Cover

Mr. Unknow

 

 

 

Riiiing! Riiiiiiing! Riiiiiiiiiiiing! 

Mit einem weit ausgeholten Armhieb schmetterte ich meinen geliebten Wecker vom Nachttisch. 

Erst als ich das laute Krachen und das Geräusch, als wäre Glas zerbrochen, vernahm, welches mir diagnostizierte, dass der Wecker es dieses Mal nicht überlebt hatte, fing ich an zu realisieren, dass es an der Zeit war, aufzustehen. 

Ich richtete mich langsam auf und starrte auf die Überreste meines Weckers, der bestimmt schon ein Jahr mit mir und meinen etlichen, unbeabsichtigten Attentaten, bei dem er das ein oder andere Mal Bekanntschaft mit dem Boden gemacht hatte, überstanden hatte. 

Heute hatte ich es geschafft, ihn an die nächste Wand zu befördern und das war dann doch zu viel des Guten. 

„Schade eigentlich um das gute Stück.“ 

Gemächlich verabschiedete sich der verschleierte Blick, doch der miese Kater, der mir immer noch alle Sinne vernebelte und mich wieder ins Bett zu zerren versuchte, blieb. 

 

Ich versuchte mich, an den gestrigen Abend zu erinnern, was mir allerdings in Anbetracht meines momentanen Zustandes reichlich schwer fiel. Dennoch kamen Brocken meiner Erinnerung wieder, bis es mir wieder wie Schuppen von den Augen fiel. Ich wusste es wieder. 

Meine werten Freunde. Sie waren der festen Überzeugung gewesen, ich wäre immer so zurückhaltend und gewissenhaft. Ich sollte mir doch mal ein, zwei Bier gönnen und mal etwas lockerer werden. Und da ich ja nicht wieder als die Spielverderberin gelten wollte, stimmte ich schließlich ein – besonnen, mir nicht die Kante zu geben. Aber gute Vorsätzen waren schon immer sehr schwer einzuhalten… 

Aus einem Bier, das war die Menge, die ich mir ursprünglich für den Abend vorgenommen hatte, wurden zwei, aus zwei dann fünf und so nahm der Alkoholpegel seinen Lauf. 

Schätzungsweise drei Liter hatte ich letztlich intus, als ich mitten in der Nacht den Heimweg antrat. Natürlich war ich schon mehr als angetrunken, immerhin vertrug ich kaum etwas, was ich meinen Genen noch nie hoch angerechnet hatte, aber jene Hilfe meiner Freunde, die mich doch eiskalt abgefüllt hatte, lehnte ich vehement ab. 

Ich wollte mir und ihnen schier nicht eingestehen, dass der Alkohol mich meines klaren Verstandes beraubt hatte, ich ihm nun völlig aufgeliefert und im Umkehrschluss von irgendjemandem abhängig war. Nein, ich wollte wenigstens noch die Würde bewahren und unter Beweis stellen, dass ich sehr wohl noch dazu fähig war, auf geraden Beinen wieder nach Hause zu kommen. 

Was sich allerdings als unmöglich erwies, da ich nur schwankend und träge vorankam, wobei holpriges Stauchen nicht die Seltenheit war. 

Nichtsdestotrotz hatte mich diese Tatsache nicht davon abgehalten, jederlei gut gemeinte Angebote, mich nach Hause zu begleiten oder gar zu fahren – lächerlich, es war schließlich nur ein Fußweg von zehn Minuten –, abzuwimmeln. 

Auch dies bereute ich im Nachhinein, wenn man mal bedachte, wie viele Frauen in dieser Gegend schon sexuell belästigt oder sogar vergewaltigt worden waren, dass auch ich solch ein Opfer hätte sein können. Denn in dem alkoholisierten Zustand war ich vollkommen wehrlos, was ich allerdings nicht anders von mir hätte behaupten können, wäre ich noch klar im Kopf. 

Jedenfalls war es mir gelungen, wohlauf in meinem getrauten Apartment anzukommen. 

Ich hatte gleich die Toilette aufgesucht, um sie um meinen Mageninhalt zu bereichert und hatte mich anschließend in provisorischer Schlafbekleidung bestehend nur aus Unterwäsche auf meine Matratze geschmissen. 

 

„Wer hat denn den Wecker gestellt? Es ist doch Samstag!“, regte ich mich verschlafen auf, nachdem ich den Kalender ins Visier gefasst hatte, der an der gegenüberliegenden Wand hing. 

Doch gleich darauf fiel mein Augenmerk auf einen Zettel auf meinem Nachttisch, auf dem sich ein gekritzeltes ‚Einkaufen!’ vorfindet. Da erinnerte ich mich wieder daran, dass ich den geschrieben und mir den Wecker gestellt hatte, kurz bevor dieser erfolgreiche Abend anbrach. 

Murrend und mit einem schmerzlich dröhnenden Kopf stand ich vom Bett bestehend nur aus einer Matratze auf und ging zu meinem geschrotteten Wecker herüber. Ich angelte mir beim Vorbeigehen noch meinen Mülleimer, um nun die zersprungenen Einzelteile mit den Händen in den Eimer zu bugsieren. 

„Autsch!“, quietschte ich flüchtig auf und fuchtelte mit meiner rechten Hand in der Luft herum, als ich mich unachtsam an einer Scherbe am Zeigefinger schnitt. Vorsicht war noch nie meine Stärke.

Kurzerhand steckte ich mir den verletzten Finger in den Mund, um die Blutung wenigstens ein bisschen zu lindern, sammelte aber verärgert über meine Schluderei mit meiner Linken weiterhin die letzten Überbleibsel auf. 

