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DIE TOTEN IM WALD


1


Durch die weit geöffneten Fenster drang kein kühlendes Lüftchen. Dafür aber der Straßenlärm, der regelmäßig vom Gebimmel der Straßenbahn und dem Kreischen ihrer Eisenräder übertönt wurde, wenn die Schienen sie zwangen, von der Klosterstrasse in den Rathausplatz einzubiegen. Dort war die Haupthaltestation aller Linien, die die Stadt mit dem Umland verbanden.

Kommissar Stoßberg konnte beobachten, wie die Fahrgäste aus- und einstiegen. Wegen der Hitze verzichteten die Männer auf ihre Kopfbedeckungen oder hatten sie durch leichte, gelbliche Strohhüte ersetzt. Die Damen trugen ebenfalls Strohhüte, natürlich in phantasievolleren Formen als die der Männer und dazu noch mit allerlei künstlichen Blumen, Vögeln und anderem Getier bestückt. Darüber spannten sie noch weiße Schirmchen gegen die Sonne auf.

Stoßberg würde jetzt lieber wie die meisten seiner Leute durch die Stadt Streife gehen und ab und zu in einem der vielen Lokale seinen Durst löschen. Doch heute war Montag, und bis zwölf Uhr musste er als Chef der Polizei und damit Vorgesetzter von sechs Wachtmeistern deren Berichte sichten und das Wichtigste davon in das Protokollbuch für den Bürgermeister übertragen. Seine preußische Polizeiuniform, die sich beim Sitzen über seinem stattlichen Bauch spannte, wurde bei den tropischen Temperaturen zu einem Schwitzkasten.

Kurz vor zwölf war alles fertig. Erleichtert schrieb Stoßberg unter seine Aufzeichnungen: Montag, 14. Juli 1920, 11 Uhr 55. Er legte den Federhalter zur Seite und befreite seinen Hals aus dem Würgegriff des Kragens. Dann zog er aus seiner Hosentasche ein blütenweißes Taschentuch und wischte sich den Schweiß von Nacken, Stirnglatze und Gesicht, wobei er seinem Kaiser-Wilhelm-Schnauzer mit einem Spiegel, den er vor sich auf den Tisch stellte, besondere Aufmerksamkeit schenkte. Durch den Schweiß waren die beiden sonst spitz nach oben strebenden Enden erschlafft und mussten wieder aufgerichtet werden. Eigentlich war dieser Schnauzer aus der Mode gekommen, seit es den Kaiser nicht mehr gab. Doch Stoßberg wollte sich nicht von ihm trennen.

Die Türe zu seinem Büro ließ Stoßberg immer offen, und er hatte auch für die Wachstube nebenan die gleiche Anweisung gegeben. So konnte er immer mithören, was sich dort abspielte. Nur in besonderen Fällen blieb seine Türe geschlossen.

Stoßberg legte die Hefte der Wachtmeister zu einem Stapel zusammen und schob sie mit dem Protokollbuch an den Rand seines Schreibtisches. Die Glocken der Sankt-Nikolaus-Kirche schlugen die zwölfte Stunde. In ihre dumpfe Töne mischte sich die kleine Standuhr auf Stoßbergs Schreibtisch, ein Geschenk der Stadt zu seinem Silberjubiläum im Amt. Genau mit dem letzten Glockenschlag stand Oberwachtmeister Willems im Türrahmen. Stoßberg beneidete ihn, denn der Mann hatte Gardemaß und war schlank wie ein Spargel. Der Oberwachtmeister klemmte Hefte und Buch unter seinen linken Arm, schlug die Hacken zusammen, grüßte militärisch-zackig und marschierte hinaus. Um zehn nach zwölf würde der Bürgermeister wie erwartet das Protokollbuch auf seinem Schreibtisch haben.

Mittagspause. Erleichtert knöpfte Stoßberg seine Uniform auf und holte aus einer der Schubladen seines Schreibtisches eine viereckige Dose und eine Flasche Bier. Er ließ den Schnappverschluss der Flasche springen und trank einen kräftigen Schluck. Zwanzig Minuten später waren Brotdose und Bierflasche leer.

