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Lina, so hieß die Pensionärin, die mir während meiner dreijährigen Arbeit in einem Alterszentrum am meistens ans Herz gewachsen war. Sie war klein, rundlich und dadurch auch ein wenig schwerfällig und ihr grausilbernes Haar, war, obwohl mit etlichen Haarspangen hochgesteckt, stets zerzaust. Ihr Gesicht war liebevoll wie das eines Großmütterchens und wenn sie lächelte, dann zeichneten sich Grübchen in ihre Wangen und ihre Augen strahlten warm, obwohl sie schon fast nichts mehr sehen konnte.
Ja irgendwo würde ich die Begegnungen mit ihr als etwas Besonderes bezeichnen. Wenn ich bei ihr war, dann meist um in der Früh ihr Bett zu machen, ihr beim Duschen zu helfen, ihr Augentropfen zu geben oder um am Abend ihre Beine einzureiben. Selten ergab es sich, dass ich mich mal so zu ihr hinsetzen konnte, da ich als Schwesternhilfe immer mit Arbeit eingedeckt war. Manchmal litt ich sehr darunter, denn es gab einige im Alterszentrum, die sehr das Bedürfnis hatten zu reden und viel Zuwendung brauchten. So eben auch Lina.
Sie hatte keine Angehörigen mehr, nur noch einige wenige Freunde und eine Dame, die regelmäßig vom Besucherdienst kam um ihr Gesellschaft zu leisten oder auch kleine Aufträge für sie zu erledigen, denn alleine mit Rollator konnte sie nicht mehr auf die Straße gehen. Manchmal, wenn ich über Mittag alleine Dienst hatte im Haus und die gröbste Arbeit erledigt war, ging ich zu ihr ins Zimmer um mit ihr zu plaudern. Und jedesmal wenn ich kam freute sie sich sehr, steckte mir ab und an auch eine kleine Süßigkeit zu oder überhäufte mich mit „Liebeserklärungen“. Dann erzählte sie mir viel aus ihrem Leben, aus ihrer Kindheit… Ich hörte ihr gerne zu, da sie im Erzählen sehr gut war und mich die Welt von damals irgendwie auch fasziniert hatte.
Immer wieder spürte ich aber auch heraus, dass sie Kummer hatte, sie sich einsam fühlte. Ja einmal erlebte ich sie Tage lang sehr nervös, da sie mit ihrem Rechtsbeistand klären musste, was nach ihrem Verbleib mit ihren Sachen, mit ihrem Geld passieren sollte sprich es musste ein Testament aufgestellt werden. Manchmal erwähnte sie bei mir so nebenher, dass die Dame vom Besucherdienst, die sie anscheinend doch schon Jahre lang kannte, sehr darauf aus sei, von ihr beerbt zu werden. Immer wieder soll sie sie bei ihren Besuchen drauf angesprochen haben, und wenn sie mir das erzählte, dann spürte ich, dass Lina tief einsam war und traurig und sich sehr nutzlos vorkam.
Einmal war ich in der Mittagspause wieder bei ihr und erschrak ein wenig, als ich eintrat. Der ganze Zimmerboden war übersät mit Briefen. „Ah Lina Sie sind am Briefe aussortieren, kann ich ihnen irgendwie behilflich sein?“ Im ersten Moment spürte ich, wie sie erschrak als ich kam doch dann sagte sie ruhig und bestimmt, sie sortiere keine Briefe, sie sei dabei ihre Todesanzeige vorzubereiten. Tatsächlich als ich genauer hinsah, erblickte ich die schwarzen Ränder auf jeder der Karten, die am Boden lagen. So ganz spontan sagte ich: „Lina, sie wissen doch gar nicht, an welchem Tag und in welchem Jahr sie sterben, wie können sie dann jetzt schon ihre eigene Todesanzeige vorbereiten?“ Etwas kurzangebunden meinte sie, sie habe niemanden, der das für sie machen würde und wenn es dann so weit sei, dann müsse man das Datum nur noch hinzufügen. Die Briefumschläge mit den Adressen waren auch schon fertiggestellt.
Als ich dann um 15 Uhr Dienstschluss hatte und nach Hause ging, musste ich dauernd über das, was ich bei Lina erlebt hatte, nachdenken. Nun gut, dachte ich, jeder Mensch wird wohl seine eigene Weise haben, sich auf den Tod vorzubereiten. Für Lina war die Vorbereitung ihrer eigenen Todesanzeige wohl so ein Weg, sich mit Sterben und Tod zu konfrontieren. Dann machte ich mir kaum mehr Gedanken darüber.
Zwei Monate später hörte ich, wie Lina zur ersten Krankenschwester sagte, sie sei heute Nachmittag auswärts, da sie einen Zahnarzttermin habe. Es war üblich, dass die Pensionäre sich abmeldeten, wenn sie auswärts waren im Fall das etwas passieren sollte mir ihnen. Punkt zwei Uhr holte sie ihr Taxi ab. Sie drehte sich zu mir um als sie im Auto saß und sagte zu mir: „Tschüss Andrea, Sie sind doch eifach es Schätzeli…“ wohl weil ich ihr ins Taxi geholfen hatte… und lächelte mich warmherzig an. Ich ahnte nicht, dass es das letzte Mal sein würde!
Um 15 Uhr hatte dann auch ich Dienstschluss! Zugleich war es für mich der vorläufig letzte Arbeitstag, da an der Uni das Semester wieder losging und ich erst wieder in ein paar Wochen zu einem Wochenenddienst eingeteilt war.
Ich trat um 7 Uhr in der Früh in die Eingangshalle, ging in die Umkleidekabine und dann anschließend zur Arbeitseinteilung ins Schwesternzimmer. Sogleich wies man mich an, den dritten Stock zu übernehmen. Ich freute mich, denn da war Lina… komischerweise fand ich sie nicht auf der Arbeitsliste, was sonst üblich war und fragte nach, was los sei, ob man sie inzwischen schon auf die Pflegestation verlegt habe.
Meine Chefin Margit schaute mich mit sehr traurigen Augen und sage: „Andrea, an dem Tag, als Lina sagte, sie sei zum Zahnarzt gegangen, fuhr sie nicht dorthin sondern zu Exit* ( mehr zu Exit am Ende der Erzählung) und nahm sich dort mit einem Medikament das Leben. Von Exit aus hat mich dann am Abend der Leiter des Hauses angerufen und mir mitgeteilt, dass Lina bei ihnen war und nun verstorben sei. Alles was jetzt passiere mit Begräbnis und so habe sie zuvor selber geregelt. Sie werde bald vom Bestattungsdienst abgeholt.“
Es fällt mir jetzt schwer zu beschreiben, wie ich mich gefühlt habe, als sie mir das erzählte. Zuerst wurde mir kalt und heiß zugleich, dann hüllte sich Traurigkeit um mich, wie ein dicker Wintermantel… Lina war tot… nie wieder werde ich dieser liebevollen alten Frau begegnen, die ich so sehr ins Herz geschlossen hatte…. Langsam ging ich an meine Arbeit und als ich vor Linas Zimmer stand, schickte ich für sie einen Gedanken in den Himmel. „ Geht es dir jetzt besser, Lina?“ … und Tränen rollten über meine Wangen…* EXIT

