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Meine Familie

Mein Name ist Nalan. Ich kam 1973 in Deutschland zur Welt. Mein Vater, Evren, soll bei meiner Geburt sehr unglücklich gewesen sein. Er hätte sich viel lieber einen Sohn gewünscht. Denn ich war nur eine unnütze Tochter und könnte später einmal nicht seine Autowerkstatt übernehmen. Doch meine Mutter Hasiye liebte mich sehr. Sie erzählte mir später oft, ich hätte sie sehr an ihre eigene Mutter erinnert, die ich leider nie kennen lernen durfte. Mutter sagte dann immer, ich wäre ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Meine Eltern zogen mich zwar streng, aber mit viel Liebe auf. Zu meiner Mutter hatte ich ein sehr inniges Verhältnis. Vater war selten zuhause. Meist war er in seiner Autowerkstatt und ging dort seinen Geschäften nach. Nur am Wochenende war er immer da. Und auch wenn er bei meiner Geburt nicht glücklich war, liebte er mich trotzdem.

 

Als ich gerade 3 Jahre alt war, bekam meine Mutter erneut ein Kind. Diesmal war es ein Junge, was Vater sehr glücklich machte. Er gab eine große Feier. Alle sollten an seiner Freude teil haben, einen Stammhalter und Erben bekommen zu haben. Mein Bruder heißt Özbey. Nach seiner Geburt hatte Mutter nicht mehr so viel Zeit für mich, denn Özbey schrie sehr viel und brauchte ihre ganze Aufmerksamkeit. Oft fand ich Mutter morgens müde in der Küche vor, wo sie uns das Frühstück zubereitete. Vater war nun auch öfters da. Anfangs freute ich mich, denn da sich Mutter nicht um mich kümmern konnte, hoffte ich auf Vaters Zuwendung. Aber viel lieber sah er im Fernsehen irgendwelche Sendungen, oder er stand über Özbeys Wiege gebeugt. Ich verstand nicht, was er an einem schreienden Baby so toll finden konnte. Doch immer wenn Vater Özbey sah, strahlte er über das ganze Gesicht. So war ich die meiste Zeit mir selbst überlassen.

 

Mit 6 Jahren sollte ich zur Schule kommen. Ich freute mich und konnte den Tag meiner Einschulung kaum erwarten. Bei uns im Haus wohnte ein Mädchen, welches mit mir eingeschult werden sollte. Wir lernten uns im Hof hinter unserem Haus kennen und wurden Freundinnen. Ihr Name war Tanja und sie erzählte mir, dass ihr zu Ehren eine kleine Feier gegeben würde. Dazu sollten ihre Tanten und Onkel kommen und auch ihre Großeltern würden von weit her anreißen, um bei der Einschulung dabei zu sein. Je näher der Tag kam, desto aufgeregte wurde ich. Vor dem Einschlafen malte ich mir aus, wie die Feier werden würde, die meine Eltern für mich gaben. Ob wohl auch irgendwelche Verwandten kommen würden? Ich wusste, dass mein Vater noch ein paar Brüder hatte. Auch Mutter hatte Geschwister. Diese sollten aber alle in der Türkei leben, wo auch meine Eltern her kamen. Dieses Land hatte ich noch niemals zuvor gesehen. Auch sagte es mir nichts. Deutschland war meine Heimat. Zwar sprachen meine Eltern oft türkisch miteinander. Meist dann, wenn wir Kinder nichts verstehen sollten. Uns aber brachten sie nur deutsch bei.

 

Endlich war der große Tag gekommen. Schon früh am morgen wurde ich wach und konnte nicht mehr einschlafen. Also stand ich auf und lief in die Küche, wo ich meine Mutter vermutete. Doch die Küche war leer. Auch in dem Wohnraum befand sie sich nicht. Hatte Mutter etwa verschlafen? In das elterliche Schlafzimmer, durften wir Kinder nie gehen. Daher konnte ich nicht nachsehen, ob Mutter noch in ihrem Bett lag. Ich ging zurück ins Kinderzimmer, wo Özbey grade wach wurde. Im Gegensatz zu mir, durfte er in den Kindergarten. Kaum war er richtig wach, fragte er auch schon, wo Mutter wäre und wann sie ihn zu seinen Freunden in den Kindergarten bringen würde. Doch ich konnte ihm seine Fragen nicht beantworten, wusste ich selbst nicht einmal, wo sich Mutter aufhielt. So saßen wir in unserem Zimmer und warteten.

