sich zu seinem Kumpel runterbeugte und ihm etwas ins Ohr murmelte, das Amelie bestimmt nicht gehört hatte – hatte sie bestimmt – dieser sich umdrehte und sie belustigt musterte. Was spielten die nur für ein falsches Spiel?!

Sie stieg im letzten Moment eine Haltestelle früher aus, als sie musste, ohne das einer der anderen Anstalten machen konnte ihr zu folgen, sie sahen nur ein wenig verwundet aus. Auf dem Weg nach Hause machte Jenne sich einige Gedanken. Sie hatte erst letztens als sie bei Amelie gewesen war in einer Zeitschrift die Überschrift 'Welcher Typ bist du' gelesen und bekam sie seit dem nicht mehr aus dem Kopf. Sie überlegte sich auch Antworten auf die Frage für andere Mädchen, die sie sah oder kannte. Obwohl sie die möglichen Lösungen nicht gelesen hatte, sortierte sie nach drei Oberkategorien. Zum einen gab es den Typ Mädchen, der sein ganzes Leben jedem erzählte, mit Geschichten nur so um sich schmiss, vor Jungs Respekt hatte, aber als Flirtmasche immer die 'ich-stell-mich-dumm'-Taktik benutze. Das schlimmste an ihnen war, dass sie sich schnell, zu schnell, verliebten, oder wenigstens dachten, sie seien es. Mia gehörte zu ihnen, das war sicher. Jenne machte das an den Gesprächen über alle möglichen Typen fest, die noch vor ihrer Zeit in der Gegend in Mias Leben eine Rolle gespielt hatten. Ein Großteil der 'Beziehungen' hielten, wenn man den Informationen Glauben schenken konnte, nur wenige Wochen, wobei es sogar vorkam, dass Mia Affären zum Opfer gefallen war. Ein Adjektiv, das diese Kategorie treffend beschrieb: naiv. Dieser Typ Mädchen war einfach zu haben, wurde mit der Zeit aber nervig und wurde schnell fallen gelassen.

Amelie war Typ der zweiten Kategorie. Bei ihr ging es in einer Beziehung nicht um Liebe, sondern um Coolness, zumindest in den meisten Fällen, was das jetzt mit Jonas sollte, wusste Jenne selbst nicht so recht. Fakt war, Amelie war dominant, einschüchternd und beliebt und würde sich nie mit einem minder coolen Jungen einlassen, als sie es selbst war. Allein die Grundlagen einer solchen Beziehung verachtete Jenne und auch, dass aus jedem behinderten Grund Schluss gemacht wurde. Kurz: es war nichts ernstes. Im Moment war sie dann zwar doch eher naiv, aber das würde wahrscheinlich schnell umschlagen. 

Jenne selbst fiel in das letzte mögliche Muster, jemand, der sich keine Hoffnungen machte, mit Jungs in Sachen Liebe NICHTS zu tun haben wollte und einen gewissen Abstand pflegte. Leider verwechselten Jungs ihre Absichten zu oft mit Flirtversuchen, was Jenne zwar überhaupt nicht nachvollziehen konnte, sie bis jetzt aber noch leine Lösung gefunden hatte, das zu vermeiden. Ärgerlich.

Jenne war zu Hause, sprang die Treppen nach oben und betrat die Wohnung.

"Bin wieder da-a" Ihre Jacke landete auf einem der Haken, ihre Schuhe vor dem Regal. Sie erhaschte einen Blick in die Küche und stellte zufrieden fest, dass es heute wahrscheinlich Pizza geben würde, ehe sie in ihrem Zimmer verschwand. Nachdem sie erst einige Minuten regungslos auf ihrem Bett gelegen hatte, wühlte sie in ihrer Hosentasche nach dem Zettel des Cafés und wählte kurze Zeit später die Nummer auf einem der Mobilteile, das sie aus dem Flur geholt hatte.

