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Hunger!
Jede Faser meines Körpers bestand nur aus diesem einen, einzigen, zermürbenden Gefühl.
Pappbrötchen, Pappkartoffeln mit Pappfleisch, Pappgemüse und Pappsoße war das letzte, was ich im Flieger hätte zu mir nehmen können. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass es im chinesischen Luftraum anscheinend mehr Luftlöcher als Einwohner Pekings zu geben schien, hatte ich die Finger wohlweißlich vom Pappfoot gelassen. Außerdem konnte ich nicht wissen, welche Auswirkungen das Zeug, rückwärts genossen, auf die eigens dafür bereitgestellte Papptüte haben könnte.
Aufgrund der kulinarischen Askese ähnelte mein Magenknurren nun Tiefseeähnlichen Geräuschen.
Die folgende Stunde Autofahrt, von Peking bis Quing dao, einer Stadt nahe der Küste, verlängerte meine Magenwände um einen weiteren halben Meter. Zum ersten Mal in meinem Leben stellte ich mir die Frage, warum mein jüngerer Bruder ausgerechnet eine Chinesin hatte heiraten müssen. Und warum er mit ihr nach China gegangen war? Und warum es hier überall Fahrradfahrer und stinkende Mopeds gab? Und warum zum Teufel im Land des Lächelns niemand lächelte!?
Aber diese Fragen wollte ich doch lieber in gesättigtem Zustand eruieren. Zumal mir die Vision einer riesigen gebratenen Ente nicht aus dem Kopf, dafür aber in den Magen wollte.
Sching, Schang, Schong. Aus allen Richtungen. Jede Menge, nach Jasmin müffelnde Kleidungsstücke, in die meine Nase nach der Ankunft zur Begrüßung hineingedrückt wurde, um sie gleich darauf ins nächste asiatische Textil zu befördern.
Ich hatte Familie Ling (nach der Heirat in Deutschland hieß meine Schwägerin Lang), samt meinem Bruder Sven nebst Frau Yin, seit vier Jahren nicht mehr gesehen. Und so begrüßte ich Yin Lang ganz lang, bis sich herausstellte, die Tochter irgendeines Onkels umarmt zu haben. Was mir Sven aber verzieh, worauf er mich der rechtmäßigen Yin Lang, sowie dem Rest der Familie vorstellte.
Mein Magen gab inzwischen nur noch seltsame Schrubbgeräusche von sich.
Aber wenigstens war ich zum ersten Mal im Land des Lächelns angelächelt worden – ganz lang.
„Wie sieht`s aus?“ Sven rieb sich nach nicht enden wollender Begrüßungszeremonie erwartungsvoll die Hände. „Hunger?“
In Erwartung der knusprigen Ente, die sich hoffentlich gleich aus meinem Kopf irgendwo hier im Raum materialisieren würde, nickte ich geschwächt.
„Dann lasst uns aufbrechen! Ming Ling lässt einen Springen.“
Das klang wenig vertrauenserweckend. „Was!?“
„Mein Schwiegervater gibt einen aus. Wir gehen essen.“
„Ahh!“
Beruhigt, nichts Schlimmeres ertragen zu müssen, ließ ich mich in einen der vielen Wagen verfrachten, die uns endlich zu dem ersehnten Restaurant bringen sollten.

„Was heißt das?“ Ich deutete auf die goldenen Schriftzeichen über der Tür, die auch das Ergebnis betrunkener, mit Farbe bepinselter Hühnerfüße hätten sein können.
„Flöhliche Molgensonne“, übersetzte Yin Lang, worauf sie aufgeregt kicherte. Warum, wusste ich nicht. Vielleicht, weil man im Land des Lächelns auch mal kicherte, wenn man noch mehr lächeln wollte. Oder länger?
Das Restaurant glich eher einem Supermarkt mit Stewardessen. Zu beiden Seiten erwarteten sie uns am Eingang, mit einheitlichen Uniformen, Gesichtern, Frisuren und lächelten, während sie uns lautstark begrüßten. Ich lächelte zurück, unsicher, was sie da wohl von sich gaben. Aber vermutlich wollten sie einfach nur nett sein.
Chinesisch nett.
Im Land des Lächelns.
„Weiter durch!“ Sven schob mich tiefer in den Raum, gefolgt vom Rest der Jasminmuffsippe. „Ming Ling hat einen Tisch reserviert!“
Was durchaus einen echten Sinn machte, wenn er auch erfolgreich einen „Springen“ lassen wollte. Der Flughafen konnte durchaus als verlassen bezeichnet werden, im Vergleich mit dem hier vorherrschenden Tumult.
