Wir haben eine gewalttätige Gesellschaft errichtet,
und wir sind gewalttätig.
Unsere Umgebung und die Kultur,
in der wir leben, sind das Produkt unserer Kämpfe,
unseres Schmerzes und unserer
entsetzlichen Grausamkeiten.
Die wichtigste Frage lautet also:
Ist es möglich,
dieser Gewalt in einem selbst ein Ende zu setzen?
Ein zen-buddhistischer Mönch in dem koreanischen Film «Warum Bodhi Dharma nach Osten aufbrach»
Die Geschehnisse, über die ich jetzt schreiben werde, haben mich vor mehr als vierzig Jahren bewegt. Und die Erfahrungen, die ich gemacht habe, damals, als junger Mensch, sind überlagert durch andere, spätere Erfahrungen. Sie sind zum großen Teil verschüttet, samt den Gefühlen und Empfindungen und Gedanken. Und was lange bloßlag, ist abgeschliffen worden vom Fluß der Zeit. Dennoch hoffe ich, auf dem Grund dieses Flusses ein paar Kieselsteine, Knochenreste und einige Gesteinsbrocken zu entdecken.
Die Soldaten:
Reinhard Ganz, genannt Renard
Miroslav Prochazka, genannt Miros, später Doan Van My (my, vietn. schön, fein)
Sergent-Chef/Adjudant Alain Lebasset
Adjudant/Adj-Chef Sardos
Caporal/ Sergent Yang Kouang-sien
Caporal Paul, ein Vietnamese, ehemaliger Klosterschüler
Capitaine/ Commandant Murat, Chef des 1. BEP
Sous-Lieutenant Cronenberger, stellvertr. Platzkommandant
Sous-Lieutenant Robert Ferrier
Sous-Lt./Lieutenant Bertrand, 2. Comp./C-Chef
Lieutenant Matras
Winfried Koch, ein Legionär
Caporal Robin Wheeler
Caporal Adam Birnbaum, im Büro
John, ein US-Soldat
Lai (Lài, vietn. Jasmine)
Die Mönche:
Hao Rôshi, zen-buddhist. Lehrer und Arzt (Hao, vietn. mutig)
Thaî (Nguyen) Van Than (Thân, vietn. Freundschaft)
Nam Tuyen (Nam Tuyên, vietn. Die Anerkennung eines Mannes)
Thieu (thiêu, vietn. tief)
Hong (Hông, vietn. die Rose)
Thuc (Thuc, vietn. wachsam, Wahrheit)
Kim (Kim, vietn. die Nadel)
Vu (Vu, vietn. Der Wind)
Bien (Biên, vietn. das Meer)
Phuc (Phúc, vietn. das Glück)
Minh (minh, vietn. deutlich, klar)
Die Nonnen:
Vinh (Vinh, vietn. die Ehre)
Hoa (Hoa, vietn. die Blume)
Lan (Lan, vietn. Orchidee)
Nhi (Nhi, vietn. ein Kind)
Die Waisenkinder:
Kha (kha, vietn. wohlhabend), ein Junge
Hung (Hùng, vietn. ein Held), ein Junge
Yen (vietn. die Schwalbe), ein Mädchen
Phuong (Phuong, vietn. eine Blume im Sommer), ein Mädchen
May (Mây, vietn. die Wolken), ein Mädchen
Suong (Suong, vietn. der Nebel), ein Mädchen
Heute brachte der Postbote ein Päckchen aus Vietnam. Es war mehr als acht Monate lang unterwegs: von Hanoi über Bangkok, wo es aufgegeben worden ist, nach Schleswig Holstein, adressiert an meine Mutter. Sie war nach dem zweiten Weltkrieg der einzige Fixpunkt unserer Familie. Das Päckchen ist von entfernten Verwandten, die nach Mutters Tod ihre Wohnung übernommen haben, hierher nachgeschickt worden.
Jetzt liegt es, sorgfältig und mehrmals mit Bindfäden verschnürt, auf meinem Schreibtisch. Absender ist ein Vietnamese Nguyen Van Than. Dieser Name ist in Nordvietnam sehr häufig, und da war sicherlich ein Nguyen Van Than unter den Männern, die jeden Monat bei mir ihren Sold abholen kamen. Aber ich erinnere mich heute an kein Gesicht, das ich diesem Namen zuordnen könnte. Ich habe Vietnam, damals Indochina, 1954, vor einundvierzig Jahren, verlassen, und alle Kontakte, die ich dort hatte, sind abgerissen.
Das Päckchen ist nun offen. Es sind Schulhefte, Kladden und ein Packen loser, halbvergilbter Blätter. Obenauf liegt ein Brief, in Französisch. Eine schöne, geschwungene, zierliche Schrift, die Schrift einer kleinen Hand. Auch die Kladden und Blätter sind handgeschrieben. Es sind Aufzeichnungen, Notizen, ein Tagebuch – ohne Daten.
Der Brief, ins Deutsche übersetzt:
Doan Van My (so haben wir ihn genannt, als er sich entschlossen hatte, bei uns zu bleiben) hat uns gebeten, seinen Nachlaß an Sie zu senden, und zwar, um niemanden zu gefährden, erst jetzt, vierzig Jahre nach seiner Desertion. Sie, Monsieur, sind von seinen europäischen Freunden der Einzige, der ihn verstehen könnte.
So hat er es gesagt.
Außerdem habe er nach seiner Flucht aus Prag alle Brücken zu seiner Heimat abbrechen müssen, weil er befürchtet habe, seine Familie könnte Repressalien ausgesetzt werden, wenn bekannt würde, daß er sich freiwillig bei der Legion engagiert hat.
My ist 1966 bei einem Bombardement von US-Flugzeugen auf unser Dorf schwer verletzt worden und bald danach an den Folgen gestorben.
Wir hoffen, daß wir ihm seinen letzten Wunsch erfüllen können und daß sein Nachlaß Sie erreicht.
Wir grüßen Sie als Freunde.
Auch von Lai soll ich Sie sehr herzlich grüßen. Sie hat das Bombardement überlebt.
Nguyen Van Than und alle Bewohner unseres Dorfes.
Der Name des Dorfes fehlt. Aber es befinden sich auf dem Umschlag der Name des Briefschreibers und ein Straßenname von Hanoi. Doan Van My aus Prag...? Miros! Miroslav! Miros ist in Prag zur Schule gegangen. Er wollte Philosophie studieren. Er ist 1949 oder 1950 in den Westen geflohen und hat sich bei der französischen Fremdenlegion für fünf Jahre verpflichtet. Wir haben uns in Algerien kennengelernt, bei einem Fallschirmspringerlehrgang in Philippeville.
Ich saß mit fünf oder sechs anderen Legionären aus meiner Gruppe in einem Bistro am Tresen. Wir waren aus Nord-, Süd-, West- und Ostdeutschland und hatten uns während der extrem harten Grundausbildung, bei der nicht nach Rasse, Nation oder Region unterschieden wurde, so weit aneinander gewöhnt, dass wir einander akzeptierten. Wir fanden die verschiedenen Dialekte, in denen wir, je mehr Rotwein in uns hineinfloß, um so lauter aufeinander einredeten, sogar ganz lustig.
Wenige Meter neben uns saßen rund um einen kleinen Tisch vier andere Legionäre aus unserem Lehrgang. Drei von ihnen spielten Skat und hauten zunehmend lauter auf den Tisch. Sie sprachen tschechisch. Wir und sie trugen die gleiche Uniform und waren in gleicher Weise in dem Qualm schwarzer Gauloise eingehüllt; dies war aber auch das einzige, was uns hier im Bistro zu verbinden schien. Denn einer der Deutschen begann über die Tschechen zu schimpfen. Sie seien "heimtückisch" und "brutal". Er sprang von seinem Barhocker herunter und war mit einem Satz bei ihnen, schrie sie an und schlug mit schwerer Faust auf ihren Tisch.
Ich habe nicht gesehen, wer zuerst sein Messer gezogen hat. Ebenso schnell wie dies passierte, schlug, bevor einer von den beiden zustoßen konnte, der vierte der Tschechen, der beim Skat zugeschaut hatte, seinem Landsmann das Messer aus der Hand und sagte - auf Deutsch: "Hier sind wir alle gleich, du und du und du und du und du..." Und, den deutschen Messerhelden mit seinem Blick festnagelnd: "Hast du das noch nicht kapiert? Die Nationalität ist in der Kleiderkammer abzugeben! Und was soll das auch?! Schau, mein Vater war Tscheche, meine Mutter ist Deutsche. Du glaubst doch wohl nicht, daß sie deshalb einander umgebracht hätten."
Der Angesprochene, etwas ernüchtert, klappte sein Messer zu und steckte es weg. Seine Hand zitterte, und er stotterte: "Das wollte ich ja nicht."
Der Tscheche, der interveniert hatte: "Wir wollen das vergessen. Übrigens, ich bin Miroslav. Ihr könnt mich Miros nennen." Er streckte ihm und uns seine Hand entgegen. Bald saßen wir alle zusammen an einem großen Tisch, und Miros übersetzte aus einer Sprache in die andere. Die Wolke, die uns einhüllte, wurde immer dichter. So sind wir Freunde geworden.
Fortan haben wir unsere Freizeit gemeinsam verbracht. In Sétif haben wir mit jüdischen Gymnasiastinnen Volleyball gespielt und waren Gäste in ihren Familien. In einer Familie lebten mehrere Generationen zusammen. Das Familienoberhaupt, ein Patriarch, Endachtziger, war Schuhmachermeister und werkelte allein in einer Werkstatt, in der seit dem Mittelalter Schuhe gefertigt worden sind und deren einzige Neuerung die elektrische Beleuchtung war.
"Wegen der Augen", sagte uns der alte Mann, so als wollte er sich für diesen Anachronismus entschuldigen. Sein Urenkel war Hochschullehrer in Tel Aviv, eine Enkeltochter Offizierin in der israelischen Armee.
