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Schon seit geraumer Zeit hatte sie, stirnrunzelnd, nicht nur auf die dunklen Wolken am Horizont auf der anderen Seite des Sees geblickt, sondern immer wieder auf den grünen DIN A 4 Zettel an der alten Pappel auf einem der letzten freien Stellplätze auf dem nahezu ausgebuchten Campingplatz in Mardorf am Steinhuder Meer
"RESERVIERT" stand da. " Radschick, 9. Juli bis 12. August.
Zahlreiche Platzsuchende hatten resigniert das Schild angesehen und waren dann weitergefahren.
"Radschick" hatte sie gerade überlegt. "Wer würden diese Leute wohl sein, die da bald neben ihr, kaum fünf Meter entfernt, sozusagen auf Schnarchensweite ihr Zelt oder ihren Wohnwagen aufbauen würden, als ein schwarzer Mercedes mit einem riesigen Wohnwagen in den staubigen Weg vor ihrem winzigen, grünen Wohnwägelchen einbog und vor dem freien Platz anhielt.

Die energisch blickende Zweizentnerfrau, die sich aus der Beifahrertür quetschte ließ keinen Zweifel aufkommen. Das waren Radschicks!!
Schnaubend und wegen der Hitze den Schweiß mit einem hellblauen Tuch von Stirn und Oberlippe tupfend stellte sich Frau Radschick, die fleischigen Hände in die Hüften gestemmt, in die Mitte ihres reservierten Kleingrundstückes und ließ den Blick wandern.
Aus der Fahrertür hatte sich inzwischen ein vergleichsweise zierlicher Mann geschält, der seine zukünftige Nachbarin sogleich lächelnd begrüßte und augenscheinlich auf Anweisungen seiner gewichtigen Angetrauten wartete.
Auf dem Hauptweg wurde es plötzlich laut und aus einer, - von einem vorbeifahrenden Wohnmobil aufgewirbelten Staubwolke, - näherte sich ein mittelalterliches Paar, theatralisch lachend und gestikulierend den beiden Neuankömmlingen, den Radschicks.
"Ach wie schön! Habt Ihr`s doch geschafft! Wir haben uns schon Sorgen.......!"
Unmengen von inhaltsleeren, lügengetränkten Heucheleien schwirrten durch die Luft zu Luise, die das Schauspiel schmunzelnd von ihrem Platz unter dem Vordach ihres Winzwohnwagens verfolgte.
Endlich war etwas los, dass die lähmende Hitze durchbrach.
Die Dicke beherrschte die Szene und hatte im Nu alle eingespannt, die kleine Parzelle nach ihren Vorstellungen zu gestalten.
Zunächst schoben die beiden Männer ächzend und schweißgebadet den Wohnwagen auf nahezu jeden Quadratzentimeter des Miniareals, bis er nach Bertas, so hatte Luise die Dicke inzwischen nach der berüchtigten dicken Berta getauft, Vorstellung zumindest kurzzeitig richtig stand.
"Das ist doch niemals unser bestellter Platz!", bellte sie, - nachdem sie mit Bullterriermiene, - den Stand der Sonne ermittelt hatte. "Viel zu weit vom Wasser weg und fast kein Schatten! Wir haben doch extra per Fax und E-Mail einen Platz mit Bäumen gebucht. Du gehst gleich noch mal zur Rezeption und klärst das, Kalle."
Kalle lehnte, - schnaufend und schwitzend, - an dem Riesentrümmer von Wohnwagen, den er Sekunden vorher mit Hilfe des Bekannten mehrfach auf dem Stellplatz herum geschoben hatte.
"Das hat keinen Zweck", kam ihm der Bekannte zu Hilfe. "Der Platz ist rappeldicke voll. Und außerdem nehmen die das hier nicht so genau. Ihr könnt von Glück sagen, dass ihr überhaupt....."