 

Irgendwann begann Özbey zu quengeln. Er hatte Hunger. So ging ich in die Küche und richtete uns ein Frühstück. Es bestand aus einigen Scheiben Brot mit Honig. Mehr konnte ich noch nicht zubereiten. Wir aßen schweigend. Innerlich wurde ich immer ungeduldiger, sollte ich doch heute in die Schule kommen. Nach dem Frühstück gingen mein Bruder und ich zurück in unser Zimmer. Dort versuchte ich ihn abzulenken, denn er fragte immer wieder, wann er endlich in den Kindergarten gehen könnte. Seine Freunde würden sicher schon alle warten. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es wohl schon sehr spät am Morgen sein musste. Die Uhr lesen konnte ich ja noch nicht. Ich beschloss, mit Özbey Fernseh zu schauen. Dies gefiel ihm, denn wir Kinder kamen nicht sehr oft in diesen Genuss. Meist saß Vater davor und dann wollte er seine Ruhe haben.

 

Es muss kurz vor Mittag gewesen sein, als ich die Wohnungstür aufgehen hörte. Schnell sprang ich auf um zu sehen, wer da kam. Im Flur traf ich Vater, der über sein ganzes Gesicht strahlte. Als er mich sah, hob er mich auf seine Arme und wirbelte mich durch die Luft. Erstaunt ließ ich ihn gewähren. Endlich stellte mich Vater zurück auf den Boden. Auf meine Frage, wo Mutter sein, antwortete er, sie wäre in der Klinik. Sie hätte in der Nacht ein Baby bekommen. Mir war zwar aufgefallen, dass Mutter immer dicker wurde, dachte mir allerdings nichts dabei. Wo die Babys her kamen, war mir zu dem Zeitpunkt nicht bekannt. Ich freute mich nicht, wieder ein Baby in der Familie zu haben. Diese stellte ich mir allesamt so vor, wie Özbey als Baby war. Laut und immer schreiend. Daher interessierte mich das Baby äußerst wenig. Statt dessen fragte ich Vater, wann Mutter mich endlich zur Einschulung bringen würde. Doch er lachte nur und meinte, Mutter müsse noch einige Tage in der Klinik bleiben und die Einschulung wäre schon längst vorbei. Voller angst dachte ich nun, ich würde niemals zur Schule können, hatte ich doch an diesem wichtigen Tag gefehlt.

 

Auch in den nächsten Tagen ging ich nicht zur Schule. Vater ging früh aus dem Haus und ich musste auf Özbey aufpassen. Meinen neuen Bruder hatte ich bisher noch nicht gesehen. Darauf legte ich auch keinen Wert, denn ich hasste ihn. War er doch schuld daran, dass ich nicht in die Schule kam. Dann kam Mutter endlich wieder heim. In ihren Armen hatte sie ein breites Kissen. Darin lag mein neuer Bruder. Sie ging in den Wohnraum und setzte sich in einer der vielen Sessel. Von dort rief sie mich zu sich. Langsam ging ich auf sie zu. In diesem Kissen, das sah ich jetzt, lag das Baby. Mutter rutschte etwas zur Seite, damit ich neben ihr Platz fand. Kaum saß ich, da hielt ich auch schon das Baby in meinen Armen. Verwundert sah ich meinen Bruder an. Er schrie gar nicht. Statt dessen schlief er friedlich. Ich fragte Mutter, ob mit meinem Bruder etwas nicht stimmen würde, weil er doch so ruhig war. Sie lachte nur und erklärte mir, nicht alle Babys wären so, wie es Özbey war. Das erleichterte mich. Weiter sagte Mutter, ich dürfte am nächsten Tag in die Schule gehen. Es würde nun Zeit werden, da ich schon eine Woche verpasst hatte. Glücklich sah ich sie an. Ich durfte zur Schule gehen. Mein Blick fiel wieder auf meinen schlafenden Bruder und ich wollte von Mutter wissen, wie er heißen würde. Keskin, antwortete Mutter.

 

Am nächsten Tag, brachte Mutter mich dann zur Schule. Keskin legte sie in einen Kinderwagen, den ich schieben durfte. Voller stolz kam ich so auf dem Pausenhof an. Dort kam uns eine Lehrerin entgegen, die mich in meine Klasse brachte. Nach der Schule stand Mutter wieder mit dem Kinderwagen auf dem Pausenhof. Und wieder durfte ich Keskin schieben. So vergingen die Tage. Eines morgens meinte Mutter dann, ich könnte nun alleine gehen. Sie musste sich um meine Brüder und den Haushalt kümmern. Also lief ich von da an mit meiner Freundin los, die von da an jeden Morgen vor dem Haus auf mich wartete. So vergingen die Jahre.