Ein Sohn, herzkrank und bettlägerig, hatte vor 1933 in Heidelberg studiert und sprach fließend deutsch. Ihm fielen die Worte nach und nach ein. Er bat uns jedes Mal, wiederzukommen. Unser Besuch tat ihm gut. Wahrscheinlich hieß seine ganze Krankheit Einsamkeit. Damals wußte ich noch nichts von den psychosomatischen Zusammenhängen. Ich staunte nur über den Pillenberg auf seinem Nachttisch und wunderte mich darüber, daß die vielen Tabletten dem hageren Mann nicht halfen.
Wir haben miteinander lange über die Frage der deutschen Kollektivschuld gesprochen.
Ich habe zu ihm gesagt: "Nationalismus und Rassismus waren ja in Deutschland bereits vorhanden, als Hitler kam. Er hat dann diese verrückten Ideen ins Maßlose gesteigert. Und wir haben uns manipulieren und verführen lassen. Wir waren gefangen in einem kollektiven Größenwahn. Ich zum Beispiel habe begeistert, aber doch von allen guten Geistern verlassen, mitgesungen: Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt. Ich bin als Siebzehnjähriger freiwillig in einen Krieg gezogen, vor dem nur wenige gewarnt und dem wir in Massen jubelnd zugestimmt haben.
Mein Vater war ebenso naiv und verblendet. Er ist von seinen hochverehrten Führern im Stich gelassen worden. Diese haben sich in Ostpreußen vor der Sowjetarmee in Schutz gebracht, während mein Vater, ihren Befehlen gehorchend, als Volkssturmmann bei 30° Kälte und hohem Schnee sein Vaterland verteidigen wollte, bis er vor Erschöpfung zusammenbrach und bald darauf starb. Ich habe das alles nicht verkraften können, zumal meine nächsten Verwandten, sogar meine Mutter, die Verbrechen Hitlers und seiner Kader nicht wahrhaben wollten, noch Jahre nach dem Krieg. Für mich war das ruhmlose Ende der Naziherrschaft ein existentieller Schock."
Benjamin - ich nenne ihn jetzt so - sagte, er verstehe das, denn er habe "den deutschen Idealismus und seinen Missbrauch selber erlebt". Er sei nach dem Krieg als Dolmetscher und Sachverständiger bei Prozessen gegen Nationalsozialisten hinzugezogen worden und habe dabei versucht, "neues Unrecht zu verhüten. Vorher bin ich Agent des französischen Geheimdienstes gewesen. Ich habe mich 1943 über den Alpen bei Sonthofen mit dem Fallschirm absetzen lassen und konnte bis zum Kriegsende nach London berichten, aus dem Rheinland und aus dem Ruhrgebiet. Da habe ich diesen kollektiven Wahnsinn erlebt."
Miros und ich hatten Brieffreundinnen in der Bretagne, und so arglos, wie wir waren, ließen wir uns ihre Post an die Adresse dieser Familie in Sétif senden und am Kasernentor abgeben.
Eines Mittags wurden wir in das Büro des Sicherheitsoffiziers befohlen. Mit knurrenden Mägen mußten wir fast zwei Stunden lang auf dem Korridor warten, stehend, bis wir nicht mehr konnten und uns auf den Boden hockten. Es war Siesta, Mittagspause, und erst, als diese zu Ende war, wurden wir hineingerufen.
Auf dem Tisch des Offiziers lagen zwei Briefe, geöffnet, harmlose Briefe, wie wir fanden, als sie uns ausgehändigt worden waren.
"Warum haben Sie diese Briefe an eine Privatadresse und nicht hierher schicken lassen? Wissen Sie nicht, daß dies verboten ist?"
Ich kann mich nur noch daran erinnern, daß Miros geantwortet hat: "Die Post ist wochenlang unterwegs, bis sie uns hier in der Kaserne erreicht. Was wir über diese Privatadresse bekommen, das ist in wenigen Tagen da."
Wir wurden bis zum späten Abend verhört, am nächsten Tag zu zehn Tagen Arrest verurteilt, kahlgeschoren und in einem Keller eingeschlossen. Wir haben nie erfahren, ob eine zivile Briefkastenadresse wirklich verboten war.
Morgens gegen fünf, die Nacht war noch nicht gewichen, und auf dem Kasernenhof regte sich nichts, hörten wir nebenan eine Stimme und das Geräusch eines Riegels, der auf- und wieder zugeschoben wurde. Wir traten ans Fenster, es war vergittert, und hörten das Schnauben eines Igels. So hörte es sich an. Dann sahen wir drei Legionäre. Sie robbten an uns vorbei. Ihnen war ein mit schwerem, sperrigem Inhalt gefüllter Rucksack auf den Rücken geschnallt. Wir hörten wieder die Stimme, eine gedämpfte Kommandostimme, und sahen die massive Gestalt eines Sergent-Chefs. Er trieb die Robbenden an und hatte offenbar keine Skrupel, da und dort auch mit einer Stiefelspitze nachzuhelfen. Bald lagen die drei platt am Boden und keuchten. Konnte das uns nicht passieren? Wir hatten Angst.
Als zum Wecken geblasen wurde, waren die drei wieder in ihrer Zelle. Von älteren Legionären erfuhren wir: es waren Ziegelsteine, die in den Rucksäcken für kaputte Rücken sorgten; dieser Sergent-Chef sei ein gefürchteter "Spezialist für Schikanen", und die Offiziere "sehen weg", das heißt, sie schliefen noch, wenn er sich, besonders an jungen Soldaten, abreagierte.
Alle Gefangenen mußten nun antreten, und wir beide durften bekotzte und beschissene Latrinen säubern, zehn Tage lang. Wir waren in etwa zwei Stunden damit fertig, denn wir hatten keine Lust, diese Tätigkeit zu verlangsamen, wie dies andere bei anderen Tätigkeiten taten, zum Beispiel, beim Küchendienst. Wir wurden wieder eingeschlossen.
Unsere Kopfhaare waren kaum sichtbar gewachsen. Die meisten Geschorenen, das waren in unserem Bataillon ein gutes Dutzend, wagten sich nicht an die Öffentlichkeit, wenn sie Ausgang hatten; oder sie behielten ihr Käppi selbst im Restaurant auf dem Kopf. Sie schämten sich vor den Frauen und onanierten auf der Latrine oder befriedigten sich gegenseitig. Miros und ich wollten weder das eine noch das andere. Wir fanden unsere Kahlköpfe sogar ganz lustig.
So setzten wir uns beim ersten Ausgang vor dem größten Kaffee an der belebtesten Straße Sétifs an einen der vordersten Tische auf dem Bürgersteig und ließen die Passantinnen und Passanten an uns vorbeiflanieren.
Einem älteren Mann, der uns ansprach, mußten wir die Sache erklären. Er habe, sagte er, derartiges zwar schon gehört, aber nicht geglaubt.
"Das ist entwürdigend!
Das haben die Nazis mit meinen Brüdern und Schwestern so gemacht." Er ging redend und kopfschüttelnd seines Wegs.
Zwei Schulmädchen kicherten laut, als sie uns da sitzen sahen, und ein kleiner, flinker Araberjunge stellte uns einen Hocker vor die Füße, klappte einen Holzkasten auf und putzte unsere Schuhe mit einer Selbstverständlichkeit, die jedes Wort überflüssig machte. Fast gleichzeitig zogen wir beide unsere Portemonnaies aus der Tasche, um ihn zu belohnen. Er lachte uns an und sagte: "Schaut, mein Vater hat mich auch geschoren. Also seid ihr meine Brüder, und die brauchen nicht zu bezahlen."
Er legte uns seine kleine Hand auf den halbnackten Schädel und war, ehe wir uns besinnen konnten, verschwunden.
Die Sonne ist hinter dem Berg weggetaucht, und ein kühler Wind weht herüber, vermischt sich mit der Backofenwärme, ausgestrahlt von den Hauswänden, den Steinplatten des Bürgersteigs und der Asphaltstraße. Die Gleichzeitigkeit von heiß und kalt.
Später werden wir in einem Araberdorf mit glühendem Gesicht vor offenem Feuer sitzen, während uns die Nachtkälte den Rücken heraufkriecht.
Wir bezahlen unseren Kaffee und gehen ins Bordell. Ein altes, graues Gebäude, mehrgeschossig, in einer schmalen Seitenstraße. Eine große Holztür, gefertigt vor vielen Generationen, mit Klappfenster und Klopfer. Der Lack ist rissig, teilweise abgeplatzt, am Klopfer und am Türgriff abgenutzt.
Miros hat es wohl eiliger als ich und betätigt den Klopfer.
Das Türfenster wird aufgeklappt. Es erscheint ein breites, ältliches Gesicht. Es ist maskenhaft geschminkt. Eine Araberin. Sie mustert uns wie ein Unteroffizier beim Abendappell. Das Fenster klappt wieder zu.
Jetzt wird die Tür geöffnet, und wir dürfen eintreten. Vor uns ein langer, hoher Korridor mit kahlen, weißgekalkten Wänden und vielen Türen. An jeder Tür... Da werden wir von der alten Araberin, die auf einem Rohrstuhl an einem kleinen Tisch sitzt, mit einer Handbewegung auf einen Blechteller aufmerksam gemacht.
Sie nennt einen Betrag, den ich vergessen habe. Wir blättern ein paar Scheine hin und wollen schnurstracks in den Korridor.
"Messieurs, ici!"
Ihre Hand weist auf die nächste Tür, die erste gleich hinter ihr. Diese öffnen wir und identifizieren, noch bevor wir eingetreten sind, den scharfen Geruch eines Desinfektionsmittels als denselben Stoff, mit dem wir die Latrinen gesäubert haben.
An einem Holztisch, roh gezimmert und blankgescheuert, steht ein Mensch in weißem Kittel und herrscht uns an: "Schwänze raus! Vorhaut, wenn vorhanden, hochziehen!"
Wir folgen diesem Befehl, ohne an eine andere Möglichkeit überhaupt zu denken; und der Mensch, ein Sanitäter unseres Regiments, betrachtet die beiden Penisse, nickt zustimmend, taucht einen Holzspachtel in einen großen, weißen Keramiktopf, schmiert uns eine Salbe auf den Zeigefinger und befiehlt: "Einreiben!"
Als dies geschehen, langt er in einen hohen Pappkarton voller Präservative und entläßt uns jeden mit einem dieser Gummis und den Worten: "So, jetzt könnt ihr feuern! Oder seid ihr katholisch?" Sein Grinsen verrät uns, daß diese Frage nicht ernst gemeint ist.
