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Der Wind pfeift scharf um die Ecken der alten Fachwerkhäuser in Münchens Innenstadt. Es ist Anfang Februar – zu spät für Schnee, zu früh für wärmende Sonnenstrahlen. Nichts Halbes und nichts Ganzes. Trotzdem sticht der eisige Wind auf Bastians kalten Wangen, als er eine kleine Seitenstraße entlanggeht. Es ist früh am Morgen, die Welt liegt noch unter einer feinen Nebeldecke, die erst mit Sonnenaufgang langsam verschwinden wird. Nur wenige Bewohner sind in diesem Teil der Stadt schon auf den Beinen. Höchstens fünf oder sechs Fenster sind in der kleinen Gasse beleuchtet. München schläft noch. Gut so.

Aus einem Regenrinnenrohr an der Hauswand von Nummer 43, tropft seicht etwas Regenwasser, welches sich über Nacht auf dem Dach gesammelt hat. Bastian bleibt stehen und betrachtet sein Gesicht in einer der dunklen Fensterscheiben des alten, schlecht verputzten Wohnhauses. Seine Augen strahlen einen traurigen, unwirklichen Glanz aus, seine helle Haut leuchtet beinahe in der samtigen Dunkelheit. Bastians Augenringe sind gut unter Concealer versteckt, seine Wangen wirken vom Wind leicht rosig. Die Haare wurden penibel aus der Stirn frisiert, sitzen dank Wax und Haarspray genau so, wie sie sollen.

Er sieht gut aus, hat sich in seine besten Bluejeans geworfen und den teuersten Blazer über sein Gucci-Shirt gezogen, den er in seinem Schrank finden konnte. Heute ist ein besonderer Tag. Bastian versucht zu lächeln, doch sein Spiegelbild zeigt nur eine komische, verzerrte Fratze. Das macht nichts. Bastian weiß, dass alles gegen ihn arbeitet, selbst sein eigener Körper. Ein Lächeln will ihm nicht gelingen, weil es zustimmend wäre. Zustimmend, zu seinem Entschluss. Einstimmend, in seinen Plan. Nichts und niemand will diesem Plan zustimmen. Es ist nicht so, als hätte Bastian nicht darum gebeten.

Er hat wirklich versucht, ein „Okay” zu bekommen, eine simple Zustimmung, ein einfaches „es ist in Ordnung.” Bekommen hat er nur mitleidige Blicke, Tränen und schockierte Gesichter. Er kann es verstehen. Akzeptieren kann er es nicht. Ihm gehört dieses Leben seit vierundzwanzig Jahren. Er hat darin geliebt, gelitten, gelacht, gekämpft. Gekämpft… er kann nicht mehr kämpfen. Es ist einfach vorbei, und doch will ihm niemand das Recht zusprechen. Sein gutes Recht. Er hat es, das weiß Bastian. Aber er wollte es hören. Hören, dass es in Ordnung ist, er das Recht wirklich hat und das es nichts Verbotenes ist.

Langsam nimmt Bastian seine Schritte wieder auf, durchquert die kleine Gasse und blickt auf den immer mehr verblassenden Mond, der hoch am Himmel steht. Er will ihm den Weg weisen, führt ihn direkt zu der großen, alten, mit Eisen beschlagenen Eichentür von Sankt Marien. Bedächtig legt Bastian seine kühlen Finger auf das Holz, fühlt die uralte Maserung unter seinen Händen. Nur langsam öffnet sich eine Hälfte der hohen Flügeltür, gibt den Weg auf Jahrhunderte alte Zuflucht frei. Die Kapelle liegt verlassen da. Niemand sieht Bastian auf seinem Weg, durch das Mittelschiff der alten Kirche.

Es zieht ihn weit nach vorne, zu den Bänken, die für Touristen unzugänglich sind. Die Bänke, auf denen wirklich gebetet wird. Ehrfürchtig benetzt Bastian seine Hände mit Weihwasser, bekreuzigt sich zum ersten Mal seit Jahren und lässt sich auf dem dunklen, harten Holz zu seiner Rechten nieder. Beinahe sofort durchströmt ihn die Ruhe, die uneingeschränkte Seeligkeit. Es ist eine ganz besondere Atmosphäre und für diese wenigen Augenblicke, gehört sie nur ihm allein. Wie von selbst finden sich seine Hände, verschränken sich miteinander, während er in Gedanken das Vaterunser spricht.

