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Feuerblumen

Science Fiction
Herausgegeben
von Dieter König
Neuauflage des gleichnamigen Heyne-Buchs
Ungekürzte Originallänge

Autor: Dieter König
Lektorat: Nina Horvath
Druckleistungen: Winterwork, Grimma
Copyright © 2007 Sarturia Verlag e.K. Autoren-Service
Umschlagentwurf: Wolfgang Sigl
www.whiskeysierra.com

ISBN: 978-3-00-019921-9

Ein Sarturia® Taschenbuch
www.sarturia.com

Dieses Buch wird herausgegeben mit Dank an die Mitglieder und Rollenspieler des Autoren-Forums Sarturia®, ohne die dieses und andere Werke nicht hätten entstehen können.

Von Dieter König erschienen sind bisher:

In der Reihe Möwe - Wirtschaft und Finanzen:
Verkaufserfolge durch den Computer
Neue Computerlösungen für die Finanzdienstleistungsbranche
Abenteuerliche Leben

In der Reihe Heyne Science Fiction & Fantasy:
Feuerblumen – 06/3947 – ISBN 3-453-30875-1
Betondschungel – 06/4216 – ISBN 3-453-31193-0

Unter Sarturia Verlag e.K. Autoren Service erschienen bisher:
Ringfalle – Science-Fiction Action-Thriller
Die Perlen von Sarturia in zweiter Auflage - ISBN 3-935982-73-9

Dieter König war lange Jahre Ghostwriter für eine Reihe von Verfassern spannender Wirtschaftsbücher über Finanzen und Management, ebenfalls erschienen beim Möwe Verlag Idstein.

Lieber Leser,
wir möchten Sie darauf hinweisen, dass manche der Bücher, die in der Bibliografie genannt werden, nur noch antiquarisch zu erwerben sind. Wir möchten Sie diesbezüglich auf den Sarturia® Web-Shop hinweisen, den Sie unter www.sarturia.com erreichen, sowie auf einschlägige Antiquariate.
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Feuerblumen



Feuerblumen: schaurigschöne, schwarzgoldrot pulsierende Blütenpilze mit tödlichem Herzen ...

Hochgiftige Wolken – so sagte man – waren über die Erde gekrochen wie glühender, tödlich strahlender Geifer eines verwundeten Drachens. Sie mochten wirklich das Antlitz der Welt verändert haben.
Tausend Jahre war das her ...

Tief unten, geschützt von Millionen Kubikmetern Fels, regte sich jedoch Leben; der frustrierte Rest einer einstmals blühenden Zivilisation; traurige Clowns, die sich einmal „Krone der Schöpfung“ genannt hatten; zusammengepfercht wie krabbelnde Maikäfer in einem alten Schuhkarton. Sie lebten nur – nichts sonst.
Keiner von ihnen wusste genau warum.


Die virtuelle Welt der Unterhaltungselektronik schien die einzige Alternative zum tristen, traurigen Leben. Sie suggerierte einem, dass man die Enge, die Frustration des durcheinander quirlenden Ameisenstaates tief unter einer scheinbar verbrannten und vergifteten Oberfläche ertragen konnte; dass man die Demütigungen einer allzu freizügigen Mitbewohnerin vergaß.
Die Erlebnisebene machte frei ...


Es war reine Lust, mit den elektronischen Bits und Bytes auf Reisen zu gehen, als Ritter gegnerische Burgen zu erobern, im Mesozoikum auf gefährliche Großwildjagd zu gehen, ganz persönliche und meist verpönte erotische Fantasien auszuleben, vor allem anderen aber die Geheimnisse einer verbotenen Religion zu ergründen, deren Gebote und Dogmatiken zwar Opium für das Volk, aber Gift und Galle für die etablierte Führung war.
Freitag nutzte jede freie Minute für seine Recherchen. Er wollte wissen, was Menschen dazu brachte, sich für ihre Religion hinrichten zu lassen. Er war Moses, er war Noah, er war selbst Jesus in den programmierbaren Schaltkreisen seiner Traummaschinerie. Und er war ihr Sklave. Sie beherrschte ihn, machte ihn zu ihrem Lakaien, machte ihn süchtig und hörig.
Nur manchmal, wenn der Sensor die virtuellen Erlebnisse unterbrach, damit der Träumer seinen Bedürfnissen nachkommen konnte, dann brach die Wirklichkeit über Freitag herein wie ein Sturzbach, wie ein Wasserfall. Ab und zu kam es vor, dass er sich dann einschloss, nichts aß, nichts trank, manchmal sogar weinte, wenn aus der winzigen Nebenzelle das Stöhnen Rosys drang, während sie sich ungeniert mit irgendeinem jüngeren Partner vergnügte.
In solchen Augenblicken mochte es vorkommen, dass ihn ein unwiderstehlicher Drang hinaus auf die Rollbandstraße trieb, zwischen eckige Schultern, stoßende Ellbogen, stumpfsinnige Gesichter. Dann ließ er sich von der Woge flutender Leiber erfassen, durch rote und grüne und blaue Tunnel tragen, unter schreienden Neonreklamen hindurch, vorbei an hämmernden Musikautomaten, überfüllten Bars, hartnäckig flimmernden Zeitungsständen. Bis er jemanden traf, den er kannte.