Bei vollem Bewußtsein sind wir erst wieder auf dem Korridor, wo an jeder Tür eine Frau steht oder auf dem Boden hockt: Araberinnen, ein paar Europäerinnen, fast jeden Alters, Dunkelhäutige, Hellhäutige, alle sehr sparsam bekleidet, einige in schwarzen, andere in dunkelroten Dessous, dazwischen in weiße, durchsichtige Schleier Gehüllte, behängt mit Fuß- und Armreifen und silbernen Ketten um Stirn und Hals, daran münzenartige Plättchen, die bei jeder Bewegung klimpern.
Wir gehen an erwartungsvollen, einladenden Blicken vorbei und lassen uns schließlich von zwei Europäerinnen hineinziehen in ihre Kammer. Auch hier der uns bekannte Geruch, mit dem wir es zehn Tage lang zu tun hatten, oder nur die Erinnerung daran, und auf der Haut der beiden Frauen ein offenbar billiges Veilchenparfüm.
Die Lust ist uns vergangen, noch bevor wir uns ausgezogen haben. Dies wird uns, nachdem wir es erklärt haben, nicht übel genommen: "Das kommt hier öfters vor."
Gemeinsam trinken wir eine Tasse arabischen Tee und erzählen uns unsere Geschichten, bis an die Kammertür geklopft und an die Zeit erinnert wird.
Die beiden Frauen, wie alle Europäerinnen in algerischen Bordellen natürlich "aus wohlhabenden Familien", waren bei einem Afrikatrip hier gelandet und besaßen nichts mehr als ihre Haut. Nun sparen sie für ein anderes und besseres Leben, das wohl ein Traum bleiben wird; es sei denn, ein alter, ausgedienter Legionär holt sie hier heraus und tut sich mit ihnen zusammen.
Am nächsten Tag, beim Mittagsappell, steht der Sergent-Chef wie immer breitbeinig in dem kleinen, runden Schatten einer Palme und verliest Befehle. Er hat sein Käppi halb über das Gesicht gezogen. Uns hingegen schießen die heißen Sonnenstrahlen ins Gesicht.
Es fällt uns schwer, still und stramm zu stehen. Wer sich bewegt, wird herausgerufen, muß sein Käppi abnehmen, dicht an die Hauswand treten, das Käppi neben sich auf den Boden legen, sich umdrehen und mit der Nase die Wand berühren. Ihm wird ein Bogen Papier vor die Nase geschoben, und es wird "Festhalten!" befohlen. "Hände auf den Rücken! Füße zusammen!" Mit der Nase wird das Papier an die Hauswand gedrückt. Unendlich lang wird hierbei die Zeit.
Wer schwarz zu sehen beginnt und schließlich das Bewusstsein verliert, wacht bestenfalls wie aus dem Wasser gezogen wieder auf, manchmal erst in der Krankenstube. Man hat ihm einen Eimer Wasser über den Kopf gegossen.
Auf dem Kasernenhof gab es kein Thermometer. Aber es gab auch niemanden, bei dem wir uns hätten mit Erfolg beschweren können. Dem Einfallsreichtum der Ausbilder beim Bemühen, uns, wie es in einer Bataillonsorder hieß, "den Erfordernissen einer Elitetruppe anzupassen", waren keine Grenzen gesetzt.
Vor unserer Einschiffung nach Indochina sollen wir "scharf gemacht" werden. So sagte es der Sergent-Chef, als er beim nächsten Mittagsappell ein Manöver, an dem mehrere Bataillone, auch Legionäre anderer Garnisonen, algerische und marokkanische Infanteristen, sowie eine französische Panzereinheit teilnehmen sollen, ankündigt.
* * *
Mit dem Fallschirm springen wir über dem Atlasgebirge ab. Tagelange Märsche durch Halbwüsten und Steppen bei extremer Hitze und kalten Nächten. Wir schleppen uns, unsere Waffen und unsere Verpflegung über einen hohen, nackten Berg, der ein weites Tal umschließt: das letzte Ziel des Manövers. Vulkangestein und Staub.
Aus allen Richtungen schlängeln sich gleich Herden nahezu erschöpfter Schafe die Kolonnen talwärts, vorbei an den Felsen und Falten des Berges. Wer zusammenbricht und liegenbleibt, wird am Schluß der Kolonne aufgelesen und auf einen Mulikarren geladen.
Auf unserem ist kein Platz mehr. Wir sind am Ende unserer Kräfte, ausgedörrt wie diese Landschaft. Die Wassersäcke sind leer. Die Hitze müßte sich im nächsten Augenblick mit einer gewaltigen Explosion entladen.
In der Talsohle, dort endet eine asphaltierte Straße, soll ein Heerlager eingerichtet werden und am Abend eine Feldparade stattfinden.
Vorn an der Spitze des Bataillons tippelt der kleine, agile Capitaine, unser Kommandeur. Damit er nicht allein unten ankommt, laufen rechts und links neben unserer Kolonne aufgeregte Unteroffiziere hin und her und treiben die zähe Masse fast erschöpfter Menschen an.
Ich ziehe den Kopf ein, so gut es geht, um nicht aufzufallen, und stolpere über die eigenen Füße. Sie wollen mir nicht mehr gehorchen. Der Sergent-Chef hat es gesehen. Vielleicht nimmt er mir das Maschinengewehr ab und läßt einen anderen die schwere Waffe tragen oder trägt sie selbst. Das ist alles, was ich noch denken kann. Aber er nimmt meinem Nebenmann den Sack voller Brote von der Schulter und hängt ihn mir um. Das letzte, was ich sehe, ist sein Grinsen.
Ich falle in ein schwarzes Nichts, wache, auf dem Rücken liegend, kurz auf, und in dieser Minute äußerster Wachheit sage ich zu mir: Wenn du jetzt nicht aufstehst, stehst du nie mehr auf!
Ehe sich das Herz ganz zusammenzieht, bin ich wieder auf den Beinen, taumele wie ein angeschossenes Tier im Kreis, gehe ein paar Schritte, spüre, wie der Kreislauf sich reguliert, und sehe, daß Miros den Brotsack vom Boden aufhebt und sich umhängt und auch mein Maschinengewehr schultert.
Der Sergent-Chef hat dies scheinbar unberührt mitangesehen, sagt dann aber: "Das war wohl zu viel."
In der Einsamkeit dieses beinahe tödlichen Augenblicks wurde mir bewußt: In solchen Momenten gibt es niemanden, der dir helfen kann, keinen Menschen und keinen Gott. Du mußt dich selber aus dem Sumpf herausziehen.
Der Himmel explodierte, und es ergossen sich gewaltige Wassermassen ins Tal. Sie verwandelten sich in Ströme von Schlamm und Gestein. Wir hatten das Tal erreicht, standen bis zu den Knien in der Pampe und sollten hier unsere Zelte aufbauen. Irgendwie haben wir das dann auch geschafft.
Am Abend fand die Parade statt. Allerdings brauchten wir nicht zu laufen. Wir wurden auf Lastwagen, die unsere Seesäcke mit den Paradeuniformen und den weißgestrichenen Gamaschen mitgebracht hatten, an einem General und seinen Stabsoffizieren vorbeigefahren, in eben diesen Paradeuniformen mit den weißen Gamaschen und einem frischbezogenen Képi blanc. [Das Käppi der Legionäre hat einen weißen, auswechselbaren Leinenbezug.]
Vorher wurde uns beim Umkleiden im LKW Akrobatik abverlangt: an der Felduniform und an unseren Händen klebte halbgetrockneter Schlamm. Es spielte keine Kapelle. Diese war im Schlamm steckengeblieben, mit allen Panzerfahrzeugen, die sie begleitet hatten, und man wartete, etwa fünfzehn Kilometer von uns entfernt, auf Bergungsfahrzeuge. General und Stabsoffiziere standen auf einer Tribüne aus rohem Holz. Sie und wir sahen nicht viel mehr als Umrisse voneinander. Denn längst war die Nacht hereingebrochen, und es begann, als der Regen schlagartig, wie er gekommen war, aufhörte, aus allem Gestein, das nicht vom Schlamm überzogen war, zu dampfen.
Da wir beide gelernt hatten, beim Exerzieren auf dem Kasernenhof aus voller Kehle Befehle zu erteilen, wurden Miros und ich nach unserer Ausbildung zum Caporal befördert.
Geimpft gegen alle möglichen Tropenkrankheiten und mit (durch Injektionen) verdünntem Blut saßen wir im Februar 1951 im Expreß, der uns zum Mittelmeer brachte.
Die Bahn, von zwei Dieselloks gezogen, fuhr mit hoher Geschwindigkeit durch die Weiten Algeriens: kahles Gebirge, menschenleere Steppen, fruchtbares Land, Weinberge, Felder, Olivenhaine, Obstplantagen, Weiden, Gärten, Höfe, Dörfer, Bäche, Brücken und wieder Steppenland, riesige Kakteen und Agaven, Pferde, Schafe, Ziegen und ein Storch in seinem Nest auf einem Telegrafenmast...
Auch Miros nahm die Grandiosität dieser Landschaft wahr.
"Hier werde ich nach meiner Dienstzeit leben!" sagte er.
Er ahnte, ebenso wie ich, nicht, daß drei Jahre später das arabische Algerien sich gegen die französische Kolonialherrschaft erheben wird und daß wir, die dieser Herrschaft dienen, hier nicht mehr geduldet werden würden.
Noch im Sommer hatten wir beide als Gäste einer arabischen Familie ein Fest in einem Lehmhüttendorf mitfeiern dürfen. Es war eine Vollmondnacht. Wir saßen am offenen Feuer, durften mit den Bewohnern des Dorfes tanzen und mit ihnen Couscous und den am Spieß gebratenen Hammel teilen.
Jetzt sitzen wir in langen Reihen auf unseren Seesäcken vor dem Bauch eines dicken Schiffes, das in Algier an der Mole vor Anker liegt, und frösteln. Es ist die Pasteur, 30 450 BRT.
Unser verdünntes Blut soll uns die Anpassung an das Tropenklima erleichtern. Hier aber weht eine kühle, steife Brise vom Meer herüber. Salzige Brecher klatschen auf die Mole und hinterlassen weiße Ränder an der Mauer und auf dem Pflaster.
