„Kannst du mich wirklich sehen?“ – Das war meine erste Frage, die ich an den jungen Mann stellte, der mir gegenüber stand und intensiv in meine Richtung blickte. Dann tat er einen Schritt auf mich zu, einen weiteren, streckte seine Hand nach mir aus. Verblüfft über diese Reaktion reichte ich ihm meine. Ein kühler Hauch streifte meine Fingerspitzen, ein Hauch nur, und dann war es bereits wieder vorbei. Die Dämmerung verging, es wurde dunkel und der Mann verschwand.
Schon von klein auf sah ich, wenn die Dämmerung eintrat, Menschen und Tiere, andere Landschaften, Gebäude und Gegenstände um mich herum, die auftauchten, die Realität sachte überlagerten, und wieder vergingen. Als ich meinen Eltern davon erzählte, taten sie es als Fantastereien ab. Offensichtlich sahen sie es nicht, und da sie mich nicht ernst nahmen, erwähnte ich die andere Welt auch nie wieder, weder vor ihnen noch vor anderen.
Keiner von den Menschen im Zwielicht nahm jemals Notiz von mir, und irgendwann hörte auch ich auf, auf sie zu achten. Sie waren zwar immer ein Teil meines Lebens, denn schließlich tauchten sie mindestens zweimal am Tag auf, manches Mal sogar, wenn durch dunkle Wolken alles in ein Dämmerlicht getaucht wurde, doch warum sollte ich mich näher mit ihnen beschäftigen, wenn ich nicht einmal sicher sein konnte, dass sie tatsächlich existierten?
Nur das eine Mal, ich war mittlerweile sechzehn, spürte ich im Zwielicht Blicke auf mir, drehte mich um und sah direkt in seine wundervollen Augen. Er schien mich tatsächlich genauso wahrzunehmen, wie ich ihn und alle um ihn herum. Er reagierte auf mich. Und plötzlich war es mir nicht mehr egal, ob es diese Menschen tatsächlich gab, oder nicht. Für mich wurde zumindest einer von ihnen real, für mich war es Liebe auf den ersten Blick.
Seit diesem Tag trafen wir uns immer an der gleichen Stelle. Als ich ihm meine Hand darbot, kam er mir entgegen, und als ich ihm meinen Mund entgegen streckte, spürte ich ein Kribbeln auf meinen Lippen, als er sie mit seinen streifte. Diese wenigen Minuten des Tages waren mein absolutes Glanzlicht, und mit klopfendem Herzen zählte ich jede Minute, bis es wieder zu einem Treffen kam.
Ich studierte die Sonnenauf- und Sonnenuntergänge und war jedes Mal pünktlich, damit uns keine Minute verloren gehen konnte. Ich kaufte mir eine Kamera und erklärte mit meinem neuen Hobby mein Interesse daran, dass ich immer zur Dämmerung verschwand. Bilder machen konnte ich von ihm leider nicht. Die Kamera bildete nur das ab, was in meiner Realität existierte.
Dann kam der Tag, an dem ich in der Dämmerung zur Schule gehen musste. Ich winkte ihm und er begleitete mich jeden Tag ein Stückchen weiter, bis er das Gebäude sehen konnte, in dem ich verschwand. Dann stand er unten und blickte zu dem Fenster unserer Klasse hinauf, und ich konnte ihn sehen, wenn ich aus dem Fenster blickte. Er stand neben einem Baum, der in meiner Realität nicht existierte, auf einer Wiese, die bei uns nur ein gepflasterter Schulhof war.
Auch zeigte er mir so nach und nach, wo er lebte. Wir trafen uns und waren einander doch so fern, wie es sonst niemand sein konnte.
So nach und nach machte ich mir Gedanken über seine Welt. War es unsere Welt aus einer anderen Zeit, also dass sich in der Dämmerung die Zeiten überlagerten, oder war es unsere Welt in einer vollkommen anderen Dimension, die sich einfach anders entwickelt hatte? In meiner Freizeit begann ich Geschichtsbücher zu wälzen, suchte nach Anhaltspunkten, wie unsere Stadt zu früherer Zeit ausgesehen haben mochte, aber keine der Beschreibungen war mit dem identisch, was ich sehen konnte. Also kam ich immer mehr zu der Auffassung, dass es sich um eine andere Dimension, eine Parallelexistenz handeln musste.
Sie war nicht so weit entwickelt, wie unsere. Noch immer wurden Pferdefuhrwerke benutzt, die Kinder spielten mit selbst gebautem Spielzeug und Bücher schienen eine absolute Kostbarkeit zu sein. Dennoch konnte ich die Ruhe beinahe körperlich spüren, die von diesem Ort ausging. Für mich kam es so vor, als wäre es das Paradies, zumal an diesem Ort ein Mann existierte, für den mein Herz schneller schlug.
