Cover

Titel

Ein Weihnachtsmuffel sucht das Weite

Eine Geschichte von Divina Michaelis

© Dezember 2020

Covergestaltung Divina Michaelis

Unter Verwendung: Bild von David Mark auf Pixabay

 

Vorwort:

Das Wichtigste für einen Autor ist in meinen Augen viel Fantasie und die Fähigkeit, diese in bildhafte Worte kleiden zu können. Meine Fantasie macht es mir möglich, Zusammenhänge zwischen Dingen herzustellen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Wie gut das wirklich funktioniert, sieht man anhand dieser Weihnachtsgeschichte, die aus einer Herausforderung auf Facebook entstanden ist. Dort habe ich die Leute aufgefordert, mir fünf Worte und einen Satz vorzugeben, die nicht zu Weihnachten passen, die ich aber in einer zu diesem Fest passenden Geschichte verwenden müsste.

Ich gebe zu: Leicht gemacht haben sie es mir nicht. Es sind zwanzig Wortvorgaben und sechs Sätze geworden, aus denen ich fünf Worte und einen Satz ausgelost habe, die es sein mussten. Außerdem habe ich noch ein paar weitere aus den Vorschlägen mit dazu genommen.

Aus so einem Wortspiel ist im Übrigen auch der erotische Roman „Folgen einer Reifenpanne“ entstanden. Zunächst bestand er nur aus einer Kurzgeschichte, doch nach zwei weiteren solcher Spiele zeichnete sich ab, dass er doch mehr werden würde, denn bei beiden Malen hatte ich mit der neuen Geschichte an die vorherige angeknüpft.

Das werde ich bei dieser Weihnachtsgeschichte allerdings nicht machen. Dieses Mal sollte ein – hoffentlich recht interessantes – Kapitel reichen.

 

Hier sind die Vorgaben:

 

  • Wuchtbrumme
  • Voldemort
  • Henker
  • Schlupftermin
  • Pantomime
  • Sie hörten die Fensterscheiben knacken wie Eis unter den Füßen auf einem zugefrorenen See, und sie wussten, es hatte sie gefunden.



Zusätzlich mitverwendet:

  • Paralleluniversum
  • Versteckspiel
  • Honig
  • Sie war versucht, ihm ihre Huldigung auszusprechen, bis sie den Beutel öffnete.



Diese Geschichte gibt es auch als Lesung auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=ZUGrsY0z_Q0

 

 

Ein Weihnachtsmuffel sucht das Weite

 

Während andernorts exzessiv Weihnachtslieder gespielt wurden, dröhnten die ersten Takte von Van Halens „Jump“ durch das offene Fenster aus Susannes Wohnung – so laut, dass ihr drinnen eigentlich die Ohren wegfliegen müssten. Kopfschüttelnd stand Klara mit ihrem Koffer vor der Tür der kleinen Einliegerwohnung, und tippte mit dem Fuß im Takt auf den Boden. Jetzt zu klingeln würde aufgrund der Lautstärke nichts bringen.

Susanne war ihre beste Freundin und das, was manche Menschen als Wuchtbrumme bezeichnen würden. Schon vor ihrer Schwangerschaft hatte sie einige Kilo mehr auf den Rippen, als es dem Schönheitsideal der westlichen Gesellschaft entsprach, aber sie stand zu ihrem Gewicht. Ihrer eigenen Aussage nach war keines ihrer Pfunde überflüssig, und offenbar störten sich auch überaus ansehnliche Vertreter des anderen Geschlechts nicht daran – was wahrscheinlich ihrer umwerfenden, fröhlichen Ausstrahlung geschuldet war und ihr letztendlich diesen kleinen, innig geliebten Parasiten in ihrem Bauch beschert hatte.

Der Vater des Kindes war schon seit Monaten über alle Berge, aber das hatte ihrer positiven Einstellung keinen Abbruch getan. Erst ihrem letzten Freund, den sie selbst abserviert hatte, trauerte sie hinterher, versuchte es aber nie nach außen zu zeigen. Nur dann und wann, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, konnte Klara ihr am Gesicht ablesen, wie sehr sie ihn vermisste.

Die Entscheidung, sich von Lorenz zu trennen, war Susanne sehr schwergefallen, doch gegen seinen Weihnachtsfimmel kam sie einfach nicht an. Er hatte auf sie eingeredet, wie toll Weihnachten sei, und hatte penetrant darauf beharrt, es gemeinsam mit ihr feiern zu wollen, sie wieder und wieder damit genervt, sich einmal einen Ruck zu geben, damit er sie davon überzeugen könne. Es blieb jedoch nicht bei dem Generve, sondern artete irgendwann in Streit aus. Es sei ja auch für das Kind viel schöner, wenn es denn erst einmal auf der Welt wäre, argumentierte er.