"Wahrscheinlich hast du Recht", unterbrach ihn die Dicke. " Aber so gefällt mir das nicht. Der Wohnwagen muss....."
Kalle heulte auf, wie ein getretener Hund und sein Bekannter sah mit rollenden Augen zu Luise rüber, die seinen Blick frech grinsend erwiderte.
Zehn Minuten später stand der Wohnwagen auf der, - der vorherigen Seite gegenüberliegenden Seite, wo er allerdings schon mindestens zweimal gestanden hatte.
"Wir brauchen die Wasserwaage", schnaubte die Dicke. "Wo ist das Ding, Kalle? Ich seh`s genau. Der Wagen hängt nach links."
Die Bekannten mussten plötzlich noch dringende Einkäufe erledigen und schlugen sich mit einem gequälten "Man sieht sich" durch die angrenzenden Büsche in Richtung Wasser, obwohl der Laden in der genau entgegengesetzten Richtung lag.
Die Dicke umrundete derweil mit der gelb-eloxierten Wasserwaage ihren Wohnwagen und gab Kalle Anweisungen, wo er zu heben bzw. zu senken hatte.
Dabei machte er ununterbrochen spitze, ironische Bemerkungen, die aber ungehört ins Leere flogen und nur auf Luises Gesicht ein permanentes Grinsen erzeugten.
Ein armes Schwein, dachte sie. Zuhause wird er die Alte wenigstens mal los, wenn er oder sie zur Arbeit muss. Hier hat er schlappe vier Wochen 24 Stunden täglich seinen privaten Horrorladen.
Viel Spaß Kalle!
Die nächsten Tage verliefen ähnlich spannend, nur dass bald viele genervte Kalles auf dem Campingplatz herumliefen und am schlimmsten hatte es Luise als unmittelbare Anliegerin getroffen.
Diese Radschicks hatten ihren Monsterwohnwagen offenbar als nahezu unerschöpfliches Materiallager nach Mardorf geschleift und mussten irgendwie Platz schaffen um überhaupt ins Innere vordringen zu können.
Jedenfalls deponierten sie vom Fahrrad, über riesige Sonnenschirme bis zum Boot mit verschiedenen Segeln und einem Anhänger alles auf den anliegenden Parzellen, sehr zur Freude ihrer, sowieso schon vom ewigen Keifen der Dicken genervten Nachbarn.
Luise war das Auto der beiden Sympathieträger zugelaufen.
Es stand, schattig und gut geschützt, auf Luises Lieblingsbeobachtungsposten halb unter dem Vordach ihres Wohnwägelchens, als sie vom Einkauf in Wunstorf zurück kam.
Ihr, zunächst verhaltener, Protest wurde von der Dicken einfach nicht zur Kenntnis genommen.
Erst als Luise demonstrativ ihren kleinen Cappuccinokocher auf der Kühlerhaube der schwarzen Limousine aufbaute, schickte die Dicke Kalle, um einen neuen Platz für den Wagen bei andern Nachbarn, - die gerade nicht anwesend waren, - zu suchen.
*