 

Inzwischen war ich 10 Jahre alt. In der Schule fand ich viele Freunde. Das Lernen bereitete mir Freude und meine Noten waren gut. Die Sommerferien standen vor der Tür. Als ich am letzten Schultag mit dem Zeugnis in der Hand zuhause ankam, eröffnete Mutter mir, dass ich meine Sachen packen sollte. Erstaunt ging ich ins Kinderzimmer. Dort stand ein großer Koffer. Diesen füllte ich mit Unterwäsche und Kleidung. Nachdem nichts mehr rein passte und der Deckel sehr schwer zu ging, lief ich zu Mutter in die Küche. Ich fragte sie, warum ich meine Sachen packen musste. Mutter nahm mich an der Hand und ging mit mir in den Wohnraum. Dort standen weitere Koffer. Wir setzten uns hin und Mutter erzählte mir, dass wir in den Urlaub fliegen würden. Ich freute mich, waren wir doch noch nie im Urlaub. Als sich meine Freude etwas legte, wollte ich wissen, wohin die Reise gehen würde. In die Türkei, sagte Mutter. Begeistert rannte ich in den Flur, wo Özbey grade zur Tür rein kam. Bevor er noch etwas sagen konnte, erzählte ich ihm von den Neuigkeiten. Auch er freute sich. Schon am Abend saßen wir alle im Auto. Vor uns Kindern waren einige der Koffer, die hinten im Kofferraum keinen Platz mehr hatten. Nun ging es zum Flugplatz, wo ich das erste mal in meinem Leben ein Flugzeug betrat.

In einem fremden Land

 Wir kamen alle übermüdet in der Türkei an. Im Flugzeug konnten wir kaum schlafen. Alles war so aufregend und ungewohnt. Nun standen wir auf einem Flugplatz, um uns herum lauter Menschen, die sich auf türkisch unterhielten. Vater sagte, ein alter Freund würde ihn abholen. Bei ihm sollten wir die nächsten 3 Wochen verbringen. Özbey fragte Vater, woher er diesen Freund kennen würde. So begann uns Vater zu berichten, dass ihre Familien nebeneinander wohnten, als Vater noch ein Kind war. Als Knaben spielten sie oft zusammen und heckten Streiche aus. Als sein Freund dann volljährig wurde, suchte ihm dessen Familie eine Frau aus, er heiratete und zog fort. Den Kontakt hielten sie aber all die Jahre zueinander. Seit vielen Jahren hätten sie sich nun nicht mehr gesehen. Zuletzt, als Mutter und Vater die Türkei verlassen hatten.

 

Ein älterer, stark untersetzter Mann kam auf uns zugeeilt. Er sprach laut und Vater antwortete ihm. Beide umarmten sich und begrüßten sich herzlich. Keskin klammerte sich an meine Hand. Das tat er jedesmal, wenn er ängstlich war. Uns beide verband eine tiefe Zuneigung. Beruhigend strich ich mit dem Daumen über seinen Handrücken und flüssterte ihm zu, dass dies wohl Vaters Freund sein musste. Und tatsächlich drehte sich Vater in dem Moment zu uns um und stellte ihn vor. Auf türkisch redete mein Vater dann wieder auf seinen Freund ein, wobei er abwechselnd auf jeden von uns zeigte. Der Mann nickte, sagte etwas und lief los. Wir folgten mit unserem Gepäck. Auch Vater trug einen Koffer. Dies bemerkte der Mann und sagte lachend etwas zu Vater. Er wurde rot im Gesicht und antwortete in hartem Ton. Da Mutter neben mir lief, konnte ich sie fragen, was die beiden miteinander besprochen hatten. Sie sagte, der Mann wäre erheitert gewesen, weil Vater seinen Koffer selbst trug, da es Aufgaben der Frau und der Tochter wäre. Das verstand ich nicht und ich nahm mir vor, Mutter später genauer zu fragen.