"Ja, Café _____, Melanie Rebelt, wie kann ich helfen?" "Hi, ich bin's, Jenne, ich war heute bei ihnen und habe nach einem Job gefragt" "Ja, richtig! Gut das du anrufst. Also zu den Formalitäten. Du verdienst sieben Euro die Stunde und musst drei Mal die Woche plus Wochenenden arbeiten, geht das für dich klar?" Jenne stutzte. Sieben Euro die Stunde war ganz schön viel. Aber beschweren wollte sie sich jetzt auch nich. "Ja, passt alles" grinste sie ins Telefon und einigte sich mit Melanie auf Dienstag, Mittwoch und Donnerstag, an denen sie arbeiten würde, dann verabschiedeten sie sich und Jenne legte auf. Sie ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen und riss ihre 'To-do'-Liste herunter. Gekonnte setzte sie einen roten Haken vor die Zahl eins und widmete sich der nächsten Hürde – ein Hobby. Die Skaterbahn war schon ein riesiger Fortschritt, aber auf Dauer konnte sie damit nicht entschuldigen, den Gruppenaktivitäten nicht beizuwohnen. Sie musste zum Kickboxen. In Gedanken ging sie den Vormittag noch einmal durch, konnte sich aber nicht erinnern, den Zettel aus ihrer Tasche genommen zu haben, weswegen er jetzt mit 100%iger Wahrscheinlichkeit immer noch im See trieb. Sie seufzte. Es war schwierig genug gewesen, überhaupt einen Flyer zu finden und ohne auch nur ein Indiz über Name oder Adresse würde es selbst bei Google schwer werden, das richtige Fitnessstudio ausfindig zu machen. Vielleicht wusste einer ihrer Freunde mehr. Sie schnappte sich ihren Laptop, der sich nach dem Öffnen mit einem 'Bing' zurückmeldete und ging auf ihre Facebook-Seite. "Hat irgendeiner ne Ahnung, in welchem Fitnessstudio Kickboxen angeboten wird? Möglichst in der Nähe" schrieb sie und klickte den 'Posten'- Button. Jetzt hieß es warten. Nach einer halben Stunde unnützes Auf-den-Bildschirm-Gestarre rief ihre Mutter zum Essen und Jenne schlurfte in die Küche. Pizza war immer gut – das Chaos hielt sich in Grenzen.

Es war bereits halb zehn, als Jenne sich nach mehreren Folgen 'How-I-Met-Your-Mother' wieder an den Laptop setzte, der Tatsächlich mehrere Kommentare unter ihrem Post zu melden hatte. "Kickboxen? :S", hatte Amelie geschrieben. 'Sehr hilfreich!', dachte Jenne und guckte weiter. Tatsächlich schien Jonas irgendwas zu wissen. "Hab' letztens so 'nen Flyer gesehen" Jenner jubelte innerlich. "Das mein ich!", kommentierte sie und schrieb ein "kannst du mir Datum und Adresse nennen" darunter. Keine Minute später meldete sich Jonas mit einer privaten Nachricht; "Hol ihn dir einfach ab" "Schreib's doch einfach eben!" – was wollte der denn bitte?! "Wer will die Informationen?" Jenne schluckte. "Arsch". Gesendet. Sie natürlich. "Immer :*" "Kannst du's nicht mitbringen, wenn wir uns das nächste Mal sehen? Wahrscheinlich eh morgen oder so…" "Sorry, das geht nich" Jenne runzelte die Stirn. "Wieso das den?" "Ich fahr in Urlaub" – "mit meiner ganzen Familie" – "morgen" – "für eine Woche". Das kam ja nicht gerade überzeugend, dachte sie. Er hatte es tatsächlich in vier Nachrichten gesendet. Jenne grummelte. In einer Woche würde es wahrscheinlich zu spät sein. Das einzig Gute, das sie diesen Nachrichten entnehmen konnte war, dass sie in absehbarer Zeit ihre Ruhe haben würde, vertraute sie auf sein Wort. "Ok" schrieb sie. "Kann ich morgen gegen 10 kommen?" "Passt", antwortete er und führte anschließend seine Adresse auf, eigentlich unnötig, denn sie war ja erst gestern dagewesen, aber Jenne fiel auf, dass die Adressen nicht überein stimmten. "Wohnst du nich da irgendwo am Arsch der Welt?" "Das war das Haus meiner Oma und meines Opas, wir wohnen in der Stadt, was dachtest du denn?" Darauf schrieb Jenne lieber nichts mehr. Sie kritzelte Straße und Hausnummer auf ein abgerissenes Stück eines Blattes und pinnte es zusammen mit der Liste wieder an die Wand, dann klappte sie den Laptop zu, ohne die tausend Fragezeichen zu beachten, die vereinzelt in ihrem Posteingang landeten. Sie lehnte sich auf ihrem Schreibtischstuhl zurück und starrte an die Zimmerdecke. Sie war noch nicht müde und entschied sich, weitere Sendungen im Fernsehen im Wohnzimmer zu gucken, spätestens, bis ihre Mutter sie raus schmiss.