Am sechsten Tage nach "Radschicks" raste ein Unwetter über das Steinhuder Meer und den Mardorfer Campingplatz.
Einige, perfekt gestylte Surfer, die an den Tagen zuvor bei jeder kleinen Bö zum Wasser gerannt waren um endlich einen Orkan "abreiten" zu können, waren mitten in das Gewitter gesurft und flitzten, mit grell-reflektierenden Segeln, phosphorizierende Schweife hinter sich herziehend, durch die tosenden Wellen, während an Land die Ehefrauen und Kinder an allen vier Ecken der Vorzelte hingen, um zu retten, was noch zu retten war.
Plötzlich gellten laute Rufe vom Ufer. Ein Surfer hatte sich mit letzter Kraft an Land gerettet und erzählt, nicht weit draußen auf dem Meer treibe ein kleines Boot gekentert in den Wellen.
Er habe dem Mann, der sich an daran geklammert habe, nicht helfen können.
Joop Straatmann, ein Holländer aus Groningen, besaß nicht nur das größte Wohnmobil auf dem Platz, sondern auch das passende Boot, mit dem man bei solch einem Sturm rausfahren konnte, um den Schiffbrüchigen zu retten. Aber keiner der Gaffer wollte ihm helfen.
Statt dessen wollte man die Feuerwehr in Bad Rehburg oder sogar in Neustadt anrufen .
Zwanzig Minuten später brachte Straatmann Kalle und sein ziemlich lädiertes Boot an Land.
Der Wind hatte sich inzwischen etwas beruhigt. Es war wieder etwas heller geworden.
"Wo ist meine Frau ?", stammelte Kalle und sah sich hektisch um. "Habt Ihr meine Frau gesehen? Sie ist über Bord gefallen. Habt Ihr....?" Der Blick in die versteinerten Gesichter der Gaffer gab ihm die Antwort.
"Sie ist.........Der Gabelbaum........."
Er rannte zurück zum Wasser und wollte sich in die immer noch tosenden Fluten stürzen, aber
Straatmann packte ihn kräftig am Arm und hielt ihn zurück.
Am nächsten Morgen wurde die Leiche von Kalles Frau, im Schilf treibend, nur wenige Meter vom Strand entfernt, gefunden.
Eine große Wunde an der linken Schläfe bestätigte Kalles Aussage. Der Sturm hatte die beiden nicht weit vom rettenden Ufer überrascht . Die Frau war von dem schlagenden Gabelbaum getroffen worden, über Bord gegangen und im relativ flachen Wasser ertrunken.

*

Der Tod der Dicken war an den nächsten Tagen natürlich das Gesprächsthema Nummer eins unter den Campern und manch einer konnte seine klammheimliche Freude über den Tod der streitsüchtigen Zweizentnerfrau kaum verbergen.
Luise saß, zwei Tage nach "Bertas" tragischem Wassertod, wieder , einen Krimi lesend , unter dem Vordach ihres Wohnwagens neben dem verwaisten Platz der Radschicks, auf dem die Nachbarn alles, was die beiden Campingfreunde in den vorhergehenden Tagen auf diversen Parzellen deponiert hatten, feinsäuberlich aufgestapelt hatten.
Kalle musste etliche Formalitäten für die Überführung der Leiche seiner Frau nach Kassel erledigen und war daher nicht da.
Das Unglücksboot lag direkt an der Grenze zu Luises Platz. Sie hatte dieselbe Seite ihres Krimis schon mindestens dreimal gelesen. Immer wieder schweifte ihr Blick nachdenklich hinüber zu der kleinen roten Jolle auf dem Trailer mit den merkwürdigen Plastikringen an den Reifen.
Wie viel Gewicht konnte so ein kleines Boot eigentlich tragen?
Schon als die beiden Nachbarn zwei Tage lang akribisch die Takelage, das Segel und die anderen Zubehörteile an dem Bötchen angebracht hatten, hatte sie sich gefragt, wer von den beiden denn wohl mit dem Ding auf den See hinausfahren wollte.
Sportlich hatten beide nicht gerade ausgesehen und für die Dicke hätte es wohl eher ein Dampfer als so eine kleine Jolle sein müssen.
Also konnte nur Kalle der Segler sein, hatte Luise entschieden. Und nun sollten angeblich beide zusammen auf dem überdimensionalen Bügelbrett gesessen haben?
Außer Luise war das anscheinend niemandem aufgefallen, denn schließlich hatte es keinerlei Ermittlungen gegeben. Unfalltod durch ertrinken. Die Leiche war schon gleich am Tage nach dem Unfall zur Überführung freigegeben worden, hatten die beiden "wichtigen" älteren Herren aus Wanne-Eickel am Abend an der Theke in der Campingkneipe jedem, der es hören wollte, erzählt.

