Mein Leben verlief von Anfang an nicht besonders gut. Papa verließ Mama und mich, als ich drei Jahre alt war. Er bräuchte seine Freiheit, meinte er, und hielte das nicht mehr aus. Als er weg war, hörten wenigstens die Streitereien auf, vor denen ich immer Angst hatte. Dafür ertränkte meine Mutter jetzt ihren Kummer in Alkohol. Mir war nicht klar, warum sie morgens immer so aufbrausend war und am Nachmittag dafür nur noch still, mit geröteten Augen, auf dem Sofa saß. Und sie roch auch ständig komisch. Doch ich merkte sehr schnell, dass meine Anwesenheit sie eher störte. Die meiste Zeit saß sie vor dem Fernseher und schaute auf die Flimmerkiste, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass sie gar nicht wirklich sah, was da vor sich ging. Ab und zu bekam ich Bescheid, wenn ihr Bier wieder alle war. Dann ging ich zum Kühlschrank und holte ihr neues. Ansonsten zog ich mich in mein Zimmer zurück, sah aus dem Fenster und beobachtete die Leute da draußen von weit oben. Was hätte ich auch anderes tun sollen? Viel Spielzeug hatte ich nicht und alles Papier war schon bemalt.
Manchmal musste natürlich auch etwas eingekauft werden. Dann packte meine Mutter mich bei der Hand und zog mich mit sich mit. Im Einkaufswagen stapelten sich die Sechserpacks Bier und wenn mal ein paar Kinderklamotten im Angebot waren, fanden sich ab und zu auch solche Teile darunter, die mehr oder weniger passten. Eine Packung Toastbrot war das Maximum aller Gefühle und musste für lange Zeit reichen. Auf solchen Ausflügen beobachtete ich alles ganz genau.
Nachdem ich gemerkt hatte, dass meine Mutter mich offensichtlich gar nicht vermisste, wenn ich ihr gleich mehrere Flaschen Bier hinstellte, tat ich das immer öfter, nahm mir die Schlüssel und verließ unsere kahle Wohnung. Mit dem Fahrstuhl fuhr ich dann die zehn Stockwerke nach unten, um anschließend auf dem Spielplatz stundenlang zu schaukeln. Es war herrlich, den Wind in den Haaren zu spüren und ich fühlte mich frei wie ein Vogel. Ab und zu sah ich ein Flugzeug oben am Himmel über mir. Dann schloss ich die Augen und stellte mir vor, ich säße darin und würde die Wolken von oben betrachten.
Ein einziges Mal hatte mich ein Junge von der Schaukel schubsen wollen, da hab ich ihn getreten. Mein Fuß landete zwischen seinen Beinen, was ihm wohl sehr wehgetan haben muss. Danach ließen mich alle in Ruhe. Niemand beachtete mich und ich beachtete niemanden und das störte mich auch nicht.
Wenn ich dann wieder in die Wohnung wollte, fuhr ich in den sechsten Stock, weil ich an den obersten Knopf zu unserer Etage nicht ankam, und ging dann den Rest zu Fuß.
Irgendwann begann ich, mir etwas Geld aus Mamas Portemonnaie zu stibitzen. Davon kaufte ich Bonbons, Schokolade und ab und zu auch mal ein Franzbrötchen, da Bonbons mich nicht satt machten. Wenn jemand im Laden mich fragte, wo denn meine Eltern wären, dann zeigte ich nach draußen und tat so, als würden sie draußen warten. Stolz sagte ich jedes Mal, dass sie wollen, dass ich alles alleine mache.
Es war immer nur ein Teil des Kleingeldes, das ich entwendete, damit Mama das nicht merken konnte. Mir war klar, dass sie böse werden würde, sollte sie mich erwischen, schließlich war das Geld für das Bier gedacht, aber der Hunger war nun einmal größer und das Toastbrot mochte ich nicht mehr essen, wenn es so hässlich grün wurde.
Ich hatte Glück, Mama erwischte mich nie, meckerte nur darüber, dass sie weniger Geld als gedacht hatte, doch das machte mich jedes Mal so traurig, dass ich ständig mit einem schlechten Gewissen herumlief.