Nach fünf oder sechs Folgen 'Two-and-a-half-Man' und mehreren Lachkrämpfen war sie dann endlich so fertig, dass sie nur noch schlafen wollte und schlich zurück in ihr Zimmer. Um halb drei schaute sie ein letztes Mal auf die Uhr.

 

Kapitel 3

 

Ein nervtötendes Piepen riss sie am nächsten Morgen aus dem Schlaf und Jenne tastete noch müde nach ihrem Wecker, der auf dem kleinen Nachtschränkchen stand, und stellte ihn ab. Sie drehte sich um, doch nach weiteren zehn Minuten klingelte es erneut und Jenne quälte sich aus dem Bett. Verschlafen schielte sie auf die Zeiger der Uhr. Es war halb neun. Dann gähnte sie. Heute würde sie Jonas besuchen. Sie schnappte sich frische Unterwäsche aus einer der Schubladen und schlurfte dann ins Bad, um zu duschen.

Keine zehn Minuten später stand sie mit einem Handtuch um ihre Haare gewickelt vor dem Kleiderschrank und überlegte fieberhaft, was sie anziehen wollte. Sie machte sich Gedanken über Kleidung, auch, was sie über ihren Träger aussagte und sie fand, auffällig war gut, selbst wenn es manche als 'bitchig' abstempelten. Sie kramte nach einer zerrissenen schwarzen Röhrenjeans, zog ihr Bikinioberteil an und streifte sich ein bauchfreies, weites T-Shirt über. Dann machte sie sich einen hohen Zopf und band ein paar bunte Bänder um ihren Kopf, ehe sie ihr Werk im Spiegel betrachtete. Sie nickte zufrieden.

Auch wenn sie Jonas besuchen würde, müsste sie immer noch durch die halbe Stadt fahren und es war nich gerade kalt draußen.

Jenne lief den Flur entlang, in die Küche und stellte überraschend fest, dass eine Tüte vom Bäcker bereits auf dem Tisch lag, daneben ein Zettel, hastig mit Bleistift bekritzelt

'Bin noch mal mit Manu in der Stadt, Großeinkauf

Sehen uns nachher und könntest du bitte die Küche aufräumen, nachdem du gegessen hast?

Kuss, Mama'

Jenne zerknüllte den Zettel mit einem Augendrehen und warf ihn in den Mülleimer, ehe sie sich an den Tisch setzte. Großeinkauf, also sind die beiden wahrscheinlich für eine geschlagene Stunde weg, überlegte Jenne, während sie ihr Brötchen großzügig mit Nutella bestrich. Bis dahin sollte auch sie es geschafft haben, den Zettel zu holen.

