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Seit ich mit vier Jahren feststellen musste, dass der Weihnachtsmann nicht existiert, war ich Realistin.
Stellen Sie sich mal vor: Da knutscht doch der rotgekleidete Typ mit dem Rauschebart einfach meine Mutter ab. Ich saß auf der Treppe und hab es genau gesehen. Das Theater, was ich daraufhin veranstaltete, war dermaßen groß, dass der Mann sich genötigt sah, seine Tarnung auffliegen zu lassen. Wie sich dann herausstellte, war es mein Vater, den ich da vor mir hatte. Das nahm mir sämtliche Illusionen und seitdem glaubte ich nur an das, was sich wirklich beweisen ließ. Wobei ich das Verb ‚glauben’ später sowieso aus meinem Wortschatz verbannte. Glauben hieß schließlich nicht Wissen, was auch meinem Leitsatz entsprach.
Sobald ich alt genug war, selbst zu entscheiden, trat ich aus der Kirche aus. Warum sollte ich für etwas bezahlen, was es eh nicht gab? Wer machte so etwas? Na gut, es gab genug Leute, wie ich immer wieder sehen konnte, die für ihren Glauben sogar gerne bezahlten. Diese Menschen habe ich nie verstanden.

Bezüglich meiner Berufswahl können Sie sich vielleicht vorstellen, was ich mir ausgesucht habe. Nicht? Na gut, ich sag es Ihnen: Ich bin Finanzbeamtin geworden. Dort ist alles festen Regeln unterworfen, untersteht Recht und Gesetz. Dieser Beruf machte mir wirklich Spaß. Ich hatte feste, geregelte Arbeitszeiten, nette Kollegen und ich konnte auf diese Art unglaublich viele Einblicke in das Leben anderer Menschen nehmen. Was verriet schon mehr über die Leute, als ihr Geld und wie sie es verwendeten?

Jedenfalls hatte ich wieder einen interessanten Arbeitstag hinter mir und ich freute mich auf einen gemütlichen Abend bei mir zuhause. Es war dunkel, mitten im Dezember, ging auf Weihnachten zu, und ich war anscheinend die Einzige, die nicht hektisch durch die Gegend rannte, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Um dem Stadtrummel zu entgehen, entschloss ich mich, den schlecht ausgeleuchteten Schleichweg zwischen den Häusern durch zu nehmen. Gerade mal ein paar Meter war ich gegangen, war noch in Gedanken am Überlegen, was ich mir zum Abendbrot machen sollte, als ich einen starken Stoß spürte, der mich umwarf. Ich knallte mit dem Kopf auf das harte Pflaster, hörte es knirschen und dann wurde es schwarz vor meinen Augen.

Als ich aufwachte, war alles dunkel um mich herum. Nicht mal einen Hauch von Licht konnte ich entdecken. Das war echt blöde, denn ich hatte inzwischen einen Mordshunger und wusste nicht einmal, wo ich war. Hier roch es komisch, was mir sagte, dass ich nicht zuhause war. Im Krankenhaus konnte ich auch nicht sein, denn dort war es niemals vollkommen dunkel. Oder war ich blind? Das müsste sich relativ leicht feststellen lassen.
Langsam fuhr ich mit der Hand tastend durch die Gegend, um vielleicht irgendwo einen Lichtschalter oder etwas in der Art zu entdecken. Nichts. Vorsichtig richtete ich mich in dem Bett auf, in dem ich lag, betastete meinen Kopf. Der fühlte sich aber an wie immer. Nein, nicht leer! Was denken Sie sich eigentlich? Er war heil, ohne Beule oder irgendetwas in der Art. Kopfschmerzen hatte ich auch keine, obwohl nach so einem Knirschen schon etwas in der Art zu erwarten gewesen wäre. Schlecht war mir schon, aber das kam mit Sicherheit von meinem Hunger.
Das Bettzeug raschelte, als ich es beiseite schob und meine Füße über die Kante schwang. Unter meinen Füßen war etwas Weiches, also verlagerte ich mein Gewicht darauf und zog sie wieder erschrocken hoch, als dieses Etwas aufjaulte und nach meinen Füßen schnappte. Wieso lag ein Hund vor meinem Bett?
