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Willard

Im Bistro der Psychiatrie war nicht viel los. Frauke kaufte sich einen Tee und eine Tasse Hühnerbrühe. Sie hatte das Gefühl, `mal wieder irgendwas Warmes essen zu müssen. Sie setzte sich an einen der liebevoll mit Blumen dekorierten Fenstertische und rührte nachdenklich in ihrem Tee. Vor dem Fenster drehten zwei Wildentenpärchen Runden auf einem kleinen Teich.
An einem Nachbartisch saßen ein paar ältere Männer und spielten Karten und hinten in der Ecke saß ein einzelner, etwa fünfzigjähriger, altmodisch gekleideter Mann, mit einem großen Becher Kaffee und kicherte vor sich hin.
Er hatte viele Zeitungsseiten um sich ausgebreitet und redete, obwohl niemand in der Nähe war.
Er hieß Gottfried, wohnte schon lange in einer betreuten Wohngruppe und war beinah täglich im Bistro.
Ein paar Monate zuvor, als Frauke noch selbst in der Klinik gewesen war, hatte sie sich manchmal zu ihm gesetzt und versucht, sich mit ihm zu unterhalten. Aber er war sehr wählerisch in seinen Bekanntschaften gewesen. Am liebsten hatte er mit Clara Schumann geredet, das wusste Frauke noch und sie musste über die komische Geschichte lachen.
Bei ihrer ersten Begegnung mit Gottfried hatte er am Nachbartisch gesessen und ununterbrochen geredet.
Frauke hatte ihn ziemlich irritiert angesehen und dann hatte er ihr von Clara erzählt, eine wirklich merkwürdige Geschichte..........
Clara, so sagte er, sei für ihn die ideale Gesprächspartnerin, denn sie höre ihm wenigstens zu und wolle nicht dauernd nur selbst quatschen.
Sie schien sich auch für seine langen Ausführungen über die politische Lage der Welt zu interessieren. Manchmal las er ihr sogar halblaut einen Artikel aus der Zeitung vor und diskutierte dann heftig mit ihr darüber; das heißt, von ihr hörte man eigentlich nie etwas. – Und das wär auch `ne Überraschung gewesen, denn Clara Schumann konnte natürlich nicht sprechen.
Sie war schon mehr als hundert Jahre tot. Sie war die Frau, deren Bild zu DM Zeiten auf der Rückseite des Hundertmarkscheins abgebildet gewesen war.
Einen Hunderter, eine schlechte Fotokopie, hatte Gottfried sorgfältig zusammengefaltet, immer im Portemonnaie und manchmal nahm er ihn eben heraus und sprach mit Clara, wobei seine Augen merkwürdig funkelten.
Die Leute im Sozialzentrum kannten Gottfried und akzeptierten ihn, so wie er war. Manchmal bezog er sie sogar in seine Diskussion mit Clara ein.

*
Bis zu ihrer Entlassung war Frauke noch ein paar Mal im Bistro gewesen und Gottfried hatte immer an seinem Stammplatz gesessen, so wie jetzt.
Manchmal hatte es richtig Spaß gemacht, sich mit ihm zu unterhalten, weil Gottfried über viele Dinge zu erzählen wusste.
Er kannte die neuesten Musikcharts und wusste viel über Bücher und Filme. Ja, Filme waren überhaupt sein Thema. Im Sozialzentrum der Klinik gab es jeden Monat einen Film.
Wenn das Programm ausgehängt wurde, schrieb sich Gottfried die Titel auf und wartete ungeduldig.
Er ließ keinen Film aus. Immer erschien er um halb acht, kaufte sich einen Kaffee, und setzte sich erwartungsvoll an einen Tisch. Dann gab’s noch ein kurzes Zwiegespräch mit Clara.
Nach dem Film zog er, immer ohne ein Wort, seine Jacke an, band sich, je nach Jahreszeit, seinen Schal um, brachte seine leere Kaffeetasse an die Theke und ging, mit einem auf den Fußboden gesprochenen "Tschüß" aus der Tür.