Mit ungefähr fünf Jahren bemerkte ich das erste Mal, dass jemand Geld bekam, wenn er Flaschen in den Automaten im Supermarkt stopfte. Endlich sah ich einen Ausweg: Ich brauchte also gar kein Geld mehr aus der Geldbörse meiner Mutter zu klauen, wenn ich nur die Flaschen wieder zurückbringen würde.
Ich musste mich ganz schön strecken, um an das Loch im Automaten zu kommen, was sehr anstrengend war, doch das Ergebnis war mir die Mühe wert. Nur als die Bierflasche endlich in dem Loch verschwand, und ich mich schon auf das Geld freute, spuckte der Automat sie auch wieder aus. Verzweifelt versuchte ich, die Flasche ein weiteres Mal hineinzuschieben, aber das Ergebnis war das Gleiche. Wieder und wieder versuchte ich es und spürte schon Tränen in mir aufsteigen, weil dieser verdammte Kasten meine Flasche nicht wollte.
Ein alter Herr nahm sie heraus und sah sie sich an. Dann beugte er sich zu mir herunter und erklärte mir den Unterschied zwischen Pfand- und Einwegflaschen, indem er mir eine Pfandflasche vor die Nase hielt und mir das Etikett zeigte. Heulend ließ ich die Tüte mit den leeren Bierflaschen fallen, rannte an der Kasse vorbei aus dem Supermarkt und lief so schnell ich konnte nach Hause. Dabei sah ich im Vorbeilaufen eine leere Flasche im Gebüsch. Flugs drehte ich um und sah auf dem Etikett das Pfandzeichen. Mein Herz machte einen Sprung. Sollte ich doch so viel Glück haben? Schniefend zog ich die Nase hoch, wischte mit dem Ärmel über meine Augen und trocknete meine Tränen.
Eilig lief ich zurück zu dem Geschäft, stellte mich auf die Zehenspitzen, schubste die Flasche in den Automaten und wartete nervös auf das Stück Papier, für das ich Geld bekommen würde. Als das tatsächlich herauskam, konnte ich mein Glück kaum fassen, und als die Kassiererin mir für den Bon auch noch Geld gab, hüpfte mein Herz vor lauter Freude. Nun verbrachte ich viel Zeit damit, leere Flaschen zu sammeln. An manchen Stellen fand ich öfter Flaschen, weil sich da oft Jugendliche aufhielten und ihre Abfälle einfach ins Gebüsch schmissen. Das war meine kleine geheime Goldgrube.
Meine Mutter zeigte mir, als ich vielleicht sechs Jahre alt war, wie ich die große Waschmaschine im Keller bedienen konnte. Die Sachen wurden davor nicht oft gewaschen, aber wenn sie anfingen, stark zu riechen, raffte sie sich doch ab und zu mal hoch. Ab da war das meine Aufgabe und die nahm ich sehr ernst. Ich wollte nicht mehr so stinkend durch die Gegend laufen und sauber sahen die Sachen auch viel schöner aus. Nun war ich die Frau im Haus, die alles regeln musste.
Das ging sicherlich ein paar Wochen so, oder waren es Monate? Ich hatte keine Ahnung, was Zeit war, denn jeder Tag war bei mir gleich. Bis mich eines Tages eine ältere Frau ansprach, als ich gerade auf dem Weg zum Spielplatz war.
„Musst du gar nicht in der Schule sein?“
Ich schaute sie mit großen Augen an und schüttelte den Kopf, sagte aber kein Wort. Wieso sollte ich in die Schule gehen? Mama hatte davon nichts gesagt und es ging auch nicht, da ich noch so viel zu tun hatte.
Die Frau zuckte mit den Achseln und sagte nichts mehr, ließ mich aber nicht mehr aus den Augen. Jeden Tag stand sie nun da und beobachtete mich. Dann, ein paar Tage später, bot sie mir einen süßen Kuchen an. Es dauerte etwas, bis ich ihn entgegennahm, konnte dann aber nicht widerstehen, und im Nullkommanichts war er in meinem Bauch verschwunden. Ab da brachte sie mir jeden Tag etwas mit, mal ein Brötchen, mal einen Keks und ab und zu auch mal wieder einen Kuchen. Wir begannen, miteinander zu reden. Es war nicht die Art von Gesprächen, die Erwachsene üblicherweise mit Kindern führten, so von oben herab, sondern von ihr fühlte ich mich wirklich ernst genommen.