 

 

Vor dem Flughafengebäude wartete ein Geländewagen. Unsere Koffer luden wir auf die Ladefläche. Suchend sah ich mich danach um und fragte mich, wo wir alle sitzen sollten. Als ich Vater danach fragte, zeigte er auf die Ladefläche. Dort sollten wir sitzen? Ich dachte an einen Scherz und lachte. Doch das Lachen blieb mir bald darauf im Hals stecken. Der Mann setzte sich ans Steuer, Vater nahm auf dem Beifahrersitz platz. Mutter hob meine Brüder und mich auf die Ladefläche, um als letzte selbst drauf zu steigen. Ganz hinten setzten wir uns hin. Von Mutter bekamen wir gesagt, wir sollten uns an den Seitenwänden fest halten. Schon ging die Fahrt los. Ich weiß nicht, wie lange wir unterwegs waren. Fuhren wir anfangs noch durch eine Stadt, folgten bald schon Dörfer, die nicht nur immer kleiner wurden. Die Straßen waren entweder kaputt, oder fehlten ganz. Zuletzt folgten wir einem besseren Feldweg, bis wir endlich an einem großen Haus an kamen. Erleichter, diese Fahrt überstanden zu haben, stiegen wir von der Ladefläche runter und reckten erst einmal unsere angespannten Körper. Ich mochte gar nicht daran denken, in 3 Wochen erneut die ganze Strecke auf diesem Geländewagen zurück legen zu müssen.

 

Aus dem Haus kam eine füllige Frau. Als erstes fiel mir ihr Kopftuch auf. Von Mutter wusste ich, dass türkische Frauen solche tragen mussten. Wir in Deutschland brauchten das nicht. Vater lag viel daran, dass wir uns anpassten. Die Frau sagte etwas und alle folgten ihr ins innere des Hauses. Vater sagte uns, dies wäre die Ehefrau seines Freundes. Wie zuhause zogen wir uns die Schuhe vor der Tür aus. Als wir im Haus waren, fanden wir uns in einer großen Halle wieder. Von hier aus gingen einige Türen ab und auch eine Treppe konnte ich sehen, die in die oberen Stockwerke führen musste. Die fremde Frau verschwand durch eine der Türen und sagte noch etwas. Wieder übersetzte Vater. Das Essen wäre bald fertig. Das war gut, verspürten wir alle inzwischen hunger. Vaters Freund führte uns die Treppe rauf. Oben angekommen, öffnete er eine Tür und sagte etwas zu meinen Brüdern. Diese sahen Vater fragend an. Doch bevor er etwas sagen konnte, redete sein Freund auf ihn ein, worauf Vater erhitzt antwortete. Später erzählte mir Mutter, Vaters Freund wäre wütend gewesen, weil wir Kinder unsere Muttersprache nicht beherrschen würden. Das gezeigte Zimmer, sollten meine Brüder bewohnen. Erstaunt sah ich Mutter an. Zuhause teilten wir aus Platzgründen ein Kinderzimmer. Noch nie waren wir getrennt. Schon war Keskin an meiner Hand. Er fürchtete sich davor, in der Nacht ohne mich in dem fremden Zimmer schlafen zu müssen. Ich beruhigte ihn und sagte, Özbey würde noch bei ihm sein.

 

Das nächste Zimmer war meines. Darin befand sich ein Bett und ein kleiner Schrank. Bei den Jungs war noch ein Sofa und verschiedenes Spielzeug gewesen. Verwundert sah ich Vater an. Doch er wich meinem Blick aus. Erst später sollte ich erfahren, warum mein Zimmer so spärlich eingerichtet war. Gegenüber von mir, war das Schlafzimmer meiner Eltern. Vaters Freund sagte, wir sollten uns frisch machen. Später würde man uns zum Essen holen. So ging ich in mein Zimmer, um meinen Koffer auszupacken. Als ich mir frische Kleidung rausgesucht hatte, machte ich mich damit auf den Weg, das Badezimmer zu suchen. Auf dem Flur traf ich Vater, der schon auf meine Brüder und mich gewartet hatte. Er nahm mich an der Hand und so gingen wir die Treppe runter, wo wir eine der vielen Türen nahmen. Diese führte auf den Hinterhof, auf dem sich ein Brunnen befand. Aus dem Brunnen, so sagte Vater, müssten wir täglich das Wasser holen, wenn wir uns waschen wollten. Fließend Wasser gab es hier nicht. So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt. Nur in der Schule gehört. Für mich kam das wie ein Abenteuer vor. Wir schöpften Wasser in die bereit stehenden Eimer, die wir laut Vater später wieder an den Brunnen stellen sollten. Mit 3 Eimern, wovon Vater 2 volle und ich einen halben trug, gingen wir zurück zu unseren Zimmern und verteilten das Wasser in Schüsseln. In meinem Zimmer wusch ich mich, zog mich an und wartete.