Und gerade dieses Argument zog bei Susanne nicht, denn sie hatte eine Kindheit in Armut verbracht und viele Weihnachten voller Enttäuschungen erlebt, weil nie Geld für einen Weihnachtsbaum oder auch nur ein Geschenk dagewesen war. Irgendwann hatte sie dann festgestellt, dass sie sich besser fühlte, wenn sie keine Erwartungen an Weihnachten knüpfte. Also hatte sie aus der Not ihrer Kindheit eine Tugend gemacht und verabscheute seitdem sämtliche Feste, deren eigentliche Bedeutung hinter dem Konsumzwang verblasste und Erwartungen schürte. Entsprechend wollte sie auch ihr Kind erziehen. Sie wollte ihre Ruhe haben und war nicht dazu bereit, ihre Einstellung zu überdenken, nicht einmal für Lorenz.

Dabei lagen sie im Grunde auf einer Wellenlänge, nur bei diesem Thema schieden sich die Geister extrem. Sie hatte nicht die Nerven, mit Lorenz jedes Jahr zur gleichen Zeit den gleichen Streit austragen zu müssen, nur weil er ihre Gründe nicht nachvollziehen konnte oder wollte. Also hatte sie die Beziehung beendet.

Seit Susanne ihr eigenes Geld verdiente, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, über die Feiertage von der Bildfläche zu verschwinden, und machte eine Art Versteckspiel daraus. Klara kam es schon fast wie eine Obsession vor, die immer extremere Ausmaße annahm, als wäre Weihnachten ein böser Geist, vor dem ihre Freundin flüchten müsse. Immerhin hatte Susanne trotz allem Spaß. Sie vertrieb sich die Zeit mit langen Spaziergängen in der Natur, las gute Bücher oder tanzte wild zu irgendwelchen Hits durch die extra angemietete Hütte.

Jetzt gerade konnte Klara sich gut vorstellen, wie ihre Freundin hüftschwingend zwischen Schrank und dem Koffer auf ihrem Bett hin und her tingelte und jedes Mal, wenn „Jump“ ertönte, den Arm nach oben riss, fröhlich mitkreischend. Wie richtig sie mit ihrer Einschätzung lag, hörte sie beim nächsten „Jump!“, das aus dem Fenster schallte. Es fiel Susanne wirklich nicht schwer, sich in Stimmung zu bringen.

Breit grinsend machte Klara sich bereit, den Klingelknopf zu drücken. Sie musste den richtigen Punkt abpassen zwischen diesem und dem nächsten Lied, denn sie hatte nicht vor, länger als nötig hier draußen im Nieselregen zu stehen. Das Wetter war so wenig weihnachtlich eingestellt wie ihre Freundin. Daran änderte auch die Lichtsmog verursachende Festtagsbeleuchtung in den Nachbargärten nichts.

 

Das Lied war kaum zu Ende, als die Türklingel ein grässliches Dauersummen von sich gab und Susanne daran erinnerte, dass ihre Freundin irgendwann um diese Zeit vorbeikommen wollte. So schnell es ihr mit ihrem doch schon recht beachtlichen Babybauch möglich war, eilte sie zur Tür, während sie gleichzeitig mit der Fernbedienung die Musik leiser stellte.

„Ich komme schon!“, rief sie in Richtung Tür. Im Hintergrund sang Joan Jett: „I Love Rock’n Roll“, und Susanne nickte bestätigend, als sie die Tür öffnete.

„Ich liebe Rock’n Roll. Du auch?“

„Ich sehe schon, du bist bereits voll in Weihnachtsstimmung“, feixte Klara, ohne auf ihre Frage einzugehen. Sie zog ihren Koffer in den Flur und nahm Susanne, kaum dass diese die Tür hinter ihr geschlossen hatte, in den Arm. „Und? Schon alles gepackt?“ Umständlich schälte sie sich aus ihrer Jacke und folgte Susanne ins Wohnzimmer, wo sie sich mit Schwung auf das breite, mit vielen bunten Kissen bedeckte Sofa warf und ihre Freundin erwartungsvoll anblickte.

