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Angst




Was es ausgelöst hatte, kann ich gar nicht mehr sagen, aber ich weiß noch ganz genau, dass ich mit einem Mal eine fürchterliche Angst davor hatte, dass meiner kleinen Tochter etwas passiert. Nein, nicht nur ein Sturz, bei dem sie sich etwas brechen könnte, oder etwas ähnlich Banales. Es war die Angst davor, dass sie sterben könnte, die Angst, dass morgen ein Autofahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert und sie totgefahren wird, die Angst, dass irgendetwas passiert, was mir meine kleine Tochter nehmen könnte.
So passierte es Tag für Tag, dass ich meine Tochter mit Argusaugen beobachtete, die Umgebung nach unvorhersehbaren Gefahren absuchte, und, wenn ich sie auf dem Arm hatte und sie mir ihre kleinen Ärmchen um den Hals legte, dass ich mich fragte, wie oft sie ihre Arme noch um meinen Hals legen wird. Je mehr Zeit verging, desto mehr steigerte ich mich in diese Visionen hinein. Die Angst hatte mich fest im Griff. Sie wanderte mir die Wirbelsäule hoch, zog meinen Hinterkopf zusammen, umklammerte mein Hirn, lähmte mich. Mein Herz wurde bleischwer und ich begann zu trauern.
Oft lenkte ich mich mit Arbeit ab, beschäftigte mich mit irgendetwas, während ich meine Zweijährige im Blick behielt. Doch sobald ich wieder etwas Zeit hatte, gingen meine Gedanken schon wieder auf Wanderschaft und erschufen Horrorszenarien, die in Zukunft passieren konnten. Ich versuchte, sie so wenig wie möglich bei anderen spielen zu lassen, wenn ich nicht dabei bleiben konnte, was anderen zwar nie auffiel, mich allerdings auch darin einschränkte Dinge zu tun, die ich sonst in ihrer Abwesenheit getan hätte.
Es ist fast unmöglich, das nachzuvollziehen, wenn man es nicht schon einmal mitgemacht hat, dass solch eine irrationale Angst einen Menschen so extrem beeinflussen kann, und dennoch – die Angst, sie blieb nicht nur, sie wurde schlimmer.
Vier Wochen schon hatte ich diese Angstattacken, als meine Kleine sich wieder auf meinen Schoß setzte, mich umklammerte und ich sie fest in den Armen hielt. Ein weiteres Mal dachte ich daran, dass dieses Mal vielleicht das letzte Mal wäre, dass ich sie so halten konnte. Ich zitterte, mein Schädel brummte, Tränen stiegen auf und fielen in ihre feinen, blonden Locken. Ich weinte um meine Tochter, die morgen vielleicht schon nicht mehr leben würde. Die Angst war da, fest in meinem Kopf installiert, und wollte nicht weichen. Sie zerschmetterte mein Herz, ließ mich bewegungslos verharren. Ich fühlte diese kleinen Arme, das Fliegengewicht auf meinem Schoß, spürte ihr kleines Herz schlagen, hörte ihr Geplapper, doch das alles war für mich vergänglich wie der Hauch des Windes – schon morgen verschwunden, bald nichts mehr, als eine Erinnerung.

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- Und dann überfiel es mich wie ein Blitz! Was wäre denn, wenn morgen nichts passiert? Was wäre, wenn auch übermorgen nichts passiert – die nächsten Tage, Wochen oder Jahre? Dann würde ich mich in meiner Trauer und Angst um solch schöne Momente bringen, wie ich sie gerade erleben durfte, und zwar um jeden einzelnen davon, einfach weil ich ihn nicht genießen konnte. Aus welchem Grund sollte ich mich darum bringen? Weil ich Angst vor etwas hatte, was vielleicht niemals eintrifft?
Nein, das wollte ich mir nicht nehmen lassen! Ich beschloss, diese Gedanken weit von mir zu schieben und nun jeden Augenblick zu genießen, den ich mit ihr haben konnte.
In meiner Erleichterung über diese Erkenntnis lachte und weinte ich gleichzeitig. Meine Tochter drehte sich auf meinem Schoß und sah mich verwundert an. Da hob ich sie so hoch, dass ihr Gesicht auf der Höhe mit meinem war, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und sagte nur: „Mami hat dich lieb – für immer und ewig! Und nun geh spielen.“

Diese Geschichte ist real. Sie hat sich genauso abgespielt. Inzwischen ist meine Tochter beinahe zwanzig Jahre alt und erfreut sich, nach meinem letzten Kenntnisstand, bester Gesundheit. Die Angst beherrscht mich nicht mehr – ich beherrsche sie. Und das ist viel besser so! :o)

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Texte: Divina Michaelis
Bildmaterialien: Divina Michaelis
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2012

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