Instinktiv griff ich nach unten, ursprünglich in der Absicht, die Fußhupe zu beruhigen. Wobei ich kleine kläffende Hunde nicht wirklich mochte, was dann auch meine folgende Reaktion erklärte. Ich griff dem Tier in den Nacken, zog es hoch und schlug meine Zähne in seinen Hals, bis das Jaulen verstummte und ich einen leblosen Haufen Pelz in meinem Schoß hatte. Puh! So etwas hatte ich noch nie gemacht. Aber wenigstens war es jetzt ruhig. Und zu meiner Überraschung war mein Hunger verschwunden. Nichtsdestotrotz wollte ich schon wissen, wo ich war.
So langsam schienen sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt zu haben, denn jetzt konnte ich immer klarere Umrisse sehen.
Das Bett, in dem ich lag, war einigermaßen groß, genauso wie das Zimmer. Die Einrichtung zeigte einen Geschmack, der mir einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Geblümte Gardinen hingen vor den Fenstern und die Möbel schienen allesamt aus Eiche rustikal zu sein. Wer richtete sich heute bitte schön noch mit Gelsenkirchener Barock ein? Brrr. Ich schüttelte mich.
Mein Blick fiel auf das Fellknäuel in meinen Händen. Ein Pekinese mit Zöpfchen im Haar. Grausig. Wie konnte man Hunde nur so verunstalten? Aber auch egal, es war ja nicht meiner. Ich musste die Besitzerin ausfindig machen. Wahrscheinlich würde ich ihr einen neuen kaufen müssen, dieser war ja nun irgendwie nicht mehr zu gebrauchen. Leid tat es mir um ihn aber nicht. Warum auch? Schließlich wollte er mich beißen. Ich habe mich nur gewehrt.
Mit dem Hund in der Hand stand ich nun endgültig auf und verließ das Zimmer.

Im ganzen Haus war die Einrichtung altbacken. Das erinnerte mich an meine Oma, die mittlerweile, genau wie der Rest meiner Familie, gestorben war. Als ich die Treppe runter ging, hörte ich hinter einer Tür komische Geräusche, weshalb ich diesen folgte. Der Anblick, als ich die Tür öffnete, ließ mich erstarren. Da knabberte doch ein wirklich, wirklich gut aussehender Typ an dem Hals einer wirklich, wirklich alten Dame herum. Igitt! So etwas sollte verboten werden. Das war ja beinahe Leichenschändung. Oder stand er etwa auf Frauen, die schon mit einem Bein im Grab standen? Die Frau war doch mindestens neunzig.
Bevor ich den beiden noch beim Sex zusehen musste, was wahrscheinlich gleich folgen würde, schloss ich entsetzt die Tür und ließ den Hund auf den Boden fallen. Ich musste unbedingt nachhause. Doch ich kam keine zwei Schritte weit, als mich eine Stimme zurück rief. Ich drehte mich um und in der Tür stand der Mann, bei dessen Anblick einem die Beine weich werden konnten.
„Halt Prinzessin, wo willst du hin?“ Sein Blick drückte Neugierde aus.
„Nachhause. Wie auch immer ich hierher gekommen sein mag, danke für die Übernachtung, aber ich muss jetzt gehen“, sagte ich überzeugt. Ich musste ihm ja nicht auf die Nase binden, dass ich ihn beim Herumschmusen mit der Alten beobachtet habe.
„Nachhause wirst du im Moment nicht gehen können“, sagte er knapp und ohne weitere Erklärungen.
„Und warum nicht?“, fragte ich genervt. Brauchte der Perversling etwa Zuschauer bei den komischen Spielchen mit seiner Geliebten?
„Die Sonne geht gleich auf!“, sagte er, als ob das alles erklären würde.
Ich stemmte meine Hände in die Hüften. „Ja. Und?“
„Und du verträgst kein Sonnenlicht.“
Was für ein krankes Hirn steckte bloß hinter diesem hübschen Gesicht. Lachhaft. Wieso sollte ich kein Sonnenlicht vertragen? Ich zuckte mit den Schultern und ging zur Haustür. Probehalber drückte ich den Türdrücker herunter. Es war nicht abgeschlossen, also gab es hier nichts, was mich aufhalten könnte. Doch bevor ich die Tür öffnen konnte, war er schon bei mir und drückte dagegen. Mist! Mit ihm hatte ich nicht gerechnet.