 

Wenig später flog die Tür auf und ein Mädchen in meinem Alter stand vor mir. Auch sie trug ein Kopftuch. Was sie sagte, konnte ich nicht verstehen. So winkte sie mir zu, was ich als Aufforderung sah, ihr zu folgen. Ich dachte, sie würde mich zum Essen holen. Doch als wir in der Küche an kamen, fand ich niemanden aus meiner Familie. Hier war nur diese Frau und 2 weitere Mädchen. Man brachte mich an einen Platz, wo schon ein Teller mit Essen stand. Grade hatte ich angefangen zu Essen, als die Frau mich ansprach. Da ich kein Wort verstehen konnte, schüttelte ich mit dem Kopf und hob meine Hände hoch. Wieder sagte die Frau etwas und erneut schüttelte ich den Kopf. Die Frau sagte etwas zu den Mädchen, die lachten. Die restliche Mahlzeit verlief schweigend. Nur hin und wieder konnte man eines der Mädchen kichern hören.

 

Nach dem Essen, flüchtete ich schnell in mein Zimmer. Es war schon dunkel und ich richtete mich zum schlafen gehen. In dem Moment klopfte es an der Tür. Mutter öffnete und kam rein. Sie setzte sich zu mir ans Bett, was sie sehr selten machte, seit ich zur Schule ging. Leicht strich sie mir über meinen Kopf und meinte, wir müssten reden. Abwartend sah ich sie an. Da begann sie: in der Türkei, so sagte Mutter, wären viele Dinge anders, als ich sie von zuhause kennen würde. So müssten die Frauen und Töchter tun, was der Ehemann und Vater ihnen sagte. Auch Kopftücher müsste jede Frau tragen. Ich unterbrach Mutter und wollte wissen, ob auch ich die folgenden 3 Wochen mit einem Kopftuch rumlaufen müsste. Zu meiner Erleichterung verneinte Mutter dies. Sie sagte, erst dann, wenn ich meine erste Periode hätte, wäre das in dem Teil der Türkei der Fall. Ich war sehr erleichtert. Doch dann erschrak ich. Denn Mutter sagte mir, dass ich jeden Tag bei der Frau und ihren Töchtern in der Küche essen müsse. Auch hätte ich beim Kochen und beim Abwasch zu helfen. Verzweifelt sah ich Mutter an. Zuhause musste ich solche Aufgaben nie tun. Abwaschen ja, manchmal. Aber kochen? Das konnte ich doch gar nicht. Daher bat ich Mutter, mir diese Aufgaben zu erlassen. Aber sie sagte nur, so wäre es nun mal in diesem Hause Sitte und ich hätte mich zu fügen. Auch sie musste beim Kochen und abwaschen helfen.

 

Als wäre dies alles nicht schon genug, erklärte mir Mutter, dass ich schnellstens ein paar türkische Wörter lernen müsste, um mich etwas verständigen zu können. Dies verlangte die Frau unseres Gastgebers. Scheinbar hatte diese ihrem Mann berichtet, was beim Essen geschehen war. Sie erwartete, dass ich sie verstand, wenn sie mir Aufgaben zu teilte. Als Ehefrau des Gastgebers, hatte sie das Sagen, solange ihr Mann nichts anderes verlauten ließ. Mit diesen Infos konnte ich lange Zeit nicht schlafen. Als mir die Augen endlich zu fielen, träumte ich wirre Sachen. Irgendwann schrak ich hoch, da es an der Tür klopfte. Eine der Töchtern des Hauses stand davor, die mich holen sollte. Schnell zog ich mich um und folgte ihr.

