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Zweierlei Maß

 

 

 

 



Sonntag, abends. Sein Koffer steht noch im Flur. Es klingelt an der Haustür. Gerade hat er sich, mit dem Gedanken, wer das wohl sein könnte aus dem Sessel gequält, als seine Tochter polternd die Treppe herunterrast.
Sie treffen sich im Flur.
"Ist schon gut! Ist für mich! Ich mach schon auf!"

Aus ihrer offenen Zimmertür hört er ihre ungeduldigen Freunde - "Endlich, wurde aber auch Zeit!"
Hastig reißt sie die Haustür auf. Er geht zurück ins Wohnzimmer. Wortfetzen an der Haustür. Sekunden später, fliegt die Wohnzimmertür auf und seine Tochter sieht lächelnd herein.
"Kannst mir mal schnell 10 Euro geben, bitte?"

Er sieht sie überrascht an und kräuselt fragend die Stirn.
"Zehn Euro! Schnell! Bitte! Kriegste auch wieder!"
Während er sich noch fragt, wofür sie das Geld denn braucht, greift er schon zum Portemonnaie und sucht einen Zehneuroschein, findet aber nur einen Zwanziger.

"Bitte - !!!" versucht sie ihn anzutreiben und wackelt unruhig mit der Tür. " Der Typ vom Pizzabringdienst wartet!!"
Er sieht sie, den Geldschein zögernd in der ausgestreckten Hand haltend, verständnislos an.
"Pizza?", fragt er." Unser Kühlschrank bricht fast....!"
"Danke!" Sie schnippt ihm das Geld aus den Fingern und verschwindet, noch ehe er seinen Satz vollenden kann, mit einem freundlichen - "Bist`n Schatz!" - durch die Tür.
Er lehnt sich kopfschüttelnd in den Sessel zurück.
- Pizzabringdienst!!! -

- Szenenwechsel –



Zwanzig Stunden vorher war er noch in Casablanca in Marokko gewesen. Bei drei Stunden Flugzeit, heute kein Problem mehr.
Pfefferminztee in einem Straßenlokal, mitten in der heißen Millionenstadt, - abends, neun Uhr.
Ungezählte Jugendliche wollten für wenige Cents seine Schuhe putzen.
Blinde zogen, meistens geführt von Kindern, bettelnd an den Tischen vorbei.
Autolärm, ununterbrochen. Ausgemergelte, räudige Katzen auf den Mülltonnen.

Plötzlich stand er vor ihm und hielt ihm ein kleines Päckchen Papiertaschentücher an der ausgestreckten Hand entgegen.
"Mouchoirs", sagte er lächelnd. " Trois Dirhams." ( das sind 30 Cents)
Er sah direkt in das braune Gesicht eines höchstens zehnjährigen Jungen.

" Mouchoirs?", setzte der noch einmal nach.
Wie sollte er da widerstehen?
Die Augen des Kleinen funkelten ihn erwartungsvoll an. "Trois Dirhams."

Nach guter orientalischer Sitte fing er an zu feilschen. Er bot dem Jungen zwei Dirham. Der Junge sah ihn mit schräggelegtem Kopf und zusammengekniffenen Lippen an.
"Non, trois Dirhams", sagte er ernst und bestimmt und hielt seine Taschentücher fest in der Hand.
"Deux Dirhams", wiederholte sein Gegenüber und lehnte sich mit vorgespielt nachlassendem Interesse zurück.
"Okay, deux Dirhams", gab der Junge schweren Herzens auf und legte die Taschentücher auf den Tisch . Er hatte viel verloren, man sah es ihm an.

Zwei Dirham flogen klimpernd auf den Tisch und die Hand des Kleinen griff blitzschnell zu. Der Mann hielt sie ebenso schnell fest, öffnete sie               und legte den dritten Dirham dazu.
Das eben noch ernste Kindergesicht leuchtete strahlend auf.

10 Cents für ein Wahnsinnslächeln! - Irre! -

Szenenwechsel

 



Die Wohnzimmertür fliegt wieder auf. Die Tochter erscheint lächelnd auf der Szene. In der einen Hand ein Stück Pizza, in der anderen den restlichen Zehner.
Sie legt ihn auf den Tisch und geht mit einem " Rest kriegste morgen, okay?" zurück zu ihren Pizza essenden Freunden.

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Tag der Veröffentlichung: 27.01.2009

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