Der Spielplatz spottete jeglicher Beschreibung, ihn überhaupt als solchen zu bezeichnen. Aus einer grobkörnigen, von Blättern und Erde durchzogenen Sandfläche ragten drei einstmals Buntgestrichene Kletterstangen, nebeneinander in verschiedenen Höhen eingelassen, wie umgedrehte U´s. Die Farbe war abgeblättert, wonach pickelige Rostschichten das Eisen erobert hatten. In vier Metern Entfernung stand eine ebenso baufällige wie abrissbereite Rutsche, deren Fläche Dellen und Krater wie nach mehreren Meteoriteneinschlägen aufwies. Selbst das dümmste Kind würde sich nicht trauen, auf dem Ding nur ein einziges Mal herabzurutschen. Um die wenigen Bänke, die rings um die Katastrophe vor sich hin rotteten, war es nicht besser bestellt. Das spröde, rissige Holz versprach jedem einen fetten Splitter in den Hintern zu pflanzen, sofern er es wagte, auch nur einen Moment darauf Platz zu nehmen. Wildes Gestrüpp, welches den einstmals schön angelegten Spielplatz umsäumte, wuchs ungestutzt zwischen den Lehnendielen hindurch. Kinder spielten hier schon lange nicht mehr.
Lukas bewegte sich vorsichtig auf den Alten zu, der sich im üppig wuchernden Gras niedergelassen hatte. Das Foto in seiner Linken zitterte.
„Was willst du? Mir einen dämlichen Vortrag darüber halten, dass ich meinen verdammten Arsch hier nicht zu parken habe?“ Der Alte spuckte aus. “Kannste dir knicken! Ich kenne meine Rechte. Das hier ist ein öffentliches Gelände, auf dem sich jeder aufhalten darf, solange und sooft er will!“ Erneut auf den Boden gespuckt. „Sogar ein Penner wie ich!“
Die unerwarteten, feindseligen Worte ließen Lukas zusammenzucken. „Ich hatte nicht vor –“
„Was willst du von mir?“
„Ich…“ Lukas hielt inne, sich fragend, ob er das Foto dem abgerissenen Typ überhaupt zeigen sollte, dessen Augen bereits über Kreuz zu glotzen schienen. „Haben Sie dieses Mädchen vielleicht gesehen?“ Er hielt ihm zögernd das Bild hin.
Der Alte stieß einen zischenden Rülpser zwischen dunkel belegten Zähnen hindurch, die Augen vom Alkohol wässrig getrübt. Sein Blick fiel von Lukas Gesicht hinab auf das Foto. „Nein.“
„Tut mir leid, wenn ich Sie belästigt habe.“ Die Hand mit dem Foto weggezogen, sah Lukas sie im nächsten Augenblick von der des Alten umklammert. „Hey, was soll denn –“
„Zeig noch mal her!“ Dreckige Finger, unter deren Nägeln krustiger Belag wucherte, nestelten das Foto an sich. Lukas wehrte sich nicht, das Bild seiner Hand zu entlassen, bevor es gewaltsam zerriss. Es gab nur dieses aktuelle eine.
Der Alte kniff die Augen zusammen, worauf sich die dicht wuchernden Brauen zu einem einzigen, haarigen Streifen vereinten. Dann schüttelte er den von verfilzten Haaren bewachsenen Kopf. „Wer ist die Kleine?“
„Meine Tochter. Such sie seit gestern.“ Lukas kämpfte gegen eine Flut aufbrandender Tränen.
„Ist sie weggelaufen?“
Schulterzucken. „War die ganze Nacht weg. Wollte…“ Lukas spürte die Vibrationen seines Körpers, als ihn die Unfassbarkeit der Dinge einholte - die Realität von etwas Unbegreiflichem. „Wollte um sechs zu Hause sein. Ist von ihrer Freundin pünktlich fortgegangen…“ Es schüttelte ihn ob der Worte, die er auszusprechen hatte. „…aber nicht zu Hause angekommen.“ Kraftlos ließ er sich vor dem Alten in der Hocke nieder.