Als die Küche aufgeräumt war, schnappte Jenne sich den Haustürschlüssel, ihr Handy und den Zettel mit der Adresse, schlüpfte in ihre Nikes und sprang wenige Augenblicke später die Treppen hinunter, nach draußen. Das Skateboard, dass sie im Hausflur gelassen hatte, nahm sie unter den Arm und verließ das Haus.

An der ersten Kreuzung, an die sie kam, orientierte sie sich kurz, ehe sie nach links bog und auf ihr Skateboard sprang. Wenn sie sich nicht irrte, würde sie lediglich eine Zeit lang geradeaus fahren und später das Haus in einer Siedlung ausfindig machen müssen. Soweit so gut.

Es dauerte länger, als Jenne gedacht hätte und als sie endlich die Straße erreichte, die sie mit dem Namen auf dem Zettel verband, musste sie feststellen, dass es irgendwie nicht die selben waren. Sie seufzte. Das war jetzt aber blöd. Ein wenig unsicher schaute sie sich um und las Jonas' Adresse abermals. Sie war planlos. Der Straßenname sagte ihr nun doch nichts, aber bevor sie sich überlegen konnte, was jetzt das sinnvollste wäre, tippte sie jemand an der Schulter und Jenne fuhr erschrocken herum, wobei sie das Skateboard dem vermeintlich Fremden versehentlich in den Bauch rammte. "Oh, en-entschuldigung", stotterte sie unbeholfen und blickte beschämt zu Boden. "Sch-schon okay", murmelte er, sich immer noch den Bauch haltend und Jenne blickte verwundert auf, die Stimme kannte sie doch – Zain.

Sofort erlangte sie ihre Fassung wieder und auch er versuchte zwanghaft, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten, aber es tat anscheinend wirklich richtig weh. "Was verschlägt dich denn hier her?", fragte Zain irgendwann, als Jenne schon eine unauffällige Flucht in Erwägung zog. Ja, was machte sie hier. Wäre es schlau, ihm die Wahrheit zu erzählen? Oder lieber doch was erfinden? Obwohl, er als bester Freund würde jawohl wissen, wo Jonas wohnt, oder? "Also?", hakte Zain nach und riss Jenne aus ihren Gedanken. "Eigentlich wollte ich Jonas besuchen", sagte sie. Sie brauchte den Flyer. "Jonas?!", er guckte nicht sehr schlau. "Ja, Jonas" "Wieso das denn?" "Ich brauch' den Flyer", seufzte sie und verdrehte genervt die Augen. "Ach stimmt, stand ja auf Facebook", nickte Zain. "Aber Jonas wohnt doch ganz woanders", meinte er dann und Jenne murmelte unverständlich ein "ich weiß, ich weiß" vor sich hin. Zain lachte kurz auf, ehe er sich beruhigte und ihr anschließend anbot, sie hin zu führen, da er ebenfalls in diese Richtung müsse. Ein wenig zweifelnd willigte Jenne schließlich ein, denn sie war sich sicher, dass auch Zain ihr nicht einfach die gewünschte Information geben würde, ohne selbst Profit zu schlagen.

 

Zain hatte sein Fahrrad dabei und während er langsam in die Pedale trat, kurvte Jenne neben ihm her. Die Straßen hier waren geteert und nicht gepflastert oder mit Rollsplitt übersäht, wofür sie in Gedanken ein Stoßgebet zum Himmel schickte. Nichts wäre ihr peinlicher, als jetzt als Anfänger dazustehen, was sie sicherlich nicht war. Über den ein oder anderen Bordstein sprang sie, und auch wenn es lediglich dazu diente, einen Krampf im Fuß zu vermeiden, lenkte es gleichzeitig auch ab und ließ kein unangenehmes Schweigen zu Stande kommen. Seitens Zain war nur ein sich wiederholendes 'Mh' zu hören, was Jenne als abschätzend interpretierte. Sie würde hier ganz sicher nicht ohne weiteres Stunts hinlegen, dachte sie sich verärgert, ließ sich aber nichts anmerken. Der würde sich noch wundern, wenn sie im Skater Park treffen würden.

