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Stumm betrachtete ich das Handy in meiner Hand. Ich würde den notwendigen Anruf machen – gleich.
Mein Blick glitt nach draußen. Die Sonne des Spätsommers zeigte sich von ihrer schönsten Seite. Sie warf ihr glitzerndes Licht durch die Blätter der Büsche und verursachte dadurch einen Wechsel von grau und schwarz auf dem Asphalt der Straße. Durch das geöffnete Seitenfenster konnte ich Grillen zirpen hören. Sie waren ziemlich laut. Es war ein wirklich schöner Tag, genau richtig.

Ich dachte daran, wie es begonnen hatte:
Am Samstag waren wir alle schon früh auf den Beinen, Matthias, unsere Töchter Jasmin und Lisa und auch ich selber. Die Taschen wollten gepackt werden, letzte Übernachtungsvorbereitungen wurden erledigt. Oma Ilse, meine Mutter, kam einige Zeit später vorbei, um ihre Enkelkinder das Wochenende über zu sich zu holen. Endlich konnten Matthias und ich mal wieder zwei Tage alleine verbringen, uns nur mal um uns selber kümmern, uns verwöhnen, immerhin wussten wir unsere Racker gut aufgehoben.
Bereits im letzten Herbst hatte meine Mutter sich viel Zeit für unsere Kinder genommen. Sie hatte lange Ausflüge mit ihnen gemacht, war picknicken, hat mit ihnen gebastelt. Ganz stolz und mit leuchtenden Augen zeigten die beiden uns damals die Kastanienpferde und Tannenzapfeneulen, als sie wieder nach Hause kamen. Die Sachen bekamen einen Ehrenplatz in der Vitrine und wurden von dort auch niemals entfernt. Auch wenn die Kastanien schon bald sehr schrumpelig wurden, doch ich konnte es nicht über mich bringen, sie wegzuwerfen. Ich grinste bei dem Gedanken daran.
Als meine Mutter an diesem Samstagmorgen ankam, stürmten unsere Kinder ihr entgegen, hüpften, lachten und hängten sich an ihre Arme und Beine, dass diese sich kaum von der Stelle rühren konnte. Matthias kam mit der Tasche der Kinder heraus und bugsierte sie in den Kofferraum seiner Schwiegermutter.
„Lasst eure Oma doch mal alleine laufen. So kommt ihr ja nie los“, ermahnte er seine Kinder lachend, woraufhin die beiden ihre Oma Ilse losließen und nun Jagd auf meinen Mann machten.
Meine Mutter und ich gingen aufeinander zu, begrüßten uns kurz aber herzlich, und dann lud sie auch schon ihre Enkel ins Auto ein und fuhr los. Winkend standen Matthias und ich auf der Straße und sahen dem entschwindenden Auto hinterher, bis es nicht mehr zu sehen war.
Glücklich fielen wir uns in die Arme und gaben uns einen zärtlichen Kuss.
„Zwei Tage! Zwei Tage können wir machen, was wir wollen“, jubelte ich.
„Oh ja, und ich weiß auch schon ganz genau, was ich jetzt will“, grinste Matthias mich schelmisch an, fasste mich mit einem Arm unter die Knie und hob mich auf seine Arme. Dabei jauchzte ich laut auf, ahnte ich doch schon, was jetzt kommen würde.
Mit schnellen Schritten trug er mich ins Haus zurück.
„Wir haben noch drei Stunden, bis der erste Termin ansteht, und die gedenke ich zu nutzen“, raunte Matthias.
Das waren die zärtlichsten drei Stunden, die wir in der letzten Zeit erlebt hatten. Sehr gelöst machten wir uns danach auf den Weg ins Restaurant, wo ein Tisch bestellt war. Das Essen war köstlich, und das umso mehr, als wir es alleine einnehmen durften. Nicht, dass wir unsere Kinder nicht lieben würden, aber wenn man zehn Jahre als Familie lebt, ist jede Sekunde ohne Anhang ein wahres Geschenk.
Danach folgten ein Spaziergang, eine Schiffrundfahrt, ein Museumsbesuch, und danach wieder ein paar herrliche Stunden im Bett. Wir beide schwebten im siebten Himmel, fühlten uns, wie frisch verliebt. Es war eine Verjüngungskur unserer Ehe, eine Abwendung vom Alltag.