Stoßberg zog seine Uniformjacke aus und hängte sie über die Rückenlehne seines Stuhls. Noch trugen er und seine Leute preußische Polizeiuniformen, doch bald würden es belgische sein. Bevor er das Büro verließ, warf er einen Blick nach draußen. Wie schon seit zwei Wochen war kein noch so kleines Wölkchen zu sehen, die Sonne brannte unbarmherzig weiter. Unglaublich, aber bis heute hatte es noch keinen Feueralarm gegeben. Er schloss die Tür zu seinem Büro und verschwand in einer der beiden Arrestzellen zum täglichen Mittagsschläfchen. Die diensttuenden Wachtmeister wussten Bescheid: Um dreizehn Uhr dreißig musste der Chef geweckt werden. Bis dahin durfte niemand Stoßbergs Büro betreten.

Nicht der Wachhabende, sondern fremde aufgeregte Stimmen aus der Wachstube weckten Stoßberg. Verärgert sprang er von der Pritsche, zog seine Hosenträger hoch und marschierte in die Wachstube.
„Was soll dieser Krach?“
Augenblicklich war Stille. Vor der Barriere der Wachstube, die das Publikum von den Wachtmeister trennte, standen ein stämmiger kleiner Mann mit buschigen Augenbrauen und ungepflegtem Schnurrbart und eine rundliche Frau mit zu einer Schnecke gedrehten aschgrauen Haaren, die sich sichtlich erschrocken zu dem Mann umdrehten, der da hinter ihrem Rücken brüllte. Stoßberg kannte die beiden: Hermann und Sofie Gouder. Sie bewirtschafteten einen größeren Bauernhof in der Nähe der Stadt.
„Herr Kommissar, die hier anwesenden Eheleute Gouder behaupten, an der alten Landstraße nach Kettenis eine Leiche gefunden zu haben“, meldete Oberwachtmeister Willems.
„Jawohl, eine tote Frau“, bestätigte der Bauer aufgeregt.
Seine Frau nickte heftig dazu: „Jawohl und…und… nackt ist sie und noch so jung, mein Gott, noch so jung.“
Stoßbergs Ärger verschwand augenblicklich. Er wurde amtlich:
„Oberwachtmeister, holen Sie den Landauer und benachrichtigen Sie den Leichendiener. Er soll sofort mit dem Leichenwagen zum Fundort kommen. Sie selber holen den Amtsarzt Leuer und den Fotografen Sander. Ich fahre mit den Gouders zum Fundort der Leiche.“
An die Gouders gewandt, fragte er: „Weiß sonst noch jemand davon?“
„Nein, wir haben niemandem was gesagt“, antwortete der Bauer.
„Auch nicht euren Kindern oder dem Gesinde?“
„Nein, niemandem.“
„Dann los.“


2

„Eine schöne Leiche, nicht wahr?“, sagte der Bauer und Stoßberg konnte dem nur zustimmen. Die unbekannte Tote war eine Schönheit.
Halb auf der alten Landstraße, jetzt eher ein Feldweg, halb im Gouderschen Wald lag sie splitternackt auf dem Rücken, ein Bein leicht angewinkelt, die Arme ausgebreitet. Wie eine weggeworfene Puppe, dachte Stoßberg. Ein Teil ihrer langen blonden Haare hatte sich in einem Klettenstrauch verfangen, so dass ihr Kopf nach vorne geknickt war und ihr Kinn das Brustbein berührte. Stoßberg beugte sich über die Tote, um in ihr Gesicht zu sehen. Ihr Mund war weit geöffnet und ihre Zunge hing schlaff über dem Unterkiefer nach draußen. Stoßberg wusste, was das bedeuten konnte: Tod durch Ersticken. Er schätzte ihr Alter auf unter fünfundzwanzig. Sie musste noch nicht lange tot sein und hier liegen, denn ihre makellose schneeweiße Haut zeigte noch keine Verfärbung. Auffällig war, dass sie ihre Schamhaare wegrasiert hatte, so dass ein schwarzes Muttermal sichtbar wurde.

An ihrem Körper waren weder Einstiche noch Kugellöcher, dafür aber etliche Kratzspuren an den großen Brüsten und auf der leicht gewölbten Bauchdecke zu sehen. Hatten sich Hunde, Katzen oder andere Waldbewohner an dem Körper zu schaffen gemacht? So wie die Leiche aussah, musste das noch nicht lange her sein.

Stoßberg beugte sich über die Tote und löste ihre Kopfhaare aus dem Gestrüpp, um sie auf den Bauch drehen zu können. Als er nach einigen Mühen die blonden Haare aus den Sträuchern gezerrt hatte, fiel der Kopf der Toten plötzlich nach hinten und zwei große Augen starrten ihn an. Stoßberg sah, was seine Vermutung bestätigte: ein dünner, fast gleichmäßiger, bläulich scheinender Einschnitt schlang sich oberhalb des Kehlkopfes um die vordere Halshälfte der Toten. Die junge Frau war erdrosselt worden.