Und wäre ich ich, wenn mir nun nicht wieder derselbe Fehler unterlief? Nein. So lief es darauf hinaus, dass ich nun drei Finger im Mund hatte, was wahrscheinlich einen ganz schön eigenartigen Anblick bot. Denn genau die letzte übrig gebliebene Scherbe schnitt in das Fleisch meines Daumes, deutlich tiefer als zuvor beim rechten Zeigefinger – dementsprechend quoll auch viel Blut heraus – und fiel knapp neben den Mülleimer wieder auf dem Boden. Sichtlich wütend und das Fluchen verkneifend drückte ich den noch heilen Zeigefinger auf den Schnitt, um wiederum den Blutfluss zu stoppen, und hob die besagte Scherbe mit linkem Ring- und Mittelfinger in den Müll, nicht ohne mit auch noch den Ringfinger zu schneiden. 

Infolgedessen – nach abgeschlossener Mission sozusagen – nahm ich ebenfalls die beiden verwundeten Finger in meinen Mund und erhob mich. Der Eisengeschmack meines Blutes war mitnichten kein willkommenes ‚Guten Morgen’, was ich aber gekonnt zu ignorieren wusste. 

Während ich also den Mülleimer mithilfe meines Fußes wieder an seine ursprüngliche Stelle neben dem Schreibtisch kickte, fertigte ich mir bereits eine imaginäre Einkaufsliste im Kopf an. 

 

Im Anschluss machte ich mich auf den Weg in die Küche. 

Ich wohnte noch nicht lange hier, knapp eine Woche. Demzufolge war mein Apartment erst mit dem Nötigsten ausgestattet, zu dem ich Pflaster nicht dazu zählte. Ich hätte ja nicht ahnen können, dass diese in geraumer Zeit Nutzen finden würden. Ferner hatte ich noch kein anständiges Bett, nur eine abgewetztes Matratze, was meinem Rücken auf Dauer nicht gut tun würde. Es kündigten sich jetzt schon Schmerzen am Kreuz an. Bevor ich in Selbstmitleid verfalle, zurück in die Realität. 

Die Küche war schon einmal ein Ansatz. Wo fand man denn besser etwas, das als vorübergehende Lösung für meine drei kleinen Probleme dienen könnte, als in der Küche? 

Dort angelangt sprang mir die Küchenrolle förmlich ins Auge. Entschlossen verband ich mir also Ring- und Zeigefinger mit dieser, nahm ebenso ein wenig Klebeband hinzu. Beim Daumen, der aufgrund der immensen Tiefe des Schnittes wie aus Strömen blutete, musste ich hingegen schwerere Geschütze auffahren. Mehrere Schichten Küchenrolle hüllten ihn ein und ein darum herum gewickeltes Gummiband sorgte für die Wirkung eines vorläufigen Druckverbandes. 

So machte ich mich mit meiner notdürftigen Versorgung wieder auf in mein Schlafgemach und zum angrenzenden Bad, um zu duschen, mich anzukleiden und fertigzumachen, damit ich auch gleich den Einkauf erledigen konnte. 

Ein kleiner Abstecher zur Apotheke wäre wohl auch ziemlich angebracht. Gesagt, getan. Zügig stopfte ich mir noch etwas Geld in die Hosentasche, griff mir meinen Wohnungsschlüssel und verlies das Apartment. Ich zog die Tür zu, stieg die Treppen herunter und ließ auch das Haus hinter mir.

 

Ein kurzer Blick nach links und nach rechts verriet mir, dass ich absolut keine Orientierung hatte. Da mir in dem Augenblick ‚rechts’ aus welchem Grund auch immer sympathischer erschien – ich mutmaßte, dass es daran lag, dass meine rechte Hand weniger Blessuren davon getragen hatte –, folgte ich dem rechten Pfad. 

Und meine Intuition lag richtig, denn sie führte mich zu einer Straße, welche die verschiedensten Läden marktete. Erfreut über den offenbar doch nicht so jämmerlichen Ausklang dieses Tages machte ich mich an den Einkauf, besorgte auch alles, was ich noch im Sinn hatte, für gewöhnlich vergaß ich nicht viel. So fand ich mich wenig später mit zwei großen Einkaufstaschen auf der Straße wieder. 

 

Obwohl ich, während ich ein paar Läden abklapperte, Ausschau nach einer Apotheke hielt, konnte ich keine erblicken, weswegen ich mich dem Gedanken ergab, dass wohl auch ein gewöhnlicher Supermarkt solch Kleinigkeiten im Sortiment haben müsste. 

Demnach betrat ich den nächstbesten Supermarkt und schaute die spärlich bestückten Regale durch. Relativ weit hinten wurde ich letztendlich fündig. 

Der Schuppen hier war entweder so populär, dass er nahezu alle seine Waren bereits verkauft hatte – was ich allerdings bezweifelte, da er menschenleerer nicht sein konnte – oder so unrentabel und unbesucht, dass sich eine große Produktvielfalt nicht gelohnt hätte. Ich tendierte ja eher zum Letzteren. 

Jedenfalls fand sich eine letzte Packung Pflaster in dem obersten Regal vor, darum herum nur gähnende Leere. 

Mein Blick wanderte durch die Gegend auf der Suche nach einer Leiter oder einem Hocker, nachdem mein kläglicher Versuch, die Packung aus dem Stand zu erhaschen, egal, wie angestrengt ich mich auch reckte und streckte oder herumsprang – ich konnte nicht wirklich mit meiner Körpergröße brillieren –, scheiterte. Leider fand ich nichts dergleichen und beschloss ohne Umschweife, nachdem ich mich kurz versichert hatte, dass sich kein Beobachter in meinem Umfeld befand, meine Kletterkompetenzen zu erproben. 