Bei so vielen Menschen, ich schätze achthundert bis tausend, die auf ihre Einschiffung warten, ist immer jemand dabei, der Bescheid weiß; und so erfahren wir, daß ein schwerer Wintersturm acht Tage lang das Mittelmeer aufgewühlt und sich inzwischen gelegt hat. Was wir sehen, sei der "Badewanneneffekt": hohe, spitze Wellen noch viele Tage nach dem Sturm. Sie erzeugen auch den Wind, der uns frösteln macht.
Es wird Abend. Das Schiff ist hell erleuchtet. Ich weiß nicht, wie viele Kabinenfenster und Bullaugen es sind. Überall brennt Licht, als seien die Fahrgäste, die an Bord erwartet werden, verwöhnte Touristen, betuchte Weltenbummler mit zwanzig Koffern und nicht frisch ausgebildete Legionäre und Soldaten der Kolonialtruppe mit kleinem Sold, ihre Unteroffiziere und Offiziere, diese allerdings mit großen Holzkisten, die eben an Bord getragen werden.
Der Mann neben mir, ein älterer Legionär, der bereits drei Jahre lang in Indochina war, sagt mit todernster Stimme: "Die haben ihre Särge immer dabei. Ich habe einmal in Oran löschen geholfen und mich gewundert, daß die Särge der Offiziere viel schwerer sind als die anderen. Es waren ja alle Zinksärge, und die sahen alle gleich aus."
Obwohl wir neugierig zuhören, bricht er das Gespräch ohne weitere Erklärungen ab und unterhält sich mit einem Sergent.
Es kommt Bewegung in die auf ihren Seesäcken sitzenden Soldaten. Kommandos. Unsere Einschiffung beginnt. Es ist Nacht geworden. Die Pasteur soll in aller Frühe ablegen.
Im Unterdeck, in einem der großen Schlafsäle, wird uns ein Platz für die nächsten einundzwanzig Nächte zugewiesen. Hier unten ist es mollig warm. Die meisten von uns fallen erschöpft auf die harten Pritschen. Schon hat uns der Schlaf übermannt.
In das leise Summen der Schiffsaggregate mischen sich menschliche Geräusche: das Atmen, Schnarchen und Furzen von Hunderten, die nun nach Ostasien transportiert werden, als Kanonenfutter einer Kolonialmacht.
Aber solche Gedanken lagen uns damals noch fern. Miros, der Philosophie studieren wollte, konnte, ebenso wie ich, nicht erkennen, daß Philosophie etwas mit dem täglichen Leben zu tun haben könnte und sollte und daß andererseits das tägliche Leben, also auch unseres hier, etwas mit Philosophie zu tun haben könnte und sollte. Für uns waren es zwei Welten, eine konkrete und eine abstrakte, die Sinnen- und die Gedankenwelt. Und zwischen diesen beiden Welten konnten wir hin- und herpendeln, so daß wir uns entweder auf dem einen oder auf dem anderen Ufer befanden.
Jetzt befanden wir uns an Bord eines großen Schiffes und ahnten noch nicht, daß es ein sehr schwankender Boden sein sollte.
Als ich aufwachte, zitterte das Schiff am ganzen Leibe. Mahlende Geräusche, die Getriebe der Maschinen. Sie treiben die beiden Schrauben an, die sich durch das Wasser winden und das Schiff bewegen. Das Vibrieren des Schiffskörpers überträgt sich auf unsere Körper. Wir sind zu einem Teil des Schiffes geworden.
Wir legen ab, schieben uns seitwärts. Das Zittern hört auf, und nun geht die Fahrt aus dem Hafenbecken heraus aufs offene Meer. Ich bin an Deck gelaufen und stehe jetzt an der Reling. Die Sonne steigt glühend rot aus dem Meer. Vom Minarett der großen Moschee ruft der Muezzin zum Gebet. Es ist wie ein Klagegesang. Wie ein Abschied und eine Begrüßung zugleich. So empfinde ich es.
Die Wellen türmen sich hoch auf, überschlagen sich, vergischen, und schon wächst aus dem Wellental die nächste Woge. Am Bug wälzen sich Brecher über das Deck. Ein rotes Seil, quer überdeck gezogen, soll uns daran hindern, daß wir nach vorn unsere Neugier befriedigen gehen. Wir sollen nicht auf diese Weise unser Leben riskieren.
"Ein über Bord gegangener Legionär ist auch für den französischen Staat nichts wert", meint einer, der mit bleichem Gesicht neben mir steht, sich erbrechen will und nichts im Magen hat.
Jetzt sehe ich, das Schiff schiebt sich nicht nur nach vorn, sondern es neigt sich auch gemächlich zur Seite, erst zur einen, dann zur anderen und wieder zurück.
Ich spüre es nicht, aber ich sehe es am Horizont, an der Linie, die, ebenso wie das "Auftauchen" der Sonne aus dem Meer, eine optische Täuschung ist. Selbst der Augenschein trügt! Keiner stolpert darüber, daß wir die Sonne vergolden, sie auf- und untergehen lassen.
Geht nicht vielmehr die Erde auf und unter und nimmt uns dabei mit? Und dieses Schiff? Ist nicht das einzige, was hier und jetzt sichere Gewißheit ist, sein ruhiges und beständiges Wanken? Das Schiff, das uns trägt, es wird selber getragen. Es schiebt sich durch das bewegte Wasser, teilt es und verdrängt gewaltige Mengen dieser flüssigen Masse; eine Wunde, die sich hinter uns immer wieder schließt. Und auf der uns gegenüberliegenden Seite der Erdkugel hängen die Menschen mit ihren Köpfen nach unten? Sie bemerken es nicht.
Was ist oben und was ist unten? Du kannst dich allenfalls an dieser Reling festhalten, an einem Stück Eisen, das immer wieder von neuem mit Ölfarbe überstrichen worden ist, weil immer wieder die Ölfarbe abblättert und uns daran erinnert, daß nichts Bestand hat außer dieser Erkenntnis. Denn eines Tages wird auch das Eisen, aus dem die Reling besteht, verrostet und verschwunden sein, und dann hast du nichts mehr, woran du dich festhalten kannst.
Zum Glück lenkt mich der Hunger von solchen abstrusen Gedanken ab. Ich gehe in den Speisesaal und sehe, daß es nur wenige sind, die ebenfalls Hunger haben. Jetzt kann ich mich einmal sattessen! denke ich und will über einen der langen, für etwa hundert Soldaten gedeckten Tischen herfallen, da legt sich der Speisesaal auf die Seite, und alles, was auf den Tischen ist: Teller, Tassen, Bestecke, Kaffeekannen, Baguettes und Marmeladengläser... rutscht mit großem Schwung zu Boden, aufs Parkett. Es scheppert.
Die Tische richten sich langsam wieder auf und sind - leer.
Dennoch wird gefrühstückt, wenn auch ohne Kaffee. Es ist ja, ausnahmsweise, mehr als genug da.
Im Schlafsaal finde ich Miros in einem erbärmlichen Zustand. Er windet sich auf seiner Pritsche. Aber wie soll ich hier einer Landratte helfen? In diesem Mief wird ja selbst einem Seemann schlecht. Ich rede auf ihn ein: "Wenn du hier liegen bleibst, wirst du ersticken. Komm mit hoch an die frische Luft! Die wird dir helfen. Da verschwindet deine Übelkeit. Du warst ja wohl noch nie auf See."
Ich greife ihm wie einem Betrunkenen unter die Arme. Wir gelangen an Deck, und ich veranlasse ihn, tief und kräftig aus- und die frische, salzige Luft einzuatmen. Wenn Leichenblässe keine Farbe ist, dann hat sein Gesicht nun wieder Farbe bekommen.
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir in Port Said vor Anker lagen. Es waren einige Stunden, denn hier am Eingang des Suezkanals stauten sich die Schiffe. Die 16o km lange Wasserstraße darf mit höchstens 14 km/h befahren werden. Das sind etwa zwölf Stunden von einem Ende bis zum anderen. Ich weiß auch nicht mehr, wie viele Tage die Pasteur von Algier bis Port Said gebraucht hat.
Die schwere See war hinter uns, der Appetit kam wieder, und die Köche hatten voll zu tun. Der Speiseplan war auf leichte Kost umgestellt worden. Es wurden kleinere Mengen serviert und dementsprechend kleinere Mengen an die Fische verfüttert. Selbst die leichte Kost war vielen zu viel.
Nun saßen wir beim Abendmahl im großen Speisesaal und aßen im Nu die Teller und Schüsseln leer. Es gab größere Portionen als sonst, vom Wein sogar mehr als genug. Und dieser tat bei den Ausgehungerten schnell seine Wirkung, ohne Unterschied.
So, wie bei den bekannten, durch Seegang hervorgerufenen Gleichgewichtsstörungen ohne Rücksicht auf Dienstgrad, militärische Meriten, nationale oder sonstige Präferenzen das Essen da wieder herausbefördert wird, wo es hineingekommen ist, so sucht sich auch der Alkohol seine Opfer nicht aus. Wir waren nahezu alle, weil zwischen den Gängen reichlich geraucht und getrunken wurde, bereits lange, bevor wir das Dessert serviert bekamen, umnebelt und eingequalmt. Deshalb wurde den meisten von uns wohl erst am nächsten Morgen, als wir durch das Rote Meer schipperten, voll bewußt, was während der Kanaldurchfahrt passiert war:
Hinter den großen Fenstern des Speisesaals im Oberdeck wartete die Nacht auf die ersten Sterne. Allein die Schiffslampen strahlten hinaus. Die wenigen Lichtkegel ließen auf beiden Seiten des Kanalufers hellen, gelben Wüstensand ahnen, dazwischen einige Palmen und eine Straße. Ruhig und in mäßiger Geschwindigkeit glitt die Pasteur durch das ölfleckige Wasser.