Während der Bauer und seine Frau vor der Leiche stehen blieben und ihre Blicke nicht davon abwenden konnten, begann Stoßberg die nähere Umgebung in Augenschein zu nehmen. Der Feldweg führte von Eupen nach Kettenis. Er wurde nur noch von den Einheimischen genutzt, wenn sie mit Pferdekarren oder zu Fuß unterwegs waren und die von den modernen Automobilen befahrene Landstraße meiden wollten. Dieser Weg war nicht gepflastert, sondern bestand aus im Laufe von Jahrhunderten festgetretener Erde und Steinen. Diese Erde war heute so trocken, dass der leichteste Tritt sie zu Staub zerbröselte. Darin konnten weder Räder noch Hufe Spuren hinterlassen. Auch das niedrige Gebüsch nahe der Leiche schien auf den ersten Blick unbeschädigt zu sein: keine geknickten Zweige, abgerissene oder zerfranste Blätter, außer einiger weniger direkt neben der Leiche; auch keine Stofffetzen. Stoßberg war sicher: Hier war nicht der Tatort. Die Tote war hierher gebracht und einfach weggeworfen worden. Wie lästiger Müll.

Ein feldgraues Motorfahrzeug mit schwarzem Baldachin knatterte und schaukelte, eine prächtige Staubwolke hinter sich herziehend. Vor dem Kommissar blieb es mit einem Ruck stehen. Mitten auf der Ladefläche lag ein Zinnsarg, durch Seile mit dem Fahrzeug fest verbunden. Ein Mann mit schwarzem Anzug und Zylinder sprang aus dem Führerhaus.

„Bosten. Bestatter“, stellte er sich vor.

Sein Gesicht war grau und hohlwangig. Warum sehen Leichenbestatter immer so aus wie ihre Kunden, dachte Stoßberg. Wenig später hielt hinter dem Leichenwagen der Landauer mit Oberwachtmeister Willems, dem Amtsarzt und dem Fotografen.

„Sie sichern den Fundort“, befahl Stoßberg dem Oberwachtmeister. Was dieser augenblicklich tat, indem er die Eheleute Gouder verscheuchte.

Der Fotograf baute nahe der Toten sein Stativ auf. Sichtlich aufgeregt strich er mehrmals mit beiden Händen durch seine graue Künstlermähne, bevor er seine Kamera auf die Tote richtete. Als er sie von verschiedenen Seiten fotografiert hatte, sagte er: „Mein Gott, so eine schöne Frau. So eine Schande.“

Dr. Leuer, ein Allgemeinmediziner, der bei Bedarf als Amtsarzt fungierte, bestätigte Stoßbergs Vermutung: „Tot durch Erdrosseln mit einem schmalen Gegenstand, wahrscheinlich mit einem dünnen Riemen, einer Kordel oder einem Draht.“
„Todeszeitpunkt?“, wollte Stoßberg wissen.
„Noch keine zwölf Stunden. Genaueres wird…“
„Ich weiß, Doktor“, unterbrach ihn Stoßberg, „und die Kratzer?“
„Von scharfen Krallen“.
„Auch von menschlichen Fingernägeln?“
„Möglich, doch Näheres…“
„Wird der Leichenbeschauer dazu sagen können. Vielen Dank, Doktor.“

Während der Leichenwagen, gesteuert vom Leichendiener, mit der Toten, dem Arzt, dem Fotografen und Oberwachtmeister Willems in Richtung Leichenhalle zurückratterte, sah sich Stoßberg den Boden und die Sträucher, wo die Tote gelegen hatte, und die nähere Umgebung etwas genauer an. Später auch den Wald auf der einen Seite des Weges und die Wiese auf der anderen Seite. Er fand nichts. Auch nicht auf dem Feldweg. Das untermauerte seine These, dass der Fundort nicht der Tatort war. Nach einer Stunde kletterte Stoßberg auf den Bock des Landauers und folgte dem Leichenwagen.

Vor der Leichenhalle warteten alle, die mit dem Leichenwagen angekommen waren, auf Stoßberg. Zu ihnen hatten sich der Friedhofswärter Schroeder, seine Arbeiter und einige Friedhofsbesucher gesellt. Das plötzliche Auftauchen des Leichenwagens zu ungewohnter Zeit hatte sie neugierig gemacht.