Die Zeit verging, Tag folgte auf Tag, Woche auf Woche, Monat auf Monat, Jahr auf Jahr, und noch immer trafen wir uns, sahen zu, wie wir alterten, trauerten um jede Minute, die uns wieder trennte, und schafften es dennoch beide nicht, uns von diesen kurzen Augenblicken zu trennen, um uns andere Partner zu suchen. Stattdessen richtete ich all meine Interessen auf die Physik, machte Abitur mit den entsprechenden Leistungsfächern, studierte, ging in die Wissenschaft und versuchte einen Weg zu finden, die Dimensionen zu überbrücken. Wenn wir uns im Zwielicht sehen konnten, musste es einfach einen Weg geben, wie wir zueinanderfinden könnten.
Irgendwann einmal las ich das Zitat von Hermann Hesse: „Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.“ Genau dieses schrieb ich mir auf die Fahnen und schaffte es, auch an den wichtigen Stellen andere davon zu überzeugen, dass ich die Beste für den Job in der Forschung wäre.
Natürlich erzählte ich niemandem davon, wonach ich wirklich suchte, nutzte aber die Möglichkeiten, die sich mir boten. Nur ein einziges Mal ließ ich durchblicken, dass mich Dimensionssprünge in Fantasybüchern absolut faszinierten, musste mir aber von allen Kollegen anhören, dass so etwas einfach unmöglich sei. Und so suchte ich Jahr um Jahr, unter dem Deckmantel der Elektronenforschung, mit einem vollkommen anderen Ziel vor Augen.
Und hier stand ich nun, mitten in der Nacht, vor diesem wirklich monströsen Apparat, und freute mich über die erste gelungene Dimensionsüberbrückung, die ich am Tag zuvor zustande gebracht hatte. Für alle anderen machte ich lediglich ein paar Elektronenexperimente, teuer zwar, aber immer wieder mit verblüffenden Ergebnissen. Nur ich hatte sehen können, dass das Foto von mir, das ich auf die andere Seite geschickt hatte, auch wirklich drüben angekommen war: Mein Geliebter hielt es in der zittrigen Hand und strahlte mich an. Für mich ging in dem Augenblick die Sonne auf.
Gestern war mir der Durchbruch gelungen, heute Nacht wollte ich ausnutzen, was ich geschafft hatte. Endlich gab es einen Weg, zusammenzukommen. Und es wurde auch Zeit. Wir hatten beide bereits graue Haare, und gesundheitlich ging es ihm wohl nicht allzu gut. Bei den letzten Treffen versuchte er zwar, das zu überspielen, aber ich konnte sehen, dass ihm etwas fehlte.
Ich nahm eine Tasche, die ich vorher gepackt hatte, mit Dingen, die ich als überaus nützlich empfand und eine weitere mit praktischer und robuster Kleidung.
Mir war klar, dass es für mich kein Zurück geben würde, aber das war mir egal. Ich schickte die Taschen voraus, sah, wie sie sich auflösten und verschwanden, gab in den Computer die entsprechenden Befehle für die automatische Aktivierung ein und stellte mich dann in diesem Apparat an Ort und Stelle. Ich wollte keine Zeit mehr mit Versuchstieren verlieren. Niemand durfte Wind davon bekommen, was ich hier wirklich tat.
Das Gerät lief an. Getöse drang an meine Ohren. Ein Kribbeln durchlief meinen Körper. Erst fühlte ich mich leicht, fast flüchtig, doch dann zwang mich mein plötzlich wieder auftretendes Gewicht in die Knie. Es war beinahe still!
Weiches Gras befand sich unter meinen Füßen, die Luft war klar und der Gesang einer Nachtigall drang an meine Ohren. Es war Vollmond, sodass die Landschaft in einem fahlen Licht erstrahlte. Ich blickte auf und versuchte, mich zu orientieren. Wenn ich mich recht entsann, lag das Haus meines Geliebten rechts von mir, also nahm ich meine Taschen und schlug die entsprechende Richtung ein. Er wusste nicht, dass ich kommen würde, es war also eine Überraschung.
Nach einer guten Stunde Fußmarsch erkannte ich sein Haus schon von Weitem. Immer schneller wurden meine Schritte, bald würde ich ihn sehen, ihn anfassen und ihn küssen können. Schon bald könnten wir den Rest unseres Lebens gemeinsam miteinander verbringen.