„Fast fertig. Ich habe nicht mehr viel, was mir noch passt, und die gängige Walrossmode ist einfach nicht mein Stil“, antwortete Susanne grinsend. Tatsächlich stand sie auf knallige Farben, die die Figur mehr betonten als versteckten. „Für die letzten Wochen hätte ich noch ein paar Bettlaken, in die ich mich wickeln könnte“, ulkte sie, „aber für unseren Kurzurlaub wird das, was ich habe, gerade noch reichen.“

„Ich verstehe ja, dass du keine Lust auf Weihnachten hast. Aber meinst du, es ist richtig, sich so kurz vor dem Schlupftermin in eine einsame Gegend zu verkriechen, wo dir niemand zu Hilfe eilen kann, falls etwas sein sollte?“

Susanne schob die Unterlippe vor. „Bitte ein bisschen mehr Respekt vor einer fetten Legehenne und ihrem ungeborenen Küken“, antwortete sie gespielt empört – und brach gleich darauf in Gelächter aus, dass ein bisschen dem Gackern eines Huhns ähnelte.

Klara fiel in ihr Lachen ein. „Du bist echt unmöglich!“

„Und du machst dir zu viele Sorgen. Der Geburtstermin ist erst in ein paar Wochen. Mein Arzt fand es in Ordnung, wenn ich für ein paar Tage wegfahre. Und du bist ja auch noch da.“ Sie sah, dass Klara Einwände erheben wollte, und hob die Hand. „Stell dir einfach vor, mein Bauch wäre nur das Produkt von Unmengen an Schokolade. Es wird schon alles gutgehen. Lass uns einfach Spaß haben.“

Klara zuckte mit den Achseln und sah Susanne hinterher, die im Schlafzimmer verschwand, um ihren Koffer zu Ende zu packen. Durch die offene Tür hatte sie einen guten Blick auf das Bett. Besonders groß war diese Wohnung nicht, aber urgemütlich, trotz fehlender Weihnachtsdeko und den obligatorischen Lichterketten.

„Du weißt ja, ich begleite dich gern“, sagte sie, „auch wenn ich der Meinung bin, dass dafür jemand anderer besser geeignet wäre.“

„Wen meinst du?“

„Na den, dessen Name nicht genannt werden darf.“

Susannes Kopf tauchte in der Tür auf und starrte Klara mit großen Augen an. „Voldemort?“, fragte sie unschuldig. Sie grinste und klimperte mit den Wimpern. „Ja, du hast recht. Dieser Prachtbursche wäre wirklich eine bessere Gesellschaft als du. Er hat zwar keine richtige Nase und ziemlich blass ist er auch, aber wer guckt schon auf Äußerlichkeiten, wenn der Kerl zaubern kann?“

Ohne zu gucken, griff Lara nach einem Sofakissen und warf es in Richtung der Tür, wo Susannes Kopf bereits wieder verschwand, bevor es sein Ziel erreichte.

„Ich meine ja nur. Vielleicht hättest du Lorenz mit diesem Trip überzeugen können, seinen Weihnachtsfimmel abzulegen. Mich hast du ja schließlich auch so weit bekommen.“ So ganz stimmte das nicht, denn Klara hatte sich zu Hause einen kleinen, vorgeschmückten Weihnachtsbaum auf ihr Sideboard gestellt, aber davon wusste Susanne nichts. Im Gegensatz zu ihr mochte Klara Weihnachten recht gern.

Die Musik verstummte, Klara hörte einen Reißverschluss und das dumpfe Geräusch, wie wenn ein Fenster geschlossen wurde. Offenbar war Susanne mit dem Packen fertig.

„Ich werde nicht darüber diskutieren, nicht mit Lorenz und nicht mit dir. Mein Entschluss steht fest!“, tönte es aus dem Schlafzimmer. „Er hatte seine Chance gehabt und sie nicht genutzt, das war’s.“

Es polterte, Susanne gab ein Ächzen von sich, dann hörte Klara die Rollen des Koffers auf hartem Boden. „Du weißt, dass ich dir helfen würde.“

„Und du weißt, dass ich deine Hilfe dafür nicht brauche“, wehrte Susanne das Angebot ab. Sie wollte mit allem allein zurechtkommen. Die Schwangerschaft war lediglich ein kleines Handicap und nichts, was sie zum hilflosen Weibchen machte.

Stures Biest!, dachte Klara und bewunderte Susanne gleichzeitig für ihre Selbstständigkeit. Sie schien wirklich alles gut ohne andere zu meistern. Trotzdem wollte Klara ihre Freundin nicht allein zur Hütte fahren lassen.