So stellte ich also rasch meinen Einkauf auf dem Boden ab und stieg auf die erste noch breite Ebene und ebenfalls auf die zweite, die schon etwas weniger Fläche zu bieten hatte. 

„Geschmeidig.“, dachte ich mir bereits. 

Aber just in diesem Moment, ich hatte gerade meinen linken Fuß auf dem dritten Regalbrett platzierte und griff schon nach den Objekt meiner Begierde – ab da wäre ich auch hundertprozentig an meine Pflasterpackung herangekommen! –, rutschte ich auf einer Packung Taschentücher aus, welche ich zuvor überhaupt nicht wahrgenommen hatte und stürzte ganz furchtbar auf den harten Supermarktboden. 

Allen voran mein linker Arm, der ein abscheuliches Knackgeräusch von sich gab. Mit aller Mühe bewältigte ich es, keinen ohrenbetäubenden Schrei von mir zu geben. Dennoch entkam meiner Kehle ein lautes, weinerliches Keuchen, was dann doch nicht ganz unbemerkt blieb. 

Jedoch interessierte mich dies nur sekundär, denn alles, was ich noch spürte, war der unendliche Schmerz, der von meinem Arm ausging. 

Dass meine Schnittwunden durch den seitlichen Aufprall weiter aufgerissen waren und jetzt umso mehr bluteten, was mir unter normalen Umständen höchstwahrscheinlich die eine oder andere Schmerzesträne die Wange heruntergejagt hätte, war gleichermaßen außerhalb meines Wahrnehmungsbereiches, so weh tat es. 

Bestimmt konnte ich nun mit einer Verstauchung meines Armes rechnen, denn die stechenden Schmerzen waren so unerträglich, dass ich es nicht einmal wagte aufzustehen. 

„Verdammter Mist aber auch! Aua…“, fluchend rieb ich mir vorsichtig über den Arm und verzog verstimmt das Gesicht, während ich mich unter großem Energieaufwand in eine am Boden sitzende Haltung brachte. 

Als sich dann ein Schatten über mich legte und sich ein Paar Schuhe in meinem Blickfeld bemerkbar machte, schaute ich auf in ein mir unbekanntes Gesicht. 

 

 

Scattered Thoughts

Es war ein junger, rothaariger Mann, nicht viel älter als ich, dessen Haar wild von seinem Kopf abstand und von einer Fliegerbrille zurückgehalten wurde. Dunkle schmale Lippen und stechend bernsteinfarbene Augen zierten sein hübsches Antlitz, und doch wirkte er bedrohlich, was zum Teil seinem gleichgültigen Gesichtsausdruck zu Grunde liegen mag. 

Ein lockeres, schwarzes Tanktop ließ seinen sehr gut gebauten Oberkörper bereits erahnen und ebenso waren seine Oberarme beachtlich muskulös. Des Weiteren trug er eine kurze, blaue Hose, die ihm bis zu den Knien reichte und seine Füße steckten in dunkle, schwer scheinenden Stiefel. 

Alles in einem eine imposante Präsenz, dessen Namen ich nur zu gerne wüsste. 

 

Mit vor der Brust verschränkten Armen blickte er auf mich herab, bevor er schließlich sein Augenmerk auf die Pflasterpackung auf dem obersten Tablar richtete. Als sein Blick von den Wundauflagen wieder zu mir glitt und er meine schmollend, schmerzlich verzerrte Miene erblickte, schlich sich ein amüsiertes Grinsen, welches auch schadenfrohe, wenn nicht sogar sadistische Züge aufwies, auf das Gesicht des Größeren. 

Scheinbar konnte er sich die Ursache meines Unfalls alleine zusammenreimen, denn auch die Tatsache, dass es in meiner Intention lag, diese Packung mithilfe meiner Kletterkünste herunter zu holen, sprach für sich und war ihm vermutlich nicht entgangen. Meine improvisierten Pflaster, auf denen sich nun deutliche Blutspuren abzeichneten, waren Indiz genug. 

Ohne jegliche Anstrengungen fischte er die Pflaster vom Regal, fast so, als wolle er mich damit demütigen, indem er mir diese Leichtigkeit in seinem Handeln vor Augen führte. 

„Ich nehme schwer an, die sind der Grund deines Sturzes? Naja, jetzt werden sie dir wohl auch nicht mehr viel nützen. Der ist verstaucht, wenn nicht sogar gebrochen.“, sprach er und wies auf meinen linken Arm. 

Er hatte einen dunklen Klang in seiner Stimme, der mir wirklich sehr gefiel. 

Belustigt streckte er mir seine Hand entgegen, so wie ich einschätzte, eher um mir seine Überlegenheit als seine Hilfsbereitschaft zu demonstrieren. Trotzdem nahm ich sie peinlich berührt lächelnd mit der Rechten an und er half mir mit einem kräftigen Ruck wieder auf die Beine. 

„Du solltest vielleicht mal zum Arzt gehen.“

Er drückte mir noch das Päckchen in die noch mehr oder weniger heile Hand und verschwand daraufhin direkt, ohne, dass ich mich noch hätte bedanken geschweige denn seinen Namen in Erfahrung hätte bringen können. 

Seinen plötzlichen Abgang fand ich zwar ziemlich schade, doch hatte ich gerade andere schwerwiegendere Sorgen als den Rotschopf. 

 

Die Schmerzen holten mich im wahrsten Sinne des Wortes wieder in die Realität zurück, sodass ich zügig meine Einkäufe schulterte – rechte Schulter, versteht sich – und zur Kasse eilte, um die Pflaster zu bezahlen und anschließend einem Arzt einen Besuch abzustatten. 