„He du, Pierre …!“
Freitag drehte sich nur mäßig interessiert um.
„Ja?“
„Ich weiß etwas, das du nicht weißt …!“
„Jerry, Mann …! Sag an, was gibt’s Neues?“
Der kleine Bursche da vor ihm, mit einer hohen Stirn, die ihm fast bis zum Hinterkopf reichte, stellte eine wichtigtuerische Miene zur Schau.
„Schnee!“, sagte er. „Weiß wie der Gipfel des Kilimandscharo!“
Freitag rümpfte die Nase.
„Da gibt es längst keinen Schnee mehr“, entgegnete er. „Da gibt es vielleicht nicht mal mehr einen Kilimandscharo. Hast du dich wieder mit Baretts Leuten eingelassen? Du weißt doch, dass er nach der Strafbehandlung niemanden mehr richtig wahrnimmt. Handel mit Heroin kostet dich alles, was du an dir kennst.“
„Das ist kein Heroin.“ Jerry blickte sich nach allen Seiten um. „Das ist neues Zeug. Man sagt, es käme von oben …!“
Freitag lachte. Ein böses Lachen.
„Und darum ist es auch so teuer, wie …?“ Er stieß den Freund mit der flachen Hand vor die hohe Stirn. „Denken ist Glücksache, Mann!“
Er schaute sich nun selber um, ehe er sich zum Ohr des Kleinen niederbeugte.
„Hör zu, Jerry“, drängte er. „Schau zu, dass du das Zeug loswirst! Alles, was du hast! Und dann lass dich nie mehr in Baretts Nähe blicken. Ich will, dass du mich noch kennst, wenn wir uns nächste Woche beim Jobben treffen. Vor allem möchte ich mich selber noch kennen. Verstehst du? Halte meinen Arsch da raus!“
Jerry schien noch etwas sagen zu wollten. Mit der flachen Hand fuhr er sich über den Mund und seine Augen huschten unstet vom Freund zu den Reklamedisplays und zurück.
„Ich pass schon auf“, sagte er dann, während er sich rückwärts entfernte. „Ich halte dich da raus! Versprochen …!“
Freitag wurde danach zweimal von Leuten mit grauen Anzügen und blauen Krawatten festgehalten und durchgecheckt. Sie verfolgten offensichtlich Jerrys Spuren. Manchmal verfolgten sie auch die Spuren junger Mädchen, sofern sie hübsch waren. An Freitag hatten sie nur mäßiges Interesse.
Später fand sich der Frustrierte in einem der brodelnden Vergnügungszentren wieder, ließ sich in rasenden Zentrifugen die stickige Luft um die Ohren blasen, schaukelte wie wild in den Rotationsschiffchen. Wie so oft, vergaß er auch diesmal all seine guten Vorsätze und belastete seine Kreditkarte bis an die Grenzen, indem er in Jimmys Bar zu einem der Mädchen ging.


Sandy war ein schwarzer Engel mit sprühenden Glutaugen.
„Ärger gehabt?“, erkundigte sie sich mit rauchig klingender Stimme.
Freitag hob resigniert die Schultern, versuchte einem Gast auszuweichen, trat dafür einem andern auf die Zehen. Kopfschüttelnd schob er die schwarze Venus auf eines der Separees zu; sie biss ihm während des Gehens ins Ohrläppchen.
Das Lärmen und Brodeln und Quirlen endeten abrupt, als der elektronische Vorhang fiel. Ein Hauch nach duftenden Narzissen hüllte die beiden ein, umschmeichelte sie, entrückte sie der Realität. Warme, sanfte Haut schmiegte sich an Freitags Körper; volle, sinnliche Lippen streiften seinen Mund.
„Du bist ganz schön down“, girrte die Rauchstimme, „du brauchst mich dringend ...“
Freitag seufzte, schwieg, betrachtete ihr langfingrigen, eleganten Hände, wie sie geübt streichelnd über wohl geschwungene Hüften fuhren, die zarten, nur spärlich verhüllten Brüste berührten, gekonnt und aufreizend im Schoß verweilten, den ein hauchzarter Slip mehr enthüllte als bekleidete.
Freitag erglühte in Feuerbränden.
„Eine Scheißwelt ...!“, kam es ungestüm über seine Lippen. Grimmig ließ er sich in einen der pneumatischen Sessel fallen, öffnete den Mund, ließ die aufklingenden Harmonien einer Sphärenmusik in sich hinein und die Leere, die Frustration, die Enttäuschung aus sich heraus. Sie manifestierten sich inmitten des Separees, zerfaserten dann in den plastischen Tonfolgen ätherischer Melodien.
Die rauchige Stimme girrte, lachte.
„Du musst das nicht so ernst nehmen“, besänftigte sie ihn leise. „Einmal oben – einmal unten. Das Leben tut nun mal nicht das, was wir gerne hätten.“
„Wie recht du hast“, seufzte Freitag ergeben, ließ es zu, dass sie niederkniete, seine Hüften umfing, ihre Lippen in seinen Schoß presste, „wie unbarmherzig recht!“
„Natürlich“, sagte sie dunkel. „Steck deine Kreditkarte in den Buchungsschlitz, dann unterhalten wir uns weiter ...“
Innerlich verfluchte Freitag die Unterbrechung, schob aber gehorsam die kleine Karte in die Abbuchungsautomatik. Er musste sich zwingen, um nicht seine Erregung zu verlieren.
„Ich will raus hier!“, kam es gequält über seine Lippen. „Ich werde sonst verrückt!“
Sie schien plötzlich etwas kühler.
„Du willst wohl ein zweiter Matzinger werden!“, äußerte sie trocken. „Für ein paar Minuten Freiheit an einer radioaktiven Oberfläche einen Schnitt ins Gehirn; ein Leben lang Marionette sein, Zombie …!“
Sie schüttelte zynisch ihr Köpfchen.
„Nein“, keuchte Freitag atemlos, „nur das nicht. Matzinger war zu ungeschickt, er hätte der Patrouille entkommen können!“
Sie erhob sich energisch.
„Wir sollten von der Wirklichkeit reden“, sagte ihre Rauchstimme.
Die Musik wurde lauter, der Narzissenduft übermächtig, schwemmte Freitag vor sich her wie auf dem Kamm einer schäumenden Woge. Halb in Trance sah er zu, wie sich Sandys Körper ekstatisch bewegte, fühlte den Reiz, den sie ausstrahlte, der sich in seinem Schoß konzentrierte. Das Blut pochte in seinen Schläfen.
„Ja ...!“, hauchte er heißer, als sie sich aus ihrem Slip schälte und provozierend zwischen die Beine griff. „Oh, ja ...!“