„Bist du blöd?“, fuhr er mich an. „Ich sagte gerade, dass du kein Sonnenlicht verträgst und du spazierst nach draußen, als hättest du nichts gehört.“
Das wurde mir hier echt zu bunt. „Wer bist du eigentlich, dass du glaubst, mir Vorschriften machen zu können?“, schnauzte ich ihn an. Das schien ihm nicht zu gefallen. Kann ich ja irgendwo verstehen, aber würden Sie sich Vorschriften von so einem dahergelaufenen Clown machen lassen? Na ja, ein gutaussehender Clown, aber trotzdem. Ich tat es jedenfalls nicht. Zumindest hätte er sich mal vorstellen können, damit ich weiß, mit welchem Blödmann ich es zu tun habe.
„Ich bin dein Schöpfer“, sagte er überzeugt, was mich dazu veranlasste, in Lachen auszubrechen.
Das war einfach unglaublich. Er schien so davon überzeugt, Gott zu sein, dass ich einfach nicht aufhören konnte, zu lachen, während sein blasses Gesicht immer verkniffener wurde.
„Was hätte ich denn tun sollen?“, fragte er. „Du hast da auf der Straße gelegen und wärst an deinen Verletzungen gestorben, wenn ich dich nicht zu meinesgleichen gemacht hätte.“ Seine Stimme war ziemlich frostig und wenn es nicht so unglaublich gewesen wäre, hätte ich deswegen sicherlich aufgehört zu lachen. Stattdessen löste sein Beharren darauf bei mir immer stärkere Lachanfälle aus, dass mir bereits Tränen in den Augen standen und mein Bauch wehtat. Jetzt war er also nicht nur Gott, sondern ich auch noch seine Göttin, oder was?
„Das ist nicht witzig“, zischte er. „Aber du scheinst das nicht zu verstehen. Vielleicht wäre es besser gewesen, dich einfach sterben zu lassen.“
„Das wäre unterlassene Hilfeleistung gewesen, großer Schöpfer!“, machte ich ihn gehässig auf das geltende Gesetz aufmerksam. Anhand meiner Betonung von „Großer Schöpfer“ musste er eigentlich erkennen, wie lächerlich seine Antwort war, doch er schien daran nichts Lächerliches zu erkennen.
Er stieß genervt die Luft aus und fuhr sich mit der Hand durch seine dunklen Locken.
„Du kannst mich Aidan nennen. Großer Schöpfer wäre auf Dauer zu lang und auch unnötig. Wir beide sind nun von gleicher Art“, entgegnete er.
Ja sicher! Langweiler! Und was ist das überhaupt für ein komischer Name? Der Mann sah deutsch aus und redete auch so, wenn es auch teilweise etwas geschraubt klang. Seine Eltern mussten eine Vollmeise gehabt haben, als sie ihm den Namen verpassten. Oder aber sie wussten, wie er werden würde. Dann war dieser merkwürdige Name natürlich angebracht.
„Du bist echt ein komischer Kauz, Aidan. So jemand wie du ist mir noch nie begegnet.“
„Oder du weißt es nur nicht mehr. Leute wie wir haben das Talent, das Wissen um unsere Anwesenheit aus den Gehirnen der anderen zu löschen.“
Leute wie wir – sein Gefasel ging mir ganz schön auf den Zeiger.
„Ich bin nicht wie du. Und mir reicht es jetzt auch. Ich gehe nachhause und du wirst mich nicht daran hindern können!“ Damit schob ich ihn von der Tür weg und öffnete sie. Er sperrte sich nicht weiter dagegen.
Draußen dämmerte es bereits. Wenn ich mich beeilte, würde ich es noch nachhause schaffen und könnte mich frisch machen, bevor ich wieder zur Arbeit gehen musste. Meine Kollegen würden mir nie glauben, was mir diese Nacht passiert war. Also würde ich es ihnen gegenüber auch besser nicht erwähnen.
In Gedanken war ich bereits wieder ein paar Stunden voraus. Ich ließ die Tür mit ein paar Schritten hinter mir und war bereits fast am Gartentor angelangt. Wieder drang seine Stimme zu mir.
„Hey Prinzessin.“ Ich stockte im Schritt und wartete.