Nach einer gefühlten halben Ewigkeit bog Zain vor ihr links ab und Jenne atmete erleichternd aus. Am dritten Haus auf der linken Seite stieg Zain dann vom Fahrrad und deutete auf das Gebäude hinter ihm. Jenne staunte. Es war groß, ziemlich groß, wahrscheinlich so groß wie das Mehrfamilienhaus, in dem Jenne wohnte, aber mit Sicherheit eben ein Einfamilienhaus. Sie schluckte noch einmal, anscheinend hörbar, denn hinter sich hörte sie Zain lachen. "Ich fahr dann mal", sagte er und als Jenne sich umdrehte, um sich für das Herbringen zu bedanken – so viel Anstand hatte sie dann doch – umarmte er sie kurz, was für sie völlig überraschend kam und leichte Zweifel an der allgemeinen Höflichkeit aufwarf. Letztendlich dauerte die Umarmung aber nicht lange, wenn es nach Jenne gegangen wär, wäre sie natürlich kürzer gewesen, Zain hingegen schien gar nicht mehr loslassen zu wollen, sodass sie ihn mehr oder weniger wegdrücken musste. "Danke nochmal", sagte sie, nachdem sie genügend Abstand zwischen sich und ihn gebracht hatte, hob die Hand zum Abschied und schlüpfte dann durch das, glücklicherweise nicht quietschende Gartentor.

Sie stand noch fünf Minuten vor der Eingangstür, durch die auch ein Elefant gepasst hätte, ehe sie sich sicher war, klingeln zu wollen.

Eine Frau mittleren Alters öffnete nach kurzer Zeit die Tür und bat sie freundlich einzutreten. Ein wenig verwundert, dass Jenne sich nicht vorzustellen brauchte, trat sie ein.

Die Eingangshalle war ebenso prächtig wie die Fassade und zeichnete sich durch die hohen Decken und die edle Einrichtung aus, auch das offene Treppenhaus, dass anschloss und durch das oben eine Art Empore entstand, ließ Jenne staunen. "Die Treppe rauf, dann links und die zweite Tür auf der rechten Seite", sagte die Frau und ein wenig zögernd lief Jenne die Treppe rauf, das Skateboard unterm Arm, sie wollte hier keinen Dreck verteilen.

Zu gern hätte sie in all die Zimmer geguckt, aber der Gedanke, dass das Jonas' Haus war und er jederzeit um die Ecke kommen könnte hielt sie davon ab.

Schließlich stand sie vor der ihr genannten Tür – hoffte sie jedenfalls – und klopfte vorsichtig an. "Ja-a?!", hörte sie von drinnen und drückte langsam die Klinke runter. Warum zur Hölle zitterte sie denn jetzt?! Reiß dich zusammen, mahnte sie sich in Gedanken und betrat den Raum.

Er war in Blau gehalten. Blaue Vorhänge, blaue Bettwäsche, blauer Teppich. Der Boden war von schwarzem Holz belegt, wahrscheinlich so ein Echtholzparkett, wovon man in den ganzen Star-Soaps immer hörte, wenn sich einer ein Haus baute. Die Wände waren weiß gehalten. Nur eine wurde mit tausenden Fußballpostern, die eine Kollage bildeten, komplett überhängt. Schränke, Kommoden, Schreibtisch und Couchtisch waren ebenfalls weiß, Couch, Sessel und Schreibtischstuhl schwarz. Als Deko dienten mehrere Pokale, Fußbälle und Medaillen sowie mehrere Pflanzen, die allerdings schon seit längerem kein Wasser mehr gesehen zu haben schien.