Doch da ich mit dieser Gegend noch nicht vertraut war, verstrichen schon mal gute zwanzig qualvolle Minuten bis ich durch das Fragen von Passanten nach dem Weg zum Doktor gefunden hatte und untersucht werden konnte. 

Allerdings stellte dieser fest, dass auch er nicht viel für mich tun konnte und überwies mich dem Krankenhaus Drumm. Ich war eindeutig überfordert. Gott sei Dank, erbarmte sich die freundliche Sprechstundenhilfe, mir ein Taxi zu rufen, nachdem sie auf meine Nachfrage hin verzweifelt versucht hatte, mir den Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Krankenhaus einzutrichtern. 

Im Alleingang hätte ich den Weg mit Sicherheit nicht gefunden. Das Problem bestand nicht darin, sich die Wegbeschreibung zu einzuprägen, sondern eher darin, die Orientierung zu bewahren, und zu so etwas war ich leider nicht im Stande. Da konnte man mir tausende Karten in die Hand drücken und ich könnte nichts mit ihnen anfangen. 

 

So kutschierte mich der Taxifahrer zum Drumm Krankenhaus, während ich auf der Rückbank lag und mich vor Schmerzen krümmte, hin und wieder peinvolle Töne von mir gab. 

Mein Fahrer erkundigte sich oftmals besorgt, ob ich denn in Ordnung wäre. Hingegen beteuerte ich, dass alles bestens wäre, was ersichtlich ja keinesfalls der Wahrheit entsprach, doch wen kümmert es? Natürlich blieb er skeptisch und so ganz konnte ich ihm seine Sorgen nicht nehmen, aber nun zum zweiten Mal: Ich hatte momentan anderweitige Probleme. 

Nach der zehnminütigen Fahrt bezahlte ich ihn also, legte ihm noch ein deftiges Trinkgeld drauf und notierte mir seine Nummer, um mir zumindest meine Rückfahrt zu sichern. 

In Anschluss betrat ich das Ärztehaus, ließ meinen Arm untersuchen, röntgen und letztlich eingipsen und war nach der ganzen Prozedur mehr als erleichtert, keinerlei Schmerzen mehr zu erleiden. Selbst meine Schnittwunden wurden unter meiner strengen Beobachtung ordnungsgemäß versorgt, schließlich wollte auch ich diese Kunst beherrschen und aus erster Reihe lernte man doch am allerbesten. 

Den Daumen gipsten die Herrschaften im weißen Kittel mir vorsorglich mit ein mit der Begründung, der Gips würde ohnehin das unterste Glied meines Daumens einschließen und ein Verband – der Schnitt war wohl doch etwas tiefer als angenommen – ließe sich in Anbetracht dessen nur sehr umständlich anbringen. Sollte mir recht sein. 

Und noch mal zu meinem linken Arm. Die Diagnose war eindeutig: Bruch der Elle. Wie ich das vollbracht hatte, konnte ich beim besten Willen nicht erklären, zudem der Sturz von einer gar nicht so beachtenswerten Höhe erfolgt war. 

Laut Arzt war es gut denkbar, dass es an meiner besonders geschickten Art lag, wie ich auf dem Boden aufgeprallt war. Also, wäre jeder andere Mensch mit ein paar blauen Flecken davor gekommen, während meine Wenigkeit einen Armbruch erleiden musste, nur weil ich nicht im Stande war, mich vernünftig abzurollen? Das konnte man doch nicht von mir erwarten und vor allem nicht genau da, wo ich einen Unfall überhaupt nicht erwartet hätte! 

Ich wollte einfach nur noch weg von diesem mir so unsympathischen Ort.

 

Als ich aus dem Hospital ins Freie trat, zog tief die Luft ein – nach zwei Stunden inmitten des stickigen Desinfektionsmittelmiefs eine Genugtuung für Nase und Lunge! – und rief im Anschluss den liebenswerten Taxifahrer an, der mir versprach in Kürze da zu sein. 

Dem war auch so und endlich wieder in meinem heißersehnten Apartment angekommen ließ ich mich erschöpft auf der Couch nieder und die heutigen Geschehnisse Revue passieren. 

Ein bestimmtes Gesicht wollte mir dabei nicht mehr aus dem Kopf gehen. Es war das des Rothaarigen. 

Bei unserer flüchtigen Begegnung im Supermarkt hatte er trotz seiner herrischen, gefahrausstrahlenden Art eine ungewohnte Anziehung auf mich ausgeübt, die ich nicht zu deuten wusste, die mir Kopfschmerzen bereitete und meinem Bauch ein flaues Gefühl zusetzte. 

Sollte das etwa etwas bedeuten? 

 

 

Lovely Misfortune

 

Vereinzelte Sonnenstrahlen drangen durch das Schlafzimmerfenster zu meinem Bett und rissen mich sanft aus dem Land der Träume. 

Ich öffnete meine Augen, um sie sogleich wieder zu schließen, denn das grelle Licht blendete so stark, dass man meinen könnte, man hätte erblinden können, hätte man länger der Sonne entgegen geschaut. 

Dem ungeachtet begann ich meinen Morgen mit einem herzhaften Gähnen, wobei ich meinen Oberkörper den uneingegipsten Arm streckend aufrichtete. Mit der Absicht, die Uhrzeit in Erfahrung zu bringen, wandte ich meinen Kopf zum Nachttisch auf der rechten Seite meiner Schlafstätte, auf dem für gewöhnlich mein Wecker seinen Platz fand. 