„Ich brauch wohl nicht fragen, ob du alle Bekannten, Verwandte und Freunde angerufen hast?“
„Das hab ich. Die ganze Nacht durch!“
„Polizei?“
„Natürlich! Hey, wollen Sie mich für doof verkau–“
„Bleib doch ruhig!“
„Aber –“
„Ich will dich nicht für doof verkaufen!“
„Es hörte sich aber –“
„Wie heißt du?“
„Was?“
„Ich bin Georg. Und du?“
Alkoholgeruch wehte Lukas entgegen, zusammen mit einer Mischung aus Fäkalien und etwas säuerlich Ranzigem. „Lukas.“
Georg reichte das Foto zurück. Sein Mantel, ein von Dreckkrusten überzogener, rissiger Fetzen. „Sie erinnert mich an meine Tochter. Die wachen Augen. Das verschmitzte Grinsen auf den Lippen…“ Ein nachdenkliches Lächeln umspielte seine spröden Lippen, als ob eine seit Jahren zurückliegende Erinnerung durch sein Gedächtnis hindurchführe. „Katrin hatte die gleichen Augen. Die gleichen…“
„Katrin?“
Georg kramte eine Bierdose aus einer zerschlissenen Plastiktüte hervor, die er andächtig betrachtete, bevor er sie knackend öffnete. „Meine Tochter.“ Die Dose ungelenk an die Lippen geführt und einen kräftigen Schluck genommen. Schaum quoll aus den Mundwinkeln.
„Haben Sie noch Kontakt zu ihr?“ Lukas betrachtete den Alten, dessen Oberkörper elliptisch kreiste.
„Sie ist tot!“
Worauf er nichts zu entgegnen wusste. Er kannte den Mann nicht, weshalb er ihm keinen persönlichen Trost spenden konnte. Und abgedroschene Phrasen herunterzuleiern…
Georgs Blick ging ins Leere. „Schlimme Geschichte. Lange her. Wurde von einem Kerl aufgegriffen, direkt nach der Schule. Wie er sie geködert hat, kann ich mir bis heute nicht erklären. Ich habe ihr immer wieder eingebläut, nicht mit Fremden mitzugehen.“ Ein weiterer Schluck aus der Dose. Der von Dreck verschmierte Finger wischte eine Träne aus dem Augenwinkel. „Drei Wochen hab ich nach ihr gesucht. So wie du. Mit einem Foto. Gewartet. Gesucht. Leute befragt. Keiner wusste was. Keiner hatte sie gesehen. Bis die Polizei…“ Er schluchzte, winkelte die Beine an, Arme und Stirn auf die Knie gesenkt. Die Bierdose glitt aus seiner Hand. Schäumend blubberte die Flüssigkeit heraus, und versickerte im Erdreich. „Die Polizei hat sie gefunden. Keinen Kilometer von meinem Haus entfernt. In einem See. Misshan…“ Und dann fiel er in sich zusammen, wie ein durchnässter Haufen Sand. Die Hände zitterten über den Unterschenkeln, während er, vom Weinkrampf geschüttelt, die Stirn über die Arme scheuerte.
Lukas rann eine Träne über die Wange, die sich heiß in seine Haut brannte. Des Alten Emotionsausbruch ließ ihn nicht unberührt. Er konnte nachfühlen, was in ihm brodelte. Was er in dem Moment der Schreckensbotschaft empfunden hatte.
„Du musst kämpfen!“ Georgs Kopf fuhr urplötzlich hinauf, die Augen starr auf Lukas gerichtet.
„Was!?“
„Sieh mich an! Sieh mich verdammt noch mal an!!“ Er deutete auf sich, auf seinen, in schmierige, zerfetzte Lumpen gekleideten, Körper. „Was siehst du?“
Lukas schluckte die Wahrheit hinunter, worauf er ratlos die Schultern zuckte.