„Ich wär dann so weit“, riss Susanne Klara aus ihren Überlegungen und öffnete die Tür. „Kommst du?“

 

Erstaunlicherweise begann es auf halber Wegstrecke zu stark schneien. Damit hatte keine von beiden gerechnet. Angesagt war es jedenfalls nicht gewesen. Vorsichtshalber verringerte Susanne das Tempo, sodass sich ihre Fahrzeit mit Sicherheit verdoppelte. Dabei fluchte sie wie ein Rohrspatz, denn Schnee erinnerte sie viel zu sehr an Weihnachten – und genau das wollte sie doch hinter sich lassen.

„Ich denk‘ ihn mir weg“, murmelte sie. „Ich muss ihn mir nur wegdenken.“

„Das ist Quatsch. Bis wir da sind, ist er bestimmt schon weggetaut. Hier hält sich Schnee nie so lange“, orakelte Klara. „Abgesehen davon ist Schnee ein Winterphänomen und hat gar nichts mit Weihnachten zu tun. Oder glaubst du, in Bethlehem hätte es um die Zeit herum wirklich geschneit?“

„Hast ja recht“, gab Susanne zu.

Nur zur Vorsicht wiederholte Klara: „Und wie ich schon sagte: Der taut bestimmt wieder weg.“

Knapp drei Stunden und zwei Rasthoftoiletten später hielt Susanne vor einer tief zugeschneiten windschiefen Hütte mitten im Wald. Dicke, mit Tannenzapfen und nassem Schnee beladene Äste hingen über dem Dach und tauchten die Umgebung trotz der Tageszeit in ein schummriges Licht.

„Soso, der Schnee ist also weggetaut, bis wir angekommen sind?“ Susanne drehte den Kopf zu Klara, die nur mit den Schultern zuckte und damit beschäftigt war, den Anblick vor ihnen zu verarbeiten.

Drei Treppenstufen, die von einem morsch aussehenden Geländer flankiert wurden, führten zu einer Tür, neben der eine Gaslaterne hing. Halb hinter dem Häuschen versteckt bemerkte Klara einen schmalen Holzschuppen mit einem Herzausschnitt in der Tür. Sollte das etwa die Toilette sein? In der Hütte gab es doch wohl hoffentlich ein vernünftiges Klo.

„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte Klara entsetzt. „Ich habe das Gefühl, irgendwann auf diesem Schotterweg sind wir durch eine Art Tor gefahren und in einem Paralleluniversum gelandet. Hier gibt es ja gar nichts – von einem Haufen Schnee einmal abgesehen!“

Susanne lachte. „Das war doch Sinn und Zweck dieser ganzen Aktion. Gut, vielleicht nicht der viele Schnee, aber Urlaub ohne den ganzen Weihnachtsklimbim. Wir werden ein paar Tage leben wie in alten Zeiten, ohne Strom und den ganzen Luxus, den wir sonst haben. Gibt es etwas Unweihnachtlicheres als dies hier?“

Klara hatte alles Mögliche erwartet, aber nicht so etwas. Das hätte sie sich im Traum nicht vorgestellt.

„Die Hütte sieht aus, als würde sie uns über dem Kopf zusammenbrechen.“

Kopfschüttelnd stieg Susanne aus und stapfte in großen Schritten durch den frisch gefallenen Schnee auf die Hütte zu. Rechts und links des Weges lagen bereits höhere Haufen, die darauf hindeuteten, dass jemand zumindest während des Schneegestöbers schon mal den Zugang geschoben haben muss. Widerstrebend tat Klara es ihr nach, bemüht, in Susannes Fußstapfen zu treten, blieb aber ein paar Meter vor der Treppe stehen und zog skeptisch die Augenbrauen zusammen.

„Sieht aus, als könnten das ziemlich frostige Tage werden“, murrte sie. „Meine Sachen sind dafür nicht warm genug.“

„Herr Mahler, der Besitzer, hat mir versichert, dass das Dach regenundurchlässig ist und die Wände winddicht sind. Es gibt einen Kamin, einen Holzofen, etliche Öllampen und eine Wasserpumpe im Haus. Das Bett in der Schlafkoje soll recht warm und bequem sein – und ausreichend groß für zwei Personen, sagte er. Decken sind ebenfalls reichlich vorhanden. Wir werden es uns schön gemütlich machen.“

Die Erwähnung der Pumpe und der Öllampen ließ Klaras Hoffnung auf eine annehmbare Toilette platzen. „Dann fang schon mal damit an. Ich schau mich zunächst um“, antwortete sie. Erheblich leiser und für Susanne nicht hörbar grummelte sie: „Ich will nur sichergehen, dass sie nicht doch plötzlich zusammenbricht.“

Stirnrunzelnd folgte Klara einem im Schnee erkennbaren Pfad, der um das Haus herumführte, während Susanne nach drinnen ging. Es gab nur zwei kleine Fenster. Viel Licht ließen die bestimmt nicht hinein. Dabei war es im Wald schon dunkel genug. Ein großer Stapel Holzscheite war hinter der Hütte aufgeschichtet. Sie überlegte, ob die Wand den Holzstapel stützte oder der Haufen Scheite die Hütte. Stabil sah nichts davon aus. Wenigstens war das Brennholz so abgedeckt, dass es vor Schnee und Regen einigermaßen geschützt war.

