Seit Tagen hatte Hans Krückemeier Schmerzen im Unterleib. Er ging zum Arzt, ließ sich betasten, Blut abnehmen und von der Notwendigkeit einer klinischen Untersuchung überzeugen.
Der Arzt: „Es könnte eine Darmverschlingung sein. Es könnte auch… Jedenfalls ist das Blutbild so schlecht, dass es unverantwortlich wäre, Sie wieder nach Hause zu schicken. In den Händen von Spezialisten sind Sie am besten aufgehoben.“
Eine halbe Stunde später befand sich Hans Krückemeier in den Händen von Spezialisten, in der chirurgischen Abteilung, mit „akuten Unterbauchbeschwerden“.
Er ließ sich abermals betasten, Blut abnehmen und von der Notwendigkeit weiterer Untersuchungen überzeugen. Sie sollten am nächsten Morgen beginnen, mit einer Darmspiegelung.
Ob es nun das Gefühl war, in den Händen von Spezialisten gut aufgehoben zu sein oder das leise Röcheln seiner Zimmergenossen oder die sanfte Stimme der Schwester, die ihm das Thermometer brachte, ob es die beinahe absolute Ruhe war oder das Gemisch warmer Luft und chemischer Dünste: Hans Krückemeier schlief ein und schlief und schlief und schlief… von drei Uhr nachmittags bis sechs Uhr früh. Da wurde er geweckt, von der Nachtschwester, die mit Pillen und Thermometern durch das Zimmer huschte.
Und Hans Krückemeier wurde ein zweites Mal geweckt, etwa eine halbe Stunde später, diesmal nicht so sanft: von den Scheuerfrauen.
Er betastete seinen Bauch und sagte: „Schon besser…“ Dann schlief er wieder ein, denn zu essen bekam er nichts: Ihm war absolute Nüchternheit verordnet worden.
Er schlief, bis ein junger, bärtiger Mann in weißem Kittel ihn am Ärmel zupfte: “Herr Krückemeier…! Wir müssen jetzt…“
„Wie - schon?“
„Ja, Herr Krückemeier.“
Der junge Bärtige hatte den Blick eines Spezialisten, und es stellte sich bald heraus, dass er nur durch seine Funktion sich von einem Arzt unterschied: Er sagte nämlich: „Wir machen das auf der Toilette, Herr Krückemeier. Möchten Sie auf den Stuhl?“
Hans Krückemeier entdeckte den Rollstuhl, den der junge Bärtige vor sein Bett geschoben hatte.
„Ja, ich fühle mich ziemlich schwach.“
Als Hans Krückemeier völlig entleert vom Rollstuhl wieder ins Bett gestiegen war, schlief er weiter…, bis der junge Bärtige abermals erschien, um ihn zur Darmspiegelung abzuholen.
Bei der Visite erfuhr Hans Krückemeier, daß die Darmspiegelung keinen positiven Befund erbracht hatte. Und er sagte den Spezialisten, er habe keine Beschwerden mehr, er wolle nach Hause.
Dennoch begann nun eine unabsehbare Folge von Manipulationen an und in seinem Körper: Nach der Darmspiegelung anderntags eine Magenuntersuchung, nach der Magenuntersuchung anderntags eine Röntgenuntersuchung seines Darms, nach der Röntgenuntersuchung seines Darms anderntags eine Gallenuntersuchung, nach…
Hans Krückemeier war ausgenüchtert bis auf die Knochen, denn Kontrastbrei und -flüssigkeiten, dünne Suppen und Zwiebäcke waren schnell verdaut. Und weil er weniger als ein Durchschnittsmensch zu essen bekam, schlief er mehr als ein Durchschnittsmensch.
Er mußte jedesmal, wenn die Spezialisten, mit denen er sich erfolglos auseinandersetzte, hereinkamen, erst geweckt werden.
Am fünften oder sechsten Tag seines Aufenthaltes in diesem Hause trat die Schwester mit der sanften Stimme ins Zimmer und kündigte ihm die nächste Untersuchung an: „Herr Krückemeier, Sie dürfen heute wieder nichts essen: Nierenspiegelung, morgen früh.“
Da erhob sich Hans Krückemeier aus seinem Bett und sagte unsanft: „Teilen Sie bitte dem Stationsarzt mit, daß ich auf diese und alle weiteren Untersuchungen verzichte: Ich möchte Morgen entlassen werden. Ich habe keine Beschwerden mehr!“
„Doktor U. ist jetzt nicht da.“
„Dann sagen Sie es einem andern!“
„Das kann allein er entscheiden.“
„Dann sagen Sie es ihm, sobald er da ist, Schwester!“
Hans Krückemeier wartete vergebens. Er konnte nun nicht mehr schlafen. Gegen dreiundzwanzig Uhr ging er ins Schwesternzimmer: „Sie müssen mir nicht übelnehmen, daß ich Sie so angefahren habe, Schwester. Seit ich hier bin, habe ich beinahe vier Kilo abgenommen. Das macht einen nervös.“
„Sie können gehen, wann Sie wollen, Herr Krückemeier. Sie sind hier nicht im Gefängnis. Nur… wenn Sie wieder eingeliefert werden, morgen…, nächste Woche oder… Wir haben das schon erlebt. Die Kasse übernimmt dann keine Kosten mehr.“
„Schwester, ich bewundere Ihre Geduld. Aber…“
„Herr Krückemeier, die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Sie abbrechen – kein Arzt geht dieses Risiko ein. Überlegen Sie sich`s, Herr Krückemer!“
„Hab` ich längst, Schwester. Die Beschwerden sind weg. Sie sind weg, weil ich hier endlich mal ausschlafen konnte. Das hat die Verkrampfung gelöst. Ja, eine Verkrampfung war`s. Die Apparate sehen das nicht.“
Damit ließ Hans Krückemeier sie an ihrem Schreibtisch sitzen.