„Einen heruntergekommenen Penner! Richtig?“ Der Alte richtete die leer gelaufene Bierdose auf. „Du kannst es ruhig sagen. Ich weiß, wie ich rüberkomme!“
„Aber das Aussehen –“
„Ich hab nicht gekämpft, als ich vom Tod meiner Tochter erfuhr. Hab mich hängen lassen. Hab mich Gott-Verdammt-Noch-Mal hängen lassen!!“ Die Dose zusammengeknüllt und gegen die Rutsche geworfen. Vom blechernen Knall aufgescheucht, stieß ein Vogel aus dem anliegenden Gesträuch. „Verflucht, ich hab mich so hängen lassen…“ Georg schüttelte den gesenkten Kopf, während Lukas ihn verwirrt dabei beobachtete. Des Alten Worte hatten ihm einen Dolch ins Herz getrieben, so endgültig er sie dahin gestellt hatte. Als ob er sich bereits damit abzufinden hätte, dass seine Tochter…
„Ich konnte die Wahrheit nicht ertragen. Bin vor ihr davongelaufen. Hab versucht, sie im Suff zu ertränken.“ Er lachte tonlos auf. „Anfangs ging`s. Bis ich immer mehr Stoff brauchte, die Tatsachen darin zu ertränken. Bis ich nicht mehr arbeiten gehen konnte. Bis meine Frau meinen volltrunkenen Zustand nicht mehr ertragen konnte. Bis die Ehe zerbrach, und ich alles verlor, was ich hatte. Alles, verstehst du? Alles!“
Das letzte Wort schwebte beinahe greifbar in der stickigen Luft. Lukas nickte in die bedrohliche, aufkeimende Stille. Dann sagte er leise: „Ich glaube, ich weiß, was Sie mir damit sagen wollen.“
„Für mich ist es zu spät.“ Georg griff in die Plastiktüte, aus der er eine weitere Dose zu Tage förderte. „Aber du könntest es packen, wenn…“
„Was?“
„Scheiße. Soweit will ich nicht Vorausdenken.“ Der Verschluss knackte, Biergischt sprühte aus der ovalen Öffnung. Dann ein langer, ausgiebiger Schluck. Der Adamsapfel hüpfte unter unrasierter Haut. Ein verhaltener Rülpser. „Hast du deine Exfrau auch angerufen?“
Lukas zuckte zusammen. „Woher wissen Sie denn –“
„Dass du geschieden bist? Oder zumindest getrennt lebst?“
„Ja. Das können Sie –“
„Gar nicht wissen?“ Er wischte sich über die von Bier glänzenden Lippen, wozu ein Grinsen über sein Gesicht huschte. „Und warum trägst du keinen Ring?“
Lukas starrte auf seine rechte. Das goldene Zeichen der Ehe hatte er bereits lange vor dem Scheidungstermin abgelegt. Lange bevor ihm das Sorgerecht für seine Tochter zugesprochen wurde. Und…
„Scheiße!“
Der Alte hustete. „Hast nicht an sie gedacht?“
„Gott, wir haben seit Ewigkeiten nichts mehr miteinander zu schaffen!“ Er fingerte das Handy aus der Hosentasche, klappte es auf, und versuchte sich an die Nummer zu erinnern. „Drei, Zwei… Nein, Drei, Eins, am Ende!“ Worauf er die Erinnerung in die Tastatur tippte, aufstand, und sich zu einem kurzen, knackigen Telefonat in eine äußere Ecke des Spielplatzes verzog. Georg beobachtete ihn dabei, während er das restliche Bier in sich hineinschüttete. Es gelang ihm schwerlich, den Kopf gerade zu halten.
