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Der Lichterbaum




Das Lagerfeuer prasselte in der Dunkelheit und verteilte seine Wärme auf das kleine Grüppchen, das um das Feuer herum saß. Fünfzehn Augenpaare blickten erwartungsvoll auf die weißhaarige, weise Frau, die vor jeder Schlafenszeit eine Geschichte zum Besten gab. Maria goss etwas heißes Wasser auf die trockenen Blätter in der Kürbistasse, die sie anschließend der alten Frau brachte.
„Hier, Mutter unseres Volkes. In unser aller Namen, aus Dankbarkeit, dass wir unser Leben mit dir teilen können“, sprach sie, und drückte sie ihr in die Hand.
Die weise Frau, die von allen nur ‚Mutter’ genannt wurde, neigte ihren Kopf und bedankte sich. Dann nahm sie vorsichtig einen Schluck und stellte die Kürbistasse in eine passende Steinkuhle nahe beim Feuer, damit der Trank auch heiß blieb. Anschließend räusperte sie sich, und auch die letzten Flüstereien verstummten.
Mit aufmerksamem Blick musterte sie die einzelnen Personen, Jung und Alt, die sich um das Feuer versammelt hatten, um der nächtlichen Geschichte zu lauschen. Decken wurden fester um die Schultern gezogen, Füße scharrten über den Boden, wenn sie unter der Decke verschwanden, doch niemand sprach einen Ton. Erst als sie sicher war, dass sie jedermanns Aufmerksamkeit hatte, begann sie ihre Stimme zu erheben, die beinahe einem Singsang glich, und trotzdem eine Geschichte erzählte:

„Vor langer Zeit, es ist schon so lange her, dass sich kaum jemand daran erinnern kann, da war es so, dass die Erde voller Menschen war. Überall waren große Siedlungen entstanden, so groß, dass das Auge das Ende am Horizont kaum erblicken konnte. Doch die Menschen in den Siedlungen waren nicht alle von einem Stamm, sondern viele Stämme bildeten diese Orte, so unglaublich es klingen mag.“ Die alte Frau holte pfeifend Luft und beobachtete dabei die Reaktionen ihrer Zuhörer, deren Gesichter allesamt von Unglauben gezeichnet waren. Und es war ja auch kein Wunder, hatte doch in ihrer Welt jeder Stamm seine eigene Siedlung. Da jedoch keiner wagte, sich dazu zu äußern, fuhr sie fort:
„Die Leute hatten Wagen, die alleine fahren konnten, Schiffe, die größer als jede Siedlung waren, und Maschinen, die sich in den Himmel erheben, und Menschen transportieren konnten. Auch hatten beinahe alle Menschen genug zu essen, so verwunderlich es in euren Ohren klingt.
Zu dieser Zeit war die Scheibe, die ihr an manchen Tagen am Himmel sehen könnt, ein großer, heller Ball, der von oben herab schien und die Erde erwärmte. Sie nannten die Scheibe ‚Sonne’ und nutzten ihre Wärme und ihr Licht. Doch die Sonne brachte nicht nur Gutes. Durch die Geräte der Menschen, und ihr oftmals sehr sorgloses Leben, gab es oben am Himmel ein immer größer werdendes Loch, durch das auch Licht von der Sonne hindurch konnte, das die Menschen krankmachte. Einige von ihnen starben an den Folgen, aber wer nicht betroffen war, lebte sorglos weiter. Auch gab es andere Probleme, denn das Wetter wurde immer zerstörerischer, wofür auch die Menschen mit ihrem sogenannten Fortschritt verantwortlich waren.
Natürlich gab es auch einige Leute, die immer wieder den Zeigefinger hoben und mahnten, dass sie ihre Erde zerstören würden, wenn sie so weiter machten, doch nicht alle mochten darauf hören. Es wurde darüber geredet. Manche Herrscher über die Völker versuchten sogar, das Volk mithilfe von Gesetzen dazu zu zwingen, ihre Welt weniger zu belasten. Sie verboten sogar eine bestimmte Art von Lichtbringern, weil sie mehr Wärme als Licht abgaben. Dafür wurden dann Lampen eingeführt, die Licht, aber kaum Wärme brachten, und wovon einige sogar die Luft in den Häusern vergifteten. Diese sollten zwar besser sein, dennoch zweifelte das Volk und suchte nach Alternativen.
Andere Völker interessierte das alles aber überhaupt nicht, und sie lebten weiter wie bisher, sodass denjenigen, die an eine Zerstörung der Erde glaubten, schon angst und bange wurde. Doch dann kam alles anders, als sie gedacht hatten, - als alle gedacht hatten.“

Hier machte die ehrwürdige Mutter erneut eine kleine Pause, beugte sich nach vorne und nahm ihre Kürbistasse wieder in die zitternde Hand. Während sie trank, hörte sie ihre Stammesmitglieder murmeln. Wortfetzen erreichten ihre Ohren, die trotz ihres Alters noch gut funktionierten. Sie reichten von „Schöne Geschichte!“ bis „Die Fantasie ist wieder mit ihr durchgegangen.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen stellte sie die Kürbistasse zurück in ihre Kuhle, und die Stimmen verstummten. Auch wenn ihr Volk ihr nicht glaubte, so waren doch alle auf den Fortgang der Geschichte gespannt.