Jenne schaute sich neugierig um, aber im Grunde war das Zimmer ziemlich steril gehalten, nichts lag auf dem Boden und auch sonst schien hier alles seinen Platz zu haben.

Jonas war nicht im Zimmer und so blieben Jennes Blicke auf einer Tür hängen, die neben der Fensterwand in ein weiteres Zimmer führen musste. Ziemlich langsam näherte sie sich der Tür und bekam fast einen Herzinfarkt, als diese aufgerissen wurde und Jonas hereinkam – mit nur einem Handtuch bekleidet.

"Oh, hi Jenne! Ist es schon so spät? Hab gar nicht auf die Zeit geachtet", begrüßte er sie, ohne auch nur einen Hauch Röte auf seinen Wangen und Jenne war froh, als er keine Anstalten machte, sie zu umarmen – das würde zu weit gehen. "Setzt dich doch", fuhr Jonas nach einer kurzen Pause fort und deutete mit seiner Hand auf die Sitzecke. Dankbar, nicht wie versteinert im Zimmer rumstehen zu müssen ließ sie sich in einem der Sessel nieder – nicht dass er sich gleich neben sie setzte oder so – während er ganz unschuldig zu dem Kleiderschrank schlenderte und nach einer Boxershorts zu kramen schien. Nachdem er gesuchtes auch gefunden hatte, verschwand er mit einem freundlichen Lächeln wieder im Bad – es würde wohl eins sein.

Jenne atmete einmal tief durch und lächelte dann wissend in sich hinein.

Auch wenn es auf den ersten Blick so ausgesehen hatte, als sei Jonas tatsächlich gerade duschen gewesen, war ihr aufgefallen, dass seine Haare nur noch, wenn überhaupt, 'feucht' waren. Außerdem war sie mindestens eine viertel Stunde zu spät gekommen, im Bad aber hing eine Uhr, dass hatte sie durch die Tür gesehen und so sehr, wie Jonas darauf bestanden hatte, dass sie vorbeikommen solle, würde er es bestimmt nicht vergessen haben. So war das mit Jungs – einfach zu durchschauen.