Doch erst als ich diesen nicht erspähen konnte, erinnerte ich mich wieder daran, dass ich ihn am letzten Samstag versehendlich zerschmettert hatte. Mir wurde ebenfalls schlagartig bewusst, dass ich ausgeschlafen hatte, obwohl heute Montag war und eigentlich mein erster Tag an der neuen Schule begann. 

Als mich diese Erkenntnis traf, sprang ich wie von der Tarantel gestochen auf, lief beunruhigt zum Schreibtisch herüber und schnappte mir mein Handy, um mich zu vergewissern, dass ich nicht so dermaßen zu spät zur Schule kommen würde, dass es sich nicht mehr gelohnt hätte. 

‚Zwei neue Textnachrichten’ war das erste, was auf dem Display wahrnahm. Ich öffnete sie und las. 

 

Von: Ace

08/08/2011  07:47:19 

Chris? Wenn du nicht in ner Minute rauskommst, 

gehen wir schon mal los. Sind schon spät dran. 

Ace

 

Verdammt, die hatte ich ja ganz vergessen! 

Mit einem schlechten Gewissen und einem leichten Anflug von Panik – immerhin kannte ich nicht einmal den Schulweg und war ohne sie geliefert! – nahm ich mich auch der zweiten SMS an.

 

Von: Ace

08/08/2011  07:51:43 

Sorry, aber wir müssen nun wirklich los. Haben dir ne

kleine Karte gezeichnet und unter die Fußmatte gelegt.

Ace

 

Welch Wunderknaben, was hätte ich nur ohne sie gemacht! 

Die Uhr zeigt kurz nach neun. Die Chancen standen somit gut, dass ich noch pünktlich zur dritten Stunde da sein konnte. 

Erleichtert und mit diesem Wissen machte ich mich in Rekordzeiten einigermaßen zurecht, warf mir meine schon am vorherigen Tag gepackte Tasche über die Schulter, holte die selbst gekritzelte Karte hervor und begab mich schnellen Schrittes auf den Weg zur Schule. 

Zwar sah sie eher schlecht als recht aus, doch freilich hatte sie sich überhaupt die Mühe gemacht, mir diesen Plan zu malen und das rechnete ich ihnen schon sehr hoch an. 

Vor allem aber kannten mich die Jungs so gut, dass sie bereits zu diesem Zeitpunkt anscheinend davon ausgehen waren, dass ich jede gewöhnliche Karten nicht überschauen würde und sie hatten ihre Skizze so abstrakt angefertigt, dass sogar ich – vielleicht sogar nur ich – flugs den korrekten Weg finden würde. 

Und dem war auch so. 

Schließlich stand ich unmittelbar vor dem Schulgebäude, dessen Gelände wie leergefegt schien, was vermutlich daran lag, dass die zweite Stunde noch nicht geendet hatte. 

Nichtsdestotrotz konnte ich vereinzelte kleine Grüppchen bestehend aus wenigen rauchenden Schülern ausmachen, die sich allem Anschein nach nur einen feuchten Kehricht um die Fehlstunden scherten, die sie wegen ihrer eigenmächtigen Raucherpause einbüßen mussten. Mit aller Wahrscheinlichkeit handelte es sich bei denen um die auffälligen, meist angesehensten und verehrten Raufbolde der Schule, denen die Mehrheit der klassischen Schulpüppchen trotz ihren missbilligen, groben Verhaltensweisen nur so hinterher rannen. 

Ich persönlich hielt nicht viel von solchen Menschen, weswegen ich sie ohne Weiteres ignorierte und mich auf ins Sekretariat machte, das ich Dank der kurzen Beschreibung auf der Karte leicht ausfindig machen konnte. 

Innerhalb von knapp einer Viertelstunde besiegelte meine telefonische Anmeldung mit einem Vorstellungsgespräch und einer Unterschrift, hörte mir das ganze Willkommens- und Einführungsgefasel an und ließ mir abschließend die üblichen Papiere aushändigen, wie einen vorübergehenden Stundenplan, der auf dem ersten Blick eine Menge Freiblöcke und –stunden hergab und auf dem bis jetzt nur die Pflichtfächer Deutsch, Mathe, Englisch, Sport und meine entsprechenden Lehrer und Lehrerin sowie die Räume vermerkt waren und einen Spezialisierungswahlbogen, welchen ich bis Ende dieser Woche wieder ausgefüllt abgegeben musste und welcher meinen endgültigen Stundenplan um zahlreichen individuellen Fächer bereichern würde. Darüber hinaus teilte man mir ein Schließfach zu, indem mir ein Zettel gereicht wurde, auf dem meine Schließfachnummer, meine Zahlenkombination und eine kleine Bedienungsanleitung für das Zahlenschloss verzeichnet waren und fügte dem vier dicke Bücher, eines pro Pflichtfach, bei. Ebenso legte man mir eine Übersicht über die noch ausstehenden Termine und Events und einen Schülerausweis sowie einen Raumplan der Schule hinzu, von dem ich bereits wusste, dass ich nicht aus ihm schlau werden würde. 

Dennoch nickte ich einfach, um die Konversation schnellstmöglich hinter mich zu bringen. 

Natürlich hatte die Schulleitung auch meine Verspätung zur Kenntnis genommen. 

Verwundert hatten die Sekretäre dreingeschaut, als ich ihnen erst gegen Ende der zweiten Schulstunde gegenüber stand, obwohl der Termin bereits für halb acht angelegt worden war. Offenbar hatten sie bereits angenommen, dass ich nicht mehr erschien und nicht mehr mit meiner Person gerechnet, was ich ihren Gesichtern abgelesen hatte, als ich ihnen meinen Namen nannte. 

