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Deng, Deng, Deng…
Der Klang der Totenglocke wehte blechern über das Friedhofsgelände. Schritte knirschten über den Kiesweg. Nieselregen setzte ein, stoßartige Windböen peitschten die Baumkronen auseinander, wirbelte Herbstlaub auf, welches wie auseinanderpreschende Vogelschwärme durch die Luft schoss. Die Wolkendecke hing wie Blei am Vormittagshimmel, schien die Sonne in einem düsteren Mantel ersticken zu wollen.
Deng, Deng, Deng…
Der Pastor in feuchtglänzendem Talar vorweg, stolperte der Alte den Trägern hinterher. Drei an jeder Seite des Eichensarges, in dem sie seine Frau zur letzten Ruhe gebettet hatten. Auf seidenem Kissen mit passender Decke, sah sie aus, als schliefe sie. Die Augen geschlossen, die Gesichtszüge entspannt, eine furchtbare, niederschmetternde Illusion, die ihren Mann seit ihrer Aufbahrung immer wieder zurück in die grausame Realität getreten hatte.
Man hatte die Leichenblässe dezent überschminkt, die Haare gelegt und die Hände über der Decke gefaltet. So hatte Karl sie häufig schlafend gesehen, wozu er sich immer wieder die Frage gestellt hatte, was wäre, wenn der Schlaf sich in den Zustand der Endgültigkeit verwandelte.
Jetzt war er in die Situation gedrängt worden, sich darüber Gedanken zu machen.
Deng, Deng, Deng…
Ein tiefer Seufzer entfuhr seiner Kehle, schwermütig, aber zugleich erleichtert, seine Frau vor dem Tode nicht leidend zu wissen. An jenem schicksalsreichen Morgen war sie mit den Worten aufgestanden, sie werde auf ihn warten. Noch bevor er erklären konnte, an dem Tag keinerlei Unternehmungen vorzuhaben, brach ihr Blick. Für einen Moment, der sich in eine Ewigkeit auszudehnen schien, starrte er sie fassungslos an. Hoffend, das aufkeimende Gefühl von Panik nur als eine Täuschung begreifen zu müssen. Ihm war klar, dass der Tod im Alter von sechsundachtzig Jahren nahezu stündlich seine Hand nach ihnen ausstrecken konnte. Nur der tatsächliche Moment kommt immer überraschend und unerwartet – egal an welchem Tag, zu welcher Stunde.
„Ellchen, was hast du? Geht’s Dir nicht gut?“ Die Fragen verklungen sinnlos in seinen Ohren, als sie leblos vornüber in seine Arme stürzte. Seine schwachen Glieder schafften es nicht, ihr Gewicht zu halten; nur den Aufprall beider sanft zu mindern.
So hatte sie noch eine lange Zeit auf ihm gelegen, von seinen Armen eng umschlungen, während ihm Tränen aus den Augen liefen, und ihr Körper auf dem seinen langsam erkaltete.
Deng, Deng, Deng…
Der Weg führte vorbei an hochgewachsenen Rhododendronbüschen deren Blätter im Wind raschelten. Außer Karl gab es niemanden, der an der Beerdigungsfeier in der Kapelle teilgenommen hatte - weder Angehörige oder Kinder. Die vielen Freunde, die ihnen in guten und schlechten Zeiten beigestanden hatten waren vor ihnen gegangen.
In der Ferne erkannte Karl die von Efeu umwucherte Grabstätte, die er vor geraumer Zeit hatte errichten lassen. Die Grundsteinlegung fand an einem strahlenden Sommertag statt. Die Arme umeinander gelegt, wussten sie, dass einer von ihnen die Gruft zuerst belegen würde, und im Geheimen hatte er sich immer gewünscht, seine Frau vor ihm gehen zu sehen, da er vermeinte, mit der Trauer, sowie der anschließenden Einsamkeit besser umgehen zu können als sie. Sie hätte es nicht verdient um ihn zu weinen.
Jetzt, da sich sein Wunsch erfüllt hatte, war er sich nicht mehr so sicher, die Zukunft wie erhofft bestreiten zu können. Schließlich war er nur ein Jahr jünger als die Verstorbene, und die Agilität damaliger Zeiten war zu einem Minimum geschrumpft. Die Vorstellung, die verbleibenden Tage seines Lebens alleine verbringen zu müssen, verpasste ihm einen Stoß in die Magengrube.
Deng, Deng, Deng…
Die Totenglocke blies ihren bitteren Klang nur noch dünn herüber. Sie hatten die Gruft erreicht. Die massiven Flügeltüren standen weit geöffnet. Im Inneren dominierte der von ihm bestellte Kranz. Davor waren im Halbkreis einige Kerzen drapiert worden, die im Windzug unruhig flackerten. Schwerer Liliengeruch erfüllte die Luft. Während Karl vor dem Eingang den Platz neben dem Pastor einnahm, brachten die Sargträger Ellchens letztes Ruhebett hinein und stellten es behutsam zu Boden. Dann streiften sie ihre weißen Handschuhe von den Fingern und legten sie daneben. Stillschweigend verbeugten sie sich vor dem Sarg, und verließen hintereinander die Gruft.
Karl wurde bewusst, der geliebten Ehefrau, mit der er fast sechzig Jahre seines Lebens geteilt hatte, für immer Lebewohl sagen zu müssen. Ob er wollte oder nicht.
„Lassen Sie es gut sein.“ Er legte dem Pfarrer die Hand auf den Arm, der eine kleine Bibel aus dem Talar förderte, um einige Zeilen daraus vorzulesen.
Der Pastor nickte verständnisvoll. „Möchten Sie gehen? Soll ich die Gruft für Sie schließen?“
Karls Blick heftete sich auf den Sarg. „Nein, das ist nicht nötig. Ich will noch einen Augenblick alleine bei meiner Frau bleiben. Wenn das geht…?“
„Selbstverständlich.“ Noch ein zuvorkommendes Nicken, dann ließ er Karl alleine. Einen tiefen Atemzug später kniete er neben dem Sarg, spürte die Kälte des Bodens in seine Glieder kriechen, welche die Endgültigkeit der Situation untermauerte. „Ach, mein liebes Ellchen. Wenn du wüstest, wie trostlos es ohne dich geworden ist…“
Wie zur Antwort klapperte etwas am Eichenholz. Leise, metallisch, ganz dicht am hinteren der eisernen Griffe. Karl kniff die Augen zusammen und blickte in Richtung des Geräusches. „Das gibt es doch gar nicht…“ Erstaunt tastete er nach dem Gegenstand, Ellchens Ehering, der am Verschluss des Sargdeckels befestigt worden war. Als er danach griff, um ihn zu lösen, schwang der Sargdeckel geräuschlos zur Seite auf…