Der Anruf kam mitten in der Nacht. Meine Mutter und die beiden Kinder lagen im Krankenhaus, und am Telefon wollte mir niemand sagen, was vorgefallen war. Vollkommen geschockt beeilten wir uns, dorthin zu kommen. Eine Ärztin empfing uns, bat Matthias und mich, uns zu setzen und erklärte uns dann, dass alle drei mit einer Pilzvergiftung eingeliefert worden seien. Meine Mutter war noch am schlimmsten betroffen, würde diese Nacht wohl nicht mehr überleben, und um unsere Kinder stand es auch sehr schlecht.
Mir rauschte das Blut im Schädel, und wenn ich nicht schon gesessen hätte, wäre ich mit Sicherheit umgekippt. Ich musste mich verhört haben. Meine Kinder aßen niemals Pilze, zumindest weigerten sie sich immer, wenn ich welche kochen wollte. Das war mit Sicherheit ein Irrtum. Ich musste meine Gedanken laut ausgesprochen haben, denn die Ärztin schüttelte den Kopf und beteuerte, dass kein Irrtum vorläge.
„Ich will zu meinen Kindern“, bat ich weinend. Ich musste mich vergewissern, konnte es nicht glauben. Doch als sie uns zu dem Zimmer führte, wo zwei winzige Kinder in den riesigen Betten versanken, musste ich mich der grausamen Realität stellen.
Ich fühlte den Arm meines Mannes um meinen Körper, wie er mir Halt vermitteln wollte, den er doch selber nicht besaß. Wie durch Watte hörte ich, was die Ärztin sagte, irgendetwas von Nierenversagen und Transplantation. Ich blickte auf.
„Eine Lebendspende ist möglich?“, fragte ich hoffnungsvoll, und die Ärztin nickte.
„Ja, wenn Ihre Werte übereinstimmen, können wir Ihre Kinder retten“, bestätigte sie.
Ich brauchte nicht zweimal zu überlegen, und auch Matthias fauchte sie an, was sie denn noch hier herumstünden.
Uns wurden etliche Röhrchen Blut abgenommen, dann folgten weitere Untersuchungen, bis schließlich alles erledigt war. Als keine Untersuchungen mehr zu tätigen waren, ging ich an das Bett meiner Mutter. Aschfahl lag diese im Bett, einen schuldbewussten Blick in den stumpfen Augen.
„Es tut mir leid“, hauchte sie schwach. Ich nahm ihre Hand, drückte sie, sagte ihr immer wieder, dass alles wieder gut wird, bis sie ihren letzten Atemzug von sich gab. Verbittert zog ich meine Hand zurück. Ich liebte diese Frau, und dennoch hatte sie uns etwas angetan, was ich ihr nie verzeihen konnte. Anstatt, dass sie die Konsequenzen nun ausbadete, machte sie sich vom Acker, und ließ mich und Matthias mit dem Problem alleine. Enttäuscht ging ich zu Matthias zurück ins Wartezimmer.
Die Zeit bis zur Mitteilung der Ergebnisse zog sich wie Kaugummi in die Länge. Der Sekundenzeiger der Uhr im Wartezimmer dröhnte überlaut in meinem Kopf, das Ticken zerrte an meinen Nerven. Irgendwann kam die Ärztin wieder. Sie sah betrübt aus, und wandte sich an meinen Mann.
„Ihre Werte, Herr Schröder, sind leider nicht kompatibel, bei keinem der beiden Kinder. Lediglich Ihre Frau käme als Spenderin infrage.“ Sie sah nun abwechselnd zu uns beiden. „Sie müssen sich entscheiden, welches ihrer Kinder die Niere bekommen soll. Das andere werden wir an die Dialyse anschließen, bis wir eine passende Spenderniere bekommen.“
„Und wenn Sie keine bekommen?“, fragte mein Mann leise. Die Ärztin senkte den Kopf, sah ihm nicht in die Augen, was mich das Schlimmste vermuten ließ. Noch bevor sie etwas sagen konnte, stiegen mir schon wieder die Tränen in die Augen, und auch Matthias Blick war glasig. Dann holte sie tief Luft und sah meinen Mann an.
„Gehen wir doch erst einmal davon aus, dass wir eine finden. Nun müssen Sie entscheiden! Ich lasse Sie jetzt erst einmal alleine, damit Sie das in Ruhe besprechen können“, sagte sie und verschwand aus dem Raum.
„Wie können wir uns zwischen unseren Kindern entscheiden? Wenn wir uns für die eine entscheiden, ist das automatisch eine Entscheidung gegen die andere. Das ist eine Wahl, die man Eltern niemals zumuten sollte“, schluchzte ich laut und presste mein Gesicht an Matthias’ Brust. Es war das erste Mal, dass auch er nichts sagen konnte, und so umarmten wir uns hilflos und weinten, bis keine Tränen mehr kamen.
Irgendwann fasste ich einen Entschluss.
„Geh die Ärztin suchen. Wir geben Lisa die Niere“, sagte ich meinem Mann.
„Sicher?“ Ihm war die Erleichterung anzusehen, dass ich die Entscheidung getroffen hatte, und nicht er. Langsam nickte ich.
„Ja. Geh zu ihr und sag ihr Bescheid. Ich möchte noch ein bisschen draußen spazieren gehen, bevor es losgeht“, erklärte ich ihm, und er nickte. Dann verschwand er durch die Tür. Ich griff in seine Jackentasche, holte den Autoschlüssel heraus, ging nach draußen auf den Parkplatz und fuhr los, bis ich die richtige Stelle gefunden hatte. Ich hielt an.
Vor mir sah ich die Straße mit schattenfleckigem Asphalt, hörte die Grillen ihr Spätsommerkonzert geben. Die Blätter der Bäume spielten im Wind und in rund zweihundert Metern Entfernung führte eine Brücke über die Straße, eine Brücke auf Betonpfeilern. Langsam löste ich den Sicherheitsgurt. Ich wollte verhindern, dass meine Nieren durch den Gurt Schaden nahmen, wobei ich nicht wusste, ob sie überhaupt betroffen wären, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen. Dann tippte ich auf dem Handy die Nummer ein: eins, eins, zwei. Es tutete, dann meldete sich die Rettungsleitzentrale.
„Ich möchte einen Unfall melden, nicht weit vom Krankenhaus entfernt, auf der Eichenallee. Ein Auto ist gegen einen Betonpfeiler der Autobahnbrücke gerast, und die Fahrerin darin ist schwer verletzt. Bitte schicken Sie einen Krankenwagen“, sagte ich und legte auf. Schon kurze Zeit später hörte ich von Weitem das Martinshorn. Ich holte tief Luft und trat gefasst das Gaspedal durch, lenkte den Wagen auf den Pfeiler zu. Meine Mädchen würden leben, alle beide. Nur das war wichtig!

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Texte: Divina Michaelis
Bildmaterialien: Divina Michaelis
Tag der Veröffentlichung: 30.04.2012

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