Auch hier draußen gab es eine Wasserpumpe, darunter stand ein Holzeimer, halb gefüllt mit Wasser und obenauf schwimmenden Tannennadeln. Noch war die Oberfläche nicht gefroren, aber das könnte durchaus passieren, wenn die Temperaturen weiter fielen.

Die Hütte mit dem Herz in der Tür war, wie sie bereits befürchtet hatte, ein Plumpsklo. Immerhin gab es darin Klopapier, sodass man sich den Hintern nicht mit Laub, Moos oder alten Zeitungen abwischen musste. Aber die Vorstellung, erst hier in der Kälte zu sitzen und sich anschließend die Hände im eisigen Brunnenwasser waschen zu müssen, ließ Klara frösteln. Insgeheim war sie unglaublich froh darüber, dass sie nicht lange bleiben würde.

Nach ihrer Runde holte sie seufzend Susannes Koffer aus dem Wagen und folgte ihr ins Haus. Sowohl im Ofen als auch im Kamin hatte Susanne das Holz entzündet und ein paar Öllampen verbreiteten ein heimeliges Licht. Das Feuer strahlte eine angenehme Wärme aus, wenn sie auch noch nicht in jedem Winkel der Hütte angekommen war. Ganz so schlimm, wie Klara es sich vorgestellt hatte, war es also nicht. Trotzdem fühlte sie sich hier nicht sonderlich wohl.

Susanne stand gerade vor einem Schrank und hielt ein Glas Honig in der Hand. „Schau mal, Klara, Herr Mahler hat uns sogar den Vorratsschrank gefüllt. Nun müssen wir nicht nochmal extra los, um uns etwas zu essen zu kaufen.“

„Ja, das war wirklich nett von ihm.“ Sie versuchte sich an einem Lächeln, während sie mittlerweile an Susannes Verstand zweifelte. Durfte man ein Kind so einer Mutter überlassen? Aber vielleicht brachte Lorenz sie ja doch noch zur Vernunft. Klara hatte nichts dagegen, minimalistisch zu leben, aber sie sah nicht ein, warum sie auf zivile Errungenschaften wie Strom, heißes Wasser und eine ordentliche Toilette verzichten sollte, gerade bei solchem Wetter, und das Ganze nur, um vor Weihnachten – und Lorenz, der Susanne nicht aufgeben wollte – zu flüchten.

„Ich geh dann mal eben noch den anderen Koffer holen. Du kannst dir ja überlegen, was wir als nächstes machen. Hauptsache es ist nichts, wofür wir raus müssen.“

 

Die nächsten zwei Stunden spielten sie Karten und tranken auf dem Ofen erhitzten Kakao. Es war eigentlich recht gemütlich, aber noch musste ja auch keine von ihnen nach draußen für kleine Mädchen. Zwischendurch schielte Klara auf die Uhr und schaute dann zum Fenster. Offenbar nicht unauffällig genug.

„Erwartest du noch jemanden oder was ist mit dir los?“, fragte Susanne.

Wie ertappt fuhr Klara zusammen, sagte dann aber: „Es ist erst halb vier. Hast du mal rausgeguckt, wie dunkel und still das draußen ist? Das ist richtig unheimlich.“

Stimmt, Klara hat recht, dachte Susanne, als wartet die Welt auf etwas. Den Gedanken mochte sie nicht weiterführen, denn was konnte einen wohl an Heilig Abend erwarten? Hatten sie sich vorher noch mit dem Kartenspiel und einem guten Gespräch abgelenkt, zog der verhasste Grund ihrer Flucht seine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Es fühlte sich an, als pirschte sich Weihnachten auf leisen Sohlen an ihr Versteck heran, was vollkommen unmöglich war, schließlich war Weihnachten kein lebendiges Wesen. Und trotzdem … Etwas war anders. Eine seltsame Spannung lag in der Luft. Gänsehaut überzog ihren Körper und sie begann zu frösteln. Ablehnend schüttelte sie den Kopf. Alles nur Einbildung, oder?