„Darf ich wenigstens noch deinen Namen erfahren, bevor du gehst?“
Ich drehte mich noch einmal zu ihm um und sah in seine wundervollen blauen Augen. Schade, dass der Typ so verrückt war. Mit dem hätte sonst echt was laufen können.
„Katja. Katja Brenner“, antwortete ich.
„Es hat mich gefreut, dich kennen zu lernen, Katja Brenner. Und sollte es dir doch zu hell werden, du weißt ja, wo du mich findest.“
„Ich komm schon klar“, sagte ich überzeugt, schließlich liebte ich die Sonne. Dann drehte ich mich wieder zurück, um weiterzugehen, als mich der erste Sonnenstrahl dieses Tages traf. Die Haut brannte, meine Augen schienen vollkommen geblendet zu werden, ein stechender Kopfschmerz fuhr mir durch den Schädel und ließ mich fast kraftlos zusammensinken. Was für ein mieser Migräneanfall. Ich muss wohl doch mehr bei dem Aufprall mitbekommen haben, als ich dachte. Mühsam kroch ich mehr, als dass ich ging, zum Haus zurück, dessen Tür sperrangelweit und einladend offen stand. Erst als ich im Schatten des Hauses war, ging es mir wieder besser, zumindest was meinen körperlichen Zustand anging. Mein seelischer war dagegen ziemlich angeschlagen, weil der dämliche Aidan mit ineinander verschlungenen Armen hinter der Tür stand, ein selbstzufriedenes Grinsen auf dem Gesicht.
„Hab ich es dir nicht gesagt?“
„Ja, leg noch den Finger in die Wunde!“, giftete ich ihn an. „Und was nun?“
„Da du nicht raus kannst, bis es sich bewölkt oder die Sonne untergeht, würde ich vorschlagen, dass du hier bleibst und mir ein bisschen Gesellschaft leistest, Katja. Sie …“, und dabei zeigte er in Richtung Küche, „… ist nicht wirklich die Passende für mich.“
Hier musste ich ihm zwar zustimmen, aber immerhin hatte er sich ihre Gesellschaft selber ausgesucht. Noch immer rieb ich mir meine Schläfen. Der Migräneanfall war zwar so schlagartig verschwunden, wie er aufgetreten war, aber leichte Kopfschmerzen hatte ich immer noch.
„Woher kennst du sie eigentlich?“, fragte ich ihn, damit ich nicht nur dämlich in der Gegend herumstehen musste. Ich hasste es, wenn Leute beieinander waren und sich nur anschwiegen.
„Bis gestern Abend kannte ich sie gar nicht. Aber nachdem ich dich umgeworfen hatte, als du mir in den Weg ranntest, brauchte ich einen Ort, wo ich dich von deinen Verletzungen genesen lassen konnte. Da kam mir die Frau, die ihren Hund Gassi geführt hatte, gerade recht.“
„Und auf die Idee, mich ins Krankenhaus zu bringen bist du nicht gekommen?“ Mein Tonfall war ziemlich vorwurfsvoll. Immerhin war er an meinem Unfall schuld, wenn ich ihn recht verstanden habe. Und wenn man es genau nahm, war es auch überaus leichtsinnig, mich in irgendeinem Haus unterzubringen, als unter ärztliche Aufsicht zu stellen. Ich hätte mir ja sonst was getan haben können.
„Dann wärst du gestorben!“ Jetzt kam er wieder mit dieser alten Leier an. Er schien einen ziemlichen Heldenkomplex zu haben. Glaubte er wirklich, er könnte mehr ausrichten, als ein Arzt? Offensichtlich schon, denn jetzt packte er seine umfassenden medizinischen Kenntnisse aus.
„Du bist mit dem Kopf auf einen Kantstein aufgeschlagen, der dir den Schädel zertrümmert hat. Außerdem hast du viel Blut verloren. Die Ärzte hätten gar nichts mehr machen können.“
Ich schlang meine Arme ineinander und nickte. Ja klar. Wenn er es glaubte …

Waren Sie schon einmal in so einer Situation, wo Ihnen jemand etwas erzählt hat und davon so überzeugt war, dass sie dachten, der muss dringend eingewiesen werden? Ich hatte hier nur die Wahl, ihm zu sagen, dass ich ihm nicht glaubte und mir damit seinen Unmut zuzuziehen, oder ich stimmte erst einmal allem zu, ließ ihn in dem Glauben, dass das, was er sagte wahr wäre, und sobald ich die Gelegenheit hatte, würde ich das Weite suchen. Ich entschied mich für letztere Möglichkeit. Wer weiß, was er sonst mit mir machen würde, wenn ich ihn reizte.