Etwas grimmig hatte die Schulleitung nach der Ursache meiner bedenklichen Unpünktlichkeit gefragt, woraufhin ich ihnen mit einem entschuldigenden Blick und ein Klopfen auf meinen doch ziemlich auffallenden Gips erwiderte, dass meine Unzeitigkeit die Folge von gewissen Komplikationen war und so etwas nicht mehr vorkommen würde. 

Und tatsächlich gelang es mir mit dieser kleinen Lüge zu überzeugen. 

 

Wieder auf dem Schulgang angelangt, blickte ich mich erst einmal um. Blickte nach rechts, blickte nach links. Keine Menschenseele zu sehen. 

Hieß wohl, dass die zweite Stunde immer noch nicht geendet hatte, sich jedoch – sofern mich mein Zeitgefühl nicht täuschte – dem Ende neigte. Eigentlich verständlich, immerhin hatte ich das Läuten der Schulglocke noch gar nicht vernommen. 

Nachdem ich mittels meines Stundenplans festgestellt hatte, dass heute nur noch zwei Stunden Mathematik auf mich warteten und dieser Unterricht sich zu meinem Leidwesen erst nach einem Freiblock in der fünften, sechsten zutrug, beschloss kurzerhand meine Bücher in meinem neuen Spind zu deponieren. 

Während ich also in Gedanken über diese missliche Beschaffenheit – ich hatte mich hierhin gehetzt, nur um zu erfahren, dass ich nun wieder nach Hause fahren durfte?! – fluchte, irrte ich auf der Suche nach meinem Schießfach durch die Gänge. 

Wie ich es hasste, mich auf unbekanntem Territorium zu bewegen! 

Ich befürchtete sogar, im Kreis gelaufen zu sein. Doch dies ist vermutlich meiner Einbildung zuzuschreiben, welche meiner Verzweiflung entsprungen ist, da der Spind mit der Nummer 0578 scheinbar nicht existierte. Selbst die erste und zweite Etage hatte ich flüchtig durchgekämmt, wobei sich herausgestellt hatte, dass sich die Spinde ausschließlich im Erdgeschoss befanden. 

Die Schule hatte dem Anschein nach ein sehr ausgefeiltes System, die Spinde zu nummerieren, auf das ich noch nicht gekommen war. Aber erstaunlicherweise war ich heute so motiviert, dass ich nicht aufgab. 

Nach weiterem Herumirren und Grübeln stieß ich allerdings auf eine Idee, die in Punkto Orientierung erstmaligen Erfolg versprach! Und zwar bestand meine ausgetüftelte Überlegung daraus, dass ich mit Bleistift meine zurückgelegte Strecke auf dem Raumplan markierte, sodass ich im Anschluss überblicken konnte, welche Gänge noch nicht durchgeforstet wurden. 

So machte ich mich mit dem Raumplan auf den als Unterlage dienenden Büchern, die wiederum auf meinem Gips Halt fanden, und einem Bleistift in der rechten Hand an die Umsetzung. Es beanspruchte nicht viel Zeit und die Nummer 0578 rückte in greifbare Nähe! 

Entzückt vom kleinen Erfolgserlebnis richtete ich immer wieder abwechselnd meinen Augenmerk auf die Zahlen, den Plan und zurück, während ich an der Reihe Schließfächer entlangging. 0581… 0580… 0579… 05-

 

Plumps! 

Mit einem lauten Gepolter, hauptsächlich von meinen Büchern verursacht, und einem Quieken meinerseits landete ich auf meinem Gesäß, wobei mir meine Tasche von der Schulter rutschte und diverse Sachen sich auf dem Boden verteilten. 

Wieder einmal verfluchte ich innerlich meine Unachtsamkeit, der es zu verdanken war, dass ich mit jemandem zusammengestoßen war. 

Ein verärgertes Brummen und das lärmende Zuwerfen einer Spindtüre riefen mir in Erinnerung, dass dieser jemand noch existierte und ich mich noch entschuldigen musste. 

Als ich aufblickte, machte sich Verwunderung in meinen Zügen bemerkbar. 

Den kannte ich doch! 

 

 

An Embarrassment

Das durfte doch nicht wahr sein!

Das war doch dieser gutaussehende Rotschopf aus dem Supermarkt! 

Obwohl mir nun durchaus bewusst war, in wen ich da hineingelaufen war, wollte ich erst einmal so tun, als wüsste ich nicht, um wen es sich bei meinem Gegenüber handelte. 

Immerhin hatte er mich letztlich in meiner verletzlichen Phasen gesehen, hat sich über meinen gequälten Anblick auf dem Supermarktboden amüsiert und zugegebenermaßen, rückblickend war mir das schon ziemlich unangenehm. 

„Oh, tut mir wirklich Leid! Es lag nicht in meiner Absicht, dich anzurempeln!“

Zügig begann ich, meine Sachen zusammenzupacken – den Kopf selbstverständlich gesenkt und hinter einer hellbraunen Haarfront versteckt, damit er mich auch ja nicht wieder erkennen konnte. Als hätte er meine unbedeutende Wenigkeit überhaupt noch in Erinnerung, aber sicher war sicher. 

Nachher erkennt er mich noch und bringt mein kleines Missgeschick aus Boshaftigkeit unter die Menge und ich ende bereits an meinem ersten Schultag als Gespött der Schule. Okay, vielleicht war das etwas übertrieben, denn ich so schätzte ich den jungen Mann beileibe nicht ein. Und ferner war ich ja bloß in ihn hineingelaufen und dabei gestürzt, nicht er, was ihm keinen Grund für akutes Übelwollen gab. Nichts Spektakuläres also. 

Gleichwohl hielt ich es nicht für gut, seine Nerven auf die Probe zu stellen. So gab ich mich als die Unwissende aus. 