• EXIT engagiert sich für die Selbstbestimmung des Menschen im Leben und im Sterben.
• Selbstbestimmung als Ausdruck der Menschenwürde ist ein Grundrecht des Menschen.
• EXIT setzt sich auf allen Ebenen für die Anerkennung dieses Rechts und auch für eine humane Sterbekultur ein.
• EXIT unterstützt ihre Mitglieder bei der Formulierung und Durchsetzung der Patientenverfügung.
• EXIT hilft den Mitgliedern, einen ihrer persönlichen Situation angemessenen Weg zu finden. Kann EXIT nicht helfen, wird auf Wunsch ein Kontakt mit qualifizierten Organisationen oder Personen vermittelt.
• Freitodbegleitung ist der letzte Dienst, den EXIT einem Mitmenschen erweisen kann. EXIT begleitet Mitglieder auf deren ausdrücklichen Wunsch, die wegen schwerer körperlicher Krankheit, Behinderung oder vielfältigen Altersbeschwerden so sehr leiden, dass sie in ihrer Existenz keinen Sinn mehr sehen. Im Falle eines autonom gefällten Entscheides, aus dem Leben scheiden zu wollen, hilft EXIT, diesen Willen menschenwürdig und mit Rücksicht auf das persönliche Umfeld umzusetzen.
• Über die Hospiz-Stiftung fördert EXIT die palliative Betreuung und Pflege

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.08.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Lina

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