„Gibt es hier ein Telefon?“, wollte ich wissen und sah mich suchend um.
„Wen willst du anrufen?“ Ah ja, neugierig der Herr.
„Ich muss nachher wenigstens bei der Arbeit anrufen und Bescheid sagen, dass ich heute nicht komme.“
„Dann kannst du denen auch gleich sagen, dass du gar nicht mehr kommst.“ Prima, nicht nur, dass der Mann einen Heldenkomplex hatte, jetzt meinte er auch noch, mir vorschreiben zu können, wie ich mein weiteres Leben verbringen sollte.
„Ich muss arbeiten. Meine Arbeit ist wichtig. Außerdem muss ich mich ja von etwas ernähren“, murrte ich angesäuert. Jetzt war er es, der anfing zu lachen. Was hab ich denn so Komisches gesagt?
Nachdem er sich wieder etwas eingekriegt hatte, fragte er mich mit gespieltem Ernst: „Was arbeitest du denn so Wichtiges?“
Ich warf mich in die Brust, schließlich war meine Arbeit wirklich notwendig. Das gesamt Land hing an der Effektivität meiner Tätigkeit und der meiner Kollegen.
„Ich arbeite beim Finanzamt“, bekundete ich stolz. Jetzt fing er wieder an zu lachen, lauter als vorher, und ich schob beleidigt meine Unterlippe vor. „Meine Arbeit ist wirklich wichtig. Oder meinst du, das Geld für die Aufgaben unseres Staates wächst an den Bäumen?“
So plötzlich, wie er angefangen hatte zu lachen, verstummte er auch wieder.
„Du bist ein Vampir, ein Blutsauger!“ Dann stieß er sich von der Wand ab und verschwand hinter der Tür, hinter der ich die Alte vermutete.
„Das ist Beamtenbeleidigung!“, schrie ich ihm hinterher. Ich war richtig sauer. Warum musste er so etwas sagen? Dabei hatte ich ihm doch gar nichts getan.
Natürlich waren Finanzbeamte nicht immer gut angesehen, trotzdem gab es doch keinen Grund, deswegen gleich ausfallend zu werden.
Ich hieb mit der Faust gegen die Wand, um meinen Frust wenigstens irgendwie loszuwerden. Doch womit ich nicht gerechnet hatte war, dass die Wände in diesem Haus ziemlich instabil waren. Durften in Deutschland Häuser gebaut werden, in die man mit bloßer Faust Löcher hineinschlagen konnte? Ich musste das unbedingt mal in der Bauverordnung nachlesen. Vielleicht konnte die alte Dame noch im Nachhinein die Baufirma verklagen, ansonsten würde ich ihr den Schaden ersetzen müssen.
Apropos alte Dame. Schon wieder hörte ich die Geräusche, wegen denen ich vorhin in die Küche gegangen bin. Es klang ein bisschen wie ein Schlürfen. Bah, war das eklig. Ich stellte mir vor, wie er schon wieder bei der Frau am Hals hing und sie ableckte – oder was auch immer er mit ihr machte. Grausige Vorstellung. Und diese hielt mich dann auch davon ab, noch einmal in die Küche zu platzen.
Ich gähnte herzhaft und sah mich dann erst einmal um. Da wir drei hier anscheinend ganz alleine und zwei von uns miteinander beschäftigt waren, machte ich mich selbst auf die Suche nach einem Telefon. Die Vermutung lag nahe, dass es im Wohnzimmer war, also steuerte ich auf die, der Haustür gegenüberliegende, Tür zu. Mit meiner Vermutung lag ich genau richtig, denn dahinter befand sich tatsächlich das Wohnzimmer mitsamt dem Telefon. Wieder ein Gähnen. Das durfte doch nicht wahr sein. Dabei hatte ich doch gerade erst geschlafen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es heller Tag war und es wirklich keinen Grund gab, schon wieder schlafen zu gehen. Der Blick auf die Uhr verriet mir aber auch, dass ich jetzt jemanden im Amt erreichen konnte, sodass ich mich auf das geblümte Sofa setzte und endlich dort anrief.