Am nächsten Tag stritt er sich, meistens bei einer Tasse Kaffee, mit Clara über den Inhalt des Films.
*
Frauke kaufte sich an der Theke noch ein Käsebrötchen und einen Tee und setzte sich so, dass sie Gottfried gut im Blick hatte. Sie überlegte, ob Clara wohl immer noch Gottfrieds Lieblingsgesprächspartnerin war.
Sie konnte ja nicht wissen, was sich in der Zwischenzeit so alles verändert hatte.
Clara wohnte zwar immer noch in Gottfrieds Portemonnaie und manchmal redete er auch noch mit ihr, aber sie war inzwischen auf den zweiten Platz verbannt worden.
Gottfrieds Hauptgesprächspartner war jetzt eine Figur namens Willard - und zwar seit dem Tag, als abends der gleichnamige Film gezeigt worden war.
Gottfried hatte ihn natürlich gesehen und Clara hatte im Portemonnaie geruht. Willard, der Rattenkönig, hatte seine Ratten auf der Leinwand dressiert.
Gottfried war total fasziniert gewesen, wie dieser Willard, ein junger Mann von zweiundzwanzig Jahren, es geschafft hatte, zum Herrscher einer riesigen Rattenschar zu werden.
Sie gehorchten ihm und schließlich töteten sie für ihn die Menschen, die Willard im Wege standen. Er benutzte die Ratten für seine Zwecke, bis sie schließlich auch ihn selbst umbrachten, aber das war für Gottfried nicht so wichtig gewesen.
Wichtig war, dass dieser Willard außergewöhnliche Fähigkeiten besaß und mit den Tieren reden konnte. Echte, lebendige Ratten hörten ihm zu, wenn er mit ihnen sprach.
Echte Ratten hörten auf sein Kommando. Wahnsinn!
Nach dem Film hatte Gottfried sogar sein "Tschüß" beim Hinausgehen vergessen und statt dessen ununterbrochen ganz leise vor sich hingeredet. Die Diskussion mit Clara am nächsten Tag beim Kaffee war auffallend lauter als gewöhnlich ausgefallen, aber sonst war Gottfried wie immer gewesen.
Ein paar Tage später hatte Gottfried die anderen Bistrobesucher plötzlich dadurch erschreckt, dass er, ohne Vorwarnung, vom Tisch aufgesprungen war und einfach so "Dieser Willard, das ist schon ein Teufelskerl, oder?" in den Raum gerufen hatte.
Die anderen hatten ihn überrascht angesehen und Gottfried hatte sich wieder hingesetzt, als wenn nichts gewesen wäre.
Beim täglichen Zeitungslesen war es immer öfter vorgekommen, dass Gottfried bei der Seite mit den Todesanzeigen laut losgelacht hatte.
"Kuck mal, kuck mal", hatte er dann, ohne jemanden direkt anzusprechen gesagt. "Der war vierundvierzig, - zweimal Willard."
Und dann hatte er wieder ganz ruhig weiter gelesen.
Mit Clara hatte Gottfried immer seltener gesprochen. Willard hatte sie verdrängt..
Am Rand der Tageszeitung hatten bald merkwürdige Zahlenreihen und riesige Rechenaufgaben gestanden, bei denen eines immer gleich gewesen war. Sie hatten alle mit der Zahl zweiundzwanzig zu tun gehabt.
Sechstausendsechs durch zweihundertdreiundsiebzig oder vierundsiebzig mal x ist Tausendsechshundertachtundzwanzig.
Als Franz, der Bistrowirt, Gottfried mal gefragt hatte, was das denn zu bedeuten habe, hatte er nur, "Ach, unwichtig, Willard ist zweiundzwanzig, weißt du doooch", gesagt.
"Willard?", hatte Franz gefragt. "Meinst du den aus dem Film?"
Franz hatte den Film zwar auch gesehen, sich aber nicht vorstellen können, was an dem so außergewöhnlich gewesen sein sollte. Es hatte inzwischen andere gute Filme im Sozialzentrum gegeben.