Drinnen im Saal, ich saß dort an einem Fenster, wurde laut geredet oder, wo dies nicht mehr möglich war, leise gelallt. Ich glaube, Miros war einer der wenigen, die noch Klarheit im Kopf hatten, aber auch ich war wahrnehmungsfähig. Denn ich sah ihn von seinem Stuhl aufspringen, hörte ihn schreien: "Schau, was da passiert!", sah ihn sich zum Fenster hinausbeugen, den rechten Arm ausstrecken und den Zeigefinger in die Dunkelheit bohren.
Da waren zwei Gestalten. Sie schwangen sich wie auf ein Kommando mit einem Satz über die Reling und verschwanden. Wir und andere, durch Miros aufmerksam geworden, liefen hinaus. Wir sahen im Wasser zwei kurzgeschorene Köpfe zwischen weißen Händen, die zum Ufer paddelten, angestrahlt vom Licht der Bullaugen. Wie von einem sportlichen Ereignis gebannt, schauten wir zu, jedoch ohne das auf den Tribünen übliche Geschrei.
Keine Schiffssirene, kein Alarm. Niemand hatte den "Vorfall" gemeldet: stilles Einverständnis und zum Teil auch Gleichgültigkeit. Von den Offizieren und Unteroffizieren scheint nichts bemerkt worden zu sein. Ein alter Caporal-Chef sagte: "Die denken, Araber liefern sie nicht aus. Hier kommt keiner durch." Er sagte es, als wollte er uns Jüngere warnen, fügte dann aber hinzu: "Vielleicht wollen sie Herrn Lesseps ihre Aufwartung machen."
Der Ferdinand Vicompte de Lesseps steht in übermenschlicher Größe, so, als habe er den Kanal selber gebaut, am Ufer im Wüstensand vor einem steinernen Monument, das in der Mitte geteilt ist und dem Marinedenkmal in Laboe abgeguckt worden zu sein scheint. Ein zweiter - Unbekannter? - steht neben ihm.
Als wir vom Heck des Schiffes aus die Köpfe und Hände der beiden Deserteure weit hinten und nahe am Ufer sehen, passieren wir das Denkmal des Mannes, der in den zehn Jahren des Kanalbaus Menschen zu Hunderten wie Material verbraucht hat.
In Suez, am Ende des Kanals, kommt uns eine Barkasse der ägyptischen Polizei entgegen, fährt um die Pasteur herum und legt längsseits an. Heraus und die Schiffstreppe herauf steigen vier Männer, zwei Polizisten und zwei Legionäre.
"Die werden den Rest der schönen Reise in einem Lagerraum verbringen, ohne Bull`s-eye und ohne Licht", sagt einer, "und dann ab ins Strafbataillon! Das ist immer da, wo die Kacke brennt. Und: kein Urlaub, nicht einmal Ausgang!"
In Djibuti macht die Pasteur für 36 Stunden fest, um zu bunkern und Proviant aufzunehmen. Miros muß Wache schieben, ich darf an Land. Die ersten hundert Schritte gehe ich auf Gummibeinen. Es ist, als wolle der Boden, den ich betreten habe, mich, den Söldner im Dienst einer Kolonialmacht, abweisen. Damals wäre ich beleidigt gewesen, hätte man mich einen "Söldner" genannt. Dabei ist jeder Soldat ein Söldner, einer, der Sold empfängt.
Ich gehe durch eine weiße Stadt und gelange zu den Markthallen, wo unter Arkaden, geschützt vor den tödlichen Sonnenstrahlen, die Produkte der einheimischen Bauern und Handwerker angeboten werden.
Ich bin zwar kein Zwerg, aber angesichts der vielen, schönen, hochgewachsenen Menschen hier, schwarze Männer in weißer Leinenkleidung und schwarze Frauen in bunten, handgewebten Gewändern, komme ich mir sehr klein vor.
Diese Menschen leben uns europäischen Hektikern Ruhe, Gelassenheit und Würde vor. Ihr Stolz ist Ausdruck der Erfahrungen von Jahrtausenden.
Da kommen zwei baumlange, alte Männer, auch in Weiß. Sie gehen barfuß über den heißen Schotter und tragen lange Stöcke. Ihre schwarzen Gesichter sind von weißen Bärten umkränzt. Einer von ihnen hat einen fast kahlen Kopf. Die Adern an den Handrücken und Unterarmen sind geschwollen. Der andere hat kurzes, weißes Haar auf seinem schwarzen Kopf. Pilger?
An einer Halle treffen sie andere, jüngere Männer, darunter einen Straßenfeger mit Strauchbesen, Kehreimer und Turban.
Es beginnt ein Gespräch, das noch im Gange ist, als ich nach etwa zwei Stunden wieder vorbeikomme, beinahe mit einem blauen Auge.
Ich hatte Kinder fotografieren wollen, zwei schwarze Jungen, die mich angebettelt haben. Einer der beiden trug einen bunten Stofffetzen als Hemd.
Ich hatte ihnen von meinem kleinen Korporalssold wohl zu wenig gegeben, oder sie glaubten sich von mir betrogen. Denn als ich meinen Fotoapparat aus der Tasche zog, liefen sie davon, drehten sich um, hoben Steine auf und warfen sie nach mir. Sicherlich wollten sie mich nicht treffen. Aber sie erreichten ihr Ziel. Ich hatte Angst, befürchtete einen Aufruhr und verließ mit langen Schritten den Ort der Mißverständnisse.
Ich trinke einen Kaffee und gehe zum Hafen zurück. Unterwegs treffe ich andere Legionäre. Ich frage, wo sie gewesen sind.
"Im Puff. Da haben wir Schlange gestanden."
Die armen Frauen!
"Dann haben wir einen gekippt."
Mit dem wenigen Geld kann man nicht viel unternehmen.
Gestern haben wir in Djibuti abgelegt und sind ausgelaufen. Jetzt überqueren wir den Indischen Ozean: ostwärts. Nächstes Ziel ist Colombo. Unser Schiff ist in voller Fahrt. Sein Bug zerschneidet die Wasseroberfläche wie eine Glasplatte, deren Splitter aus den Schnittstellen herausspritzen, herabfallen und sich auflösen. Um uns herum ein unermeßlicher Raum: die ruhenden Wassermassen des Ozeans, auf dem allein unser Schiff sich zu bewegen scheint, und über uns ein Himmel voller Sonne.
Miros und ich haben auf dem Deck einen schattigen Platz gefunden. Wir liegen auf den nackten Planken, lassen uns vom Fahrtwind kühlen und schauen aufs Meer – seit Stunden.
Tage später. Wir verbringen, weil die stickige Luft im Schlafsaal unerträglich geworden ist, auch die Nächte auf unserem Platz an Deck. Wir haben Matten, Decken und Seesäcke mit hochgenommen, um etwas weicher zu liegen. So schlafen nun überall hier oben Legionäre und Soldaten der Kolonialtruppe, geduldet von den Wachen, die sich ebenfalls lieber in der frischen Luft baden als im eigenen Schweiß. Es ist schon jetzt am frühen Morgen sehr heiß. Von den Luftschächten und Entlüftungsrohren weht abwechselnd die Abluft vom Maschinenraum und ein Gemisch von Küchen- und Klogerüchen zu uns herüber. Wir gehen nach vorn zum Bug.
"Da sind fliegende Fische!"
Miros hat sie zuerst gesehen. Ein kleiner Schwarm. Sie flitzen aus dem Wasserspiegel heraus, spreizen ihre Brustflossen, gleiten schwirrend über der Wasserfläche achtzig bis hundert Meter weit und tauchen wieder ein. Sie sind schneller als das Schiff.
Ein schwerer Zwischenfall reißt uns aus dieser friedlichen Welt heraus und legt den Keim für erste Zweifel. Wir sind beim Mittagessen im großen Speisesaal auf dem Oberdeck. Hier haben wir nun unseren festen Fensterplatz. Das Fenster ist stets offen. So strömt kühlender Fahrtwind herein. Ich löffele meine Suppe, löse das Fleisch eines großen Fisches von den Gräten und stecke ein Stück in den Mund. Beinahe hätte ich mich verschluckt. Denn was eben passiert ist, das geschah so überraschend, daß es keiner von uns verhindern konnte. Außerdem ließ uns der Lärm im Saal, lautes Gerede, Klappern von Geschirr, es nicht rechtzeitig wahrnehmen.
Es war zu spät, als der Senegalese auf unseren Tisch sprang, dann aus dem Fenster hinaus und über die Reling ins Meer. Wieder wurde kein Alarm geschlagen, und keine Schiffssirene meldete: "Mann über Bord!"
Wir liefen hinaus. Einige Legionäre rannten zur Kommandobrücke und riefen den Kapitän. Er erschien, drehte langsam seinen Kopf nach links und rechts und wieder zurück und preßte dabei die Lippen zusammen, als wolle er damit demonstrieren, daß er sich den Rettungsbefehl verkneifen müsse, gegen seinen Willen. Offiziere kamen und trieben die in Gruppen Diskutierenden auseinander. Das Schiff hielt stur seinen Kurs und entfernte sich in hoher Geschwindigkeit von dem mit den Wassermassen ringenden Menschen. Ich habe ihn noch lange gesehen, zuletzt als kleinen, schwarzen Punkt...
Die Offiziere zogen sich in ihre Kabinen zurück. Es wurde weiterdiskutiert.
"Das Seerecht", sagte einer, "das internationale Seerecht gebietet in jedem Fall, einen Rettungsversuch zu unternehmen, es sei denn, Schiff, Besatzung und Passagiere geräten dadurch in Gefahr. Davon kann hier keine Rede sein. Der Kapitän hätte also stoppen müssen, ein Beiboot herablassen müssen und Männer zur Rettung abkommandieren müssen. Und wäre der Kapitän nicht auf der Brücke gewesen, hätte der erste Offizier es befehlen müssen. Eine Schande!"
Der das sagte, sagte es auf Englisch. Die meisten der um ihn herum Stehenden stimmten ihm zu.
Beim Abendessen hörten wir, der Senegalese sei aus unerfindlichen Gründen von zwei Legionären in den Tod gejagt worden. Wir haben nie erfahren, ob es eine Untersuchung gegeben hat. Wir selber sind auch nicht befragt worden.
Wir sitzen draußen an Deck und können nicht schlafen. Unsere Gedanken hängen an dem schlimmen Geschehen.