Um die runden, von gackernden Chinesen belagerten Drehtische, wuselten Köche, Gäste, und Bedienpersonal in gleicher Anzahl wild durcheinander. Als hätten sie aus den Pfannen gehüpfte chinesische Enten wieder einzufangen. Vielleicht machte man das ja so im Land des Lächelns.
„Dahin!“ Sven steuerte mich, mit den Händen meine Schultern umgreifend, auf den letzten freien Drehtisch zu. Genau gegenüber dem Buffet, was mir ein ehrliches Lächeln ins Gesicht drückte. Die gebratene Ente konnte nicht mehr weit sein. Ich hörte sie schon förmlich danach flehen, sie alsbald mit brauner Bohnensoße, Sojasprossen und Cashewkernen zu verspeisen…
Quack, Quack!
Oder machten chinesische Enten vielleicht Quong, Quong?
Egal.
Hauptsache das Tier in krossem Zustand über meinen Teller hinweg in den Magen.
Höflich, wie ich mich auch im Land des Lächelns gab, blieb ich sitzen, bis sich die komplette Lotusblüte am Tisch versammelt hatte. Ich zwischen Sven und Yin, Ming Ling mir gegenüber, der sich theatralisch erhob, irgendeinen Schingschang über den Tisch näselte, um dann, von verhaltenem Applaus begleitet, stolz zum Buffet zu schreiten.
Allein.
Ohne Teller!
Was mich irgendwie stutzig machte.
Aber da ich mit chinesischen Essgewohnheiten nicht vertraut war, machte ich mir keinerlei ernsthafte Sorgen. Ming Ling lässt einen Springen hatte ja auch bedrohlicher geklungen, als dessen wahre Bedeutung letztendlich offerierte. Bestimmt kehrte der Gelbmann gleich mit einem riesigen Tablett voller knusprig gebratener Enten zurück.
Tat er nicht.
„Sollten die uns nicht mal langsam die Speisekarte bringen?“, zischte ich Sven unter vorgehaltener Hand zu.
„So was gibt’s hier nicht.“
„Wie?“
Sven deutete in Richtung Buffet. „Ming Ling hat gerade alles für uns ausgesucht. Wird frisch zubereitet. Dauert nicht lang.“
„Nicht lang?“
„Nein, Yin Lang. Frühere Ling.“ Eine Handbewegung zu seiner Frau, die daraufhin zurückwinkte und meinte: „Bis Essen kommt, tlinken will Leiswein zusammen.“ Dann klatschte sie in die Hände. Sofort umgarnte uns eine kleine Legion Kellnerinnen, natürlich lächelnd, mit Porzellankannen und winzigen Schälchen bewaffnet.
„Hiel wil sagen: Gan bei. In Deutschland man sagt: Plost!“, posaunte Yin Lang stolz, als jedem eingeschenkt war.
„PLOST!“, trötete der Pulk zurück, wonach nur noch schlürfende Geräusche über den Tisch wehten.
Beinahe hätte ich den Leiswein wieder zurück in die Schale gespuckt. „ßßßßßß!!! Verdammt!!! Das Zeug ist ja heiß!“ Ein Vulkan eruptierte zeitgleich in meinem Magen.
Sven schlürfte einen weiteren Schluck über die Lippen. „Klar doch. Was hast denn du gedacht?“
„Zumindest an keinen Terroranschlag auf meine Zungenspitze.“ Ein weiterer, vorsichtiger Schluck ließ meine Muskulatur in Flammen aufgehen. Und mich mehr lächeln, als es im Land des Lächelns erforderlich gewesen wäre. „Puh. Das Zeug haut aber rein!“
„Und macht ordentlich Appetit!“ Sven ließ sich nachschenken, und prostete dann in Richtung Buffet. Ich folgte seinem Blick und starrte zu der Batterie Metallschalen hinüber, in denen ich in einer von ihnen immer noch die ersehnte Ente erhoffte. Vor lauter Hunger, der sich mit den alkoholischen Vorzügen des Leisweins paarte, hatte sich mein Blick schon leicht getrübt, sodass ich die winzige Bewegung in einer der Schalen erst nach mehrmaligem Hinsehen bemerkte.