"Ja, der Rattenkönig", hatte Gottfried mit leuchtenden Augen geantwortet. "Haben wir doch hier gesehen, was der drauf hatte. Willard fühlt sich hier wohl. Ihm gefällt der Laden hier."
Gottfried hatte sich vor Vergnügen auf die Schenkel geklopft. "Toller Kerl, was?"
Hans hatte immer noch nicht so recht was damit anzufangen gewusst und deshalb noch mal nachgefragt. "Du meinst, du sprichst mit diesem Willard? Dieser Filmfigur mit den
Ratten ?"
Gottfried hatte ihn freundlich lächelnd angesehen und heftig genickt. "Weißt du doch," hatte er ein bisschen verschämt gesagt. "Nicht so richtig, aber Willard weiß viel."
Dabei hatte er mit versteinertem Gesicht an seiner Kaffeetasse gedreht und durch Franz geradezu hindurchgesehen.
*
Von Willard ahnte Frauke nichts, als sie sich endlich entschloss, einfach an Gottfrieds Tisch zu gehen.
"Hallo Gottfried", sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. " Kennst du mich noch? Ist schon ganz schön lange her, aber ich hab` dich sofort wiedererkannt. Ich bin Frauke."
Gottfried blickte nur kurz hoch und sah sie verwundert an. Dann schrieb er wieder eine komplizierte Zahlenkombination auf einen Block und lachte leise vor sich hin.
"Was machst du denn da?", fragte Frauke, und, ohne eine Antwort abzuwarten, fragte sie gleich weiter. "Was ist eigentlich mit Clara? Redest du noch mit ihr?"
Gottfrieds Gesicht erhellte sich und er grinste auf den Tisch.
"Clara", kicherte er leise vor sich hin, ohne dabei aufzusehen. "Clara Schumann", brummelte er mit Lachfalten an den Augen. "Die ist doch schon lange tot! Weißt du doch, Meeensch."
Er fixierte mit blitzenden Augen Fraukes Gesicht und die musste unwillkürlich lachen.
"Clara ist doch die Frau hinten auf dem Hunderter", sagte Gottfried. "Mit der hab` ich mich immer nett unterhalten, nicht. Aber die gibt`s natürlich gar nicht, weißt du doooch."
Frauke wusste nicht so recht, wie sie das Ganze verstehen sollte.
Gottfried hatte doch immer mit Clara geredet, als sei sie echt da, und nun, - ? Plötzlich behauptete er, dass es sie gar nicht gebe?
"Ist doch nur Spaß", fuhr Gottfried fort. "Willard ist sechstausendsechs durch zweihundertdreiundsiebzig , wusstest du das? Irre Zahlen, was? Ich hab` jeden Tag trainiert und kann jetzt jede Zahl durch zweiundzwanzig teilen oder mit ihr malnehmen. Das schärft den Verstand. Willard kann Ratten dressieren, ich dressiere zweiundzwanzig."
Frauke war das alles ein bisschen unheimlich, aber sie wollte Gottfried auch nicht einfach so allein lassen.
"Weißt du eigentlich, was Autismus ist?", fragte Gottfried Franz, den Wirt, plötzlich völlig aus heiterem Himmel quer durch den Raum. "Ich hab gerade so eine Artikel darüber in der Zeitung gelesen", sagte er lächelnd. "Sehr interessant, sehr interessant!"
Er grinste merkwürdig versteinert auf die Tischplatte, drehte seine Kaffeetasse und bewegte seinen Kopf langsam hin und her. Er schien Frauke überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Sie nutzte die Gelegenheit, sich zu verdrücken.
"..muss noch in die Stadt," sagte sie und stand auf.
Gottfried war in Gedanken weit weg und reagierte nicht.
*
Sie überlegte, wo sie die Nacht verbringen konnte und außerdem hatte sie immer noch Hunger.
