SEINE LETZTE REDE
„Das Wort hat der Abgeordnete P.“
Der Präsident des Parlaments brauchte den Hammer nicht. Die Ruhe trat sofort ein. P. war nach allgemeiner Ansicht der rethorisch begabteste unter den Abgeordneten. Seine Reden, immer geschliffen, immer scharf, immer auf Sachkenntnissen beruhend, waren wie Degenstiche in die Brust des Gegners und führten jedes Mal zu einer Leserbriefschlacht in der heimischen Presse, an der P. sich natürlich beteiligt. P. wurde verehrt, gehasst, gefürchtet.
„Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen. In Anbetracht der Tatsache, dass…“ P. unterbricht seine kaum begonnene Rede. Er greift in eine Seitentasche seines Anzugs, holt aus einem Döschen eine Pille und wirft sie in das vor ihm auf dem Pult stehende Glas mit Wasser, klappt das Döschen zu, greift zum Glas, schüttelt es lang und kräftig, trinkt es in einem Zug leer … und wirft plötzlich den Kopf in den Nacken, reisst den Mund auf, wie ein Ertrinkender, und knallt mit dem Kopf nach vorne aufs Pult. Glas splittert. Das Pillendöschen fällt zu Boden. Ein Saaldiener läuft zum Rednerpult. Einer der Abgeordneten, ein Arzt, ebenfalls. Kurze Untersuchung. Der Arzt beugt sich zum Mund des Toten herunter, zuckt zurück, sieht den Präsidenten erschrocken an.
„Nichts zu machen, Herr Präsident. Er ist tot. Zyankali.“
Bleierne Stille im Hohen Haus. Der Parlamentspräsident greift zum Telefonhörer.
Kurze Zeit später betraten Kommissar Loslever und seine Mannschaft den Plenarsaal.
„Meine Leute und ich müssen jeden verhören, Herr Präsident“, erklärte er.
„Verstehe, Herr Kommissar. Tun Sie Ihre Pflicht. Ich werde derweil der Witwe die schlimme Nachricht überbringen.“
Kommissar Loslever war einverstanden.
Während der Verhöre die üblichen Untersuchungen. An den Glasscherben wurden später Spuren von Zyankali, aber keine verwertbaren Fingerabdrücke gefunden, am leeren Pillendöschen nur die von P. In der Flasche aus der das Wasser im Glas stammte keine Spur von Zyankali. Die Verhöre brachten nichts Verwertbares. Dass die Pille aus dem Döschen das Zyankali enthalten hatte war sicher. Doch wer hatte die tödliche Pille ins Döschen getan? Wem nützte sein Tod? Zugegeben, die Regierung war einer ihrer schärfsten Kritiker los. Doch ihn dafür umbringen? Loslever, aus Erfahrung, tippte auf eine Täterin. Ist Gift nicht die bevorzugte Mordwaffe der Frauen?
Die Mitarbeiter der Fraktion des toten Abgeordneten wurden vom Kommissar persönlich befragt. Alle waren natürlich erschüttert und priesen den Toten in den höchsten Tönen. Insbesondere eine vollbusige Schwarzhaarige mit Pferdeschwanz, die Privatsekretärin des P. .
„Wie war denn Herr P. so rein menschlich?“, wollte der Kommissar von ihr wissen.
„Eine Seele von Mensch“, schluchzte sie, „immer fröhlich, immer nett, sehr nett …“
Der Kommissar liebte es, direkt zu sein. Eine seiner besonderen Verhörtaktiken.
„Sehr nett? Hatten Sie was mit ihm?“
Empörter Blick, Schluchzen, dann: „Ja… aber vor einer Woche machte er plötzlich Schluss.“
„Ein Schock, eine Enttäuschung für Sie, oder?“
„Natürlich. Doch unsere Beziehung war nicht die grosse Liebe, es war…“
„… nur Sex. Verstehe. Wollte er nicht mehr? Haben Sie ihn darum vergiftet? “
„Unsinn. Für Sex gibt es auch andere Männer genug. Die warten nur darauf.“
„Das glaube ich Ihnen, Frau…“
„Nennen Sie mich Martha…tun alle hier“, lächelte sie.