Wahrscheinlich hatte ich zu viel preisgegeben, denn es dauerte nicht lange, da kamen ein paar Leute zu mir nach Hause und wollten mich mitnehmen. Dabei wollte ich gar nicht weg. Zu Hause hatte ich schließlich meine Mutter und wer sollte ihr das Bier bringen, wenn ich nicht mehr da war? Wer sollte aufräumen, wer die Wäsche waschen? Und wenn sie mich mitnahmen, würde ich nie wieder schaukeln können. Also wehrte ich mich mit Händen und Füßen dagegen, trat und schlug um mich, bis mich ein paar kräftige Arme umschlangen, damit ich mich nicht mehr wehren konnte. Gegen die Erwachsenen hatte ich keine Chance. Meine Mama weinte nicht einmal, als sie mich ihr wegnahmen. Sie stand nur in der Tür und sah mir nach. Dann drehte sie sich um und schloss die Tür, noch bevor wir im Fahrstuhl verschwunden waren. Aber ich weinte dafür umso mehr.
In dem Heim, in dem ich nun untergebracht wurde, lernte ich Anna kennen. Sie war eine der Betreuerinnen und hieß mich willkommen. Schmollend antwortete ich nicht. Ich hatte mir vorgenommen, kein einziges Wort mehr zu sagen, bis man mich wieder nach Hause schicken würde, aber das war ein Trugschluss. So lange konnte ich es gar nicht aushalten, dazu waren alle viel zu nett, und als Anna mir einen Schokoladenriegel in die Hand drückte, war es mit meiner selbst gewählten Sprachlosigkeit vorbei.
Ein Arzt, der mich untersuchte, meinte etwas von starker Mangelernährung und ich sollte ihm erzählen, was ich denn so den Tag über gegessen hätte. Viel fiel mir da nicht ein und er nickte die ganze Zeit nur mit dem Kopf. Zur Belohnung, weil ich so gut mitgemacht hatte, gab er mir einen Keks.
Ab da wurde mein Leben geregelt. Es gab regelmäßige Mahlzeiten, ich musste lernen, mit anderen Kindern umzugehen, wurde in die Schule geschickt und brauchte niemandem mehr Bier holen. Im Prinzip wurde alles besser als vorher und eine Schaukel gab es dort auch. Ich bekam sogar etwas Taschengeld.
Es fiel mir wirklich schwer, mich in die Gesellschaft einzugliedern, aber ich gab mir die größte Mühe, da alle doch sehr nett zu mir waren. Anna war immer ganz besonders nett zu mir, auch wenn ich bockig war, oder wieder etwas kaputt gemacht hatte. Das passierte leider nur zu häufig, dabei wollte ich das gar nicht. Selbst wenn ich mir ganz große Mühe gab, übersah ich etwas, das dann Schaden nahm, und ich schämte mich für mich selbst.
Anna bemerkte wohl, wie stark mich das belastete, denn sie setzte sich eines Tages zu mir und erzählte mir davon, dass auch sie früher oft Dinge kaputtgemacht hatte, ohne es zu wollen. Sie hatte wohl auch Probleme mit ihrer Konzentration und das änderte sich wohl erst, wenn man älter wurde. Sie nahm mich in die Arme und sagte dann zu mir: „Alles kann man ersetzen. Nur dich nicht.“ Das fand ich wirklich schön.
Eine unserer Lieblingsbeschäftigungen war, bei schönem Wetter draußen auf dem Rasen zu liegen und den Himmel anzusehen. Die Wolken formten viele Figuren und wir überließen es unserer Fantasie, etwas darin zu sehen. Ab und zu flog auch ein Flugzeug über unsere Köpfe hinweg und ich konnte nicht anders, als dem Flieger hinterherschauen, bis er nicht mehr zu sehen war. Eines Tages wollte ich auch einmal in solch einem Flieger sitzen, und mir die Welt von oben ansehen können. Eines Tages, wenn ich groß sein, arbeiten und viel Geld besitzen würde.
Im Winter legten wir uns anstatt auf den Rasen vor dem Heim im Gruppenraum auf den Fußboden und spielten „Verkehrte Welt“. Dabei stellten wir uns vor, wir könnten an der Decke laufen, müssten über Türstürze krabbeln oder um die große Hängelampe herumlaufen. Das war immer ziemlich witzig, aber es kam nicht an das Wolkenraten heran. Immerhin versprachen die Wolken einem Freiheit. Wie schön müsste es sein, wenn die Wolken aus Watte wären und wir darin herumtoben könnten.