Er ist seit Jahren nicht in der Kirche gewesen und doch finden sich die richtigen Worte, als würde er brav jeden Sonntag hier sitzen. »Lieber Gott… hier is’ Bastian. Ich hab‘ seit Jahren ned mit dir gesprochen, aber heut is‘ es wichtig. Wir beide waren wohl ned immer so ganz einer Meinung. Ich konnt’ viele Sachen ned glauben, die in deinem Buch steh‘n und heut geht‘s wohl gar nimmer… Trotzdem bin ich hier, um ein paar Sachen zu beichten. Ich hoff‘ es is‘ noch ned zu spät dafür. In den Beichtstuhl kann ich ja ned, also muss es halt irgendwie so gehen, gell?« Eine kurze Pause entsteht. Bastian schließt die Augen.

Leise murmelt er zu seinen Händen. »Ich hab‘ so viele schlimme Dinge getan. Mama hab‘ ich so oft angeschrieen, wenn ich bös mit ihr war. Und mit dem Tobi hab‘ ich mich früher oft gezankt. Ich hab‘ die Dani geschlagen, wenn ich getrunken hab‘ und gesagt, sie wär schuld. Ich hab‘ mich kaufen lassen und Geld angenommen, was mir ned zustand; absichtlich schlecht gespielt und dadurch Spiele verloren. Vor einem Jahr hab‘ ich im Suff ‘nen kleinen Jungen angefahren und ned die Polizei gerufen… und die Sarah, die lass ich jeden Tag so leiden. Mir tut des alles so leid…« Eine kleine Träne rollt über seine Wange.

Bastians Gedanken schweifen ab, durchlaufen noch einmal sämtliche Szenen, die er gern ungeschehen machen würde. Er würde so gern in den Beichtstuhl gehen, seine Sünden beichten und Buße tun, aber er darf nicht. Die Beichte bei einem Pfarrer bleibt ihm verwehrt, solange Bastian nicht alle seine Sünden beichten und alles umfassende Reue verspüren will, für jede schändliche Tat, jeden Gedanken und jede Versuchung, der er unterlegen ist. So lehrt es die Bibel. Aber er kann so manche Dinge nicht bereuen. Und diese eine Sache schon gar nicht. Und wieder ist da dieser unendliche Schmerz.

»Ich weiß, du siehst des ned gern, aber ich kann‘s doch ned ändern... Ich konnt‘ die Dani ned richtig lieben und auch Sarah ned. Ich lieb‘ den Lukas, mehr als ich darf. Aber des kann mir einfach ned leid tun. Ich kann des ned bereuen. Also schätz ich, kann ich wohl nur noch eine Sache beichten… und hoffen, des du mir vergibst, auch wenn ich einen Mann lieb‘ und mich darum keiner deiner Pfarrer sehen will. Ich werd‘ mir des Leben nehmen… mich… mich umbringen. Selbstmord is‘ eine Sünde und ich hoff, du kannst mir des verzeihen. Ich kann einfach ned mehr…« Und auch eine zweite Träne gesellt sich dazu.

»Ich hab‘ so oft getrunken, nur um für ‘nen paar Minuten zu vergessen. Ich kann nimmer damit aufhören! Ich brauch den Alkohol und manchmal die Tabletten… Ich hab‘ meine Freundin fast totgeschlagen und ‘nen kleinen Jungen angefahren, weil ich mich ned mehr unter Kontrolle hatte. Und Sarah weiß nimmer was sie machen soll. Ich glaub‘ sie hat Angst vor mir… Angst. Ich wollt‘ doch nur den Lukas vergessen. Ich wollt‘ doch ned, des so schlimme Sachen passieren. Ich wollt‘ doch nur ‘nen bisserl trinken und ned mehr den Poldi lieben… und jetzt is‘ alles so furchtbar…« Der erste Schluchzer kämpft sich aus der Kehle.