Am nächsten Morgen schrieb er einen Brief an den Stationsarzt. Darin bat er, sofort nach Hause entlassen zu werden, weil „die Darmbeschwerden, die zu meiner Einweisung Anlaß gegeben haben, verschwunden sind und die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen keinen Aufschluß über die Ursachen der Beschwerden gegeben haben. Die Ursachen sind beruflicher und außerberuflicher Streß, sowie eine verschleppte Erkältung, die ambulant behandelt werden kann.“
Den Brief steckte er in einem Umschlag und übergab ihn der Schwester. Er hatte den Umschlag zugeklebt.
Der Stationsarzt ließ diesmal nicht lange auf sich warten. Er kam eine Stunde vor der Visite und bat Hans Krückemeier zu einer kurzen Untersuchung in sein Zimmer.
Was dort geredet wurde, ist unschwer zu erraten. Hans Krückemeier bekam seinen Entlassungsschein.
Zuhause entdeckte er in einer der Zeitungen, die er sozusagen verschlafen hatte, einen interessanten Bericht, überschrieben: „In den Krankenhäusern gibt es zu viele Betten.* Vielleicht erinnerte er sich auch an jenen Bericht, der überschrieben war: „Sinkende Konjunktur hat erneut Krankmeldungen gedrückt. Absinken im Schnitt bis um zehn Prozent / Gewerkschaften: Sorge um Arbeitsplätze nötigt zum „Durchhalten.“**
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* Frankfurter Rundschau vom 17.12.1975
** Frankfurter Rundschau vom 27.11.1974
Anmerkung:
Erstveröffentlichung in der Deutschen Volkszeitung (1953–1989) Nr. 9 am 26.2.1976
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Durch die „Röhre“ geschoben
Die Brötchen, die Hans Krückemeier hier gekaut hatte, klebten immer noch am Gaumen; er hätte auch einen Schwamm verspeisen können; die beiden Brotscheiben wurden ihm zum Abendbrot serviert - mit einem „Guten Appetit“.
Hans Krückemeier wurde mit einem Krankenwagen in die Notaufnahme einer Klinik gebracht. Er hatte eine Schwellung im Unterbauch an der Blase.
Nach langem Warten wurde er untersucht. Befund: Abszess an der Blase, ein Eiterbeutel. Folge einer Entzündung.
Am nächsten Tag wurde er durch die „Röhre“ geschoben. Bei einer Computertomographie des Unterbauches wurden Gewebeproben entnommen, der erkrankte Bereich geröntgt und vermessen. Bei weiteren Eingriffen mit örtlicher Betäubung wurden durch einen Katheter eine Drainage (Spülung) durchgeführt und der Abszess, stinkender, klebriger Eiter, in einem Beutel aufgefangen. Hans Krückemeier hatte nun neben einem Bauchkatheter zwei Beutel, die er mit einer Hand hochhalten musste, wenn er am Stock zur Toilette ging.
Er war vierzehn Tage im Krankenhaus, hat dort viel erlebt, gesehen und erfahren. Er war jetzt 94 Jahre alt.
Der Tag beginnt morgens um halbsieben
Der Tag begann morgens um halbsieben. Da passierte fast alles zur selben Zeit.
Um sieben:
Die Blase ist voll, der Urinbeutel ist voll, daneben hängt der Beutel mit der klebrigen Masse.
Hans Krückemeier muss auf`s Klo. Eine Krankenpflegerin will den Blutdruck messen und den Puls. Eine andere Krankenpflegerin will ihn an einen Tropf hängen, um den Abszess zu durchspülen. Zwei Putzfrauen beginnen, den Fußboden zu wischen. Hans Krückemeier will seine Sandalen retten und beugt sich tief nach unten. Das Bett ist zu hoch. Hans Krückemeier fällt heraus und stößt den Wassereimer um. Er will zu den Krankenpflegerinnen sagen:
„Meine Blase ist voll, der Urinbeutel ist voll. Ich muss erst mal aufs Klo!“
Aber sie waren gegangen. Sie kamen nach einer Stunde wieder.
Das Frühstück – schwammiges Brot, das lange am Gaumen klebt – wurde serviert. Eine der beiden Krankenpflegerinnen – sie wusste, dass er
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: 2021 © Dietrich Stahlbaum. Überarbeitet und neue Kapitel hinzugefügt: 20.07.2021
Bildmaterialien: 2021 © Dietrich Stahlbaum
Cover: 2021 © Dietrich Stahlbaum
Lektorat: 2021 © Dietrich Stahlbaum
Satz: 2021 © Dietrich Stahlbaum
Tag der Veröffentlichung: 05.04.2021
ISBN: 978-3-7487-7942-1
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch widme ich den „Ärzte(n) ohne Grenzen“ und ihren Kolleg*innen in den Kliniken und Praxen, die sich, allen Widerständen zum Trotz, für radikale, menschengerechte und ökologische Reformen des Gesundheitssystems einsetzen.