Also war der verheiratete Abgeordnete P. nicht der Untadelige, wie ihn alle bisher dargestellt hatten. Entsprechend bohrte Loslever bei seinen weiteren Verhören und erfuhr: P. war nicht nur ein brillanter Politiker und Redner, auch ein Frauenheld und Schürzenjäger gewesen. Bordelle und Saunaclubs waren ihm nicht fremd. Loslevers Nachforschungen bei den Ehemaligen des P. und in den einschlägigen Etablissements ergaben aber nur, dass er ein gerne gesehener und grosszügiger Mann gewesen war. Es wurde Zeit, sich um die solchermassen betrogene Frau P., die er bisher nicht befragt hatte, zu kümmern.
Loslever war überrascht. Er hatte eine graue Maus mit rot geweinten Augen erwartet. Stattdessen empfing ihn eine trotz ihrer 50 Jahre mit unverkennbarer Weiblichkeit ausgestattete schlanke Blondine, aufrecht in dünner Bluse und kurzem Rock, lächelnd, mit blitzenden Augen und festem Händedruck. Von Trauer keine Spur.
„Sie kommen spät, Herr Kommissar.“
„Ich wollte Ihnen etwas Zeit lassen.“
„Verstehe. Danke. Gehen wir in den Salon. Cognac?“
Loslever nahm den Cognac, trotzdem er im Dienst war. Frau P. zündete sich eine Zigarette an, nippte an ihrem Cognacglas.
„Ich bin natürlich die Hauptverdächtige. Oder?“
Loslever trank einen Schluck. Erstklassiger Cognac.
„Nach Lage der Dinge…“
Frau P. lächelte: „ Motive hätte ich genug. Sie haben sicher in der Zwischenzeit einiges über das Privatleben meines Mannes erfahren. Nun, ich wusste Bescheid. Seit langem. Doch wir hatten uns arrangiert. Das erlaubte uns viele Freiheiten. Im Übrigen war er immer nett zu mir. Warum sollte ich ihn dann plötzlich vergiften?“
„Ach, wissen Sie“, dozierte Loslever, „das sagen viele Ehepaare, doch manchmal wird das Arrangement plötzlich zu einem Albtraum. Dann dreht ein Partner schon mal durch.“
„Möglich, Herr Kommissar, doch bei uns war das anders.“
Frau P. sog an ihrer Zigarette, blies den Tabakqualm in die Höhe.
„Ich werde Ihnen etwas verraten, Herr Kommissar. Manchmal brachte er eine Gespielin mit, und schenkte sie mir. Natürlich wollte er dabei sein, wenn ich das Geschenk auspackte.“
Oha, dachte Loslever. Laut sagte er: „Ihr Mann scheint gegenüber allem Weiblichen immer sehr nett gewesen zu sein. Seine politischen Gegner aber…“
„Weiss ich. Wurden öffentlich zusammengestaucht. Mein Mann liebte das. Er liebte die grossen Auftritte die damit verbunden sind. Er liebte es zu polarisieren. Wer polarisiert, produziert Reaktionen, zieht Aufmerksamkeit auf sich, sagte er. Ja, er liebte es im Zentrum der Aufmerksamkeit aller zu stehen. Darum seine grossen, spektakulären Auftritte, seine scharfen politischen Attacken. Selbst im kleineren Kreis, zum Beispiel bei einer Feier hier im Haus, musste er immer im Mittelpunkt stehen.“
Frau P. stand plötzlich auf, verliess wortlos den Raum. Loslever wartete. Einige Minuten später war sie wieder da, reichte Loslever einen Brief, von P. unterschrieben.
„Mein Mann hatte Krebs“, sagte sie, „ Die Ärzte gaben ihm noch sechs bis zwölf Monate. Doch er wollte so nicht weiterleben, noch weniger so sterben. Still im Bett. Selbst über meinen Tod sollen sie reden, hatte er mir einmal gesagt. Sein Tod sollte spektakulär sein. Das ist ihm gelungen, nicht wahr? “
„Woher hatte er die tödliche Pille?“
„Selbst besorgt“, Frau P. hob die Schultern, „wo, weiss ich nicht.“
Kommissar Loslever steckte den Brief ein.
„Für die Akten“, sagte er.
H.D.Thielen-Krütgen
Tag der Veröffentlichung: 04.01.2009
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