»Ich hab‘ meinen Stammplatz bei Bayern verloren und Jogi nominiert mich nimmer, seit meine Kondition so schlecht is‘… wegen den ganzen Pillen und dem Alkohol… und Lukas redet nimmer mit mir, weil ich ihm ned sagen wollt‘ warum ich so abgestürzt bin. Ich hab‘ meinen besten Freund verloren und dabei lieb‘ ich ihn doch so… und Sarah weiß ned was sie machen soll, wenn ich auf der Couch sitz und nur trink, bis ich umfall… ich hab‘ alles verloren. Mein Leben is‘ nix mehr wert… und wie der Lukas mich immer anschaut, so angewidert… des tut so weh…« Ein Heulkrampf ist unvermeidbar geworden. Bastian weint.

»Ich will nimmer so leben. Ich kann ned mehr… ich will einfach bloß die Augen zumachen und schlafen und nimmer aufwachen… ned mehr die Blicke vom Lukas sehen… ned mehr so Verlangen nach Alkohol haben und Sarah so anschreien und Dani… ned mehr an Dani denken, was ich ihr angetan hab‘… ich… ich bring noch wen um, nur weil ich ned mehr alle bei mir hab‘ wenn ich so viel trink und das mit den Drogen… nur weil ich den Lukas so mag… ich muss des alles beenden, bevor noch mehr passiert. Verzeih mir. Amen.« Langsam steht Bastian auf, bekreuzigt sich abermals und geht.

Der Gang zur Tür erscheint Bastian diesmal alles andere als ruhig. Wie anklagende Stimmen hallen leises Gemurmel und Schritte in seinen Ohren wider. Es ist falsch. Es ist falsch, sich selbst so zu bemitleiden, genauso wie es falsch ist, im Suff den Kopf zu verlieren. Aber er kann nicht anders. Es frisst ihn von innen auf. Drei Jahre hat er versucht damit zu leben. Drei Jahre hat er gebraucht, um zu erkennen, dass er damit einfach nicht leben kann. In einen Mann hat er sich verliebt. Einen Mann der Frau und Kind hat, am Anfang seiner Karriere steht und – im Gegensatz zu Bastian – wirklich glücklich ist, mit seinem Leben.

Natürlich gibt es Hilfen. Bastian weiß das. Er könnte mit Lukas reden und einen Entzug machen. Er könnte wegkommen von den Drogen und dem ganzen Alkohol. Er könnte sich bei Dani entschuldigen, mit Sarah reden und nach einigem Konditionstraining vielleicht sogar wieder so fit werden, um seinen Stammplatz zurück zu bekommen. Er könnte so vieles – aber er will nicht. Bastian weiß, dass zu viel passiert ist, um es einfach zu vergessen. Er kann es nicht mehr ungeschehen machen. Dani wird nie seine wütenden Augen vergessen, kurz bevor seine Faust in ihr Gesicht wuchtet.

Sarah wird nie seine Stimme vergessen, kurz bevor er sie eine Schlampe schimpft. Der kleine Junge wird nie den Anblick seines Nummernschildes vergessen, kurz bevor er ihn frontal trifft. Und Bastian selbst wird all das auch niemals vergessen können. Das, und Lukas. Es ist furchtbar, sich in seinen besten Freund zu verlieben, und zu wissen, dass man ihn niemals bekommen wird. Aber es ist unaussprechlich, seinen besten Freund zu verlieren, weil man ihm die Wahrheit nicht sagen kann. Lukas’ angewiderte Blicke, wenn Bastian mit einer Schnapsfahne zum Training kommt, brennen sich in seine Seele, wie ein Flammenmeer.

Ohne ihn ist Bastian nur ein halber Mensch. Wie ein Fenster ohne Glas, wie ein Vogel ohne Nest. Was ist schon ein Engel ohne Flügel? Jahrelang ohne Lukas’ Liebe zu leben war hart, schwer und schmerzhaft, aber ohne Lukas zu leben, ist für Bastian unmöglich. Es ist ein Teufelskreis, aus dem es kein entkommen gibt. Verbotene Liebe, Alkohol, Ausraster. Schuld, verbotene Liebe, Alkohol. Ausraster, erneute Schuld, Alkohol, und wieder Lukas. Und immer wieder der Alkohol. Und wofür lohnt es sich schon, den steinigen Weg zu gehen? Lukas, Daniela und Sarah werden ihm nie wieder verzeihen. Nie mehr vertrauen.