„Wo warst du?“ Rosy Frage traf ihn wie der Stich eines Messers.
Wenn sie nur nicht stets so forsch und rechthaberisch auftreten würde. Er hätte ihr freiwillig alles gesagt, was er getan und gedacht hatte, wenn sie ihn nur darum gebeten hätte. Aber stattdessen forderte sie, drängte sie, ärgerte sie ihn.
„Warum willst du das wissen?“
„Stell dich nicht so an!“, rügte sie ihn. „Das Neuronale Netz schickt uns Nachrichten auf die Erlebnisebene, dass wir auf ein einzelnes Zimmer herabgestuft würden, wenn wir keinen größeren Beitrag zur Allgemeinheit leisten könnten. Ich kann wirklich nicht mehr tun, ich will schließlich auch meine Freiheit. Aber du könntest wenigsten einmal in der Woche auf deine Machoerlebnisse verzichten … oder wir sollten ein Kind nachweisen …“
Er ärgerte sich maßlos über sie, wenn sie in diesem Ton mit ihm sprach, aber sie war schön. Sie hatte die naturschwarzen Haare über den Ohren abrasiert und nur einen lockigen Streifen von der Stirn bis in den Nacken stehen lassen. Im linken Ohr trug sie mindestens ein halbes Dutzend silberner Ringe. Am rechten Ohr trug sie den geschwungenen Klapphalter der Benachrichtigungseinheit. Sobald wieder Andrang auf der Krankenstation herrschte, würde sie mit dieser Einheit reden und sie würde jede Beschäftigung unterbrechen, sich anziehen und gehen, wenn die Einheit es verlangte. Pierre Freitag sprach aus Erfahrung.
„Ein Kind …?“, kam es frustriert über seine Lippen ohne dass er es zurückhalten konnte, „Wie sollten wir, wenn dein Piepser uns ständig davon abhält?“
Kaum hatte er ausgesprochen, erschien es wieder, dieses harte Funkeln in ihren Augen. Freitag kannte es - es etablierte sich stets kurz bevor sie anfing, ihn absichtlich zu verletzen.
„Außer dir“, kam es kalt von ihren schwarz bemalten Lippen. „Hat sich noch keiner beklagt. Vielleicht sollte ich mir einen besseren Mitbewohner aussuchen. Einen, der weniger redet und mehr zeigt.“
Himmel noch mal! Warum tat sie das? Sie setzte ihm die prächtigsten Hörner auf, nur um sie ihm im nächsten Augenblick mitten ins Herz zu stoßen? Gewaltsam versuchte er sich zu beherrschen.
„Rosy“, kam es mühsam über seine Lippen, „wir sind beide aufgeregt. Komm, lass uns etwas unternehmen. Etwas, bei dem wir uns aussprechen können. Lass uns essen gehen, vielleicht zu Winters, über dem Casino, da gibt’s echtes Fleisch.“
Sie schwieg. Hatte sie sich’s überlegt? Hatte sie tatsächlich seinen guten Willen akzeptiert? Hatte sie inzwischen ebenfalls die Absicht, einzulenken?
„Du bist“, ließ sie vernehmen, und es hörte sich an, als schärfe sie ein bereits geschärftes Messer ein zweites Mal, „der naivste Trottel, der mir jemals unter die Augen gekommen ist!“
„Ach, und wieso?“ Ärger drohte ihn zu übermannen.
Sie schöpfte Atem, und das klang ebenfalls als ziehe sie ein Messer über den Wetzstein.
„Du bist der einzige, der nicht weiß, woher das Fleisch kommt. Du bist der einzige der äußert, sein Steak sei weich wie ein Kinderpopo, und der trotzdem nicht über die Säuglingssterblichkeitsrate nachdenkt. Du bist der einzige, der nicht fragt, warum es nirgends in unseren Städten einen Friedhof gibt. Du bist der einzige, der sich von der Werbung sagen lässt, dass es in unseren Überlebenseinrichtungen Rinder gäbe, die Schweinefleisch fressen und trotzdem gesund bleiben könnten …!“
„Und? Ist das denn nicht richtig …?“
Sie zuckte zusammen, als litte sie unter einem Stromschlag. Tränen schossen in ihre Augen. Sie schien etwas sagen zu wollen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Schließlich wandte sie sich brüsk um. Die Tür glitt hinter ihr so laut und heftig ins Schloss, dass die Wände zitterten.
Freitag stöhnte auf. „Was habe ich jetzt wieder Falsches gesagt?“
Lärm von draußen flutete in die winzige Wohnung. Rosy schien die Tür zur Rollbandstraße geöffnet zu haben. Wollte sie schon wieder alleine fortgehen? War sie schon wieder so sehr aufgebracht? Ihr waren doch bloß die Argumente ausgegangen. Wie immer! Oder tat sie das nur, um ihn noch mehr zu verletzen? Ganz sicher kam sie auch diesmal erst am nächsten Morgen nach Hause.
Zornig drehte er sich um, kickte einen heruntergefallenen Trinkbecher in die Ecke. Ablenkung war alles, was er jetzt brauchte! Frustriert aktivierte er die Erlebnisebene der vom Neuronalen Netz gesteuerten Unterhaltungselektronik. Heute wollte er bloß noch Aliens jagen. Einfach bloß drauflos ballern und Trefferpunkte sammeln.


Freitag war schon lange nicht mehr im Club gewesen – zu voll dort - aber jetzt musste er einfach hin gehen. Leute aus der Verwaltung waren da, Leute, die er vom Wettbüro her kannte und Willard, den er öfter beim Kartenspielen im Kasino traf.
Willard schien clever. Er konnte sich merken, welche Karten gefallen waren und welche noch im Paket sein mussten. Er erzählte auch viel von Simulationen für die Abwehr organisierter Angriffe aus dem Weltraum. Er hatte mit Philosophie und Religionsgrundsätzen, wie sie Pierre Freitag interessierten, nicht viel am Hut, ihn interessierte vielmehr Militärstrategie in jeglicher Form. Willard schien der richtige Mann. Freitag wartete, bis er ihn an der Bar erwischte.
„Sag’ mal, alter Freund“, begann er. „Du bist doch kein Vegetarier? Du magst doch auch hin und wieder ein Stück Fleisch auf dem Teller …?“
„Klar, wieso?“ Der Kartenspieler musterte Freitag mit wässrigen Augen, deren blauverwischte Iris im Weiß der Augäpfel zu verschwimmen schien.
Freitag hob auf die Gegenfrage hin bloß die Schultern.
„Nur so …! Es könnte doch sein, dass die Werbung lügt, und wir haben gar keine Schweine oder Rinder in den unterirdischen Stadtanlagen?“
Willard fuhr sich nachdenklich über den ziemlich widerspenstigen Haarschopf.
„Könnte natürlich sein“, räumte er ein. „Die relevante Frage muss allerdings lauten: Wem nützt das? Ich meine, du kannst nicht einfach irgendwelche Annahmen publik machen, ohne zumindest theoretisch zu überprüfen, ob die zugrunde liegende These auch haltbar ist. Weißt du, Napoleon hat damals seine Soldaten zweimal durch die ganze Welt gejagt, ohne vorher eine Simulation zu programmieren, ob er die Fronten auch wirklich halten könnte. Wenn du jetzt behauptest, es gäbe keine Nutztiere …“
„Das habe ich nicht behauptet!“
„…dann musst du auch die logische Gegenprobe machen: Wem würde es nützen, wenn es keine tierischen Fleischlieferanten in unseren Ghettos gäbe?“
Willard schaute ihn recht bedeutungsvoll an. Freitag hob abermals die Schultern und schöpfte tief Atem.
„Ja, schon …“, gab er zurück. „Uns persönlich würde es vermutlich an Fleisch fehlen … glaube ich mal. Also sollten wir schon über Nutztiere verfügen. Andererseits: Wohin wandert dann das Fleisch unserer Leichen?“
Eine Weile rührte sich der Blondschopf nicht, während er Freitag anstarrte, als ob dieser ein Loch im Kopf hätte, hinter dem es bestimmt bald etwas zu entdecken gäbe. Schließlich wandte er den Blick ab und betrachtete das Whiskeyglas in seinen Händen.
„Die Frage ist in der Tat berechtigt“, gab er leise zu. „Die Verwaltung unseres Höhlendorfes könnte unter Umständen auf Rinder und Schweine verzichten, und damit ein leidiges Entsorgungsproblem aus der Welt schaffen. Wir würden uns dann selber …“
„Igitt …!“
„Beruhige dich!“, Willard zeigte so etwas wie ein Grinsen. „Vielleicht mag alles auch ganz harmlos sein. Ich meine ja nur …“
Freitag wartete hoffnungsvoll auf weitere Worte von Willard, denn er glaubte, dass er das, was er jetzt noch zu hören bekommen würde, viel lieber hören würde, als das, was er gerade eben gehört hatte. Willard wiegte seinen Blondschopf hin und her.
„Auf der Oberfläche“, sinnierte er laut, „gab es Jahrtausende lang ein funktionierendes Ökosystem, das sogar ziemlich intelligentes Leben hervorgebracht hat … wie ich annehme, wenn ich unser Potential betrachte. Die elektronischen Maschinen hier unten, mit ihrem verfilzten Netzwerken, sind nicht intelligent! Sie beschützen uns bloß, solange sich kein Fehler ins System schleicht!“
„Du willst mir doch keine Angst machen …“
Willard furchte die Stirn.
„Wir haben das ursprüngliche Ökosystem verloren“, ließ er verlauten, „vielleicht aus Dummheit, vielleicht auch bloß auf der Flucht vor fremden, aggressiven Lebewesen, die scharf auf unsere Rohstoffe waren, vielleicht auch bloß um den Planeten vor uns selbst zu schützen. Aber wir könnten diese Verhältnisse wieder zurückerobern, wenn wir am Leben bleiben … und wenn wir Mut haben …!“
„Glaubst du wirklich an das, was du da sagst?“
Willart zog mit einem schmatzenden Geräusch die Luft durch die Zähne.
„Schau mal, Pierre“, dozierte er dann, „wenn da unten irgendwo in den Eingeweiden der Stadt riesige Tanks mit Algen stehen, dann leiten wir da unsere Abfälle rein, unseren Kot, unseren Urin und die Erntemaschinen ernten aus den Behältern saubere Algen, aus denen man leckeres Cordon bleu machen kann. Wären damit Nutztiere wie Schweine überflüssig? Oder erfüllen sie vielleicht noch einen weiteren Zweck? Und Rinder? … na, ja, vielleicht fressen die Rinder in Wirklichkeit Schweinefleisch, oder das, was von den Schweinen übrig bleibt …“
Frustriert beendete Freitag das Gespräch. Nichts von dem. was er gehört hatte, gefiel ihm sonderlich. Aber sicherlich würde er so viele Meinungen zu diesem Thema zu hören bekommen, wie es Clubmitglieder gab, wenn er nur weiter danach fragte.
Nun ja, die virtuellen Gesprächspartner waren ja auch noch da. Vielleicht lohnte es sich tatsächlich, wenn er sich einmal wirklich mit dieser Thematik auseinandersetzte, und tiefer ins wuchernde System der allgewaltigen Neuronalen Netze einstieg.
Er nahm sich vor, bei der nächsten Session daran zu denken.


Leidlich taumelnd und schwankend kam er nach Hause, stolperte in den Nebenraum. Leere gähnte ihm entgegen; winzig und unscheinbar flimmernd nur der Merkschirm mit einer Nachricht: „Bin auf einer Party, Liebling. Erwarte mich nicht vor übermorgen zurück! Rosy …!“
Hämisch grinsten ihm die Worte entgegen.
„Blödmann ...!“, knurrte Freitag den Bildschirm an, streckte ihm die Zunge heraus.
Schwankend begab er sich in seine eigene Wohnzelle, fingerte an dem Steuergerät der Panoramawände herum; sie flammten auf, stabilisierten sich.
Feuergarben stoben aus mehreren Bergkegeln, gleichmäßig verteilt auf alle vier Wände; nahtlos, kontinuierlich, dreidimensional; eine bestechend farbenfrohe Apokalypse der Weltentstehung – vielleicht auch des Weltuntergangs ...
Befriedigt starrte Freitag auf die lautlos tobenden Gewalten, in das aufgischtende Wasser mit den Dampfwolken darüber, das von goldroten Feuerströmen erst zerrissen, dann hoch geschleudert wurde. Vor ihm, hinter ihm, neben ihm. Es war begeisternd, die Zerstörung zu beobachten, die entfesselten Gewalten zu genießen ...
Eine Weile betrachtete Freitag das Flammenmeer, die lodernden Gewalten, die berstenden Berge. Dann atmete er ernüchtert aus. Mit seinem Atem entströmte die wilde Wut, die Lust an dem Schauspiel, die gerade eben noch erwachsene Kraft.
Die Projektion auf den Zellenwänden verlor ihre magische Anziehungskraft, verwandelte sich in aneinander gereihte Abläufe physikalischer Gesetzmäßigkeiten von strömender Lava, verdampfenden Wassers; die Farben verloren ihre Brillanz, lösten sich auf in bläuliche, gelbe, goldrote Töne, erstarben zu einem elektronischen Abbild projizierter Phantasie auf plastikkaltem Hintergrund.
Mit einem entschiedenen Druck auf die empfindlichen Sensortasten löschte Freitag den unwirklichen Traum aus, verjagte ihn von den Wänden, verbannte ihn in den Speicher des Panoramagerätes und ließ die Lieblosigkeit der Wohnzelle über sich hereinbrechen. Trist war sie. Trist und verletzend.
Raus hier, schrie alles in ihm, nur auf und davon. Nur fort! Nur weg hier! Vor seinem geistigen Auge sah er die Brandung eines längst zerstörten Badestrandes. Er fühlte den Wind im Haar, roch den salzigen Geruch der sprühenden Gischt.
So etwas geschah wirklich, irgendwo da oben. Oder es war zumindest geschehen. Der Nukleus der Neuronalen Netze hatte diese Empfindungen und Erlebnisse mit herunter gebracht in die verdammten Ghettos. Er hatte sie über die langen Zeiträume hinweg auf den verschiedensten Servern gespeichert, nur um damit Nacht für Nacht die Gehirne frustrierter Stadtbewohner einzulullen. Nur um sie Tag für Tag zu betäuben.
Aber die dargestellte Welt war real. Sie musste real sein! Freitag war sich dessen sicher: Da oben wartete die wirkliche Welt!
Aufstöhnend presste er sich die Fäuste gegen die Schläfen, wand sich wie unter innerem Schmerz, ließ sich schließlich auf die Knie fallen; seine Schultern zuckten wie unter elementarem Schluchzen.
„Wie hat Matzinger das nur herausgefunden?“, presste er gequält durch die zusammengebissenen Zähne, während seine Tränen wie morgendlicher Tau auf dem Teppich glitzerten. „Wie hat er nur den Weg zur Oberfläche entdeckt?“
Konnte es sein, dass es in diesem Geschwür vernetzter Leitungen, Controller und Server eine Lücke in irgendeinem Protokoll, in irgendeiner Firewall gab? Konnte es sein, dass jemand wie Matzinger in der Lage war, eine solche Lücke zu finden? Konnte es sein, dass jeder sie fand, wenn er nur eifrig genug danach suchte?
Plötzlich beherrschte ihn diese Idee vollkommen. Unvermittelt trockneten die Tränen, das Schluchzen verstummte: Freitag starrte erregt auf das Schaltpult seiner Unterhaltungselektronik.
Ja, so musste es gewesen sein: Das Erlebnisgerät wurde – genau wie alles andere – von den Neuronalen Netzwerken gesteuert. Sie erweiterten sich selbst, nach einem Bauplan, den vielleicht nur sie allein kannten. Aber irgendwo in diesen verfilzten Nervensträngen und Ganglien musste der verdammte Nukleus sitzen, der diesen Bauplan kannte. Es musste nur gelingen, diesen Speicherbereich aufzuspüren und in ihm nach dem Beginn des Neuronalen Wachstums zu suchen. In den Bits und Bytes dieses Sektors sollte noch die ursprüngliche Beschreibung der unterirdischen Städte schlummern, bereit, von jedem aufgeweckt zu werden, der die richtigen Fragen beherrschte.
Hatte er, Pierre Freitag, nicht alles über eine verbotene Religion herausgefunden? Hatte er nicht aus all den zensierten Daten etwas erfahren, das ihm das Netzwerk niemals auf direkte Anfragen mitgeteilt hätte?
Erregt erhob er sich. Was einmal möglich gewesen war, musste auch ein zweites Mal möglich sein. Sicher hatte Matzinger auf dieselbe Weise den Weg zur Oberfläche gefunden ...
Freitags Herz schlug spürbar in der Brust; in seinen Gliedern war ein Ziehen. Eine Kraft flutete in ihm empor, eine gewaltige, nie gekannte Energie. Hastig verrammelte er alle Türen, legte sich atemlos unter das Steuerpult und wählte den Anschluss an die Informationen des Netzwerks.
Blauer Raum breitete sich aus um ihn her, erfüllt mit orangefarbener Musik. Die Automatik erweiterte die Simulation um eine weitere Ebene und die Musik wirkte plötzlich dreidimensional. Die Startseite der Informationsräumlichkeiten etablierte sich.
Freitag begann sich einen Weg durch den Datendschungel zu suchen. Verwaltungslisten blätterten vorbei, technische Abhandlungen, militärische Waffensysteme und zerklüftete Flugscheiben, die den halben Himmel bedeckten. Weiter mit Kriegsgeschehnissen und pulsierenden Feuerblumen. Dann zurück zu architektonisch wertvollen Bauwerken und Stadtplänen.
Freitag arbeitete wie ein Verrückter, rief Daten ab, fluchte, wenn ihm die Neuronalen Netze hin und wieder einige der Antworten verweigerten, jubelte innerlich, wenn er über scheinbare Nebensächlichkeiten auf einen wichtigen Link stieß und webte dabei aus vielen kleinen Einzelinformationen ein feinmaschiges Netz, bis er ihn hatte, den Nukleus. Bis er offen vor ihm lag, der zentrale Netzwerkknoten, in dem der Weg zur Oberfläche gespeichert sein musste.
Eine wilde Freude blühte in Freitag auf, ein Tatendrang sondergleichen. Wie besessen grub er sich hinein in die Informationen, verhaspelte sich, musste sich korrigieren und sprach dabei – ganz aus Versehen – die Schaltkombination für die Erlebnisebene aus.
Durch diesen Eingabefehler füllte die ungeheure Datensammlung des wild wuchernden Computergeschwürs die pulsierenden Zellen von Freitags Gehirn, induzierte ein noch nie da gewesenes Erlebnis mit übersteigerter Intensität. Es wischte Freitag fort, löschte ihn aus ...


Nun war er endgültig auf der Flucht.
Eintausendzweihundertundelf Stockwerke, eintausendzweihundertundzwölf.
Der Lift hielt.
Hämisch blinkte die Informationstafel den Text in Freitags Augen: „Ende des bewohnbaren Bereichs. Weiterbeförderung nur mit Legitimation!“
Die Kieferbacken der Lifttür glitten auseinander und spieen Freitag aus. Kühle war, und Dämmerung. Von den Naturfelsen fielen Tropfen: plitsch, plitsch, platsch; tick, tick, tack – ticktack.
Freitag schaute sich um.
Der Gang verlief wie ein hohles Kabel, schien sich in der Unendlichkeit zu verlieren. Pfützen schimmerten rubinrot im schwachen Licht der Notbeleuchtung. Feuchtigkeit kroch unter Freitags Jacke. Wohin jetzt?
In regelmäßigen Abständen verloren sich die kobaltblau gestrichenen Türen der Liftausgänge in der Ferne; mit zunehmender Entfernung schrumpfend, scheinbar mit den Steinwänden des Gangs verschmelzend.
Hier war die Menschheit vor fünfzig oder sechzig Generationen hereingeflutet, hatte sich versteckt, verkrochen. Wie viele Menschen waren das gewesen? Wie viele Menschen waren es jetzt noch? Wie lange wollten sie noch dort unten hausen, dicht gedrängt und zusammengepfercht?
Freitag begann zu gehen, einfach nur geradeaus, welche Richtung, links oder rechts – es schien gleichgültig.
Mechanisch reihte sich Schritt an Schritt, und die Geräusche seiner Schuhe auf dem nassen Beton mischten sich mit dem glucksenden Fallen der Wassertropfen: tipp tapp, tipp tapp, plitsch, plitsch, platsch!
Freitags Hände gruben sich tiefer in die Taschen, wärmten sich an der Ausstrahlung seines Körpers. Er tappte weiter.
Was suchte er eigentlich? Was konnte er hier finden? Einen Aufstieg vielleicht? Einen Schacht, der durch die unvorstellbaren Massen der Felsen nach oben führte?
Freitag fröstelte.
In der Unendlichkeit, da, wo sich die Wände, der Boden und die Decke des Gangs trafen, entstand Bewegung. Freitags Schritte wurden unregelmäßig, stockten. Die Bewegung in der Ferne wurde deutlicher, wurde zu Männern, zu Uniformen – grauschwarz ...
Freitag blieb stehen.
Flucht? Oder abwarten? Oder was ...?
„He, Sie da!“
Der Ruf erklang dünn, pflanzte sich an den Wänden, an der Decke fort, flutete über Freitag hinweg und verlor sich hinter ihm in der feuchten, pfützenerfüllten Ferne.
„Bleiben Sie stehen! Warten Sie!“
Die Uniformen kamen näher, und Freitag stand stumm und reglos und einsam in der rötlichen Dämmerung; sein Gaumen war wie ausgetrocknet.
„Was suchen Sie hier?“ Die Stimme klang nah, präzise, fordernd. „Wer sind Sie?“
Die Laute hatten ihr Echo verloren; nur zwei Handbreit war das Gesicht des Fragenden von Freitags Nase entfernt. Misstrauische, graue Augen blickten streng.
„Pierre Freitag“, sagte sein trockener Mund.
„Und was suchen Sie hier? Das ist Sperrbezirk!“
„Oh“, machte der trockene Mund, nicht gerade überzeugend, „das wusste ich nicht. Bitte verzeihen Sie ...“
„Und wo wollten Sie hin?“
„Weiß nicht ... Einfach nur so ... spazieren gehen.“
„Hier oben?“
„Ich bin einfach herauf gefahren, bis es nicht mehr weiterging. Irgendwo werde ich wieder hinunterfahren, wenn ich mich müde gelaufen habe.“
Eine Weile starrte der Fremde ihn mit strengem Gesichtsausdruck an, dann nickte er.
„Den Koller, was?“, erkundigte er sich, nun nicht mehr ganz so abweisend. „Packt alle mal. Nur raus, denken sie, nur weg von den Massen. Solche Leute kommen öfter herauf, obwohl sie hier nichts zu suchen haben. Wir müssen auch Sie wieder hinunterschicken, Freitag, tut mir leid. Trotzdem – nur vorsichtshalber ...“
Die geübte Hand des Uniformierten tastete nach Freitags Jacke.
„Es ist unsere Pflicht. Sie verstehen ...?“
Flinke Handgriffe huschten über Freitags Körper, betasteten Taschen, Armhöhlen, Hosenbeine.
„In Ordnung!“, sagte der Grauschwarze. „Kein Werkzeug!“
Er richtete sich auf, winkte dem anderen Patrouillengänger, trat einen Schritt zurück.
„Wir müssen Sie bitten, mit dem nächsten Lift nach unten zu fahren ...“
Freitag nickte. „Ich verstehe ...! Aber ... suchten Sie bei mir nach Werkzeug?“
Der Grauschwarze bejahte.
„Ja, wissen Sie, ab und zu kommt so ein Verrückter hier herauf“, erzählte er bereitwillig, tippte sich dabei bezeichnend an die Schläfe. „Manche glauben, da oben ginge es weiter. Sie versuchen die Panzertüren aufzubrechen und durch den Fels zur verseuchten Oberfläche zu gelangen.“
„Was es nicht alles gibt ...“, sagte Freitags Stimme nahezu selbständig. „Wie dem auch sei, ich fahre wieder hinunter.“
„Das ist vernünftig“, lobte der Uniformierte. „Bleiben Sie unten, toben Sie sich in den Erlebnisebenen aus, denn dazu sind sie ja da.“
„Mach' ich“, versprach Freitags Stimme, „ich werde es tun ...“
Seitwärts stahl er sich zum Lift, ließ dabei die Gesichter der Uniformierten nicht aus den Augen.
„Ich werde es ganz bestimmt tun ...“
Die warme, trockene Kabine nahm ihn auf; es roch nach Maschinenöl, nach frisch gereinigten Teppichwänden. Die Schiebetür zerschnitt die Bilder der Grauschwarzen, schloss sie hinaus, trennte sie von Freitag. Die Fahrt nach unten begann; endlos lange, unterbrochen von herein- und wieder hinausflutenden Menschen, doch unaufhaltsam, unwirklich, demütigend ...


Es war nicht schwer gewesen, das notwendige Werkzeug aufzutreiben. Die Baustellen an den Rollbandstraßen waren voll davon. Freitag hatte sich Batteriebohrer und Brechstange unter die Jacke geklemmt, dazu einen Satz Elektroschrauber. Das musste genügen.
Schwieriger war es, eine geeignete Waffe zu besorgen. Waffen gab es kaum in der Unterwelt. Sie waren verboten. Nur die Männer der Patrouille trugen an den Hüften Etuis, in denen sich schwere Betawerfer befanden. Die Waffen emittierten einen Leitstrahl, ionisierten die Luft in glühenden, negativ geladenen Schlangen und überluden den Körper des Getroffenen für einen winzigen Augenblick mit Elektronen. Krach! Aus! Es wirkte schnell.
Freitag wollte eine solche Verantwortung nicht auf sich nehmen. Er hatte versucht, sich die Zehn Gebot einer längst vergessenen Religion zu Eigen zu machen, und das Sechste Gebot lautete nun mal: Du sollst nicht töten. Ihm genügte es völlig, wenn die Grauschwarzen vorübergehend verhindert waren, ihn aufzuhalten.
Schwerer war es, aus dem Klinikbereich das benötigte Narkotikum zu entwenden. Erst während der Nachtwache traute sich Freitag als Besucher in die heiligen Hallen. Am ganzen Körper zitternd, lauerte er auf eine Gelegenheit, die Ampullen aus einem unbewachten Schrank zu stehlen. In seiner Aufregung zerbrach er eine davon, konnte aber – hochrot im Gesicht und mit flatternden Händen – den Rest nach draußen bringen. Erst auf der Rollbandstraße flaute seine Erregung ab.
Das brachte ihn zu einer Erkenntnis: Das Erleben der Wirklichkeit war wesentlich brutaler, als jedes virtuelle Erlebnis unter den netzwerkgesteuerten Maschinen.
In mühsamer Kleinarbeit fertigte Freitag einen Griff zu einem passenden Rohr, besorgte sich CO2 Patronen und baute das Ganze zur Schusswaffe um. Sie konnte nicht töten, so hoffte er wenigstens.


Nervös stand er zwischen dicht gedrängten Menschen im Lift nach oben, sorgsam darauf bedacht, dass niemand unversehens an das Brecheisen unter seiner Jacke stieß oder die Hüfte gegen die Schusswaffe in seiner Tasche drückte.
Es schien, als dauere es Stunden.
Nur langsam wurden die mitfahrenden Leute weniger, dann, auf dem letzten Stück zur obersten Ebene, war Freitag allein. Sein Herz pochte fast hörbar, schien von den Wänden der Liftkabine zurückzuhallen, meilenweit in die Korridore hinaus zu dröhnen.
Die Schiebetür entließ Freitag hinaus in die abgestandene Feuchtigkeit. Ängstlich verhielt er. Seine Halsschlagader pulste, als wollte sie zerspringen. Seine Lungen wollten nicht mehr atmen; er musste sie dazu zwingen.
Stille war – und doch keine Stille: Plitsch, plitsch, platsch; tick, tick, tack: die Tropfen. Blaue Türen in endloser Reihe: schrumpfend, schwindend, verschmelzend; eskortiert von Leere, Pfützen, feuchten Wänden.
Freitags Beine setzten sich in Bewegung. War er hier schon einmal gegangen? Oder war das die andere Seite? Er vergewisserte sich. Nein, hier war er noch nicht gegangen. Tipp tapp, tipp tapp: seine Schritte. Plitsch, plitsch, platsch: die Tropfen.
Weiter!
Eine Tür in der Wand aus feuchtem, rauem Fels. Die Panzertür? Herzklopfen, Halsschlagaderpulsen, Händeflattern. Links und rechts der unendlich lange Gang, der ins Nichts führte, und rings um ihn her das glucksende Geräusch des Tropfwassers.
Freitags zitternde Hände öffneten die verschwitzte Jacke, zerrten die Brechstange hervor. Sie entfiel ihm. Das Klirren des aufschlagenden Metalls auf dem glatten, feuchten Beton brandete überlaut durch den Korridor. Freitag erstarrte.
Links: Lifttüren, Pfützen – nichts sonst! Rechts: dasselbe Bild. Bebend griffen die Hände nach dem gefallenen Eisen, dann nach dem Batteriebohrer und dem Elektroschrauber. Wo war die Alarmanlage? War es das dicke Kabel oder das dünne?
Ängstlich blickte sich Freitag ein weiteres Mal um, dann schoben seine Hände den Elektroschrauber unter beide Leitungen und schalteten ein. Blitze sprühten mit blauem Knall; weiße, blaugeränderte Flecken fraßen sich in die Netzhaut und setzten sich fest, wohin seine Augen sich auch wandten.
Freitags Ohren lauschten, vernahmen aber nur den Rhythmus der ewig fallenden Tropfen. Tief schöpfte er Atem und füllte seine Lungen, steckte das Brecheisen in den Schlitz zwischen Tür und Füllung, warf sich mit aller Kraft dagegen. Mit peinigendem Knirschen glitt das Eisen ab, klirrte zu Boden; Freitag schlug sich dabei die Fingerknöchel wund.
Noch einmal ...!
Durch die Wucht der Anstrengung wurde das Eisen schmerzhaft in seine Magengrube getrieben, doch der Spalt an der Tür hatte sich verbreitert. Verbogen blickte ihm das Metall des Riegels aus dem Schlitz entgegen.
Den Batteriebohrer ...!
Die Maschine wimmerte, und die Hartmetallschneide des Bohrers fraß Späne, spie Rauch und Funken. Einmal, zweimal, dreimal. Die Spitze glühte auf und zerbarst Funken stiebend. Aus und vorbei! Wenn der angebohrte Riegel jetzt nicht nachgab, war Freitag gezwungen, sein Vorhaben ein zweites Mal aufzugeben.
Mit zitternden Händen fasste er erneut nach dem Eisen, zwängte die Spitze in den Spalt. Einatmen, konzentrieren, vorwärts werfen; die harte Faust schmerzte im Magen. Es krachte, klirrte. Knie und Handgelenke schienen in Feuerbränden zu lodern. Freitag kniete in einer Pfütze und lauschte dem leisen, regelmäßigen Geräusch näher kommender Schritte.
Die Patrouille?
Hastig drückten die wunden Hände die Panzertür ins Schloss, und Freitag lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
Tipp, tapp, tapp! Die Schritte kamen näher.
Das Werkzeug!
Bebende Hände sammelten zusammen, was herumlag, steckten es hastig unter die verschwitzte Jacke.
Warten!
Tapp, tapp, tapp! Zwei Streifengänger der Patrouille nahten.
„He, Sie da!“ Der vertraute Klang einer bekannten Stimme. „Was machen Sie da?“
Der Patrouillenbeamte vom letzten Mal? Er musste ihn erkennen. Die Schritte wurden lauter und lauter, verstummten abrupt in unmittelbarer Nähe.
„Ich habe Sie etwas gefragt …!“
Eine nie gehörte Stimme sprach aus einem nie gesehenen Gesicht; dieser Streife hier war er noch nie begegnet. Aber streng blickende Augen musterten Freitag, glitten abwärts zur ausgebeulten Jacke, glitten weiter zur aufgebrochenen Panzertür.
„He …!“, zischte der Grauschwarze.
Freitags Hand zuckte aus der Tasche. Der Lauf der selbst gebastelten Schusswaffe zeigte auf den Uniformierten. Die CO2-Patrone trieb die winzigen Ampullen aus dem Lauf. Ein Mal! Und noch ein Mal! Die Hände an den Betawerfern, so strauchelten die Grauschwarzen, knickten in den Knien ein.
Freitags Augen hafteten an der Waffenhand des zuletzt Gestürzten; sie kroch unendlich langsam und zitternd in die Höhe. Wasser spritzte auf, als Freitag sich zu Boden warf. Ein gebündelter Strahl hochenergetischer Elektronen fraß Funken sprühend ein Loch in die Panzertürfüllung; ein Rinnsal geschmolzenen Metalls schlängelte sich herab, ehe es rot, dann dunkelrot wurde, erstarrte und schließlich auskühlte.
Freitag taumelte empor. Bewegungslos lagen die Uniformierten auf dem feuchten, kalten Steinboden – das Narkotikum wirkte tatsächlich.
Mit schlotternden Knien und bebenden Händen öffnete Freitag die Panzertür erneut, zerrte die beiden Körper unter Aufbietung all seiner Kräfte hindurch und schloss die metallene Pforte hinter sich. Dunkelheit herrschte. Freitag erschrak; er hatte vergessen, eine Lampe mitzunehmen.
Hastig durchstöberte er die Taschen der Betäubten. Und, tatsächlich, da war ein Leuchtstick; fingerdick, leicht und zerbrechlich. Freitag fand den winzigen Schalter, betätigte ihn, und ein handbreiter Fleck konzentrierten Lichtes huschte über schimmelbedeckte Felswände und über grob behauene, ausgetretene Stufen.
Ein Summen schreckte Freitag auf.
„Patrouille Alpha!“, quäkte eine dünne, blecherne Stimme. „Patrouille Alpha, bitte melden!“
Der zitternde, tanzende Fleck konzentrierten Lichts heftete sich auf die Brust eines der Liegenden.
„Patrouille Alpha, warum meldet ihr euch nicht?“
Ein winziges, daumennagelgroßes Gerät stak neben dem Knopfloch an der Jacke des Mannes, und ein bernsteinfarbener Lichtpunkt zeigte an, dass es aktiviert war. Freitag nahm es ab, hielt es ans Ohr. Wie helles Mückensirren drangen Stimmen aus dem Gerät. Sie unterhielten sich leise, an der Schwelle des Hörbereichs.
„Da ist etwas passiert“, wisperte eines der körperlosen Insekten. „Schickt sofort zwei Gruppen in Sektor hundertelf, da will sicher wieder so ein Idiot an die Oberfläche!“
Erschrocken steckte Freitag die Hand mit dem Gerät weit von sich; er kam sich vor wie eine Maus in der Falle. Nicht lange, und der Korridor auf der andern Seite der Panzertür würde von grauschwarzen Uniformen wimmeln.
Hastig stürmte er die roh behauenen Stufen hinauf; vor sich den tanzenden Lichtfleck der fingerdicken Lampe. Seine Beine bewegten sich im Rhythmus seines Atems; keuchend quälte er sich durch die Kehle. Seine Lungen stachen.
Zehn Treppen, hundert Treppen, tausend Treppen …!
Ein Knick!
Zehn Stufen, hundert Stufen, tausend Stufen …!
Eine Gabelung!
Freitag verhielt einen Moment lang, heftig atmend, schickte den unruhigen Schein der Lampe voraus in die Nacht der beiden Gänge. Das Licht verirrte sich in der Dunkelheit, verlor sich in der Ferne. Willkürlich entschied sich Freitag für den rechten der beiden Gänge und hetzte weiter.
Zehn Stufen, hundert Stufen, tausend Stufen …!
Ein Knick!
Weiter!
Mechanisch bewegten sich die Beine, mechanisch keuchte sein Atem; der Schmerz in den Lungen wurde schier unerträglich.
Ein Laut erfüllte die Gewölbe, kroch die Treppen empor, brach sich in den einmündenden Abzweigungen. Die Sirene der Patrouille! Sie mussten die beschädigte Tür und die beiden narkotisierten Männer gefunden haben. Die Zeit tickte schneller, wurde knapper, kostbarer. Freitags Lungen drohten zu bersten, und in seiner Hüfte stach ein ekelhafter Schmerz; die Beine begannen zu versagen. Mühsam quälte er sich weiter.
Zehn Treppen, hundert ...!
Eine Halle öffnete sich, groß und hochgewölbt. Mindestens zehn Ausgänge lockten den Flüchtling. Alle schienen nach oben zu führen. Weiter! In irgendeinem dieser Gänge!
Zehn Treppen …!
Tränen zwängten sich durch die zusammengekniffenen Augenlider. Freitag stürzte. Der Lichtfleck tanzte über die Wände, als die fingerdicke Lampe den zerschundenen Händen entfiel und klappernd die Stufen hinunter kullerte. Freitag erhob sich mühsam, hetzte zurück, erfasste die Lampe. Die Verfolger sollten nicht sehen, wohin er gelaufen war.
Weiter!
Zehn ...!
Das Brecheisen rutschte unter seiner Jacke hervor. Freitag zerrte es heraus und trug es in den Händen. Wie weit war es noch bis oben? Wie viele Gänge? Wie viele Treppen?
Weiter!
Erschöpft schleppte er sich über die Stufen, die Patrouille im Nacken. Der hüpfende, tanzende Schein seiner Lampe traf auf ein Hindernis; Steine lagen da, herabgestürzte Felsbrocken. Auf Händen und Füssen quälte sich Freitag darüber hinweg. Sein Gesicht schlug auf den Fels, seine Zunge schmeckte Blut.
Dann war er durch.
Vor ihm ein riesiges Tor; verschlossen, abgesperrt mit dicken, verplombten Riegeln. DANGER! – GEFAHR! schrieen ihm große, leuchtend rote Buchstaben entgegen; darunter ein dreigeteilter, abgerundete Stern – Symbol für Radioaktivität.
Hier war Freitags Weg zu Ende! Unmöglich war er in der Lage, die großen Riegel aufzubrechen, unmöglich konnte er sich durch das Material des strahlensicheren Tores arbeiten.
Freitag war am Ende. Tränen der Enttäuschung rannen über seine Wangen, und er sank auf die Knie. Schluchzen erschütterte seinen Körper. Höhnisch lachten die übergroßen, grellen Buchstaben auf ihn nieder: DANGER! – GEFAHR! Er löste sich aus der Wirklichkeit, verlor den Kontakt zu seiner Umgebung. So schwebte er in einem dimensionslosen Meer zwischen Traum und Erwachen.

Was wird Pierre Freitag hinter der Barrikade finden?
Wird er den Schwarzen Garden entkommen?
Wird er das streng gehütete Geheimlis des Neuronalen-Netzwerks lüften?
Und was geschieht danach?

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Viel Spaß beim Schmökern!

Impressum

Texte: (C) 2007 Dieter König
Tag der Veröffentlichung: 06.09.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch wird herausgegeben mit Dank an die Mitglieder und Rollenspieler des Autoren-Forums Sarturia®, ohne die dieses und andere Werke nicht hätten entstehen können.

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