Keine Minute brauchte Jonas im Bad, ehe er mit nur einer Boxershorts wieder raus kam. 'Bloß nicht zu viel anziehen, mein Lieber', dachte Jenne und bemühte sich gar nicht erst, zwanghaft woanders hinzugucken, denn das wäre wahrscheinlich noch auffälliger gewesen. Außerdem hatte sie nie behauptet, er würde nicht gut aussehen. Jonas schien geteilter Ansicht, zum einen froh, dass sie ihn ansah, zum anderen enttäuscht oder vielleicht sogar verärgert, dass Jenne sich nicht so einfach in Verlegenheit bringen ließ – sie wusste es nicht und beschloss, bloß nicht auch noch auf dieser, seinem Verhalten nach zu urteilen, Niederlage herum zu trampeln, weswegen sie keinen Protest einräumte, als Jonas auffällig langsam und extrem unnatürlich in seine Hose schlüpfte und sich ein Hemd zuknöpfte, darauf bedacht, die obersten beiden Knöpfe offen zu lassen und anschließend tatsächlich den zweiten Sessel neben den von Jenne schob, ehe er darin Platz nahm. "Also, wo ist der Flyer?", fragte sie, als Jonas langsam immer näher kam. "Welcher Flyer?", Jonas guckte verwirrt und wich wieder ein Stück zurück. Jenne riss die Augen auf. Wie 'Was für ein Flyer?'?! Hallo, weswegen war sie denn bitte hier?! Wohl nicht zum Spaß! Jonas fing an zu lachen. "War nur Spaß! Du müsstest dein Gesicht sehen", sagte er und erhob sich immer noch prustend vom Sessel. Er lief zu seinem Schreibtisch und aus der obersten Schublade holte er tatsächlich den gesuchten Flyer. Jenne beruhigte sich, bis ihr auffiel, dass es EXACT der selbe war, den sie gehabt hatte! Die Faltlinien waren noch deutlich zu sehen, auch wenn der Zettel wahrscheinlich die letzten Stunden zwischen dicken Büchern gelegen hatte und die Ecken waren auch abgerissen. Sie hatte ja von Anfang an gewusst, dass sie den Flyer erst gestern Morgen verloren hatte - da war er also geblieben. Sie schnappte sich den Zettel dann aber doch, ohne auf ihre Vermutungen aufmerksam zu machen, um die Erinnerungen an diese 'Situation' nicht hervorzuholen, denn einen Macho-Spruch wie 'dann können wir ja da weiter machen, wo wir aufgehört haben' wollte sie nun wirklich nicht provozieren. Jonas verwickelte sie in einen 'Small-talk' und innerlich zählte Jenne die Sekunden. Nach ungefähr 826 verschwand Jonas ein weiteres Mal kurz im Bad und Jenne sah ihre Chance gekommen, sich zu verdrücken. Sie vergewisserte sich ein weiteres Mal, den Zettel wirklich in ihrer Tasche zu haben, ehe sie so leise wie möglich zur Tür schlich, auf dem Flur ein "Ich muss los, viel Spaß im Urlaub" verkünden, dass hoffentlich so laut gewesen war, dass auch Jonas im Bad es gehört hatte. Anschließend sprintete sie Treppe hinunter, darauf bedacht, bloß nicht ZU hektisch auszusehen, wer weiß wer hier noch so wohnte und sie sehen könnte, und wollte gerade in den Eingangsbereich abbiegen, als sie unsanft mit jemandem zusammenstieß und sich gerade noch am Treppengeländer halten konnte, um nicht hinzufallen. Ihr Gegenüber hatte weniger Glück. Das Mädchen – naja, eher junge Frau – fand sich auf dem Marmorboden wieder. "E-entschuldigung", stotterte Jenne und tippte bei ihr auf die ältere Schwester von Jonas. "Schon gut, nichts passiert", lachte diese und richtete sich wieder auf. "Ich bin Laura, Jonas große Schwester", stellte sie sich vor, als sie wieder stand und reichte Jenne die Hand. "Jenne" sagte die nur. Ihre Beziehung zu Jonas würde nicht in einem Satz erklärt und hätte außerdem negative Auswirkungen, denn Freunde waren sie ganz sicher nicht.

