Es hat nicht geklappt. Wie immer, seitdem er sich mit der Scheiße herumschlagen muss, die er nicht will, oh nein, er will sie nicht, will sie überhaupt nicht, aber er muss sich seinem Schicksal fügen. Verdammt, er ist noch nie der Typ gewesen, der sich an vorgegebene Wege halten konnte und jetzt ist er tagtäglich dazu gezwungen. Wie ein dummer Elefant in einem dummen Zirkus mit dummen Menschen, die ihn begaffen und klatschen, wenn er ein dummes Kunststück gemacht hat. Bravo, bravo, bravissimo. Aber das verfluchte Kunststück, das sie von ihm erwarten, dass er von sich erwartet, das eigentlich keines ist, nein, das ist es nicht, bekommt er einfach nicht hin. Früher, ja früher, da hatte er keine Probleme, da hatte er auch den ganzen Scheiß nicht, der ihn beeinträchtigt, ihn heulen, fluchen und schreien lässt, laut schreien lässt, bis der Nachbar vor Empörung an die Wände schlägt. Doch das stört ihn nicht, hat ihn noch nie gestört und wird ihn auch in der Zukunft nicht stören, verflucht, er will stören, weil sein Leben zerstört ist, will er stören. Der Nachbar soll die Wände zertrümmern, doch das lässt ihn kalt, wird ihn kalt lassen, so eisig, eisig kalt, wie der Rahmen des beschissenen Rollstuhles an den er gebunden, gefesselt, verflucht ist, darauf zu sitzen. Sein Blick wandert von dem aufgeschlagenen Pornoheft auf seine abschwellende Erektion, die gar keine richtige war, die nie eine richtige mehr sein wird, egal, wie groß die Brüste der Frauen auch sein werden, die er auf den Fotos betrachtet. Bravo, bravo, bravissimo. Die Menge jubelt, tobt und schreit, schreit so laut, wie es sein Nachbar nicht leiden mag, wegen eines Kunststückes, das er nicht hatte vorführen können, dürfen. Es brennt in seiner Seele, als er die Kleine betrachtet, die ihm dazu hatte verhelfen wollen, das Kunststück zu vollenden. Die Kleine in dem Pornoheft, aus dem heraus sie ihn anstarrt, anstarrt und den Blick nicht von ihm nimmt, egal wohin er blickt. Er schätzt sie auf vierundzwanzig, blutjunge vierundzwanzig, scheiße, eine Zeit, die er nicht als Krüppel verbracht hatte, nein, da war er kein Krüppel gewesen. Vierundzwanzig Jahre konnte er machen, was er wollte und er machte, was er wollte und er könnte sich vor Wut in seinen verkrüppelten Arsch treten, weil er einen Roller wollte, nur einen Roller, einen blauen Roller. Vielleicht war es sogar der Nachbar gewesen, der ihn über den Haufen gefahren und sich aus dem Staub gemacht hatte, der Nachbar, der an die Wand hämmert, wenn er schreit, vor Verzweiflung schreit, laut schreit. Vielleicht, es könnte möglich sein, die Möglichkeit besteht durchaus, auch wenn er nicht beweisen kann, nichts weiß, außer, das er sein Kunststück nicht bis zum Ende durchziehen kann, nie mehr. Er sieht wieder die Kleine an, die seinen Blick erwidert, immer erwidert und er stellt sich vor, das sie genau so ein Krüppel ist wie er, weil sie sich auf dem Foto nicht bewegt, nicht bewegen kann, nicht so, wie sie es will. Er versucht, sich mit ihr zu verbünden, zu verbrüdern, das Leid mit ihr zu teilen, so wie sein Körper geteilt ist in oben und unten, in gut und in schlecht. Es geht nicht, nein, es geht überhaupt nicht, weil er es sich nicht wirklich vorstellen kann, denn sein Kopf ist gesund und sagt ihm, das er sich nicht mir einem Foto solidarisieren kann, auch wenn er es will und deswegen so lange schreit, bis der Nachbar klopft, weil er es vielleicht nicht ertragen kann, denjenigen schreien zu hören, den er über den Haufen gefahren hat. Er schlägt das Pornoheft zu und schließt dadurch die Augen der Kleinen, die ihn trotzdem ansehen, auch wenn das Heft zu ist. Er weiß, das sie ihn wieder ansieht, wenn er das Heft aufschlägt und sie wird ihm wieder helfen wollen, zu einem Orgasmus zu kommen, indem sie ihn ansieht und ihm das zeigt, was er von ihr sehen will, aber nie bekommen wird, so sehr er auch schreit. Sie wird immer für ihn da sein, ja, das wird sie, denn sie geht nicht weg, lässt ihn nicht mit Schmerzen am Straßenrand liegen, wie der, der ihn und seinen Roller zu Brei gefahren hat. Er greift nach dem Revolver, den er vor sich neben dem Pornoheft platziert hat, in greifbarer Nähe platziert hat, damit er ihn schnell aufnehmen und sich an die Schläfe halten kann, wenn es soweit ist, wenn er meint, dass es soweit ist. Das Gewicht der Waffe ist längst nicht so hoch wie das des Rollers, der ihn unter sich begrub, lange begrub, viel zu lange begrub, sodass die Verletzung seiner Wirbelsäule einen Schaden hinterließ, einen bleibenden Schaden. Vielleicht wäre noch was zu machen gewesen, hatte der Arzt zu ihm gesagt, als er seine Beine nicht mehr spüren konnte, nicht mehr bewegen konnte, egal, welche