„Hast du das gesehen?“ Mit einem Stoß in Svens Rippen erlangte ich die nötige Aufmerksamkeit.
„Was gesehen?“
„Da am Buffet. In den Schalen. Da bewegt sich was.“
Er sah mich an, als hätte ich sie nicht alle auf dem Zaun. „Klar!“
„Wie, klar?“
„Hörst du mir nicht zu? Ich sagte doch, wird alles frisch zubereitet.“
Wo ich nichts gegen einzuwenden hatte. Nur das, was sich da in einer klaren Flüssigkeit pulsierend bewegte, hatte nicht im Entferntesten etwas mit einer Ente gemeinsam. Dafür aber mit dem, was Enten nach ausgiebiger Nahrungsaufnahme wieder hintenrum von sich gaben. Nur heller, glänzender und lebendiger.
„Seedarm“, kommentierte Sven meinen Blick in das entsprechende Gefäß. In dem Moment fischte ein Koch ein gutes Dutzend der sich schlängelnden Würmer heraus, warf sie auf ein Brett, und begann, die Enden abzuhacken, sowie die Inhalte herauszupressen.
„Um Gottes Willen!“
Die noch zuckenden Dinger wurden zerteilt, in einen Wok befördert, um kurz darauf in einer Schale zusammen mit seltsamem Grünzeug auf unserem Drehtisch zu landen. Ein Ruck, und die Platte setzte sich in Bewegung, worauf die Sippe wie wild mit ihren Stäbchen auf die glibberigen Wurmfragmente einstach, sobald die Schale unter ihren Nasen vorbeirauschte.
„Man man qi, man man qi!“, gackerte der Pulk durcheinander, was wohl soviel wie guten Appetit hieß.
Der Anblick ließ meinen Magen Gasblasen erzeugen, die sich rasch vermehrten, als ich mit ansah, wie der Koch jetzt Krötenähnliche Kreaturen Bauchseits aufschnitt und auseinanderfaltete. Die knisternden Geräusche, welche die in Fett ausgelassenen Dinger im Anschluss erzeugten, knatterten wie Sperrfeuer durch die Lokalität. Krötenfürze, dachte ich, das sind postmortale Krötenfürze.
Wenig später kreiselten die Mini-Aliens in einer gusseisernen Pfanne auf unserem Tisch, von wo aus sie einen unangenehmen Geruch verströmten. Dazu gesellten sich im Minutentakt weitere undefinierbare Lebewesen, gedünstet, geröstet, frittiert, oder schlimmstenfalls noch zappelnd, die in chinesisch lächelnden Mündern zermalmt wurden.
Ich lächelte zurück, während sich die Tischplatte endlos weiter drehte, drehte, drehte…
„Schang, wang, pang?“ Oder so ähnlich. Jedenfalls fragte das eine der lächelnden Kellnerinnen. Weil ich in den hinter Schlitzen versteckten Augen keinerlei Ausdruck erkennen konnte, nickte ich einfach.
Daraufhin wurde Leiswein nachgeschenkt, der nicht mehr länger um meine Freundschaft buhlen musste. Dann nickte sie, dann nickte ich, dann nickte sie, und wieder ich, der Leiswein dampfte, die Tischplatte drehte sich und abschließend lächelten wir das Lächeln des Landes. Ich leerte die Schale in einem Zug.
„Schang, wang, pang?“
Aber natürlich!
Nicken, nicken, nicken, nicken, drehen, lächeln…
„Haben keinen Hungel?“ Ming Ling beugte sich über den Drehtisch, etwas Dickes Braunrotes zwischen den Stäbchenspitzen geklemmt, womit er mir vor dem Gesicht herumfummelte. Nachdem das Ding ein unappetitliches Knacken von sich gegeben hatte, pladderte ein dunkler Tropfen von ihm auf den Drehtisch, von wo aus er nun seine Karussellfahrt begann. „Müssen plobielen! Leckel, leckel!“
Ich winkte ab und bat Sven, mir wenigstens eine Schale Reis zu besorgen, um die vom Leiswein beflammte Leere in meinem Magen zu entlasten. Er schüttelte den Kopf. „Reis gilt als Sättigungsmittel für arme Leute. Das würde Ming Ling nie zulassen.“
Wie intolerant dem Westen gegenüber. Dann würde ich lieber verhungern, als eines der tropfenden Knackdinger zu verspeisen. In einer Beinahetrance folgte mein Kopf der Drehbewegung des Tisches.