"Wir wussten ja nicht, was er vorhatte. Er wäre nicht der erste gewesen, der den Clown spielt. Hast du gesehen, daß zwei hinter ihm her waren, Miros? Ich habe ihn nicht durch den Saal rennen gesehen."
"Da war plötzlich am Tisch einer mit zur Grimasse verzerrtem Gesicht, ein Schwarzer – dann ist er gesprungen."
"Mehr habe ich auch nicht gesehen."
"Reinhard! Hier ist ein Menschenleben nichts wert."
Unsere Blicke verlieren sich in den schwarzen Wassermassen. Die Lichter des Schiffes tanzen auf ihnen. Das Schiff hat einen glitzernden Kranz. Auch der Sternenhimmel, ein riesiges Gewölbe, erscheint auf dem Wasserspiegel. Die Augenlichter der Toten...
"Ob unsere Offiziere nichts gegen den Kapitän unternehmen?" frage ich. "Oder sollte hier durch Nichtstun ein abschreckendes Beispiel statuiert werden?"
Miros: "Kann ich mir nicht denken. Bei dem Pathos in allen ihren Verlautbarungen?! Auf solche Weise würden sie das Vertrauen, unser Vertrauen, auf das sie nachher im Kampfgebiet angewiesen sind, verlieren. Ohne uns, ohne den letzten Volontaire im hintersten Glied sind sie nichts. Ich glaube, das wissen sie."
Ein ungeschriebenes Gesetz in der Legion scheint zu verbieten, über die eigene "zivile" Vergangenheit zu sprechen. Dieses Gesetz könnte lauten: Das Leben beginnt mit dem Eintritt in die Legion. Was vorher war, das hat allein den militärischen Abwehrdienst zu interessieren. Und dieser hat mitunter ein großes Interesse am "Vorleben" des Volontaire, des jungen Freiwilligen, auch le bleu, der Blaue, genannt, wegen der alten, blauen Uniform aus dem ersten Weltkrieg, die wir vor unserer Vereidigung tragen mußten.
Der Abwehrdienst stellt in ganz Europa, wo die meisten Volontaires herkommen, Nachforschungen an und überprüft deren Aussagen. Mir hat man drei Monate lang nicht geglaubt. Deshalb mußte ich als Blauer in Marseille bleiben, Kartoffeln schälen und Gemüse putzen.
Geschlafen wurde in den Kasematten der alten Festung über dem Hafen unter meterdicken Steingewölben, an denen nachts Wanzenarmeen aufmarschierten und sich auf die warmen Menschenkörper herabfallen ließen.
Wer tropenuntauglich ist, bekommt eine Rückfahrkarte. Wer der SS angehört hat oder auf einer Fahndungsliste steht, wird am Kasernentor von der Polizei abgeholt und an der Grenze seines Heimatlandes den Kollegen von der anderen Seite übergeben. Wer den weißen Bezug über sein Käppi gezogen hat, den fragt niemand mehr, was ihn veranlaßt hat, "zur Legion zu gehen", was er vorher gewesen ist und was er getan hat. Niemand weiß, warum das so ist. Dies ist eine akademische Frage, die geeignet ist, die nächsten Psychologengenerationen zu beschäftigen.
Manchmal gibt es Ausnahmen: unter Freunden. So habe ich keine Scheu, es Miros zu sagen, als er mich fragt: "Was hat dich hierher verschlagen?"
"Verzweiflung."
Sein fragender Blick gibt mir zu verstehen, daß er bereit ist, zuzuhören.
"Ich kann dir das in ein, zwei Sätzen nicht verstehbar machen. Ich muß weiter ausholen, damit du die Zusammenhänge kennst."
"Ja, erzähl!"
"Du weißt, mein Vater ist Nazi gewesen. Ich bin in seinem Sinne erzogen worden. Ich habe alles geglaubt, was man mir zuhause, in der Schule und bei der Hitlerjugend gesagt hat. Was man mir nicht gesagt hat, das habe ich nach dem Zusammenbruch des Regimes erfahren, von anderen. Es war ein Schock. Ich habe damals an Selbstmord gedacht. Es gab niemanden, mit dem ich darüber hätte sprechen können.
Mein Vater war nicht da, und meine Mutter konnte nicht wahrhaben, daß ihr Mann sich geirrt hatte. Die Liebe zu ihrem toten Mann blockierte sie total, sexuell wie mental. Sie konnte sich kein eigenes Urteil bilden und wehrte alles, was ihres Mannes Weltbild in Frage stellte, ab. Auch die anderen Verwandten, mit denen wir nach der Flucht meiner Mutter und meiner Geschwister aus Ostpreußen zusammengelebt haben, ein ganzer Clan, haben sich zugemacht.
Da habe ich mich in mich selber verkrochen, habe fast alles, was über die nationalsozialistische Herrschaft veröffentlicht wurde, gelesen und habe mir dennoch nicht erklären können, weshalb mein Vater sich dem Nationalsozialismus verschrieben hatte, ja, ihm verfallen war, wo doch seine eigenen Schwestern, sie waren wesentlich älter als er und sind im Krieg umgekommen, ihn, das Brüderchen, gewarnt haben vor dem Mann, der ein ganzes Volk ins Unglück stürzen wird. So haben sie es gesagt.
Unser Führer, hat mein Vater damals geantwortet, weiß, was richtig ist und was getan werden muß, um unser Volk aus dem Elend herauszuführen. Es war dies das einzige Mal, dass ich kritische Worte gehört habe. Es muß um 1936 gewesen sein. Da war ich zehn. Ich sehe, du hörst geduldig zu, Miros.
Aber ich will dich nicht mit meinen Geschichten langweilen."
"Im Gegenteil! Erzähl weiter, Reinhard! Wir haben hier ja so viel Zeit!"
"Meine Eltern haben mich gegen alles, was ihren Glauben und meine kleine, heile Welt hätte zerstören können, abgeschirmt. Sie haben nie mit mir oder in meiner Anwesenheit über den Naziterror gesprochen. Sie haben keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Regimes aufkommen lassen. Ich glaube, meine Eltern haben alles, was sie selber als unangenehm, peinlich, unmoralisch, tierisch, schmutzig hätten empfinden müssen, verdrängt. Sie haben einfach weggesehen und weggehört, wenn da und dort mit vorgehaltener Hand geflüstert wurde. Denn sicherlich gab es Gerüchte; aber niemand traute sich, ihnen auf den Grund zu gehen. Sie wurden als kommunistische Lügenpropaganda abgetan.
Bis 1931, als ich fünf Jahre alt war, gab es für mich nur Menschen, die ich gut leiden mochte, und solche, die ich nicht leiden konnte. Juden und Kommunisten gab es für mich noch nicht.
Ich begann damals, unsere Stadt, eine ostpreußische Kleinstadt, allein zu erforschen: ihre Gassen und Gossen, die Geschäfte und Werkstätten, die Stadtmauer, den Wallgraben und den verfallenen Friedhof mit den Grabkreuzen der 1813 im Kampf gegen Napoleon gefallenen Russen. Dieser Friedhof lag hinter der Kirche, einem sechzig Meter hohen, roten Backsteinkoloß aus dem Jahre 1312.
Ich sah dem Hufschmied bei der Arbeit und den Kutschern beim Kartenspiel zu. Sie saßen beim Kolonialwarenhändler in der Hinterstube und tranken im Winter heißen Grog. Es gelang mir immer wieder, meiner Mutter und der Aufsicht unserer Hausgehilfin zu entkommen.
Einmal öffnete ich ein großes Tor und schob mich durch den Spalt. Ein merkwürdiger Geruch schlug mir entgegen. Hunde begannen zu bellen und, als ich näher an sie herantrat, zu heulen wie ein Rudel hungriger Wölfe. Sie standen in großen Zwingern. Dann versuchten sie, ihre Schnauzen durch die Drahtmaschen zu stecken. Aus einem Schuppen kam ein alter Mann heraus. Er hatte einen schwarzen Bart und auf dem Kopf eine Mütze mit einem abgegriffenen Schirm. Wahrscheinlich haben ihn damals schon, vor 33, selbsternannte Herrenmenschen jedes Mal, wenn er ihnen auf der Straße begegnet ist, gezwungen, vor ihnen die Mütze zu ziehen. Er sah mich freundlich an.
Brauchst keine Angst zu haben, Jungchen, sagte er. Es sind junge Hunde. Die tun dir nichts.
Was machst du da? fragte ich.
Komm, ich zeigs dir!
Ich ging mit ihm in den Schuppen. Ich sah nun, was da so roch: Felle geschlachteter Tiere, innen zum Teil noch roh. Sie hingen an Drähten und lagen gebündelt herum.
Die verarbeite ich und verkaufe sie, sagte er. Er sprach hochdeutsch, mit einem fremden Akzent. Dann sah ich ihm zu, wie er die Felle mit Seifenlauge auswusch und an die Drähte hängte, damit sie trockneten.
Es wurde dunkel, und ich wollte nach Hause, aber der alte Mann sagte: Wirst Hunger haben, Jungchen. Komm, ich geb dir was mit.
Er ging ins Haus, und ich hörte ihn mit einer Frau sprechen, in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte.
Er brachte mir etwas, das aussah wie gebackener Kuhfladen, zwei Stücke.
Das ist unser Brot, sagte er. Iß man! Es schmeckt gut. Es ist nur anders gemacht als eures.
Ich war natürlich neugierig und biß hinein. Es schmeckte wirklich gut. Ich lief nach Hause, um es meinen Eltern zu zeigen.
Mein Vater stand schon hinter der Tür, einer Glastür, und schimpfte, weil ich so spät nach Hause gekommen war. Er sah den Fladen, nahm ihn mir aus der Hand und trug ihn, zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt, zum Abfalleimer. Er wusch sich die Hände. Er schrie mich an: Weißt du, was das ist? Das ist Matze! Judenmatze! Da gehst du nicht wieder hin!
Ich habe selten meinen Vater so in Wut gesehen wie an diesem Abend. Er hat nie mehr mit mir darüber gesprochen.