Die letzten Meter zu seinem Haus rannte ich, doch kurz vor seiner Haustür wurden meine Schritte langsamer. Ich zögerte, drehte mich noch einmal um und sah, wie sich das Licht der aufgehenden Sonne über dem Horizont ausbreitete. Mit dem Zwielicht tauchten Gebäude auf, Menschen und Autos. Sie alle bedeuteten mir nichts. Erst dann fiel mir auf, dass mein Geliebter noch gar nicht zu sehen war. Dabei hatte er es all die Jahre nicht ein einziges Mal versäumt, sich mit mir zu treffen.
Bangen Herzens drehte ich mich zurück zur Tür und stellte die Taschen auf die Veranda. Dann machte ich ein paar Schritte vorwärts, legte meine Hand auf den Drücker und öffnete vorsichtig die Tür.
Ein zaghaftes „Hallo?“ kam mir über die Lippen und ich war beinahe erleichtert, als ich ein Rascheln hörte. Ich folgte dem Geräusch und das Morgenlicht folgte mir auf meinem Weg durch den Flur.
Im Vorbeigehen sah ich an den Wänden Zeichnungen mit meinem Gesicht darauf, die mir ein Lächeln auf die Lippen zauberten. Es waren unzählige Bilder von mir. Er liebte mich. Er hatte mich immer geliebt, das konnte ich eindeutig sehen.
Wieder ertönte ein Geräusch, mein Herz schlug schneller. Eine weitere Tür versperrte mir den Weg, doch sie würde mich nicht aufhalten. Entschlossen öffnete ich sie.
Er lag im Bett. Fiebrig glitzerten mir seine Augen entgegen, die ungläubiges Erstaunen ausdrückten.
„Mita?“
War das sein Kosewort für mich? Noch nie hatte ich ihn sprechen hören.
„Ich bin es“, antwortete ich, wobei ich gegen den Kloß in meinem Hals ankämpfen musste, und beeilte mich, zu seinem Bett zu kommen.
„Mita! Tu ama me rola?“ Seine Stimme war schwach und ich konnte deutlich hören, wie wenig er glaubte, was er sah.
Ich setzte mich auf sein Bett, zog ihn vorsichtig hoch und nahm seinen erhitzen Körper in meine Arme. Ständig wiederholte er seine Worte, während er mit seinen Händen mein Gesicht erforschte, meine Wangen streichelte, sachte mit seinen heißen Fingern über meine Lippen fuhr. Mir schossen die Tränen in die Augen. Er war krank, sogar schwer krank. Sein Atem ging flach und pfeifend, seine Stimme brach immer wieder und ich spürte, wie sehr es ihn anstrengte, mich zu berühren. Also ließ ich ihn auf sein Bett zurückgleiten, um nach einer Schüssel, einem Krug Wasser und Tüchern zu suchen.
Sein Schrei nach mir, als ich ihn für die kurze Zeit verließ, drang mir durch Mark und Bein und zerriss mir fast das Herz. Er klang so verloren, so hoffnungslos. Umso mehr beeilte ich mich, stellte die Sachen neben das Bett, ließ mich dann daneben auf die Knie sinken und machte ihm kalte Umschläge.
Ich war beinahe verzweifelt, dass sein Fieber nicht fallen wollte. Im Wahn seiner Hitze rief er immer wieder nach mir, murmelte Worte, die ich nicht verstand.
Den ganzen Tag lang wechselte ich beinahe im Minutenrhythmus die Umschläge, machte sie immer wieder feucht, merkte nicht, wie die Zeit verging, wie es dunkel wurde, wie ich irgendwann vor lauter Müdigkeit mit meinem Kopf auf sein Bett sank.
Eine Berührung auf meinem Haar ließ mich erwachen. Leichte Küsse wurden auf mein Haar gedrückt, eine Stimme murmelte leise Worte hinein.
Langsam richtete ich mich auf, schaute ihm in die klaren Augen, die nun vollkommen frei von Fieber, aber dennoch leuchtend auf mich blickten. Ich konnte nicht anders, als sein strahlendes Lächeln zu erwidern.
„Tu ama me rola, Mita?“, fragte er mich sanft.
„Ich muss dringend deine Sprache lernen“, erwiderte ich lachend. „Aber ich glaube zu wissen, was das heißen soll. Ja, ich habe einen Weg gefunden, zu dir zu kommen.“
Ein Satz ging mir durch den Kopf, der seine Wirksamkeit sowohl in meiner alten, als auch in meiner neuen Welt bewiesen hat: „Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.“
Danke Hermann Hesse!
Texte: Divina Michaelis
Bildmaterialien: Bookrix
Tag der Veröffentlichung: 14.05.2013
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