 

An den folgenden Tagen glich ein Tag dem anderen. Am Morgen stand ich auf. Ich zog mich an und ging runter in die Küche. Dort machte ich das Wasser warm. Gleich am ersten morgen, zeigte man mir, wie der Tee zubereitet wurde, den es zum Frühstück gab. Ab dann hatte ich mich darum zu kümmern. Anschließend holte ich aus einem großen Schrank Teller, Tassen und Besteck. Das trug ich in ein gegenüber liegendes Zimmer, welches das Esszimmer war. Dort stand ein großer Holztisch, worauf ich alles verteilte. Zurück in der Küche, warteten wir dann darauf, bis entweder Vater, dessen Freund, oder einer der Söhne kam, um zu sagen, was sie frühstücken wollten. Um meine Brüder durfte sich Mutter selbst kümmern, da sie noch so klein waren. Das fertige Essen, trug ich dann ins Esszimmer, wo ich später das schmutzige Geschirr wieder holen musste. Danach ging es an den Abwasch. Dachte ich am ersten Tag noch, ich hätte nun meine Ruhe, musste ich statt dessen helfen, das Mittagessen vorzubereiten. Man zeigte mir, wie verschiedene türkische Gerichte gingen. Dabei schüttelten die Frau und ihre Töchter mehr als einmal den Kopf über mich. Jeden Gegenstand und alles Essbare zeigten sie mir und nannten es beim Namen. Ich musste es dann nach sprechen. So lernte ich ein paar Wörter türkisch. Mir wollte nur kein Sinn dafür einfallen. Nach den 3 Wochen würden wir zurück nach Deutschland fliegen und wir würden wieder deutsch reden können.

 

Auch das Mittagessen hatte ich zusammen mit einer der Töchter ins Esszimmer zu bringen. Danach das schmutzige Geschirr holen, abwaschen und das Abendessen vorbereiten. An manchen Tagen dachte ich, ich würde niemals mehr aus dieser Küche raus kommen. Hatte ich mich anfangs noch auf diesen Urlaub gefreut, sehnte ich mir nun das Ende herbei. Etwa in der zweiten Woche, stand plötzlich Keskin nachts weinend an meinem Bett. Ich rutschte etwas zur Seite, damit er Platz fand. Eng an mich geschmiegt, weinte er eine Weile weiter. Erst dann war es mir möglich, ihn zu fragen, was los sei. Keskin berichtete schluchzend, dass er und Özbey mit den beiden Söhnen von Vaters Freund spielen sollten. Da meine Brüder aber kein Wort türkisch verstanden, wurden sie von den viel älteren Jungen geärgert. Özbey schien es nicht viel auszumachen. Aber Keskin kam damit nicht klar. Es tat mir weh, ihm nicht helfen zu können, versprach aber, am nächsten Tag mit Mutter zu reden. Dies tat ich auch. Was genau geschah, weiß ich nicht. Auf jeden Fall brauchten meine Brüder nicht mehr mit den Söhnen unseres Gastgebers spielen.

Der fremde Mann

 In der letzten Urlaubswoche unternahm Vater einen Ausflug mit uns. Es war der schönste Tag im ganzen Urlaub. Bevor wir uns auf den Rückweg zum Haus machten, erzählte uns Vater, dass am nächsten Tag ein Fest statt finden sollte. Dazu dürften auch die Frauen und Mädchen kommen. Von mir erwartete er, dass ich mein schönstes Kleid anzog. Ich sollte sauber gewaschen sein und meine Haare sorgfältig gebürstet. Ich versprach, seinen Wunsch zu achten. Vater nahm mich an der Hand und sagte, ich dürfte ihm keine Schande bereiten, das wäre sehr wichtig. Mutter war die ganze Zeit über still. Mir war, als würde ich Tränen in ihren Augen sehen. Doch als ich sie fragte, ob sie etwas bekümmern würde, strich sie mir lächelnd über den Kopf und meinte, alles wäre in Ordnung.

 

Zu meinem Erstaunen, musste ich am Folgetag nicht wie inzwischen gewohnt, bei den Zubereitungen helfen. So schlief ich aus, ging mich ausgibig waschen und zog mich sorgfältig an. Grade als ich mir meine Haare bürstete, kam Mutter und holte mich ab. Sie nahm mich an der Hand und wir liefen zum Esszimmer. An der Tür hielt Mutter an und nahm mich fest in ihre Arme, was mich sehr wunderte. Dann öffnete sie die Tür und wir betraten den Raum. Es war sehr voll. Nicht nur Vater und meine beiden Brüder waren da. Sondern auch unser Gastgeber mit seiner Frau und dessen 3 Töchter und 2 Söhne. Erst zuletzt sah ich am Ende des Raumes einen älteren Mann stehen. Sein Blick ruhte auf mir. Es war mir unangenehm, wie er mich ansah. So von oben bis unten. Als wollte er mich ganz genau prüfen. Jedoch, als ich versuchte,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 03.01.2016
ISBN: 978-3-7396-6398-2

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