***
Die Schmerzen, die ich plötzlich in meinen Beinen spürte, waren beinahe unerträglich und vermiesten mir jeden Gedanken am Herumtoben. Plötzlich waren die Gedanken an die Wolken weit weg. Die Heimleiterin meinte etwas von Wachstumsschmerzen, also versuchte ich, sie zu ignorieren, auch wenn es dadurch nicht weniger weh tat. Ein paar Tage später fiel es mir immer schwerer, die einfachsten Dinge zu tun. Ich fühlte mich schwach und müde, und wenn ich in den Spiegel sah, erschreckte ich. So blass, wie ich war, konnte ich einem Geist Konkurrenz machen.
Natürlich schleppte Anna mich kurz darauf zum Arzt und der tippte auf pfeiffersches Drüsenfieber. Also war für mich strikte Bettruhe angesagt und die anderen Kinder durften auch nicht zu mir. Meine Zimmergenossin wurde in ein anderes Zimmer verlegt, bis ich wieder gesund sein würde.
Erst als sich mein Zustand nicht besserte, wurde ich an einen anderen Arzt überwiesen. Es folgten Untersuchungen auf Untersuchungen, ich wechselte vom Arzt zum Krankenhaus, verschiedene Tests wurden gemacht, und letztendlich wurde mir eine Betäubung verabreicht und etwas Knochenmark aus dem Beckenknochen entnommen.
Die Diagnose war niederschmetternd. Ich hatte Blutkrebs. Natürlich drückte sich der Arzt in Annas Beisein anders aus. Ihr gegenüber erwähnte er den Begriff Akute lymphoblastische Leukämie, doch an ihrem erschrockenen Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass das etwas sehr Schlimmes war. Das mit dem Blutkrebs erklärte sie mir später.
„Muss ich sterben?“, fragte ich sie, woraufhin sie den Arzt ansah.
„Nicht, wenn ich es verhindern kann“, erklärte er. Doch auch ich wusste, dass Ärzte nicht allmächtig waren.
Es folgten Untersuchungen, Medikamentengaben, Bestrahlungen. All das ließ ich klaglos über mich ergehen, denn ich wollte groß werden und meinen Traum wahr werden lassen. Wenn Anna mich jetzt besuchte, dann trug sie immer einen grünen Kittel und einen Mundschutz, was mir jedes Mal den Ernst der Lage vor Augen hielt. Doch ihre Besuche heiterten mich trotzdem auf. Sie erzählte mir lustige Dinge aus dem Heim und ich spann mit ihr meine Zukunft zurecht.
Wenn der Arzt mit ihr sprach, dann nur noch außerhalb meines Zimmers. Anhand ihres Gesichts konnte ich sehr gut erkennen, dass die schlechten Nachrichten offenbar nicht abrissen. Trotzdem lächelte Anna mich an, wenn sie durch das Fenster zu meinem Zimmer auf mich blickte, und erst recht, wenn sie mein Zimmer betrat.
Es war ein schöner sonniger Tag, als Anna einen Rollstuhl in mein Zimmer schob und meine Sachen packte.
„Ich habe eine Überraschung für dich“, sagte sie und lächelte mich dabei an. „Wir werden dich jetzt anziehen, und dann machen wir beide einen Ausflug.“
„Darf ich nach Hause?“, fragte ich.
Anna brauchte etwas mit der Antwort. Sie war ziemlich am Schlucken und einmal glaubte ich ein kurzes Schniefen zu hören. Sie drehte sich von mir weg, putzte sich die Nase und sah mich dann wieder an. Ihre Augen waren leicht gerötet und glänzten. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Viel besser. Wart’s ab“, erwiderte sie.
Zusammen mit einer Schwester begann sie nun, mich anzuziehen. An eine hübsche Mütze für meinen kahlen Kopf hatte sie auch gedacht. Also wollte sie mit mir nach draußen. Vielleicht würden wir ja im Park spazieren gehen, mutmaßte ich. Doch als wir draußen waren, steuerte sie auf ein Auto zu, verlud mich mitsamt dem Rollstuhl über eine Verladerampe und ein Arzt setzte sich zu mir. Jetzt war ich wirklich gespannt.