„DAS musst du aber wenigstens probieren!“ Sven klatschte in die Hände, als sich eine Kellnerin mit einer weiteren Schale zu uns an den Tisch lächelte.
"Übersetzt heißt das Gericht: Besoffene Shrimps.“
Serviert wurden in Alkohol eingelegte Shrimps, die sich, noch recht fidel, in der hochprozentigen Flüssigkeit wanden.
„Schang, wang, pang?“
„Schütt ein!“
Nicken, nicken, drehen…
Nach einer knappen Minute bewegten sich die Viecher immer träger. Wahrscheinlich waren sie zu dem Zeitpunkt schon über eine Alkoholvergiftung hinaus. Mir wurde klar, wenn ich mich weiterhin von Leiswein ernährte, würde ich ebenfalls als „besoffener Schrimp“ enden. Aber zumindest als ein lächelnder!
Plötzlich, wie auf ein geheimes Kommando, langten alle der versammelten Lotusblüten nach den Krabbeltieren, und stopften sie sich in die Münder. Ming Ling grinste, während ein kurzes Fühlerpaar scheinbar flehend über seine Lippen kratzte, bevor es endgültig hinter chinesischen Zähnen verschwand. „Volzüglich! Leckel, leckel!“
Ein kräftiger Griff an den Unterarm der Kellnerin mit dem Leiswein ließ sie begreifen, die Kanne an meiner Seite zu lassen. Ich fühlte mich zwar schon so, als hätte ich die halbe Reisernte Chinas versoffen, aber für den Fall, noch grausigere Dinge mit ansehen zu müssen, wollte ich mir die Option einräumen, die Erinnerung daran auf der Stelle töten zu können.
Dann ein Aufschrei.
Jetzt tranchieren sie die Kellnerin, dachte ich.
Alle Köpfe wirbelten in die Richtung aus der der Ruf gekommen war. Ein junger Koch stand schreckensstarr vor einem der Metallbottiche. Den Finger im Mund, die Augen (für seine Verhältnisse) weit geöffnet, die Mütze segelte zu Boden.
„In der Schale ist die Schnappschildkröte“, kommentierte Sven die Situation. „Die Viecher sind zwar lecker, aber absolut bissig, wenn man nicht höllisch aufpasst!“ Der Erklärung folgte ein breites Grinsen, das seinen Kopf beinahe in zwei Hälften zu spalten drohte.
Schnappschildkröte?
Die braten uns gleich eine Schnappschildkröte???
„Schang, wang, pang“, sagte ich zu mir selbst und goss nickend nach. Ex und hopp. Inzwischen schien sich alles, was sich in den auf dem Tisch befindlichen Schalen befand zu bewegen. Für einen Moment glaubte ich sogar, eine der im Alkohol verbliebenen Schrimps winke mir zu. Ich kniff die Augen zusammen, und als ich sie wieder öffnete, streckte mir der Schrimp den Stinkefinger entgegen. Als wolle er mich verhöhnen, ihn verschmäht zu haben.
Ein weiteres blinzeln; der Schrimp war verschwunden, alles wieder gut…
„Alles klar mit dir?“ Sven wedelte mir mit der Hand vor dem Gesicht herum.
„Was? Ja, natürlich. Klar!“
„Du siehst blass aus.“
Ein Blick in die Runde.
Niemand kaute.
Wo war der Schrimp?
Donnernder Applaus. Der Schnappschildkrötenkoch näherte sich dem Tisch, ein Pflaster um den Finger, die Mütze schief auf dem Kopf. Aus der flachen Schale, die er vor sich trug, qualmte und knisterte es mächtig. Zwei Herzschläge später kreiselte der kleine Ninja-Turtle, der gerade eben noch seinen Zubereiter hatte verspeisen wollen, im Uhrzeigersinn vor unseren Augen. Zur Dekoration (oder wahrscheinlicher, auch zum Verzehr) hatte man Seeigel um die Schnappschildkröte drapiert. Die schwarzen Stacheln wiesen wie Lanzen in alle Richtungen.
Schnell gönnte ich mir einen kräftigen Schluck direkt aus der Leisweinkanne. Ohne zu nicken, ohne zu lächeln.