"Tja….",murmelte Laura, als sie ihre Hand wieder sinken ließ, die Jenne gekonnt ignoriert hatte. "Was machst du hier?" 'Falsche Frage', dachte Jenne und schielte sehnsüchtig zur Tür. "Ich… ich besuche Jonas?", es klang unsicher und rief ein freundliches Lächeln auf Lauras Lippen. "Ach soo, ja, ich glaub ich weiß wer du bist, hast du Jonas nicht erst vor drei Tagen oder so auf einer Party getroffen?" 'Sie meint Amelie', schoss es Jenne in den Kopf, nickte dann aber nur, um unnötige Erklärungen zu vermeiden. "Weißt du, Jonas redet ständig über dich und deine Freundinnen", lachte Laura und Jenne versuchte freundlich und möglichst ungezwungen zu lächeln, was ihr anscheinend einigermaßen gelang, denn Jonas' Schwester zwinkerte ihr nur wissend zu. "Jenne!", rief jemand von oben und besagte drehte sich etwas entsetzt um. Tatsächlich stand Jonas auf der Empore, seine Haare perfekt gestylt, und winkte zu ihr herunter. "Lasst uns doch was trinken", schlug Laura auf einmal vor und Jenne hatte das Gefühl, dass das Gespräch und die Vorgänge sich in eine riskante Richtung bewegten. "Gute Idee", meinte auch Jonas, der gerade die Treppe runter kam und Jenne begann, sich eine plausible Ausrede zurecht zu legen, als ihr einfiel, warum sie überhaupt hatte kommen müssen. "Ich will euch wirklich keine Umstände machen" – sehr schön formuliert, Jenne – "Müsst ihr denn nicht noch packen und so?" Laura blieb auf halbem Weg in die Küche stehen und Jonas fühlte sich plötzlich sichtlich unwohl. "Packen?", fragte seine Schwester dann und Jenne verstand langsam, was hier Sache war. "Ja", sagte sie ganz unschuldig, "ihr fahrt doch für eine Woche weg, meinte Jonas zumindest" "Wir fahren… Jonas?!?", Laura drehte sich zu ihrem Bruder um und runzelte die Stirn. "Ja…also… ahm… das…. Also…. …. ", stotterte der nur und Jenne wandte sich mit gespieltem Entsetzen um. "Heißt das, du hast gelogen, nur damit ich dich besuche??!", wimmerte sie und schaffte es sogar, eine Träne über ihre Wange kullern zu lassen. Daraufhin funkelte Laura Jonas böse an und brachte Jenne zur Tür. "Er ist eigentlich nicht so", entschuldigte sie sich bei ihr, ehe Jenne den Weg entlang ging und durch das Gartentor wieder auf die Straße gelangte. Es musste so gegen elf Uhr sein mittlerweile und Jenne entschied sich, nach Hause zu fahren, schließlich würden ihre Mutter und ihr Bruder auch bald wiederkommen und Jenne hatte keinen Zettel oder ähnliches hinterlassen.

Der Rückweg dauerte wesentlich kürzer als der Hinweg, was wahrscheinlich daran lag, dass Jenne dieses Mal wusste, wo genau sie hin wollte.

 

Sie war keine zehn Minuten zu Hause, als die Tür auch schon ein weiteres Mal aufgeschlossen wurde. "Wir sind wieder da-a", schrie Jenne's Mutter durch den Flur, bis ihr auffiel, dass diese direkt neben ihr stand. Jenne seufzte und verschwand dann in ihrem Zimmer.

Zuerst trug sie Datum, Uhrzeit und Adresse des Schnuppertrainings in ihren Kalender ein, dann googelte sie das Fitnessstudio.

Nach einer weiteren halben Stunde, war sie sich sicher, dass sie hingehen würde. Es lag nicht weit von der nächsten Bushaltestelle entfernt und die regulären Trainingszeiten waren abends um sieben Uhr herum angegeben. Sogar freitags! Gedanklich verabschiedete Jenne sich von nervigen DVD-Abenden und langweiligen Partys, die lediglich zum Saufen und Abschießen genutzt wurden und klappte den Laptop zu.

Was jetzt? Sie fuhr gelangweilt auf ihrem Schreibtischstuhl durchs Zimmer. In den Park wollte sie nicht gehen, da war wahrscheinlich schon die halbe Stadtjugend versammelt, denn anders als in ihrer alten Stadt, schien Skateboarden hier hohes Ansehen zu genießen. Somit schied auch der See aus, denn bei den Temperaturen tummelte sich da die andere Hälfte. Heute war Montag. Um drei fing wieder ihre Schicht im '________' an und morgen würde sie dann zum ersten Mal in dem Café in der Stadt arbeiten.

Sie war noch neu genug, um nur wenige lokale Orte zu kennen und entschloss sich, mit einem Stadtplan bewaffnet eine Skateboard-Tour durch die, an die Stadt grenzenden Bauernlandschaften zu machen, um sich die Zeit zu vertreiben.  

Ein Rucksack mit 'Verpflegung' war schnell gepackt und innerhalb kürzester Zeit stand sie mit einem ausgefalteten Stadtplan vor ihrer Haustür. Sie versuchte, eine ungefähre Stecke festzulegen und sich zentrale Punkte zu merken, ehe sie los fuhr. 

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Tag der Veröffentlichung: 12.03.2015

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