Auch während des Gesprächs war ich pausenlos am Gähnen, was beim Reden ziemlich hinderlich war. Trotzdem schaffte ich es, mich halbwegs so zu artikulieren, dass sie dort verstanden, dass ich heute nicht zur Arbeit kommen würde. Die Antwort bekam ich aber irgendwie nicht mehr mit.

Als ich erwachte, dämmerte es. Etwas irritiert faltete ich mich auseinander. Natürlich faltete ich mich nicht wirklich auseinander, aber es fühlte sich irgendwie so an, weil ich auf dem Sofa ziemlich zusammengesunken war. Dann schaute ich auf den Telefonhörer, den ich immer noch in der Hand hielt. Ach ja, ich erinnerte mich, ich hatte telefoniert, als mich plötzlich ein Anfall von Müdigkeit überkam. Ich war einfach so auf dem Sofa zusammengesackt, ohne aufzulegen. Schon komisch, was solch ein Schlag auf den Kopf noch einen Tag später für Auswirkungen haben konnte. Ich überlegte, ob ich Aidan auf Schmerzensgeld verklagen sollte. Das war eine wirklich verlockende Vorstellung.
Ich war so vertieft in die Betrachtung des Telefonhörers, dass ich gar nicht gesehen hatte, dass Aidan im Sessel neben mir saß und mich betrachtete. Sein Räuspern ließ mich zusammenfahren.
„Na, ausgeschlafen?“ Seine Frage war eigentlich mehr eine Feststellung.
„Danke auch, für den Schreck am Abend. Ich denke, mir reicht es jetzt. Die Sonne ist auch weg, also kann ich ja wohl endlich nachhause gehen“, sagte ich knatschig.
Aidan wiegte seinen Kopf hin und her, schüttelte ihn dann.
„Erst muss ich dir noch zeigen, wie du dir Nahrung beschaffen kannst, ohne großen Schaden anzurichten. Anschließend kannst du aber gerne nachhause gehen, wenn das dein Wunsch ist“, erklärte er.
Hä? Nahrung beschaffen?
„Also bisher bin ich dazu immer in einen Supermarkt gegangen, hab mir was zu essen geholt, es bezahlt und dann mit nachhause genommen. Eine eigentlich ziemlich einfache Form der Nahrungsbeschaffung, findest du nicht?“, erwiderte ich, schon wieder leicht genervt. Doch er schaffte es, mich zu überraschen, indem er mir zustimmte.
„Alles klar! Lass uns in einen Supermarkt gehen. Ich bin gespannt, wie du das ganze handhaben wirst.“
„Du hast noch nie jemandem beim Einkaufen zugesehen?“
„Doch, schon. Aber ich möchte es speziell bei dir sehen“, meinte er mit einem leicht schiefen Lächeln.
Okay. Ein Mann möchte mir beim Einkaufen zusehen. Nicht gerade alltäglich, vielleicht ein bisschen pervers, aber wenn so die Chance bestand, ihn so von seinem Schöpfertrip herunter zu bekommen, würde ich das in Kauf nehmen.
„Bevor wir losgehen, wirst du dich aber noch einmal umziehen müssen.“
Ich sah an meinen Sachen herunter. Wieso? Damit war doch alles in Ordnung.
„Und das muss ich, weil …?“
„Weil deine Sachen von hinten voller Blut sind. Ich weiß ja nicht, wie du sonst unter die Leute zu gehen pflegst, aber ich bevorzuge saubere Kleidung. Ansonsten wirkt man zu auffällig.“
Hm, na gut. Dass die Sachen mit Blut bekleckert waren, war natürlich möglich. Aber es widerstrebte mir, Klamotten von der Alten anzuziehen. Andererseits wollte ich so schnell wie möglich wieder nachhause. Außerdem sollte ich endlich etwas essen. Mein Magen meldete sich schon wieder.
„Na gut, ich zieh mich um. Kannst du die Frau inzwischen mal fragen, ob ich einen kleinen Snack haben kann?“
Von seinem Kopfschütteln war ich ziemlich überrascht.
„Die Frau wurde von mir schon genug beansprucht, und ihren Hund hast du ja bereits gehabt. Wir werden schon außerhalb etwas essen gehen müssen“, erklärte er seine Ablehnung.