Wir wohnten in einem Eckhaus am Marktplatz und an einer kleinen Nebenstraße. Die Praxis meines Vaters, er war Zahnarzt, befand sich im Erdgeschoß. Der Behandlungsstuhl stand am Fenster. Von hier aus hatte er den ganzen Marktplatz im Blick: das große Karree, mit Kopfsteinen gepflastert, die alten Kastanien, die Häuserfronten mit Geschäften, Gaststätten, einem kleinen Hotel, einer Arzt- und einer Anwaltspraxis. Schräg gegenüber war ein Textilienladen.
Ich weiß heute nicht mehr, was Herr Pätzold, dem dieser Laden gehörte, in seinem Schaufenster ausgestellt hatte. Aber ich kann mich an einen Spiegel erinnern. Der Spiegel hatte bisher im Laden gestanden und den Kunden bei der Anprobe gedient. Jetzt war er im Schaufenster, in einer Ecke, und da sah ich unser Haus – in diesem Spiegel. Ich konnte sogar Einzelheiten erkennen: die Eingangstür mit der Treppe, den Balkon, die Fenster der Praxis und des Warteraums.
Dann fiel mir auf, daß an der Tür des Ladens ein Pappschild hing. Ich konnte noch nicht lesen; deshalb habe ich erst viel später erfahren, was das Schild bezwecken sollte und wer es dort angebracht hatte. Genauso ging es mir mit dem Glaskasten auf dem Bürgersteig gegenüber dem Laden. In dem Kasten hingen Schrifttafeln und eine Zeitung.
Plötzlich sah ich meinen Vater in Herrn Pätzolds Spiegel. Er kam aus unserer Haustür herausgesprungen. Er rannte, im weißen Kittel, quer über den Markt – auf mich zu. Ein kleiner Köter lief bellend hinter ihm her. Leute guckten sich nach ihm um. Ein Pferd, das einen Jagdwagen zog, erschrak vor der weißen Gestalt und bäumte sich auf. Ich stand wie angenagelt da. Mein Vater nahm mich an die Hand und zog mich fort, ohne etwas zu sagen. Wortlos gingen wir über den Markt ins Haus zurück.
Hier erst erklärte er mir, der Laden gehöre einem Juden, wir Deutschen dürften da nichts kaufen. Ich solle da nicht mehr hingehen. Ein paar Tage später waren das Schaufenster und die Tür mit Brettern vernagelt.
Pätzold ist weggezogen, sagte mein Vater. Auch der Fellhändler war nicht mehr da. Das muß im Jahre dreiunddreißig gewesen sein."
"Ist dein Vater Parteiführer gewesen?"
"Nein, aber er war Mitglied der Partei, seit 33. Er hatte 1930 in unserer Stadt eine Ortsgruppe des Deutschen Luftsportverbandes gegründet. Er hatte sein junges Leben lang vom Fliegen geträumt, und dieser Traum sollte nun verwirklicht werden. Es wurden drei Fluggleiter gebaut. Das sind fliegende Schaukelstühle aus Kieferholmen und Sperrholz, Tragflächen und Leitwerk mit Leinwand überspannt und lackiert.
Mein Vater vorn, 2. von links
Diese Apparate wurden von einem Gummiseil auf einem kleinen Hügel am Stadtrand in die Luft katapultiert. Angeschnallt und durch einen ledernen Sturzhelm geschützt, saß man am Steuerknüppel und flog immerhin einige Minuten lang.
Der Deutsche Luftsportverband wurde 1933 als Nationalsozialistisches Fliegerkorps gleichgeschaltet. Diese Organisation bildete die künftigen Militärpiloten im Segel- und zum Teil auch im Motorflug aus und warb in der Öffentlichkeit für die Deutsche Luftwaffe.
Ich war dreizehn, als meine Segelflugausbildung begann. Wir wurden also schon als Kinder auf den Krieg vorbereitet."
"Du bist systematisch zum Nazi erzogen worden; dein Vater war vor 33 nicht in der Partei, aber doch wohl schon ein Nazi?"
"Er hatte sehr früh seine Eltern verloren und ist in der Obhut seiner älteren Schwestern aufgewachsen. Sie haben ihn nicht zum Militaristen gemacht. Er hat seinen Vater vermißt und einen Übervater gefunden."
"Hitler."
"Ja. Mein Vater ist am Ende des ersten Weltkrieges als junger Soldat in deutschnationales Fahrwasser geraten, und als Zwanzigjähriger hat er in einem Freikorps, in einer der präfaschistischen, paramilitärischen Verbände, die sich nach dem ersten Weltkrieg in Deutschland gebildet hatten, im Baltikum gegen die Rote Armee gekämpft. Dann studierte er Zahnmedizin und gehörte einer präfaschistischen Studentenverbindung an. Die Backe hat er sich allerdings nicht zerhauen lassen. Er wollte ja Zahnarzt werden."
"Die Backe zerhauen - wie? Womit?"
"In den schlagenden Verbindungen war es seit den 1850er Jahren üblich, bei den Mensuren, beim Fechten, sich Schmisse, Verletzungen, an der Backe anzubringen und sie eitern zu lassen, damit dicke Narben entstehen. Diese sollten später die Doktoren als akademische Helden ausweisen. Die älteren Heldensemester, in Altherrenschaften organisiert, verhalfen den jüngeren Heldensemestern nach deren Studium zu einem guten Posten und ebneten ihnen eine Karriere. Mein Vater hatte eine solche Erkennungsmarke nicht."
"Er wollte kein Held sein. Was dann?"
"Er war ein eher ängstlicher, ein sehr sensibler Mensch. Er war rücksichtsvoll und behutsam. Ein sehr liebenswerter Mensch. Alles andere als ein Haudegen."
"Ein sanfter Idealist?"
"Er nahm die Parole Volksgemeinschaft, mit der den Massen nationale und soziale Solidarität suggeriert wurde, sehr ernst. Dennoch setzte er sich nicht mit unserer Hausangestellten an einen Tisch. Das Dienstmädchen mußte seine Malzeiten allein in der Küche einnehmen.
Einmal hat er, wie mir meine Mutter später erzählt hat, sich überwinden müssen, eine Proletarierwohnung zu betreten. Ich war zu den Arbeiterkindern ins Haus gegangen und, als mein Vater hereintrat, unter die Ehebetten gekrochen. Minna hatte Urlaub, und meiner Mutter wollte er wohl den Anblick des Elends ersparen.
Du gehst nicht wieder zu Kommunistenkindern! befahl er mir nachher.
Ich war fünf oder sechs."
"Volksgemeinschaft..."
"Im Grunde litt er unter der materiellen Not anderer und half, wo er helfen konnte. Er hat die Ärmsten unserer Stadt ohne Honorar behandelt. Selbst den russischen Kriegsgefangenen, die, von einem auf einem Hocker sitzenden Altreservisten mit aufgepflanztem Bajonett bewacht, bei uns im Flur warten mußten, hat mein Vater Füllungen, ja sogar Kronen und Brücken eingesetzt - ohne Honorar, und ihnen Zähne gerettet.
Er hätte sie herausreißen sollen. Ebenso verfuhr er bei den sogenannten Fremdarbeitern und Fremdarbeiterinnen.
Ein besiegter Feind, hat er einmal gesagt, muß menschlich behandelt werden. Sonst bist du selber kein Mensch. Ohne Zähne oder mit kaputten würden sie verhungern."
„Dann war er also auch ein Humanist, ein deutscher Humanist."
"Das war er wohl, mit allen seinen Widersprüchen. Er verabscheute Brutalität. Er hat verfaulte Zähne gezogen und vereiterte Zahnhöhlen gesäubert. Aus dieser Zahnarztperspektive hat er die Verbrechen des Staates gesehen, falls ihm überhaupt klar geworden ist, was da passierte. Denn sie wurden geheim gehalten oder als Maßnahmen zum Schutze des deutschen Volkes verschleiert.
Mein Vater, staatsfromm und autoritätshörig, verehrte Hitler wie einen Gott. Ich habe Tränen in seinen Augen gesehen, als er vorm Volksempfänger, so hießen unsere Radioapparate, saß und Hitler reden hörte. Was Der Führer sagte, das war für ihn jenseits aller kritischen Überlegungen."
"Und deine Mutter?"
"Sie war neunzehn, als ich geboren wurde, und in allem unerfahren. Sie stammt aus einer völkisch-deutschnational gesinnten Familie und gehörte als junges Mädchen dem Luisenbund an. Viele junge Mädchen haben damals die Königin Luise von Preußen, die in Tilsit mit Napoleon zusammentraf, um mildere Friedensbedingungen zu erwirken, angehimmelt. Nach ihr wurde der Bund genannt. Die Luisentöchter veranstalteten Kaffeekränzchen, strickten in Tischdecken vaterländische Symbole ein, sangen dementsprechende Lieder und stopften Vierzehnachtzehn den Frontsoldaten die Socken. Im zweiten Weltkrieg war meine Mutter im NS-Frauenbund."
"Wo lebt sie jetzt?"
"In Norddeutschland bei einer wohlhabenden Großtante, einer Gutsbesitzerin. Die Großtante hat nach dem Tod ihres Mannes Männerstiefel angezogen und ist in die Fußtapfen des Verstorbenen getreten. Sie hätte sich als Unternehmerin in einer Männergesellschaft anders nicht behaupten können. Wir sind in den Sommerferien fast jedes Jahr dort gewesen. Nahezu die gesamte Verwandtschaft war da versammelt, dazu zwei Ferienkinder aus Berlin. Sie wurden wieder aufgepäppelt.
Meine Großtante, wenn sie mit ihrem zerknitterten Filzhut über die Felder geht oder, auf ihrem Krückstock gestützt, mit dem Verwalter spricht, wenn sie am Kopfende des langen Esstisches in der Diele auf ihrem Lehnstuhl sitzt, sieht sie aus wie der Alte Fritz, Friedrich II. von Preußen. Der Alte Fritz wird sie auch genannt, von uns und von den Landarbeitern.
Den Lehnstuhl hat ihr der Husholer, der Haushalter, zum 50. Geburtstag gezimmert. Die Landarbeiter mögen sie. Sie gibt ihnen ein gutes Deputat und spricht mit ihnen plattdeutsch.
Vor Weihnachten hat sie, die Achtzigjährige, um wenigstens in den Festtagen Not zu lindern, fast hundert Pakete und Päckchen gepackt: mit Fleisch, selbstgemachter Wurst, Schmalz, Eiern und Grütze. Die Pakete brachte der Chauffeur in die Stadt zu kinderreichen Familien.