In einem Bäckerladen an der Straße kaufte sie sich ein paar Brötchen und eine Flasche Kakao und ging dann den Weg zu dem kleinen Flüsschen hinunter, das mitten durch die Stadt floss. Am Ufer standen ein paar Parkbänke und da die Sonne noch schwach am Horizont schien, setzte sie sich und genoss ihre neue Freiheit.
Etwa hundert Meter weiter flussabwärts, überquerte eine Eisenbahnbrücke das Flüsschen. Dahinter fingen die Wiesen und Äcker an. Unter dieser Brücke hatten sie und einige andere Jugendliche aus der Klinik immer die Zigarettenschachteln gebunkert, die sie an Einkaufstagen im Supermarkt geklaut hatten.
Irgendjemand hatte vor langer Zeit mal hinter dem einen Betonsockel der Brücke eine ziemlich große Höhle gegraben, in der man so einiges Verstecken konnte.
Vielleicht gab`s diese Höhle ja noch. Sie eignete sich sicher auch als Nachtquartier für eine einzelne Obdachlose, bis sich was Besseres fand.

*
Vorsichtig näherte Frauke sich dem Brückenpfeiler.
Die schmale Öffnung daneben war noch genauso, wie sie sie in Erinnerung hatte. Die Höhle dahinter gab es auch noch. Ein kleiner Spalt am oberen Rand des Betonpfeilers ließ etwas Licht auf den Boden fallen.
Einige leere Bierflaschen und auch ein paar Plastikspritzen lagen herum. Aber im Augenblick schien niemand die Höhle für sich zu beanspruchen.
Frauke zwängte sich durch den Einstieg und schob den Abfall in eine Ecke. Der Boden war sandig und trocken. Für eine Nacht schien es ganz passabel zu sein. Sie hatte früher, als sie sich noch mit allen möglichen Straßenbekanntschaften herumgetrieben hatte, manchmal wesentlich schlechtere Schlafplätze gehabt.
Mit ein paar Stückchen Pappe von einem alten Karton baute sie eine Liegefläche und probierte sie aus. Obwohl es erst später Nachmittag war, schlief sie sofort ein.
Sie hatte das Gefühl nur kurz geschlafen zu haben, als sie plötzlich ein schrilles Pfeifen ziemlich nahe an ihrem Versteck hörte. Dann war es genau vor der Öffnung,
Irgendetwas bewegte sich im Dunkeln und stieß an ihren Fuß, kurz danach auch an ihren Arm. Sie hörte erstarrt ein schnippendes Geräusch und ein schwaches Lämpchen im Eingang tauchte die Höhle in ein trübes Licht.
Frauke sah mit weit aufgerissenen Augen eine große Ratte über ihre Schulter gleiten. Schreiend versuchte sie in der niedrigen Höhle aufzuspringen. Ihre Stirn knallte gegen die Betondecke und sie fiel zurück, direkt auf eine der Ratten.
Sie sah Gottfrieds fragendes Gesicht im Eingangsloch der Höhle und dann gruben sich die Zähne der in Panik quiekenden Ratte in ihren Hals. Zahlreiche andere Nager glitten lautlos ins Dunkel der Höhle.

" Was machst du mit meinen Freunden?", schrie Gottfried verzweifelt und fuchtelte will mit der Lampe herum. "Du hast meine Freunde verjagt!" Grotesk hielt er ein Stück Wurst am ausgestreckten Arm in die Höhle.
Der Boden um Fraukes Hals färbte sich langsam rot. Sie öffnete die Augen und versuchte mühsam sich aufzurichten. Sie griff sich an den Hals und schleuderte in einem letzten Kraftakt das rasende Tier gegen die Wand. Die riesige Ratte rollte zerschmettert vor Gottfrieds Gesicht. Er starrte sie einen Moment an und fing an zu weinen.
Frauke sackte leblos in sich zusammen, während das Blut aus ihrer klaffenden Halswunde durch ihre Finger pulsierte.
Gottfried hob die tote Ratte behutsam auf, steckte die Taschenlampe ein und verschwand murmelnd.

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Tag der Veröffentlichung: 01.01.2009

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