„Herrgott, wann lässt das verdammte Sauwetter endlich nach?!“ Carsten schwang die Schaufel über die Schulter und setzte sich in Bewegung. Regen tropfte ihm aus den Haaren. „Da schickt man ja keinen Hund vor die Tür.“
„Kannste laut sagen!“ Sein Kollege zog den Kragen enger. „Nur die blöden Friedhofgärtner müssen dran glauben!“
„Nicht mit mir! Ich werf noch einen Blick in die Gruft, und dann geh ich ins Trockene!“
„Gute Idee!“
Sie näherten sich dem Gebäude. „Hast du die Tür offen gelassen? Wenn das der Wärter gesehen hätte, hätten wir gleich unser eigenes Grab schaufeln können.“ Carsten gab einen vorwurfsvollen Blick von sich.
„Ich war nicht mal in der Nähe der Gruft. Geschweige denn drinnen. Also hab ich die Tür nicht aufgelassen!“
Carsten blickte zuerst hinein. „Gottgütiger! Was ist denn hier passiert?“ Sein Kollege schob sich um ihn herum und öffnete die andere Flügeltür. „Sieh!“
Im geöffneten Sarg lagen zwei alte Menschen. Eng umschlungen, als seien sie erst vor wenigen Minuten eingeschlafen. Nur die völlige Bewegungslosigkeit zeugte von deren Tod.
Und ein sanftes Lächeln umspielte ihrer beider Lippen.


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Tag der Veröffentlichung: 08.01.2010

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