„Schildklötenfleisch gut fül männliche Potenz!“, schwärmte Ming Ling, übersetzte die Erklärung in seine Landessprache, worauf sämtliche der weiblichen Anwesenden zu grunzen begannen. Geschickt stoppte er die Drehplatte mit seinen Stäbchen, den dampfenden Turtle direkt vor sich. Mit spitzen Fingern lupfte der den Panzer. Eine dichte Rauchschwade verpuffte in der Luft, worunter grünlich schillernde Brocken zum Vorschein kamen. Die Seeigelstacheln vibrierten bedrohlich.
„Und weil Schildklöte Höhepunkt von chinesische Essen…“, Ming Ling lies seine Stäbchen über seinem Haupt kleisen (kreisen), „…dalf unsel deutschel Gast zuelst davon plobielen!“ Wieder hob Beifall an, unter dem Ming Lings Stäbchen die Platte wieder in Bewegung setzten.
Ja, jetzt ließ er richtig einen Springen!
Benommen kippte ich den letzten Rest Leiswein direkt aus der Kanne über den Knorpel, um sie dann - zu meiner Verteidigung - in der Faust zu umklammern. Nur für den Fall, falls der Turtle es auch auf meinen Finger abgesehen hatte. Denn wenn das Tier bereits zu Lebzeiten ein überdimensioniertes Aggressionspotenzial aufgewiesen hatte, wozu mochte es da erst in gegartem Zustand fähig sein?
Der Turtle näherte sich unaufhaltsam über drei Uhr.
Ich erhob mich unter den erwartungsvollen Blicken der Anwesenden, die Kanne fest in der Hand, was der Kellnerin wohl signalisierte, Nachschub zu bringen.
Turtle auf vier Uhr.
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie eine neue Leisweinkanne neben mir platziert wurde.
Fünf Uhr.
Nur noch wenige Zentimeter, und Ming Ling würde den grausigen Fraß direkt vor mir stoppen.
Mit seinen Stäbchen.
Im Land des Lächelns.
Leckel, leckel.
Und dann zwackte mich irgendwas hinten am Hals.
Großer Gott. Der verschollene Schrimp! Er würde sich in mir verbeißen. Rache für sein Verschmähen nehmen. Oder einfach nur seine Kumpels rächen wollen.
Mit der freien Hand wischte ich mir übers Genick. Der Teller vor mir, auf sechs Uhr. Turtle rauchte noch sanft. Die Seeigel zitterten. Irgendwas hatte meine Hand vom Hals in die Schale befördert. Und ohne zu zögern rammte ich die Kanne hinterher, in der Hoffnung, wenigstens dem verdammten Schrimp den Garaus zu machen.
Ich traf den Tellerrand.
Schräg hinaufschnellend, katapultierte er alles auf ihm befindliche in die Höhe, bis er im Anschluss selber emporstieg, um irgendwo im Raum zu zerschellen. Die Seeigel schossen wie übergeschnappte Dartpfeile umher. Einige hagelten in die Rigipswandverkleidungen, andere prallten als Querschläger davon ab, und blieben in Haaren oder Kleidungsstücken hängen. Der Schildkrötenpanzer vollzog mehrere Drehungen durch die Luft, bevor er sich wie ein Halbschalenhelm auf Ming Lings Schädel festsetzte.
„Nich schlimm, nich schlimm“, hörte ich Yin Lang rufen, die die Scherben vom Boden klaubte. „Schaben blingen Glück!“
Um Himmel Willen, dachte ich, jetzt fahren die gleich auch noch gekochte Kakerlaken auf.
„Das heißt Scherben. Nicht Schaben!“, korrigierte Sven.
„Ah, natüllich. Schelben. Hihihi… Abel Schaben können will auch zubeleiten lassen!“
Ich schwankte.
Ming Ling klopfte den Fingerknöchel gegen seinen gewaltsam aufgesetzten Helm. „Klötenpanzel nicht gal gekocht!“
Alles drehte sich.
Ming Lings Frau zog sich einen Seeigel aus der Bluse, der sie genau in Höhe der Brustwarze getroffen hatte.
Und dann wurde es dunkel um mich herum, im Land des Lächelns…

Ich erwachte im Krankenhaus. Zustand nach Alkoholvergiftung. Leisweinabusus. Und einem gewaltigem Mückenstich, hinten am Hals. Sobald ich Reisefähig war, ließ ich mich ohne Umwege in den nächsten Flieger nach Deutschland verfrachten. Nie wieder China, nie wieder chinesisches Essen, und nie wieder lächeln!
Man man qi…


Impressum

Texte: Cover (c) Dirk Radtke 2010
Tag der Veröffentlichung: 02.02.2010

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