Und dieser unendliche Schmerz, der sich in Bastians Seele frisst, alle Hoffnung zerstört und sein Herz brennen lässt, will einfach nicht abklingen. Er weiß, er hat es verdient zu leiden. Jetzt hat er es verdient, nach all dem, was er getan hat. Aber warum hat das Ganze angefangen? Er hat damals doch nur diese Gefühle im Zaum halten wollen. Es hat ihn stets so viel gekostet, wenn Lukas ihn freundschaftlich in die Arme schloss, lieb anlächelte oder einfach ein paar nette Worte an ihn richtete. Letztendlich, hat es Bastian sein Leben gekostet, gegen diese Liebe anzukämpfen. Und selbst das, war nicht genug.

Seine Füße tragen ihn durch die langsam erwachende Stadt. Bastian hat keine Zeit, sich die hübschen Giebel und Stuckaturen anzusehen. Er registriert sie, nimmt auch wahr, dass die Arbeiten wunderschön aussehen und das es eine großartige Idee war, an diesem Tag, in diesen Teil der Stadt zu kommen. Aber wirklich lange anschauen, kann Bastian nichts. Er hat ein Ziel und in ihm arbeitet das Gefühl, dass die Zeit gegen ihn ist. Es ist blödsinnig, aber das Gefühl ist einfach da. Er muss sich beeilen, darf sein Ziel nicht aus den Augen verlieren. Das wäre das Schlimmste, was passieren könnte.

Bastian hat den Busbahnhof fast erreicht, lässt seinen Blick über die Insel wandern. Hier ist die Stadt schon etwas wacher. Geschäftsmänner und Schulkinder laufen umher, versuchen Anschluss an den nächsten Bus zu bekommen. Bastian fühlt sich fehl am Platz, als er auf den Bäcker auf der Insel zusteuert. Alle hier sind so geschäftig, lebendig. Manche Leute gucken genervt, andere gähnen müde oder lachen. Einige Teenager rauchen vor dem Bussteig Nummer 6, unterhalten sich über den anstehenden Tag. Bastian wirft einen letzten Schulterblick auf die geschäftige Kulisse.

Vollkommen unerkannt kann er sich seinen „Latte Macchiato to go” kaufen. Die 2,35¤ sind die Letzten, die er jemals ausgeben wird. Wehmütig lässt Bastian die Münzen auf den Tresen fallen, schafft diesmal ein richtiges Lächeln in Richtung der freundlichen Bedienung, und verlässt den kleinen Stadtbäcker. Der Latte Macchiato ist lauwarm, so wie er sein muss. Nicht so heiß wie Cappuccino, nicht so kühl wie Eiskaffee. Nichts Halbes und nichts Ganzes. Trotzdem schmeckt er Bastian. Es ist der letzte Latte Macchiato, den er in seinem Leben trinken wird. Er schmeckt anders als sonst. Nicht besser. Nicht schlechter. Anders.

Die Menschen scheinen ihn an diesem Tag überhaupt nicht wahrzunehmen. Nicht ein einziges Augenpaar bleibt an ihm hängen. Es ist, als wäre er bereits nicht mehr existent. Und eigentlich ist er das ja auch schon nicht mehr. Seine innere Lethargie verfliegt etwas, als er das Bahnhofsklo betritt. Der kleine, komplett silbermetallische Raum, mit dem leicht pifigen Geruch nach Urin, ist Bastians letzte Haltestelle, auf seinem Weg. Leichte Panik steigt in ihm auf, will ihm klarmachen, dass es kein Zurück mehr gibt, wenn er das hier jetzt wirklich durchzieht. Aber Bastian kämpft die Kurzschlussreaktion erfolgreich nieder.