*

Am späten Nachmittag kam Luise fröhlich aus Neustadt zurück. Sie hatte in einer Boutique endlich die passende Kette zu ihrem Armband gefunden und dem Händler sogar noch einen Rabatt abgehandelt.
Leider hatte sie aber immer noch keine Unterlage, auf die sie ihren kleinen Cappuccinotopf auf dem Gaskocher in ihrem Wohnwagen stellen konnte, gefunden. Sie brauchte einen festen Draht oder etwas Ähnliches, das sie über die Flamme legen konnte.
Sie erinnerte sich an einen kleinen wilden Müllplatz im Schilf, über den sie sich bei einem ihrer Abendspaziergänge geärgert hatte. Da hatte eine alte Matratze mit heraushängenden Sprungfedern gelegen. Genau die richtige Unterlage für ihr Cappuccinomaschinchen.
Zehn Minuten später watete sie zögernd an der Matratze vorbei durch das Schilf. Irgendetwas Knallgelbes trieb zwischen den Halmen. Vorsichtig hob sie es auf.
Es war ein etwa ein Meter langes, hohles, leicht verbogenes eloxiertes Alustück mit einer Lücke an der Längsseite und einem kleinen, grünen Röhrchen an der Oberkante.
Radschicks Wasserwaage, schoss es Luise durch den Kopf.
Sie drehte das Teil mehrfach um die Längsachse und wunderte sich, dass es verbogen war. Und warum fehlte an der Längskante das zweite Röhrchen?
Nur ein paar grünliche Splitter steckten, noch festverklebt, in einer Nut um die Lücke.
Nachdenklich sah sie sich um. Und wieso lag die Wasserwaage hier im Schilf?
Plötzlich schoss es ihr durch den Kopf.
Hektisch zupfte sie eine Sprungfeder aus der zerfetzten Matratze, riss noch ein größeres Stück Stoff ab, umwickelte damit die Wasserwaage und ging schnell zu ihrem Wohnwagen zurück.

*

In der folgenden Nacht hörte sie vom Nachbarplatz Geräusche. Ein Blick durch die Vorhänge schaffte Klarheit.
Kalle war zurück und packte im Licht einer trüben Funzel, die auf einem Hocker stand, seine Sachen. Offensichtlich wollte er schnell fertig werden, denn beim Abbau der zahlreichen Utensilien war er längst nicht so penibel, wie er beim Aufbau gewesen war. Ja, er warf quasi die meisten Teile völlig achtlos irgendwie in den Wohnwagen und den Kofferraum der Limousine. Das meiste war schon verstaut.

Luise schlüpfte in T-Shirt und Shorts, griff sich die gelbe Wasserwaage und öffnete leise die Tür ihres Wohnwagens.
"Mein aufrichtiges Beileid", sagte sie laut mit einem ziemlich ironischen Unterton als sie sich etwa bis auf einen Meter von hinten an Kalle angeschlichen hatte.
Er erstarrte zur Salzsäule, gab einen grässlich röchelnden Ton von sich, fasste sich an die Brust und drehte sich im Fallen halb um.
Mit weitaufgerissenen Augen glotzte er auf das gelbe Ding in Luises Hand. Er versucht danach zu greifen, knickte aber in den Knien ein und prallte, quasi ungebremst, mit der Stirn auf den Boden.

Luise starrte ihn entsetzt an. In einem Wohnmobil gleich gegenüber ging das Licht an. In Panik stieß Luise gegen den Hocker mit Kalles Lampe. Die fiel auf den Boden und erlosch. Luise hockte sich hinter Kalles Auto.
Der Wohnmobiltyp rülpste laut und ging schlaftrunken zu Kalles Wohnwagen. Sekunden später plätscherte es , dann schüttelte der Typ irgendetwas und drehte sich gähnend um. Er ging zwei Schritte zurück zu seinem Wagen, stolperte und schrie entsetzt auf.

Eine halbe Stunde später stand Luise mitten zwischen etlichen, laut diskutierenden Campingfreunden in Trainingsanzügen und Bademänteln, die im gleißenden Scheinwerferlicht eines Polizeiwagens den Abtransport von Kalles Leiche begafften.

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Tag der Veröffentlichung: 20.01.2009

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