Es ging auf die Autobahn. Die Häuser der Stadt huschten nur so an uns vorbei und schon waren wir auch wieder auf einer normalen Straße. Am Rand sah ich ein großes Richtungsschild, auf dem ein Flugzeug abgebildet war. Durfte ich wirklich hoffen?
Wir folgten diesen Schildern und immer klarer kristallisierte sich heraus, dass wir auf dem Weg zum Flughafen waren. Ich strahlte. Auch wenn ich nicht fliegen würde, so konnte ich doch endlich einmal die Flugzeuge aus der Nähe sehen und hätte so noch mehr Grund zum Träumen.
Der Wagen hielt aber nicht auf dem großen Parkplatz. Er fuhr weiter, wir passierten eine Absperrung und dann hielt er vor einem kleineren Flugzeug, das auf mich aber auch schon riesig wirkte. Ich glaube, es gab nichts, was das Grinsen aus meinem Gesicht hätte radieren konnte. Mein Herz raste wie verrückt und mein Brustkasten wurde eng. Dann wurde ich über die Rampe wieder aus dem Auto geladen, und Anna schob mich in Richtung Flugzeug.
„Ist das meine Überraschung?“, fragte ich sie freudig erregt. Am liebsten wäre ich aufgestanden und selber hingelaufen, wenn ich das noch gekonnt hätte. „Ich darf mir das Flugzeug von innen ansehen?“
Anna fing an zu lachen. „Ja, aber nicht nur ansehen. Wir werden fliegen“, meinte sie und strich mir über die Schulter.
„Echt?“ Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Aber hast du denn das Geld dafür?“ Ich wusste, dass das teuer sein musste und dass das Heim für so etwas keinen Cent erübrigen konnte.
„Die haben in der Zeitung über dich berichtet und dann haben viele Menschen für dich Geld gesammelt. Sie wollen es dir schenken, damit du dir diesen Wunsch erfüllen kannst.“
Vor lauter Rührung brachte ich keinen Ton mehr heraus. Ein dicker Kloß verstopfte meinen Hals und ich kämpfte mit den Tränen. Ich wusste nicht, dass fremde Menschen, die mich niemals kennengelernt hatten, so großzügig sein konnten. Eine einsame Träne lief mir die Wange herunter und ich schniefte. Anna beugte sich besorgt über mich.
„Ist mit dir alles gut?“, erkundigte sie sich und winkte dem Arzt. Doch ich nickte, lächelte und heulte dabei nun erst richtig los.
„Das ist so toll“, brachte ich nur heraus.
Von irgendwoher zauberte sie ein Taschentuch und putzte mir die Nase.
„Dann wart’s mal ab, bis wir in der Luft sind“, sagte sie mit rauer Stimme.
Ein kräftiger Mann hob mich aus meinem Rollstuhl und trug mich die Treppe hinauf. Mein Glück kannte keine Grenzen mehr.
Wenn ich am Ärmel des Mannes vorbei schaute, konnte ich Anna und den Arzt sehen, die uns folgten.
Sorgfältig legte mir der Mann den Gurt um und zog ihn fest.
„Gut so?“, fragte er und ich nickte. Dann ging er nach vorne in das Cockpit und Anna und der Arzt setzten sich auf die Plätze neben mir.
Gespannt schaute ich aus dem Fenster. Ich hatte das Gefühl, dass sich ein großer Haufen Hummeln in meinem Bauch tummelte. Als im Flugzeug ein Brummen ertönte, wusste ich, dass es gleich losgehen würde. Meine Beine zitterten vor Aufregung und ich konnte auch meine Hände nicht mehr ruhig halten. Dann nahm das Flugzeug Fahrt auf und schon kurze Zeit später waren wir in der Luft und stiegen und stiegen.
Die Stadt wurde immer kleiner und die Wolken kamen immer näher. Dann waren wir mitten drin und noch immer stiegen wir. Aufgeregt und interessiert sah ich aus dem Fenster. Schließlich durchbrachen wir die Wolkendecke und flogen über sie hinweg. Es war ein so atemberaubender Anblick, dass ich mich gar nicht mehr davon lösen konnte. Ich konnte auf endlose Wolkenfelder blicken, blauer Himmel war um mich herum, so weit das Auge reichte. Hier war die Freiheit wirklich grenzenlos.