Sie hielten die Luft an, um zu lauschen. Bis auf das Knistern des Feuers drang kein Laut an ihre Ohren. Gerade wollte Susanne etwas sagen, als sie draußen ein Rumsen hörte und gleich darauf etwas Schweres auf das Dach polterte. Erschrocken sprangen beide auf und schauten nach oben. Schnee fiel durch den Schornstein in den Kamin, sodass es zischte, als das Wasser verdampfte. Etwas schrammte über das Dach. Ein leises Klingeln wie von kleinen Glöckchen erklang.

„Nein!“ Susanne sprang kreideweiß um den Tisch herum und hielt sich an Klara fest. „Das ist nicht möglich, Weihnachten kann mir nicht folgen“, keuchte sie.

Aus Klaras Sicht handelte ihre Freundin völlig irrational. So etwas hatte sie noch nie bei ihr erlebt. Was war nur mit Susanne los? Sie sah aus, als stünde sie unter Schock. Sicherlich war das Geräusch, das vom Dach kam, unheimlich, aber deswegen so einen Aufstand zu machen …?

„Bitte, Klara, sag mir, dass das nicht sein kann! Da ist kein Schlitten auf dem Dach gelandet, oder? Es gibt keinen Weihnachtsmann!“

Klara runzelte die Stirn. War Susanne jetzt vollkommen durchgedreht?

Immer noch polterte etwas auf dem Dach, plumpste, und die Dachschindeln knirschten, als könnten sie das Gewicht nicht halten. Sie hörten die Fensterscheibe knacken wie Eis unter den Füßen auf einem zugefrorenen See – und sie wussten, es hatte sie gefunden. Zumindest Susanne dachte das, während Klara sich eher Sorgen darum machte, ob das Dach die Belastung aushielt, wenn sich die Lastenverteilung bereits so extrem auf die Wände auswirkte, dass diese knirschten und die Scheibe einen Riss bekam. Da musste wirklich extrem viel Schnee von den Ästen heruntergekommen sein. Überall knirschte und knackte die Hütte. Es machte ihr deutlich, wie instabil ihre Unterkunft entgegen der Beteuerungen des Besitzers war. Missmutig verzog sie den Mund.

„Süße, das war nur Schnee. Es gibt keinen Weihnachtsmann“, nahm Klara Susannes Worte auf, um ihre Freundin zu beruhigen. Doch die sah immer noch panisch nach oben – bis es an der Tür klopfte, da schoss ihr Blick in diese Richtung.

Susanne schrie auf. Vergeblich versuchte sie, ihren breiten Körper hinter der schmalen Figur ihrer Freundin zu verstecken und krallte sich fest in ihre Schultern.

„Verdammt, Klara, tu doch etwas!“

„Okay, lass mich los, dann kann ich die Tür öffnen“, schlug sie vor. Sie hoffte, dass das überhaupt noch möglich war. Nicht dass sich der Rahmen durch den Druck von oben so verzogen hatte, dass sie sie nicht mehr aufbekam.

„Bist du verrückt?“, kreischte Susanne schrill. „Du kannst ihn nicht auch noch hereinlassen wollen!“

„Wen soll ich nicht hereinlassen?“

„Na, den Weihnachtsmann!“ Das letzte Wort flüsterte sie beinahe, als dürfte die Person draußen sie nicht mitbekommen.

„Das ist nicht der …“ Mehr hörte man nicht, denn der Drücker senkte sich und das letzte Wort ging im Knarren der Tür und Susannes Schrei unter, als sie sich ohne Klaras Zutun öffnete. Jemand, der so gar nicht nach einem Weihnachtsmann aussah, trat durch die Öffnung. Susanne verstummte, klammerte sich aber immer noch zitternd an ihre Freundin.

„Wer ist das?“, flüsterte sie ihr ins Ohr.

Der Mann trug eine dick gefütterte dunkle Jacke, Jeans, schwarze Lederhandschuhe und Stiefel, und war bis zur Nase in einen warmen Schal gewickelt. In einer Hand hatte er einen gut gefüllten Beutel. Darin mussten die Glöckchen sein, die sie vorher gehört hatten, denn als sich der ungebetene Besucher den Schnee von den Schuhen stampfte, klingelten sie. Schnell schloss er mit der freien Hand die Tür.

„Beruhige dich, Liebling, ich bin es nur“, ertönte eine ihr bekannte Stimme dumpf durch den Schal. Der Mann griff an das Ende und wickelte ihn sich vom Kopf.