Was sollte das denn schon wieder heißen? Dass sie mir nichts geben wollte, weil ich ihren Hund umgebracht habe? Na ja, nett war das sicher nicht und ich konnte sie auch irgendwo verstehen. Immerhin hatte die mir Logis gegeben und ich bringe zum Dank ihren Köter um die Ecke. Also stiefelte ich widerspruchslos die Treppe hoch und suchte mir etwas aus dem Kleiderschrank, was so gerade eben passen könnte.
Als ich mich ausgezogen hatte, sah ich erst, dass mein komplettes Oberteil voll war mit getrocknetem Blut. Es war so viel, dass ich mich schon wieder aufregte, dass Aidan mich nicht ins Krankenhaus geschafft hatte. Ich hätte an dem Blutverlust sterben können. Umso erstaunlicher war es eigentlich, dass es mir schon wieder so gut ging. Ich fuhr mit der Hand über meinen Hinterkopf. Vor allem war es erstaunlich, dass ich nicht einmal eine schorfige Wunde spüren konnte. Aber ich hatte ja schon immer gutes Heilfleisch.
Achselzuckend zog ich die Sachen von der Ex-Hundebesitzerin über, suchte mir noch eine Jacke aus dem Schrank und ging nach unten, wo Aidan bereits auf mich wartete.

Wir gingen zusammen in den Supermarkt, doch obwohl ich mit knurrendem Magen durch die Gänge lief, konnte mich nichts dazu animieren, es zu kaufen. Es war ein komisches Gefühl, Hunger zu haben, aber kein Appetit. Aidan lief dafür die ganze Zeit grinsend neben mir her. Was der wohl wieder dachte. Als wir durch die Kassen waren, fragte er mich: „War nichts dabei? Ich dachte, du hast Hunger.“ Ich schüttelte den Kopf. Dabei fiel mein Blick auf einen Hund, der draußen vor dem Supermarkt angebunden war. Schon wieder so ein Kläffer. Und richtig, er sah mich und fing an zu bellen.
Ehe ich es mich versah, war ich schon bei ihm, hatte ihn beim Genick gepackt und schlug ihm meine Zähne in die Kehle. Endlich war Ruhe. Als ich aufsah, stand Aidan neben mir und sah mich lächelnd an.
„Was?“
„Na, das ist natürlich auch eine Methode“, antwortete er amüsiert.
„Hey, die Viecher nerven mich. Auf die Art sind sie wenigstens ruhig!“, behauptete ich. Ich stand auf und setzte mich in Richtung meiner Heimat in Bewegung. Aidan folgte mir und zog eine Augenbraue hoch. „Nerven dich Kinder auch?“
„Nein, aber Männer manchmal, wenn sie doofe Fragen stellen!“
„Ich frage nur, damit du nicht irgendwann größeren Schaden anrichtest. Ein paar Hunde sind zu verkraften. Menschen solltest du dagegen nicht gefährden.“
Also der Typ ging mir echt auf den Keks. Wieso sollte ich Menschen gefährden?
„Irgendwie sprichst du in Rätseln. Kannst du das Ganze noch mal näher erläutern?“
„Du bist ein Vampir“, setzte er an, doch ich unterbrach ihn ärgerlich.
„Nun reite doch nicht immer auf meinem Beruf herum. Ich weiß, dass manche Menschen Finanzbeamte nicht sonderlich gerne sehen, aber wir nehmen den Menschen nicht nur Geld weg, sondern wir geben ihnen auch etwas wieder. Mich also als Vampir zu bezeichnen, ist wirklich mehr als frech!“
Irgendwo im Hintergrund, ich glaube, es kam vom Supermarkt, hörte ich einen lauten Aufschrei. Eine Frau heulte und jammerte immer wieder „Hasso! Hasso, nein! Wach auf!“ Wir hatten es beide gehört und es lenkte uns kurz ab. Aidan grinste.
Keine Ahnung, was es dabei zu grinsen gab, aber offensichtlich amüsierte ihn die ganze Situation. Dann kam er dicht an mich heran, öffnete seinen Mund direkt vor meinen Augen und zeigte mir ein paar spitze Eckzähne.