Nur ein Grummeln war seinerseits zu vernehmen und ich war mir schon sicher, dass es ihn nicht weiter kümmern würde, was aus mir wurde. Demnach erhob ich mich kurzerhand, nachdem alle Sachen aufgepickt wurden und wollte schon davon schreiten und meinen Spind ausfindig machen. 

 

Doch plötzlich spürte ich einen kräftigen Griff um meinen Oberarm, was mich willkürlich aufschauen ließ. Nicht gerade gescheit. 

„Du?“

Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Beide Augenbrauen gehoben fixierte er mich. Sein verwunderter Gesichtsausdruck wich flugs einer belustigten Miene. Verdammt, er hatte mich erkannt. 

„Ehm… hehe, stimmt ja. Du warst der äußerst zuvorkommende Typ, der mir im Supermarkt aufgeholfen hat, richtig? Übrigens, danke dafür!“, brachte ich verlegen grinsend mit einem Hauch von Ironie hervor. 

Da er anscheinend weder vorhatte, mich loszulassen noch mir eine Antwort auf meine rhetorische Frage zu geben, fügte ich nervös noch einige Satzfetzen bei. 

„Was für ein Zufall dich ausgerechnet hier wiederzusehen. Hätte ich irgendwie nicht gedacht. So an meinem ersten Schultag, hehe. Ehm, ich meine, wie geht es dir?“ 

Ich wusste selbst nicht, warum ich solch konfuse Gedanken aussprach. Für gewöhnlich war ich eigentlich immer eine sehr gefasste Persönlichkeit, die weiß, was sie sagte. Doch wo waren denn diese Chris und ihre Selbstsicherheit hin? Ich vermisste sie! 

„Die Frage ist wohl eher, wie es dir geht. Du warst noch am selben Tag beim Arzt?“

Diese raue, tiefe Stimme wahrzunehmen war wirklich wohlig. Ich mochte sie. Sie hatte sowohl etwas Loderndes als auch etwas Verbotenes, was mich sehr anmachte. Okay, ich gebe es zu. Was so Männer anbetrafen, ich war wirklich nicht immer die Anständigste, wenn es um mein Kopfkino ging. In der Praxis sah das zwar gänzlich anders aus, doch meiner blühenden Fantasie bezüglich des starken Geschlechts waren nichtsdestotrotz kaum Grenzen gesetzt. 

Wieder tief in Gedanken versunken vergaß ich, dass ich ihm noch eine Antwort schuldig war. Das Verstärken des Drucks auf meinen Oberarm holte mich wieder auf den Boden der Tatsachen. Man, der hatte aber einen kräftigen Griff drauf, es tat ja schon weh, was ich mir natürlich nicht anmerken ließ. Immerhin hatte ich schon genügend Schwächen vor dem Rothaarigen gezeigt. 

„Danke der Nachfrage, mir geht es soweit gut. Der Arzt meinte, ich habe mir die Elle gebrochen, aber nicht der Rede wert.“ 

Etwas eingeschüchtert lächelte ich ihm entgegen in der Hoffnung, er würde endlich von meinem Arm ablassen. Ich mochte es nicht, festgehalten zu werden, was – glaube ich – keiner von sich behaupten könnte. Doch langsam war es doch mal genug! Wie lange will er meinen Oberarm denn noch umklammern? Ich würde doch nicht sofort wegrennen. Obwohl ich mir da nicht ganz so sicher wäre…

Ungeachtet dessen würde ich es trotzdem sehr willkommen heißen, wenn er mir meine Freiheit mal wiedergeben würde. 

Das brachte ich dann auch zur Sprache.

 

„Warum sollte ich?“, er grinste mich von oben herab an, was mir sichtlich unangenehm war und meinen Entschluss, schnellstmöglich zu fliehen, festigte.

Wollte er mich provozieren?! Zu meinem Leidwesen klappte es sogar ziemlich gut. Doch ihm die Genugtuung geben, indem ich verärgert reagierte, wollte ich keinesfalls. So gab ich schlicht und einfach nach.

„Fein, dann behalte doch deine Griffel da, aber lass mich wenigstens an meinen Spind.“, wurde ich etwas anmaßend. 

Dennoch kam mein Aufschluss unerwartet für ihn, was dazu führte, dass er fragend eine Augenbraue hob und kurz seinen Griff lockerte. 

Die Gelegenheit nutzte ich, um an mein Schließfach zu gelangen. 

„Ganz schön frech, die Kleine.“

„Ganz schön provokant, der Breite.“

Uns umgab eine Stille, die mein Gegenüber mit einem belustigten Gesichtsausdruck füllte. Auch ich konnte mir ein keckes Grinsen nicht mehr verkneifen. 

„Schlagfertig.“, kommentiert er feixend, hatte mich bereits losgelassen.

 

Ihn ignorierend machte ich mich ran, den Spind mithilfe der von der Sekretärin beigelegten Anleitung zu öffnen. Doch die schlechte Eigenschaft, Komplikationen mit für mich neuartigen Angelegenheiten – wie dem Zahlenschloss – trotz der unnützen Gebrauchsanweisung zu haben wie bei dem mir ungeläufigen Schulweg, verfolgte mich anscheinend auch hierhin. 

Rechtsdrehung, zweimal an der Null vorbei, erste Zahl, Linksdrehung, zweite Zahl, wieder Rechtsdrehung, letzte Zahl und Runterziehen! 

Und wie Sie sehen, sehen Sie nichts! War es anderes zu erwarten? 