„Ja, es kam wirklich anders, als alle gedacht hatten. Die Erde bebte und ein großer Berg spuckte eine Unmenge an Asche in die Luft. Innerhalb weniger Tage bedeckte eine dichte Wolkendecke den Himmel, sodass kein Sonnenstrahl mehr auf den Erdboden traf. Das Licht und die Wärme, von der sich das Leben auf der Welt ernährte, war innerhalb kürzester Zeit verschwunden. Und mit ihnen verschwanden nach und nach auch immer mehr Lebewesen. Die Maschinen, mit denen die Menschen sich in den Himmel erheben konnten, funktionierten nicht mehr und ihre selbstfahrenden Wagen verstopften nunmehr die Wege auf einer Flucht, die kein Ziel hatte. Die Pflanzen verkümmerten, Tiere und Menschen starben, und es wurde dringend nach einem Ausweg gesucht. Überall lagen Leichen herum, Fäulnisgeruch war ein ständiger Begleiter der letzten Überlebenden, die da wanderten, immer auf der Suche nach einem besseren Ort.
Doch es war auch damals mit der Natur, wie es noch heute ist: Selbst wenn alles verloren scheint, sie findet immer einen Ausweg. Mit der Zeit entwickelten manche Pflanzen und Tiere die Fähigkeit, Licht auszusenden. Bäume bildeten einen gedrungenen, dünnhäutigen Stamm, und je weiter deren Wurzeln in den Boden ragten, desto heller begannen sie zu leuchten. Auf diese Art und Weise brachten sie sowohl Licht als auch Wärme an die Erdoberfläche. Das Licht, das wir heute nutzen, um unsere Felder zu bestellen, und die Wärme, die es uns ermöglicht, an jedem Tag im Jahr barfuß zu gehen.“

Die alte Frau lehnte sich erschöpft zurück. Auch wenn sie es gerne tat, so war das Erzählen für sie doch schon sehr anstrengend. Sie sah nach oben in den wolkenbedeckten Himmel. Maria kam und half ihr auf, wobei die alte Frau ihre faltigen Hände in die Decke krallte, und sie fest vor sich zusammenhielt. Dann rief ihre Begleiterin ihre kleine Tochter zu sich.
„Maike, geh schon mal voraus und schirme die Fenster ab. Mutter ist müde und möchte sicher schlafen gehen, und für dich ist es auch Zeit“, forderte sie das kleine Mädchen auf, das sich gleich davon machte.
Mit langsamen Schritten näherten sich die beiden Frauen dem Schlafhaus, die alte von der jungen gut gestützt. Nicht nur das Gehen fiel ihr immer schwerer, und die alte Frau fragte sich, wie lange sie es wohl noch machen würde. Zu alt war sie schon, und zu müde, richtig müde.
Die anderen ihres Stammes würden jetzt noch am Lagerfeuer sitzen, bis es heruntergebrannt war, sich über die Dinge der Arbeitsstunden unterhalten und im Anschluss daran in das Schlafhaus gehen, so wie sie es immer taten. Maria dagegen brachte sie jetzt ins Bett und gleich danach auch ihre Tochter. Erst dann würde sie sich wieder zu den anderen gesellen.
Kaum lag ihr Kopf auf dem Strohkissen, tastet die alte Frau mit ihrer Hand darunter. Als ihre Hand das fand, was sie suchte, schloss sie ihre Finger darum und lächelte. Sie musste sich nicht ansehen, was darunter lag, sie kannte es schon in- und auswendig. Es war ein Foto. Ein Bild von ihr an einem sonnigen Tag, mit ihrem Mann vor ihrem Auto, damals, vor vielen, vielen Jahren, zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort. Sie drehte sich auf den Rücken, immer noch das Bild in der Hand. Auch wenn die anderen sie manchmal für wirr hielten, sie wusste es besser. Aber das war jetzt auch egal, denn sie war wirklich müde.

Und draußen, vor dem Lichterbaum, stand die kleine Maike und betrachtete ihn nachdenklich. Sie hatte sich aus dem Bett geschlichen, kaum dass ihre Mutter das Schlafhaus verlassen hatte. Ihr Blick wanderte zu den dichten Wolken, unter denen glühende Insekten schwirrten, und wieder zurück zum Baum. War die Geschichte der ehrwürdigen Mutter wirklich wahr?
Nachdenklich schlich sie sich zurück und stellte sich vor das Bett der alten Frau. Sie sah ihr Lächeln, blickte dann auf den Arm, der schlaff aus dem Bett hing. In der Hand hielt sie etwas. Maike bückte sich danach und hielt es dann in den Spalt des Vorhangs, durch den ein Strahl des Lichterbaums drang. Es war wie hartes, aber sehr dünnes Leder, nur war es nicht wirklich Leder. Außerdem war es leicht brüchig, mit einem Bild darauf. Sie sah eine lächelnde Frau und einen Mann, der sie verliebt ansah, umgeben von Helligkeit, blauem Himmel und grünen Bäumen. Mit dem, was sie darauf sah, konnte sie nicht besonders viel anfangen, doch sie begriff eines ganz genau. Das Mädchen ging zurück zum Bett, legte der alten Frau das Bild auf den Bauch und faltete deren Hände darüber.
„Ich werde deine Geschichte bewahren, und sie an meine Kinder und Kindeskinder weitergeben. Schlaf gut, Mutter!“, sagte sie, und drückte der lächelnden, toten Frau einen Kuss auf jedes Auge.


Impressum

Texte: Divina Michaelis
Bildmaterialien: Divina Michaelis
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2011

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