Am 24. Dezember lädt sie vormittags die Gutsarbeiter mit ihren Familien zur Bescherung ins Haus. Es gibt einen Korn, belegte Brötchen, Bier und für die Kinder Himbeersaft, und jede Familie bekommt ein großes Paket: Bettwäsche, Kleidung, Schuhe, Spielzeug. Einmal war es ein Kinderwagen.
Oft besucht sie die Katen, die Landarbeiterhäuser am Gutshof, um zu sehen, wie es den jungen Müttern und den Alten geht."
"Und sie war auch...?"
"Erst Kaisertreu, dann Hitlertreu. Sie hat schon 1936 auf den Kotflügeln ihres schwarzen Mercedes je einen schwarzweißroten und einen Hakenkreuzwimpel anbringen und ihrem Chauffeur, einem Treckerfahrer, eine uniformartige Kleidung schneidern lassen, eine Livree.
Wir Jungen wurden in Matrosenanzüge gesteckt und saßen auf kleinen Hockern zwischen den Beinen der Erwachsenen hinter der Trennscheibe des Sechszylinders, wenn wir nach Kiel fuhren, in die Marinestadt: Kriegschiffe bestaunen."
"Und dein Vater, wie ist er gestorben?"
"Ausgehungert und erschöpft, in einem Eisenbahnwagon. Im Winter 45. Bei mehr als 30° Frost. Pflichterfüllung bis zum letzten Hosenknopf hieß seine Devise. Sein Gehorsam hat ihn das Leben gekostet. Er blieb, als er seine Frau und wenigstens zwei seiner Kinder in Sicherheit wußte, ich war an der Westfront, in unserer Stadt zurück, um mit einem Häuflein alter Männer sein Vaterland gegen die sowjetische Armee zu verteidigen. Die anderen Naziführer hatten sich längst verpißt. Mein Vater war 45 Jahre alt, als er auf dem Transport nach Sibirien starb."
"Opfer seiner Gutgläubigkeit und Gutmütigkeit. Das ist sehr tragisch, Reinhard."
"Zumal er aus Königsberg stammte und dort auch studiert hat: in der Stadt Immanuel Kants."
"Der dort seine pazifistische Schrift Zum ewigen Frieden verfasst und gelehrt hat, den eigenen Kopf zu gebrauchen."
"Ja, aber ist es nicht gerade das Primat des theoretischen Denkens, welches aus seiner Philosophie gefolgert worden ist – irrtümlicherweise? ...und das uns Deutschen zum Verhängnis geworden ist?"
"Darüber können wir diskutieren, Reinhard. In den nächsten Tagen. Nur sollten wir dabei nicht vergessen, daß langer Kopfstand schädlich ist. Ihr Deutschen liebt die Extreme: vom blinden Idealismus bis zum destruktiven Skeptizismus. Ihr habt keine Mitte. Mephisto und Faust - dazwischen ist bei euch nichts. Bei uns in der Tschechoslowakei sprechen wir von der Deutschen Krankheit. Wir meinen damit einen Idealismus, der besonders die politische Realität durch eine schiefe Brille sieht und dann meistens im Fanatismus endet, in einer Art kollektiver Schizophrenie.
In totaler Verkennung habt ihr den ersten und den zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen. Da lauert dann auch schon das Extrem auf der anderen Seite: ein rigoroser Skeptizismus, der ein Kind der Aufklärung zu sein vorgibt, im Namen der Vernunft alles Vernünftige zerstört und nichts Heiliges übrig läßt. Um einige Namen zu nennen: Feuerbach, Heine, Marx, Freud, Tucholsky. Die Jüngeren kenne ich nicht."
"Unsere Kultur, Miros, nicht allein die deutsche - die gesamte abendländische Kultur lebt von den Widersprüchen, die sie hervorbringt. Wir Deutschen, Miros, du hast recht, sind da besonders gründlich. Das sind die zwei Seelen in einer Brust."
"Du hast dich mit anderen Kulturen befaßt, Reinhard."
"Ansatzweise. Mit einigen Philosophien des Ostens: Thaoismus, Konfuzianismus, Buddhismus. Das wars, was mich hierhergelockt hat, nach Asien. Aber noch sind wir ja dahin unterwegs."
"Laßt uns morgen darüber sprechen. Eine andere Frage: Dein Vater und du, hättet ihr beide, wenn er den Krieg überlebt hätte, alles Belastende nicht gemeinsam aufarbeiten können?"
"Ich denke ja. Auch mein Vater hätte es allein wahrscheinlich nicht verkraften können."
"Hast du in den Jahren vom Kriegsende bis zur Legion einen Beruf gehabt oder studiert?"
"Ich hatte eine Verlagslehre begonnen. Nebenher habe ich in verschiedenen Buchhandlungen Lesungen veranstaltet: Wolfgang Borchert. Ich habe seine Geschichten und Gedichte vorgetragen und mit anderen in verteilten Rollen Draußen vor der Tür. Kennst du es?"
"Nein."
"Unsere Situation, so, wie wir sie empfunden haben. Die Ausweglosigkeit des jungen Soldaten, der krank und zerlumpt aus dem Krieg in seine zerbombte Heimatstadt kommt und begreift, daß er von allen betrogen worden ist: vom Führer, von seinem Oberst, von seiner Geliebten. Wolfgang Borchert wäre als Zwanzigjähriger beinahe zum Tode verurteilt worden, wegen Wehrkraftzersetzung.
Nach langer Dunkelhaft hat man ihn krank und geschwächt an die Ostfront entlassen: zur Bewährung. Dann wieder verhaftet und eingesperrt, wegen politischer Witze, die er arglos seinen Kameraden erzählt hat, bis amerikanische Soldaten ihn befreit haben. Er starb 1947, ein zerstörter Mensch, 26 Jahre alt.
Draußen vor der Tür: So habe ich mich in den ersten Nachkriegsjahren selber gesehen: nirgends zuhause, auch zu Hause nicht.
Da konnten weder Rainer Maria Rilke, aus dessen Werk ich ebenfalls vorgetragen habe, noch der Zyniker Gottfried Benn helfen.
Und als nach der Währungsreform 1948 die moralische, die kulturelle Erneuerung in Westdeutschland schlagartig abbrach, abgebrochen wurde und die D-Mark die Herrschaft übernahm, da habe ich meinen Rasierapparat, ein paar Hemden und Unterhosen zusammengepackt und bin nach Frankreich gefahren, ein Jahr darauf im Herbst. Und jetzt sind wir hier auf dem falschen Dampfer?"
"Vielleicht. Aber die fünf Jahre bringen wir auch noch hinter uns. Eineinhalb haben wir ja schon."
"Und du, Miros, erzählst du mir morgen deine Geschichte?"
"Ja. Aber vorher mußt du mir genauer sagen, was nach der Währungsreform bei euch passiert ist."
Ich habe gestern noch lange wach gelegen. Wie Sternschnuppen schossen mir die Gedanken kreuz und quer durch den Kopf. Und dabei das ruhige Dahingleiten des Schiffes durch die Nacht, das Rauschen der Bugwelle, das Summen der Generatoren... Dann ist die weiße Bordkatze vorsichtig über mich hinweggestiegen und hat mich, kaum eine Pfotenlänge entfernt, mit großen, grünen Augen angeschaut. Oder habe ich dies geträumt? Jetzt nach dem Frühstück sitzen wir wieder oben an Deck, und ich erzähle:
"Bei der Währungsreform im Sommer 48 wurde die Reichsmark 10:1 durch die DM ersetzt. Bis dahin ´blühte` der Schwarzmarkthandel. Die Läden waren fast leer. Es gab keine Ware. Oder sie wurde zurückgehalten, weil der Wert der Reichsmark rapide verfiel. Es galt die Zigarettenwährung. Die Ami, die amerikanische Zigarette, kostete zuletzt zehn Mark. Lebensmittel waren knapp. Überall herrschte der Mangel.
Allein die reichen Bauern – das verbreitete der Neid – hätten nicht nur in ihren Wohnungen wertvolle Perser ausgelegt, dreifach, vierfach übereinander, sondern auch in ihren Ställen!
Dies war die eine Seite der ersten Nachkriegszeit. Auf der anderen waren die behelfsmäßig hergerichteten Konzert- und Theatersäle: sie waren voll, die Kinos ebenfalls; die Buchhandlungen, in denen, dicht gedrängt, Lesungen zugehört, diskutiert und versucht wurde, die seelische Hinterlassenschaft von Terror und Krieg loszuwerden. Da waren die vielen privaten und politischen Initiativen. Sie gingen daran, das kulturelle Getto, in das wir eingesperrt waren, aufzubrechen, Kultur von ihrem völkischen Korsett zu befreien und die Grenzen zu öffnen.
Es waren zweieinhalb Jahre entfesselter Kreativität. Kunst, Literatur, Theater, Musik und der Tanz: die große Palucca! Strawinsky, Bartok, Anton Webern, Alban Berg, Schönberg, Hindemith, Benjamin Britten, Janácek, Martinu! Brecht! Heinrich und Thomas Mann,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Copyright für die eBook-Ausgabe: 2012 © Dietrich Stahlbaum, Cover unter Verw. eines Fotos des Verf.s. Printausgabe (Aachen: 2000) vergriffen. 2., vollständig überarbeitete Auflage (Recklinghausen 2020 © Dietrich Stahlbaum) Neuauflage 2023
Bildmaterialien: Dietrich Stahlbaum
Cover: Dietrich Stahlbaum
Lektorat: Dietrich Stahlbaum
Satz: Dietrich Stahlbaum
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2012
ISBN: 978-3-86479-157-4
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Thich Nhat Hanh (*1926), dem vietnamesischen Mönch, Dichter und Philosophen, Friedensaktivisten, Zen-Lehrer und Buchautor, Mitbegründer eines Engagierten Buddhismus und für Claude AnShin Thomas, dem US-Vietnamveteranen, der sich vom Militarismus abgewendet hat und als buddhistischer Wandermönch und in seinen Büchern für Verständigung, Frieden und Heilung von Wunden, die durch Gewalt und Krieg verursacht sind, wirbt.