Der Riegel des Türschlosses schnappt laut zu, sein Latte Macchiato fällt geräuschvoll zu Boden, verteilt seinen Inhalt über dem dreckigen Boden. Bastian wickelt reichlich Toilettenpapier ab, verteilt es auf dem Klositz und lässt sich langsam darauf nieder. Jede seiner Bewegungen wird von jetzt an bedächtig sein, konzentriert und darauf ausgelegt, es zum letzten Mal zu tun. Vorsichtig zieht er ein kleines Tütchen aus seiner Manteltasche, sucht mit der anderen Hand in seiner Hosentasche. Vier kleine Kugeln, eingewickelt in Zigarettenpapier, kommen zum Vorschein. Viermal der weiße Tod auf Raten.

Geübt wickelt Bastian die Kugeln aus, die die selbe Konsistenz wie Kaugummi aufweisen. Mit dem Fingernagel einen Halbmond hineindrückend, zieht er die Bomben leicht auseinander. Die Pep Basen hinterlassen einen widerlich bitteren Geschmack auf der Zunge, als Bastian sie sich in den Mund steckt. Trotzdem langt seine Hand nur langsam nach seiner Umhängetasche. Zwei Flaschen Wodka Gorbatschow, eingewickelt in braunen Packpapiertüten, holt er hervor. Gestern Abend am Kiosk gekauft. Jetzt werden seine Finger doch flink, um eine der Flaschen aufzuschrauben. Finger eines Alkoholikers.

Wie Wasser rinnt die durchsichtige Flüssigkeit seine Kehle hinab, spült die Bomben direkt in seinen Magen. Durch das Einreißen wird es kaum zehn Minuten dauern, bis die Substanz in seinem Blut ist. Zehn Minuten Aufschub, auf Himmel und Hölle. Schon jetzt spürt Bastian das gewohnte, illegale Zeug in seinem Körper. Pseudowirkungseintritt. Der Raum um ihn herum lebt, die Farben intensivieren sich, sein Körpergefühl wird verändert. Bastian braucht die zehn Minuten, bis die Pep Base wirklich anfängt zu wirken, um zu begreifen, dass er sich vorher alles nur eingebildet hat. Es ist egal. Jetzt wirkt es. Wirklich.

Und auch seine Bewegungen werden jetzt unwirsch, hektischer, unkontrolliert. Gierig kippt Bastian den Wodka hinunter, schmeckt den altbekannten, so sehr geliebt wie auch gehassten Geschmack auf der Zunge, bis nur noch ein paar Schlucke übrig sind. Es ist sieben Uhr morgens. Hastig zieht Bastian das Zipptütchen auf, bringt es an seinen Mund und lässt zehn kleine, grau-weiße Yin Yangs auf seine Zunge purzeln. Ein Moment vollkommener Bewegungsuntätigkeit. Stille. Er spült sie mit dem restlichen Wodka hinunter. Jetzt gibt es wirklich kein Zurück mehr. Eine halbe Stunde bis zum Ende.

Das Türschloss schnappt auf, leichtes Tageslicht der Morgendämmerung fällt durch den schmalen Spalt, als Bastian sich aus der Tür schiebt. Seine Augen sind wachsam, die Puppillen tellergroß. Und doch hat er keinen Blick für die Dinge, die vor ihm liegen, neben ihm passieren, hinter ihm geschehen. In seinem Kopf manifestiert sich der monumentale Plan; das absolute Ende. Er hat nicht mehr viel Zeit, aber jetzt kann niemand mehr gegen ihn arbeiten. Es wird passieren. Der Anfang ist schon gemacht und das Ende in greifbarer Nähe. Er hat es geschafft, er hat gegen die Zeit gewonnen. Ein trostloser Sieg.

Federleicht trägen Bastians Füße ihn vor die Bahnhofshalle. Die Geräuschkulisse ist hier überwältigend, die Farben ein Meer aus glitzernden Diamanten und Strobolight. Und es wird noch besser werden, das weiß Bastian. Aber noch nicht. Noch ist Zeit und die muss anders genutzt werden. Hektisch wühlt Bastian nach seinem Handy, schreibt Phillip mit fahrigen Fingern eine SMS. Phillip weiß Bescheid. Phillip weiß, was Bastian heute tun wird. Phillip weint. Aber er ruft nicht die Polizei und das ist gut so. »Es ist soweit. Leb wohl Phil. Du bist in meinen Gedanken.« Mehr schreibt er nicht. Es ist ausreichend. Die Wahrheit.