„Lorenz?“, fragte Susanne mit deutlichem Beben in der Stimme. Ein wenig grob schob sie Klara zur Seite, ging auf ihn zu und baute sich vor ihm auf. Ihr Herz klopfte wild und sie wusste nicht, ob vor Hoffnung oder Bangen. Träumte sie das alles nur? Oder war das doch real? Sie stach ihm den Finger in die Brust. Lorenz war echt!

„Was, zum Henker, machst du hier?“, fragte sie in grobem Ton. Der Schrecken von eben saß ihr immer noch in den Knochen und sie wusste nicht wohin mit ihren Gefühlen. Und dennoch entzündete sich ein kleines Fünkchen Hoffnung. Er war hier. Lorenz war wirklich hier, obwohl sie mit ihm Schluss gemacht hatte!

Hinter Susanne bewegte Klara die Hände wie eine Pantomime. Sie schaute Lorenz grimmig an, als er den Mund öffnete, wedelte zunächst abwehrend mit den Händen in der Luft herum, fuhr sich schließlich mit der flachen Hand über die Kehle und tat so, als würde sie sich ein Seil um den Hals legen und daran erhängen – mit verdrehten Augen und heraushängender Zunge.

„Tut mir leid, Klara, aber ich werde Susanne nicht anlügen.“ Mit einem zärtlichen Lächeln sah er die Frau, die er liebte, an. Er sah ihre Unterlippe beben, als würde sie gleich anfangen zu weinen – oder es war nur ein Ausdruck ihrer Fassungslosigkeit und sie wollte ihn anbrüllen. Genau konnte er es nicht sagen. Am liebsten hätte er sie fest in den Arm genommen, entweder um sie zu trösten oder um ihre Wut zu überwinden, bis sie verraucht wäre. Aber zuerst musste er das loswerden.

„Klara hat sich eine Ortungs-App auf das Handy geladen, damit ich euch nachfahren kann. Sie wusste ja nicht, wohin du sie entführst. Der Plan war, dass wir die Plätze tauschen, wenn ich erst einmal hier bin. Ihr Koffer“, er zeigte auf den, den Klara neben Susannes Gepäck abgestellt hatte, „enthält meine Klamotten. Ich bin sogar mit ihrem Wagen hier, damit sie damit zurückfahren kann. Bitte, Susanne, ich weiß, dass du mich immer noch liebst. Gib mir eine Chance. Lass uns wieder zusammen sein.“

Susanne schnappte nach Luft. Einerseits freute sie sich unglaublich darüber, dass Lorenz hier war, und wollte sich in seine Arme werfen. Andererseits war sie auch böse auf die beiden, über ihr abgekartetes Spiel, und würde sie am liebsten anschreien. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, und stand erstarrt vor ihm wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Sie merkte, wie ihr Blick wässerig wurde und eine Träne über die Wange nach unten lief.

Klara schaute ratlos zu Lorenz, doch der wusste anscheinend auch nicht weiter. „Hör mal, Susanne, es tut mir leid, dass wir dich so hinters Licht geführt haben, aber Lorenz ist nun einmal der richtige Mann für dich und du hast nicht mit dir reden lassen. Was sollten wir anderes tun, als dich vor vollendete Tatsachen zu stellen?“, fragte sie zerknirscht. „Du bist meine beste Freundin und ich weiß, dass du dir Mühe gegeben hast, es nicht zu zeigen, aber ich weiß auch, dass du allein nicht glücklich warst – nicht so wie mit ihm.“

Aufschluchzend kapitulierte Susanne, warf sich in Lorenz‘ Arme und drückte ihm ihre Lippen auf den Mund. So lange hatte sie darauf verzichtet und sich danach gesehnt. In ihren Träumen war er zurückgekommen, und nun stand er wirklich vor ihr und küsste sie.

Glücklich schlang er die Arme um Susanne und die Glöckchen gaben ein kurzes Bimmeln von sich, als der Beutel gegen ihren Rücken schlug.

Als der Kuss endete, flüsterte Lorenz in ihre Haare: „Ich habe dich so vermisst. Ich …“ Wieder polterte etwas auf das Dach. Stirnrunzelnd schaute er nach oben, nicht ganz glücklich über diese Unterbrechung. „Ich mag diese Hütte wirklich, und wenn wir die Weihnachtstage hier verbringen wollen, sollte ich wohl mal den Schnee und den halben Baum vom Dach holen. Gleich nachdem ich die Autotür zugeschlagen habe, ist ganz schön was von oben runtergekommen – zusammen mit einem riesigen Ast. Und du musst zugeben, dass die Hütte ganz schön darunter leidet. Ich habe draußen einen Schneeschieber gesehen und eine Leiter. Damit müsste das klappen.“

„Aber …“

„Nein, alles gut. Ich kümmere mich darum. Du bewachst solange den hier“, sagte Lorenz. Er drückte Susanne den Beutel in die Hände, den sie schniefend entgegennahm.