Missgelaunt stellte ich fest, dass der Typ vom Supermarkt immer noch da war. Amüsiert und lässig mit vor der Brust verschränkten Armen stand er neben mir an den Spinden angelehnt und schaute mir bei meinen vergeblichen Versuchen zu. Schadenfreude sowie Überlegenheit standen ihm regelrecht ins Gesicht geschrieben. 

Nicht aufregen, Chris. Das ist doch nur wieder so eine miese Masche. 

Deutlich nervöser mit seinem Blick auf jeder kleinsten Bewegung meinerseits setzte ich zum nächsten Versuch an. Doch auch der scheiterte kläglich, was mir dann doch einen geflüsterten Fluch entlockte und mich aggressiv und ungestüm wieder mit der Rechtsdrehung anfangen ließ. 

Ich war gereizt, besonders als ich zu allem Überfluss noch sein Schmunzeln wahrnahm. 

„Brauchst du vielleicht Hilfe, Süße?“

Ich verlor beinahe Fassung, würde ich mir nicht ständig selbst einreden, dass ich ruhig bleiben sollte. Das machte er doch mit Absicht, nur um mich zu verunsichern! Erzürnt ließ ich mich weder auf seine bescheuerte Betitelung noch auf seine Pseudo-Hilfe ein, die sowieso nur zur Demütigung dienen sollte, und versuchte mich ein weiteres Mal an dem Schloss. Wie sollte es anders sein, versagte ich, ließ aber trotzdem nicht locker. 

Da erklang sein dunkles Lachen, bevor er mich bestimmt zur Seite schob und selbst das kleine Zahlenschloss – bildete ich mir das ein oder lachte es mich gerade ebenfalls aus?! – in die Hand nahm.

„Kombination?“

Zähneknirschend und wütend auf mich selbst, da ich nicht einmal eigenständig dazu in der Lage war, meinen Spind zur Kapitulation zu zwingen, nannte ich ihm meine Zahlenkombination, merkte erst im Nachhinein, dass es ziemlich unklug war, einem Fremden so etwas anzuvertrauen, sodass er theoretisch allezeit Zugang zu meinem Spind hatte. 

Doch im nächsten Moment verwarf ich diesen Gedanken wieder. Als würde er die Zahlen schon im Kopf behalten, würde ich noch nicht einmal selber! Und die Wahrscheinlichkeit, dass er sie sich irgendwo vermerken würde, war relativ gering, so wie ich ihn einschätzte – dem Fakt, dass ich ihn eigentlich kaum kannte, schenkte ich mal keine Berücksichtigung. Denn seien wir mal ehrlich, er sah zwar (leider Gottes) ganz nett und athletisch aus, doch nicht gerade intelligent. Okay, so etwas zu behaupten war freilich ein bisschen vorurteilshaft, aber dieses zweite Zusammentreffen ging einfach mit dem Ende der anfänglichen Sympathie einher, so wie sich dieser Macho hier aufführte.

Ganz nebenbei angemerkt hatte ich nicht vor, intimes Privatszeugs im Schulspind zu lagern.

Während ich also mit dieser Einsicht beschäftigt war, anstatt ihm beim Öffnen des Schließfaches zu beobachten, um es beim nächsten Mal selbstständig zu bewerkstelligen, vollbrachte er das, was ich eigentlich hätte schaffen sollten. 

Zugegeben, es kratzte schon gewaltig an meinem Ego, doch in erster Linie war ich froh, dass ich nicht noch weitere duzende Anläufe benötigte, um endlich meine Bücherlast verstauen zu können. 

Ehe ich mich versah, stand also die Spindtüre mit einem sachten Klacken schon offen. 

Folglich zwang ich mich dazu, ihm ein leises, mürrisches „Danke“ zu äußern. 

„Keine Ursache“, grinsend machte er sich schließlich von dannen. 

 

Ich wollte ihn schon aufhalten, da ich immer noch nicht wusste, wie ich das selber zustande bringen konnte, doch mein Stolz hielt mich davon ab, ihm hinterher zu rufen. Was würde er denn sonst von mir denken? Ich ging schwer davon aus, dass er bereits sowieso nicht allzu gut von mir dachte, wenn er überhaupt einen Gedanken an meine Wenigkeit verschwenden würde. Aber dennoch wollte ich es nicht noch schlimmer machen, als es ohnehin schon war. Doch trotz der Gegebenheit, dass mein Schließfach nun zugänglich war, war mir nachhaltig nicht geholfen! Ich konnte es allein mit Sicherheit nicht auf kriegen! Schon mal was von Hilfe zur Selbsthilfe gehört, Mr. Arroganz?! Nein? Merke ich! 

Dass ich ihm gedankenverloren und säuerlich nachblickte, bemerkte ich gar nicht. 

 

Erst, als er sich plötzlich umdrehte. Zuerst verwundert, dass mein Blick immer noch auf seiner Person ruhte, zogen sich augenblicklich seine Mundwinkel selbstgefällig in die Höhe. 

Beschämt und mit glühenden Wangen wand ich mich zügig ab und richtete mein Augenmerk auf das aufgesperrte Schließfach, konzentriert meine Bücher hineinzustellen. Hoffentlich hatte er die Röte, die meine Züge zierte, nicht zur Kenntnis genommen.

„Du hast mir deinen Namen noch nicht verraten.“ 

Ich spürte seinen intensiven Blick auf meinen Rücken, hörte sein Grinsen aus seinen Worten heraus.  Es verschlug mir die Sprache, wie protzig er mit mir umging und mich musterte. 

„Tze… Du hast dich auch nicht vorgestellt.“

„Verzeihung, wie unhöflich von mir. Mein Name ist Eustass Kid. Und wie heißt du?“ 

Erneut wand ich mich ihm zu. 

Eustass Kid also…

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.12.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /