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Die Schachmaschine

 Die Sache ist schon ein paar Jahre her, aber sie verfolgt mich noch immer. Als mein Bekannter Frank mir, in der Südstraße auf einer Bank in der Sonne sitzend einen braunen Umschlag entgegenhielt, ahnte ich nicht, welch verrückte Geschichte damit verbunden war.

 

"Hier, das ist sicher was für dich", sagte er. "Klebte hinter einem alten Spiegel, den ich auf dem Flohmarkt gekauft habe. Ist irgend `ne alte Zeitung mit `nem Krimi. Du schreibst doch immer gern selbst so was."

 

Erst einige Tage später hatte ich Zeit, mir den Umschlag anzusehen. Er enthielt einen Sonderdruck einer vergilbten Ausgabe der Wiener Bezirks–Zeitung vom 18.April 1949.

Es war die zweite Folge eines Fortsetzungskrimis mit dem Titel "Das Höllenhaus". Ein Riss teilte die erste Seite ziemlich sauber in zwei Hälften. Irgendjemand hatte etwas an den Rand geschrieben, was aber nicht mehr lesbar war. Die fünf weiteren Krimi-Seiten waren leider nicht mehr vollständig und so überschlug ich sie. Auf Seite sieben stand ein Artikel, der mich interessierte:

 

"Legendäre Schachmaschine gefunden"

 

Beim Abriss der Ruine der Schokoladenfabrik am Betzler Ring fanden Bauarbeiter, eingemauert in einer Kammer, die kunstvolle Nachbildung einer menschlichen Figur in Lebensgröße, ganz in die kostbare Tracht eines vornehmen Orientalen gekleidet. Bei näherer Betrachtung stellten sie fest, dass sie einen komplizierten Apparat von Zahnrädern und Rädchen enthielt, auf die sie sich keinen Reim machen konnten.

Erst der Leiter des historischen Museums, wohin die Figur schließlich gebracht wurde, erkannte, dass es sich um die berühmte Schachmaschine des Allroundgenies "Zatora", alias Werner Hirch handelte, mit der er 1942 den genialen jüdischen Pianisten Isaac Lensky aus dem Konzentrationslager Theresienstadt befreit hat."

 

Ein Foto und eine Art Explosionszeichnung zeigten das Äußere und das Innere der Figur.

 

"Es handelt sich bei der Schachmaschine um eine geschickte Täuschung, die schon in den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts großes Aufsehen erregt hatte und die von Hirch nur verbessert worden ist.

Achmet, so hatte Hirch seine Puppe genannt, spielte Schach, genau wie ein lebendiger Mensch. Jeder aus dem Publikum wurde als Gegenspieler zugelassen. Selbst sehr gute Spieler verzweifelten an Achmets Fähigkeiten und so wurden natürlich angezweifelt, dass es sich um eine Maschine handelte. Aber auch als man die Figur an zahlreichen Stellen öffnete, stießen die Zweifler nur auf Zahnräder und zahlreiche komplizierte Mechanismen, die mit Uhrwerken in Gang gesetzt wurden. Für einen Menschen gab es in dieser insgesamt nur mensch-großen Figur keinen Platz.

Ein regelrechter Wettstreit entflammte unter den Schachkönnern, Achmet im Königsspiel zu schlagen. Natürlich steckte ein Mensch in der Figur, nämlich Hirchs kleinwüchsiger Stiefbruder Peter, ein brillanter Schachspieler. Die Brüder waren das ideale Paar und tourten durch ganz Europa. Viele Nazigrößen engagierten Hirch und "Achmet" bei zahlreichen Festivitäten, ohne dass das Geheimnis je gelüftet wurde.

Ein Autounfall in Paris, bei dem Hirchs Stiefbruder getötet wurde, beendete "Achmets" Auftritte 1940. Hirch, der auch ein sehr guter Musiker war, verdiente sein Geld fortan

als Cellist beim Duisburger Staatsorchester, das 1941 wegen des Krieges nach Prag ausgelagert wurde. Hier lernte er den Star-Pianisten Lensky kennen und die beiden wurden enge Freunde.

Als Lensky 1942 von den Nazis nach Theresienstadt ins Lager gesteckt wurde, ließ Hirch "Achmet" auferstehen, verschaffte sich einen Auftritt in Theresienstadt und schmuggelte Lensky mit "Achmet" in die Freiheit. Hirch und "Achmet " waren seitdem verschollen. Lensky spielte nach dem Krieg in vielen Konzertsälen der Welt, bevor er sich eines Tages zurückzog. Er lebte lange Zeit in Prag."

 

Fasziniert legte ich die vergilbten Blätter beiseite. Warum klebte jemand Teile einer alten Zeitung im Umschlag hinter einen alten Spiegel? Und woher stammte dieser Spiegel? Die Neugier hatte mich gepackt. Der Krimi ergab durch die fehlenden Teile keinen Sinn. Im Adressenverzeichnis gab es keine Wiener Bezirks-Zeitung. Im Internet war auch nichts zu holen. Wahrscheinlich gab es die Zeitung gar nicht mehr.

Ein Freund, der in der Uni-Bibliothek in Hannover arbeitet, schaffte es, die Handschrift am Zeitungsrand sichtbar werden zu lassen.

Praha, Jachynova 23. Sholon, Seldomir stand da.

Der Zufall wollte es, dass ich einige Wochen später geschäftlich nach Prag musste. Ich hatte zwar viele Termine, aber ich schaffte es, mir den Samstag freizunehmen.

Aus Neugier bummelte ich durch das Prager Judenviertel und tatsächlich gab es eine Straße, die Jachynova hieß. Sie lag am Rande des Viertels in der Altstadt. Da ich nicht wusste, was dieser Seldomir Sholon mit der Sache zu tun hatte, war meine Idee, die Jachynova 23 aufzusuchen, eine ziemlich verrückte; die Sucht, immer neugierig alles rausfinden zu wollen.

Eine Tür im Hinterhof führte mich zu einem heruntergekommenen Treppenhaus. Auf einem oxidierten Messingschild am abgeblätterten Türrahmen stand "Sholon, S."

Mein Herz pochte bis zum Hals. Ich klingelte. Schlurfende Schritte hinter der schäbigen Tür. Ein kleiner, zerbrechlicher Mann öffnete und sah mich fragend an.

 

*

Etwa eine Stunde später verließ ich das Haus tief beeindruckt durch dieselbe Tür, verfluchte meine Neugier und beschloss, niemals irgendjemandem von dieser Stunde zu erzählen.

Ich hatte, ungewollt, einen großartigen, einundachtzigjährigen Menschen zu einem Geständnis gebracht, das besser in seinem Grab aufgehoben gewesen wäre. Sholon S., alias Isaac Lensky, hatte achtundfünfzig Jahre schwer an einer Last getragen.

"Aha, sie wissen Bescheid", hatte er völlig ruhig in perfektem Deutsch gesagt, als ich ihm bei einer Tasse Tee in seiner ärmlichen, fast leeren Dreizimmerwohnung den Umschlag aus Wunstorf zeigte.

"Eigentlich sollte mein Geständnis erst nach meinem Tod gefunden werden, aber die Umstände haben dazu geführt, dass ich einen Teil meines Mobiliars schon vorher verkaufen musste und da hab ich den Umschlag wohl vergessen. Haben Sie die Polizei schon informiert?"

Ich war völlig perplex, bekam feuchte Hände und wusste nicht, was ich sagen sollte.

"Es war Totschlag, kein Mord", fuhr er fort. "Wir hatten seinen Tod nicht beabsichtigt." Er nahm seine Tasse und trank. Ich fingerte den Zeitungsschnitt aus dem Couvert.

"Er ist plötzlich aufgewacht und wollte......"

Ich hielt ihm stumm die Zeitungsseiten entgegen. "Ich....ich verstehe nicht....." stammelte ich.

Er setzte die Tasse ab. "In dem Brief habe ich doch alles beschrieben", sagte er mit fester Stimme. "Und wenn Sie den Ausschnitt des Kriminal-Romans gelesen haben........." Er hielt inne und kräuselte die Stirn. Wir schwiegen einen Moment.

"Ich habe nur einen Zeitungsbericht über die Schachmaschine gelesen", sagte ich zögernd. "Es gab keinen Brief in dem Umschlag. Sie sind mir keine Erklärung schuldig." Ich nippte hastig an meiner Tasse.

Er lächelte und nickte. "Nehmen wir es als ein Zeichen", meinte er schließlich müde. "Ich bin jetzt einundachtzig. Zeit für ein Geständnis. Wer weiß, wo der Brief jetzt ist?"

 

Dann erzählte er von seiner spektakulären Flucht in der Schachmaschine.

"Werner hatte alles perfekt geplant. Der Mann in der Maschine, ein gewisser Adolf Blahn, den Werner auf einem Schachturnier angeheuert hatte, sollte kurz nach dem Showauftritt betäubt werden und ich sollte seinen Platz einnehmen. Dann wollte Werner mich in der Puppe aus dem Lager bringen. Alles klappte hervorragend. Die Show war perfekt. Leider wachte dieser Blahn frühzeitig in dem Moment auf, als ich in die Maschine stieg. Ich schlug ihm so unglücklich auf den Kopf, dass er auf eine Tischkante knallte und starb. Wir versteckten die Leiche in einem Wandschrank und flohen, wie geplant. Mein Leben war gerettet. Adolf Blahn war tot."

Der alte Mann war in dem riesigen verschlissenen Sessel versunken.

"Ich bin froh, dass es jetzt raus ist", sagte er leise.

 

*

 

Zwei Wochen später traf ich Frank im Cafe Hanisch in der Südstraße. Er wollte wissen, was aus seinem Spiegelfund geworden war. Ich zuckte mit den Schultern und sagte, dass meine Nachforschungen leider im Sande verlaufen seien.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 26.05.2020

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