Sie vermutete Weihnachtsschmuck darin. Das Klingeln sprach zumindest dafür. Womöglich war es besser, diesen Kompromiss einzugehen, überlegte sie. Lorenz war zu ihr gekommen, obwohl sie ihm mit harten Worten den Laufpass gegeben hatte. Er hatte sie nicht aufgegeben und jetzt wollte sie ihn auch nicht mehr wegschicken, diesen wundervollen Mann mit seinem unglaublichen Dickschädel. Krankhaft hatte sie sich in ihre Weihnachtsaversion hineingesteigert, dass sie bei dem kleinsten Anlass vollkommen überreagiert hatte. Das beste Beispiel dafür war der heutige Tag.

Verdammt, war sie dumm gewesen. Wichtiger als ihre Abneigung gegen dieses Fest war doch, dass sie mit einem Menschen zusammen war, den sie liebte. Und bald käme noch ein kleiner Mensch hinzu. Hatte sie wirklich gedacht, sie könne ihrem Kind Weihnachten vorenthalten, ohne dass es neidisch auf die anderen schaute, die es feierten? Zum Glück hatte Lorenz ihr die Augen geöffnet.

Sie war versucht, ihm ihre Huldigung auszusprechen, bis sie den Beutel öffnete. Er war randvoll mit verschiedensten Dingen, die sie nicht einordnen konnte: metallisiertes Papier, Bänder, Klebstoff, Stifte, Scheren … Weihnachtsschmuck, den sie eigentlich erwartet hatte, sah anders aus.

„Was …?“ Die Verblüffung ließ sie verstummen. „Was ist das?“, brachte sie schließlich heraus.

„Bastelmaterial. Weißt du, nicht immer muss man an Weihnachten teure Sachen kaufen, um es sich schön zu machen. Man kann es sich auch mit einfachen Mitteln festlich gestalten. Wenn ich da draußen fertig bin, setzen wir beide uns hin und basteln uns unsere eigene Deko. Und dann schmücken wir die Hütte.“

Klara trat auf Lorenz zu und streckte ihm die offene Hand hin. Weder er noch Susanne hatten mitbekommen, dass Klara sich irgendwann zwischen ihrer Wiedersehensfreude und dem jetzigen Zeitpunkt Jacke und Schuhe angezogen hatte.

„Schlüssel! Ich mach‘ mich dann mal vom Acker und lass euch zwei hier allein. Du wirst den Rest auch ohne mich schaffen, denke ich.“

Susanne packte Klara am Arm. „Warte. Willst du Weihnachten wirklich ohne uns verbringen?“, fragte sie. Einerseits wäre sie gern mit Lorenz allein, aber sie mochte den Gedanken nicht, dass ihre Freundin dann einsam zu Hause hocken würde.

Klara rollte mit den Augen und machte eine umfassende Bewegung. „Wirklich, Susanne, das hier magst du toll finden – und Lorenz auch –, aber es ist nicht das Richtige für mich.“ Nun verzog sich ihr Mund zu einem schelmischen Grinsen. „Aber abgesehen davon habe ich jemanden, der darauf wartet, dass ich nach Hause komme. Mike ist wirklich süß und hat ebenso wie ich darauf gehofft, dass der Plan aufgeht. Wie man sieht, hat es geklappt. Nun kann ich guten Gewissens nach Hause fahren und mich um mein eigenes Liebesleben kümmern.“

Ein breites Grinsen zierte Susannes Gesicht, als sie ihrer Freundin einen Klaps auf den Arm gab. „Du Aas! Du hast mir gar nichts von ihm erzählt! Ich wäre doch nie mit dir hierhergefahren, wenn ich gewusst hätte, dass du auch ein Eisen im Feuer hast.“

„Eben drum!“, antwortete Klara. Sie klimperte mit den Autoschlüsseln. „Ich erzähle dir später, wie’s war. Und nun muss ich wirklich los. Ich wünsche euch frohe Weihnachten!“

 

So, das war’s. Ich hoffe, die Geschichte hat euch gefallen. Lasst ein Däumchen da, wenn es so war. So wie Klara wünsche auch ich euch

frohe Weihnachten!

Impressum

Texte: Divina Michealis
Bildmaterialien: David Mark auf Pixabay
Cover: Divina Michaelis
Tag der Veröffentlichung: 16.12.2020

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