Fast rennend durchquert Bastian die Bahnhofshalle, kann seine Schritte nicht mehr drosseln. Die Drogen übernehmen die Kontrolle. Er muss sich beeilen. Schnell steigt er die Treppe über Bahnsteig 10 nach oben, läuft über die Gitterplanken und kraxelt die kleine, verbotene Treppe zum Dach hinauf. Man gelangt auch auf anderem Wege hier hoch, doch es erscheint Bastian genial, und richtig und gut, über die 10 zu sterben. Sie erinnert ihn einmal mehr an Lukas. Lukas. Schnell zückt Bastian sein Handy ein zweites Mal, Kurzwahltaste 1. Seine ewige Nummer eins. Es ist so lächerlich kitschig.

Der Wind pfeift hier oben mehr als scharf, die Aussicht ist nicht die Beste, aber der Platz ist perfekt. Unter seinen Füßen fahren die Züge, Menschen rennen umher, aber niemand sieht zu ihm hoch. Nie sieht hier jemand hoch. Es tutet. »Ja, Podolski?« Seine Stimme erscheint Bastian heute noch engelsgleicher, als sonst. »Hi. Hier is‘ Bastian.« Stille. Es hat seinen Grund, warum Bastian mit unterdrückter Nummer anruft. Vielleicht wäre Lukas sonst nicht einmal rangegangen. »Was willst du, Bastian?« Er antwortet nicht, zieht seinen iPod aus der Tasche und stöpselt sich einen Knopf ins Ohr. Einschalten. Die Züge rattern lautlos.

»Mich verabschieden« sagt er schließlich, während ein ICE unter seinen Füßen den Bahnhof verlässt. Bastian hat durch die Gitter einen perfekten Blick, auf das Geschehen unter ihm. Die leise Musik in seinem Ohr übertönt Lukas’ entsetztes Ausatmen nicht. Er hofft, es falsch zu interpretieren. »Was meinst du damit? Basti? Basti…?!« Die Stimme wird heller, lauter, panischer. Ja, jetzt hat er es verstanden. Bastian weiß, wie das hier ablaufen wird. Er hat es geplant. Er will es so. »Du hast Recht, Lukas. Wie de mich immer ansiehst… dieser angeekelte Blick. Du hast Recht. Ich bin widerwärtig…« Refrain im Ohr.

Langsam fangen Bastians Beine an zu zittern, seine Augen rollen weit nach hinten, die Puppillen verschwinden fast vollkommen in den Höhlen. Seine Haut kribbelt schon lange nicht mehr angenehm, sie brennt. War zu erwarten. Überdosis MDMA. Krampfhaft presst er das Handy an sein linkes Ohr. So viel Reiz, so helle Farben, so viel Musik. »Was redest du da für ‘ne Scheiße, Mann? Wie kommst–… was hast du vor? Bastian? Wo bist du?« Bastian kann Lukas’ Angst förmlich riechen. »Des is‘ ganz egal. Des spielt überhaupt keine Rolle… ich wollt‘ dir nur Aufwidersehen sagen, weißt?« So viele Farben. MUSIK.

»Scheiße, bist du verrückt geworden? Warum verabschieden? Wo willst du hin?« will Lukas wissen, und Bastian muss sich zusammenreißen. Er ist mit dem Kopf schon nicht mehr wirklich auf dieser Welt. Fremde Sphären, guter Trip. JWD und alles passt. »Weg Lukas, ganz weit weg… hörst de die Musik ned spielen? Und die vielen Farben… sie kribbeln auf der Netzhaut. Unwichtig. Ich möcht‘ dir bloß Lebwohl sagen. Ich hab‘ dich wirklich, wirklich gern gehabt, Lukas… wirklich gern…« Bastian bekommt eine Erektion, ohne das er es will. Die Drogen, die Gedanken an Lukas. Purer Gedankensex. So unangebracht.