Anna musste mich mehrmals ansprechen, bevor ich merkte, dass sie überhaupt mit mir redete.
„Und? Gefällt es dir?“
Ich nickte lediglich, sah sie dabei aber nicht an, sondern immer noch nur aus dem Fenster. Diesen Augenblick würde ich für immer in meinem Herzen behalten. Erst jetzt sah ich Anna an.
„Es ist wahnsinnig toll!“, sagte ich und schaute wieder hinaus. Dann riss die Wolkendecke auf und ich konnte das Land unter uns sehen. Grüne und gelbe Felder waren wie kleine Rechtecke aneinandergereiht, durchbrochen von dünnen grauen Bändern. Ein blaues Band schlängelte sich durch das Land, teilte sich und floss nun in zwei dünnen Strängen auseinander. Eine Stadt, winzig klein, hockte zwischen ein paar Hügeln. Es war einfach der Wahnsinn. Ich nahm alles in mich auf. Das würde ich nie vergessen. Doch dann kam die Müdigkeit.
Sie war anders als bisher immer, zehrender. Ich konnte spüren, wie mich meine Kraft verließ und wusste, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb. Also bat ich Anna um einen Zettel und einen Stift. Ich war so dankbar für das Geschenk, das mir fremde Leute gemacht hatten, dass ich mich auf meine eingeschränkte Art und Weise dafür revanchieren wollte. Sie gab mir einen kleinen Block und einen dicken Stift, den ich mit meinen ungelenken Fingern noch so halbwegs halten konnte.
Während ich dabei war, ein großes „D“ zu malen, erklärte ich ihr stockend, dass sie diesen Zettel den Leuten zeigen sollte, denen ich meinen Flug zu verdanken hatte.
„Du kannst es ihnen noch selber sagen“, meinte sie lächelnd zu mir. „Sie werden bestimmt in der Zeitung davon berichten, wie begeistert du über ihr Geschenk gewesen bist." Ihre Augen waren wieder verdächtig rot und glänzten auch schon wieder so stark, aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Ich hatte eine Aufgabe zu erledigen.
Ich schüttelte schwach den Kopf und begann mit einem großen „A“ gleich hinter dem „D“.
„Vielleicht. Aber wenn nicht, dann gib ihnen dies“, krächzte ich. Mein Blick verschwamm etwas. Ich schüttelte den Kopf und versuchte damit, meine Müdigkeit abzuschütteln. Das „N“ zu schreiben war schon wirklich anstrengend für mich. Meine Hand fing an zu zittern und ich musste ein paar Sekunden innehalten. Dann machte ich den ersten Strich für das „K“. Es war etwas krickelig, aber ich merkte, wie mir die Zeit davonlief, also hängte ich auch die dazugehörigen Balken daran. Die Luft blieb mir weg und ich hustete. Es tat weh. Warum musste es so weh tun? Aber das war jetzt auch egal, denn ich musste vollenden, was ich begonnen hatte. Mein Herz war so gefüllt mit Dankbarkeit, dass ich sie unbedingt loswerden musste.
Der senkrechte Strich, den ich nun hinter das „K“ hängte, verlangte mir schon fast alles ab, was ich an Kraft noch aufbringen konnte. Nur noch drei kleine waagerechte Striche, dann wäre es vollbracht. Wieder hielt ich inne. Ich spürte Tränen in mir aufsteigen, dachte, dass ich es nicht schaffen würde. Doch dann fühlte ich eine Berührung auf meiner Hand, spürte, wie sie unterstützt wurde, und malte mit Annas Hilfe die letzten Striche.
Ich hatte es geschafft. Ein großes „DANKE“ prangte in dicken, blauen Filzstiftlettern auf dem kleinen Block und verschwamm nun vollends vor meinen Augen. Ich war so furchtbar müde. Rasselnd holte ich noch einmal Luft, hörte ein Klappern. Der Stift musste meiner Hand entglitten und auf den Boden gefallen sein, doch das war jetzt unwichtig, denn ich flog, flog dem Himmel entgegen und würde nie wieder landen.
Texte: Divina Michaelis
Bildmaterialien: Divina Michaelis
Tag der Veröffentlichung: 01.04.2012
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