„Sie hatten Recht! Sie ist bei meiner Ex!“ Wild gestikulierend kehrte Lukas zu dem Alten zurück. „Können Sie sich das vorstellen? Ist Kackfrech zu Katrins Freundin, hat sie von dort abgeholt und zu sich nach Hause genommen. Mit der Lüge, ich hätte es erlaubt! Was für eine absolute –“
„Katrin?“
Lukas verschluckt sich. „Ja. Der Name meiner…“ Und verstand. „Gott, unsere Kinder haben ja den gleichen Namen.“
„Nur das meines nicht mehr lebt…“ Georg senkte den Kopf, in die dunkle Öffnung der Dose starrend. Leichtes Schütteln durchfuhr seinen Körper. Irgendwo krächzten Elstern. Eine dünne Brise verwehte den Gestank des betrunkenen, ungewaschenen alten Mannes.
„Steh auf!“ Lukas streckte ihm die Hand entgegen. Georg betrachtete ihn von unten, den Kopf zur Seite geneigt. Er machte nicht den Eindruck, der Aufforderung zu folgen. „Wozu?“
„Wir gehen sie holen!“
„Das wirst du wohl schon allein machen müssen. Was brauchst du mich dazu?“
„Ich denke, du hast dich genug hängen lassen. Zeit, dein Leben wieder in den Griff zu kriegen!“
Georg lachte bitter, wozu er behebe den Kopf schüttelte. „Das stellst du dir so einfach vor.“
„Nein, tue ich nicht!“ Ernsthaftigkeit dominierte Lukas` Stimme. Er griff nach der Plastiktüte und nahm sie an sich.
„Hey, was soll das?“ Mit krachenden Kniegelenken wuchtete sich der Alte in die Höhe, schwankte, und pendelte sich nur mühsam ins Gleichgewicht. „Gib mir sofort –“
Die Finger fest ins Plastik gekrallt. „Du hast genug gesoffen, Georg. Viel zu lang, viel zu verantwortungslos!“
„Pah!“ Er spie aus. „Für wen hätte ich denn Verantwortung übernehmen sollen? Ich hab alles verloren! Einschließlich meiner Katrin!“ Die Fäuste wütend geballt. Die Augen funkelten kalt, verletzt und resigniert.
„Für dich sollst du die Verantwortung übernehmen. Für den stinkenden Penner, den du aus dir gemacht hast.“
„Damit komm ich klar…“ Er streckte die Hand nach der Tüte aus. „Gib sie wieder her!“
„Nein!“
„Du hast mich nicht zu bevormunden!“
„Ich hab einen Job für dich. Und ich lasse nicht zu, dass du ihn betrunken ausführst!“
Georg fuhr sich durch das zerzauste Haar, worauf es in alle Himmelsrichtungen abstand. Die Hand hielt er immer noch der Tüte entgegen gestreckt, die Finger gestikulierten ein Hergeben. „Ich lach mich schlapp! Welchen Job sollte ich alter Sack wohl noch ausüben können?“
„Ich möchte, dass du dich in Zukunft um meine Tochter kümmerst. Wenn ich auf Geschäftsreisen bin, zum Beispiel.“ Lukas legte seine Hand auf Georgs Schulter. Der beäugte sie misstrauisch, beließ sie aber dort. Der ausgestreckte Arm sank herab. „Du machst Witze. Ich hab keine Bleibe.“
Ein Lächeln verfing sich in Lukas` Gesicht. „Mein Haus ist groß genug. Du bekommst ein schönes, großes Zimmer. Mit Balkon, Badezimmer und einer kleinen Küche.“
„Das kann ich nicht –“
„Und vor allem einem gemütlichen, weichen Bett! Wie klingt das?“
„Aber –“
„Natürlich werd ich dich bezahlen.“
Georg grummelte etwas Unverständliches vor sich hin. Dann fuhr er abermals durch die Haare. Diesmal, als ob er die verfilzte Unpracht irgendwie bändigen wollte.
„Doch bevor du deinen Job antrittst, wirst du als allererstes eines tun.“
Georg setzte sich in Bewegung, nachdem Lukas ihn sachte angeschob. Er rümpfte die Nase. „Baden!“
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2009
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