Kraft und Willen er dazu aufbrachte, vergeblich aufbrachte. Vielleicht, wenn er rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht worden wäre, wäre noch was zu machen gewesen, doch es war nichts mehr zu machen, nein, das war es nicht. Der Arzt hatte alles versucht, hatte alles getan, alles was in seiner Macht stand, aber er war eben nur ein Halbgott in Weiß und das Schicksal, das verfluchte Schicksal wollte es, das die andere Hälfte des Gottes bei der Operation anwesend war, die dunkle Hälfte, nicht die Weiße. Er betrachtet den Revolver und drückt die Trommel heraus, so wie das Leben, das Gefühl, die Gewalt und die Kraft aus seiner unteren Leibeshälfte herausgedrückt worden war. Aber er kann die Trommel, die prall gefüllte Trommel wieder zurückschieben und der Revolver wird wieder funktionieren, schießen, verletzen, töten, wenn es sein muss und es muss sein, Gott im Himmel, das muss es, denn er spürt, das der Zeitpunkt endgültig gekommen ist, das es sein muss, ja. Der Nachbar hämmert gegen die Wand, denn sein Weinen hat sich in Heulen verwandelt, in lautes Heulen, das in ein Schreien, ein verzweifeltes Schreien übergegangen ist und nicht mehr aufhören will, nein, er will nicht, das es jemals wieder aufhört, weil der Schmerz auch nicht aufhört, der ihn dazu antreibt, das zu tun. Er will nicht, dass der Nachbar an die Wand schlägt, ihn dadurch auffordert, das Schreien einzustellen, denn wenn der Nachbar ein schlechtes Gewissen hat, weil er vielleicht für seine Misere verantwortlich ist, soll er es auch spüren, immer, und das schwört er sich. Er hebt die Waffe, die leichter ist als der Roller, der auf ihm lag, durch den er zum Krüppel wurde und weswegen er nun die Schläge an der Wand ertragen muss, die der Nachbar verursacht, vielleicht wegen einem schlechten Gewissen und seinen Schreien, die es auslösen. Er schreit, schreit weiter, lässt seinen Gefühlen, die, die er noch hat, freien Lauf und hofft, dass seine Schreie das Hirn seines Nachbarn genauso lähmen wie seinen Unterleib, der nicht mehr dazu in der Lage ist Kunststücke zu vollbringen. Er will den Schuldigen endgültig zur Verantwortung ziehen, will ihn verurteilen, bestrafen, so, wie er bestraft worden ist, zu unrecht bestraft worden ist, Gott weiß, warum. Er weiß, als das Hämmern an der Wand verstummt und sich auf seine Wohnungstür verlagert, wer es ist, der davor steht und auf das Holz schlägt, das Holz, das auch zu seinem Sarg hätte verarbeitet werden können. Er weiß, dass derjenige vor der Tür um Ruhe fleht, um Ruhe in seinem Gewissen, welches er durch ausdauerndes Klopfen und Schlagen zum Ausdruck bringt, weil er sein schlechtes Gewissen nicht mehr länger unter Kontrolle hat, wahrscheinlich nie hatte. Er wendet seinen Rollstuhl, den, den er nie wollte, nie brauchte und sich nie vorstellen konnte, in ihm zu sitzen, hilflos zu sitzen, nutzlos zu sitzen. Seine Finger umklammern die Waffe, so, wie sie den Roller umklammert hatten, als er auf ihm lag und er nicht dazu ihn der Lage war ihn zu heben. Doch die Waffe ist leichter, viel leichter und es braucht nur einen ganz geringen Kraftaufwand, den gespannten Hahn in seine Ausgangsposition zurück zu befördern, so, wie es mit seinem Leben nicht mehr geht. Er hört den Schuss, den Knall, der lauter ist als der Aufprall, den die Stoßstange erzeugte, als sie seinen Roller, seinen Roller und ihn traktierte, von sich wegschleuderte und über ihm schwebte, weil die Reifen des Wagens sie anhoben, während die Räder ihn zerquetschten, ihn gnadenlos zermalmten. Er sackt in sich zusammen und spürt, das es nun ruhig wird um ihn, ruhig um seine Zukunft, seine Gegenwart und seine Vergangenheit, denn er hat keine Kraft mehr sich zu wehren, zu schreien oder die Kleine in dem zugeklappten Pornoheft zu betrachten, obwohl sie ihn ansieht, egal, was er weiterhin tut. Seine Gedanken schweifen ins Leere, ins Nichts, ins Nirwana, auch wenn er nicht weiß, wo das ist oder ob es überhaupt existiert, jemals existiert hat, existieren wird. Er blickt durch ein großes Loch in eine Welt, die er aus eigener Kraft nie erreichen kann, eine Welt, die vor ihm liegt, hinter der Tür, die er mit einer Patrone zerschossen hat und dessen Loch genauso groß ist wie das, welches der Nachbar nun in seinem Schädel hat, weil er ihn dort getroffen hat, treffen wollte. Er seufzt, weil er nicht mehr schreien kann, nicht mehr schreien will, denn der, der ihn dazu getrieben hat ist tot, verschwunden in einer Sphäre, in der es vielleicht wieder geht, Kunststücke zu machen, die er immer noch nicht kann, nie mehr können wird, nie mehr können will.
Tag der Veröffentlichung: 08.11.2009
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