„Ich meinte, du BIST ein Vampir, wie ich! Als solcher brauchst du Blut.“
Ich war jetzt so verblüfft, dass ich den Mund hielt, auch noch, als sich sein Gesicht wieder von mir entfernte. Doch dann platzte es aus mir heraus: „Es gibt keine Vampire!“
„Na klar doch!“, erwiderte er und verdrehte die Augen. „Und meine Zähne sind lediglich eine kosmetische Veränderung.“
„Gut, dass du es zugibst. Dann brauch ich dir das wenigstens nicht mehr vor die Nase halten. Außerdem hast du mir vorher erzählt, du wärst Gott.“
„Ich hab lediglich gesagt, ich wäre dein Schöpfer. Alles andere hast du dir nur zusammengereimt.“
Ich nickte. Ja klar. Er wechselte seine Geschichten wie ich meine Unterhosen. Heute Morgen war er noch Gott, dann ein Held und heute Abend ein Vampir. Was wird er wohl morgen sein? Und das Schlimme war, dass er seine Wahnvorstellungen auch auf mich übertrug.
Komischerweise schien er mir meine Zweifel angesehen zu haben, denn er stand nun direkt vor mir, packte mich an den Schultern und zwang mich, ihm tief in die Augen zu sehen.
„Hör mal“, meinte ich lakonisch, „diese Hypnosenummer brauchst du gar nicht mit mir abziehen. Ich reagiere da sowieso nicht drauf.“
Verblüfft ließ er mich los und fuhr sich wieder mit der Hand durch die Haare.
„Ich hatte nicht vor, dich zu hypnotisieren. Ich wollte dir lediglich erklären, was los ist. Aber da du ja anscheinend alles besser weißt, kann ich dich genauso gut ziehen lassen, Katja.“
„Na endlich!“, rief ich erfreut aus. „Dann kann ich endlich nachhause gehen und diese ganze surreale Situation hinter mir lassen.“
Wir waren nicht mehr weit von meiner Wohnung entfernt und ich erwartete eigentlich, dass er mich nun alleine lassen würde, aber er begleitete mich bis zur Haustür.
„Nur für den Fall der Fälle“, sagte er und reichte mir eine Karte. Ist ja Wahnsinn. Ein Gott/Held/Vampir mit Visitenkarte. Es stand aber nichts weiter darauf als sein Name und eine Handynummer. Zuhause würde ich sie gleich in meine Visitenkartensammlung stecken. Dort dürfte sie, zusammen mit den ganzen anderen, die ich auch nie benötigte, ein wundervoll ungenutztes Leben führen. ER wäre bestimmt der letzte, den ich anrufen würde.
Ich wollte mich gerade zur Tür wenden, als er noch einmal seine Hand auf meine Schulter legte.
„Auch wenn du das alles nicht glaubst, überleg dir mal, warum du so ein verändertes Wahrnehmungsvermögen hast, warum Sonne dir schadet, warum Kälte dir nichts mehr ausmacht und warum du die Kraft hast, eine Wand einzuschlagen. Und dann frag dich mal, warum du, nachdem du einen Hund gebissen hast, satt bist. Wenn du für das alles eine logische Erklärung hast, dann wirst du mich nie wieder sehen.“
Ich grinste ihn an. „Ist gut! Und Tschüß!“ Dann ging ich durch die Tür und ließ einen verblüfften Mann vor der Tür stehen. Seine Ausführungen waren absolut lächerlich. Ja, ich konnte besser sehen und hören, und dass ich heute Morgen bei kaltem Wetter ohne Jacke vor die Tür gegangen war, fiel mir auch erst jetzt wieder ein. Es stimmte, dass ich dabei nicht gefroren hatte. Das alles konnte man mit dem Schlag auf den Kopf erklären. Ich hatte zwar noch nie gehört, dass so etwas auch positive Auswirkungen haben könnte, aber warum muss denn immer alles ins Negative gehen? Vielleicht hat der Schlag ja Areale im Kopf aktiviert, die bis dahin nie genutzt worden sind. Die Migräne durch die Sonne ließ sich auch durch den Schlag erklären, das Loch in der Wand war mit Sicherheit eine Folge von Konstruktionsmängeln und Hunde mochte ich noch nie besonders gerne.
Würden Sie sich einfach so einen Mist einreden lassen? Vampire gibt es nicht, und damit basta!

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Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2011

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