»Ich hab‘ dich auch gern Basti! Komm, mir tut leid, was ich alles zu dir gesagt hab‘ ja? Wo bist du?« Und da kommt die Schuld. Bastian kennt dieses Gefühl nur zu gut. Jetzt hat Lukas Angst, fühlt sich schuldig, versucht mit kleinen Lügen die Welt vor dem Untergang zu retten. Aber Bastian ist nicht Lukas’ Welt und untergegangen… untergegangen ist er schon vor sehr, sehr langer Zeit. Der Reiz wird immer größer, die Drogenwirkung immer heftiger. Bald zu heftig. Bald. »Ich muss jetzt auflegen, weißt? Die Zeit is‘ um.« Lukas schreit. »NEIN! Nein, nein, nein, hörst du? Was machst du denn? LASS DEN SCHEIß! BASTI?!«

»Mach dir keine Gedanken. Mir geht‘s gut. Mir wird‘s gut gehen… besser als Dani und Sarah und dem kleinen Jungen… ich weiß, ich hab‘ des eigentlich ned verdient. Mach‘s gut, Lukas. Ich… ich… ich liebe dich, Lukas. Hab‘ ich immer, werd’ ich immer.« Klack. Tuut. Tuut. Tuut. Die Züge rauschen unter Bastians Füßen dahin, der Bahnhof wird mit jeder Minute lebendiger. Die Sonne scheint endlich aufgewacht zu sein, mischt sich unter die vielen bunten Lichter, die vor seinen Augen blitzen. Seine Erektion ist steinhart, seine Haut kribbelt, brennt, fühlt sich an, als würde sie jeden Augenblick Feuer fangen.

Es ist sein Ende, sein finaler Tanz mit dem Leben. Groß, hell, laut. Es fühlt sich an, wie ein Orgasmus im Kopf. Alles wird immer heftiger, schneller, besser. Sein Atem kommt nur noch stoßweise, seine Gliedmaßen drehen durch, zittern unkontrolliert. Das Handy fällt zu Boden, rutscht über das Gitter hinweg, nach unten in die Tiefe des Bahnhofs. Ein kleiner Vorbote. Bastian verdreht die Augen schmerzhaft. ENDLICH. ENDLICH. JA! JA! JAAAH! Die Zeit ist endlich gekommen und Bastian hat gewonnen! Hat sich allem entgegengedrückt, jeder Angst widerstanden, alle Feigheit besiegt. Goldener Balkon.

Ein letzter Schritt, seine Finger greifen nicht nach den Metallstangen. Und Bastian fällt. Fällt über das Rautengitter, fällt in die Tiefe. Es explodiert in seinem Kopf, auf seiner Haut, in seinem Inneren. Und dann ist es plötzlich still. Kein Reiz, kein Licht, keine Musik. Nur alles umfassende Stille. Wirre Gedanken lösen sich auf, wie Nebel im Regen. Schatten strömen an ihm vorbei. Aufgerissene Augen, irres Lächeln. Der nächste Zug rollt herbei. Frontalschlag. Kein Herzschlag mehr. Und Ende.

EXTRABLATT. SONDERBERICHT. EXTRABLATT.



2. Februar 2009 – Tod eines Ausnahmetalents.

Heute morgen musste die Polizei einen grauenhaften Tatort absperren.
Bastian Schweinsteiger (24) hat sich vom Münchener Bahnhofsdach gestürzt.
Schweinsteiger galt nach seinem Absturz (Bild berichtete) bereits als labil.
Nachdem der Vierundzwanzigjährige seinen Stammplatz beim FC Bayern,
wegen übermäßigem Alkohol- und Drogenkonsum, verloren hatte,
gab nun auch Jogi Löw bekannt, ihn künftig nicht mehr für die Nationalmannschaft zu nominieren.
Schweinsteigers Freundin, Sarah Brandner, gab keinen Kommentar zu den Vorfällen ab.
Als Grund für den Selbstmord wird Existenzangst nicht ausgeschlossen.
Warum Bastian Schweinsteiger zum Alkohol griff, ist nicht bekannt.
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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Karoline L., Catharina F. und Anja H. Ihr wisst schon, warum.

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