„Leute, hier gibt’s nichts zu sehen“, rief Stoßberg vom Bock seines Landauers aus, als er vor dem Totenhaus eintraf, und befahl: „Geht nach Hause oder an eure Arbeit. Das ist eine polizeiliche Anordnung. Sie, Schroeder, Sie bleiben natürlich hier.“
Die Leute gehorchten. Der Fotograf wollte noch einige Aufnahmen machen. Für die Zeitungen, wie er sagte. Stoßberg wollte abwinken, doch dann hatte er eine Idee.
„Können Sie eine Nahaufnahme vom Gesicht der Toten machen?“, fragte er.
Der Fotograf sah ihn erstaunt an.
„Kann ich“, sagte er.
„Gut, dann machen Sie für jede Tageszeitung eine und für mich drei Abzüge. Die Leute sollen das Gesicht in den hiesigen Zeitungen sehen, verbunden mit der Frage, wer diese Person ist. Antworten an die Mordkommission im Rathaus. Sagen Sie das den Zeitungen. Vielleicht meldet sich dann ein Leser, der die junge Frau kennt. Was sie dann sonst noch fotografieren wollen, überlasse ich Ihnen. Die Aufnahmen vom Fundort natürlich nur an mich, so schnell wie möglich.“
Der Sarg wurde von Schroeder und Bosten vom Leichenwagen gehoben und, bevor sie ihn in den Kühl- und Sezierraum des Friedhofs tragen würden, befahl Stoßberg ihn wieder zu öffnen, damit der Fotograf die gewünschten Aufnahmen machen konnte.

Während Schroeder und Bosten in der Kühlhalle des Friedhofs für die Lagerung der Leiche alles vorbereiteten, der Doktor nach einem kurzen Gruß gegangen und der Fotograf damit beschäftigt war, nach den Aufnahmen seine Kamera mit Zubehör einzupacken, blickte Stoßberg noch einmal auf die Tote und besonders auf das Muttermal im Schambereich. Etwas störte ihn daran. Er sah sich um, ob jemand ihn beobachtete. Niemand. Er beugte sich über die Tote und strich mit den Fingerspitzen über das Muttermal.


3


Kaum saß Stoßberg wieder in seinem Büro, meldete sich Wachtmeister Hoffmann:
„Zwei von den Belgiern waren hier“, sagte er.
„Und was wollten sie?“
„Sie sprechen, Herr Kommissar“.
„Und wozu?“
„Haben sie nicht gesagt. Dann wollten sie wissen, wo sie seien. Ich habe geantwortet, dass jemand eine Leiche gefunden habe und sie zum Fundort gefahren wären.“
„Und?“
„Sie waren wütend, dass niemand sie informiert hatte…“
„…und ich das nicht ohne ihre Zustimmung angehen dürfe. Ich weiß. Das war alles?“
„Nicht alles, Herr Kommissar. Sobald Sie zurück seien, sollten Sie sich sofort bei den Herren melden.“
Kommissar Stoßberg verschob seinen schriftlichen Bericht über den Leichenfund auf später. Er beschloss jedoch, vor den Belgiern, den Bürgermeister mündlich zu informieren.

Baron von Mechernich, der Bürgermeister, saß hinter seinem riesigen Schreibtisch, ein Monokel über dem rechten Auge geklemmt und hörte aufmerksam zu. Nichts in seinem bartlosen Aristokratengesicht verriet eine Regung.
„Sie sind also überzeugt, dass die Frau ermordet wurde?“, fragte er, als Stoßberg seinen Bericht beendet hatte.
„Jawohl, Herr Bürgermeister, da bin ich völlig sicher. Sie ist stranguliert worden“, versicherte Stoßberg.
„Und die Tote ist unbekannt?“
„Ja. Ich habe mir erlaubt, das Gesicht der Toten fotografieren zu lassen und den Fotografen beauftragt, dieses Photo in der hiesigen Presse veröffentlichen zu lassen. Vielleicht meldet sich jemand, der sie kennt.“
„Sehr gut, Stoßberg, sehr gut. Haben Sie auch die belgischen Kontrollbehörden benachrichtigt? Sie wissen ja…“
„Noch nicht, Herr Bürgermeister. Ich dachte, Sie sollten zuerst informiert werden. Schließlich sind sie immer noch mein Vorgesetzter.“
„Richtig, Stoßberg, noch. Ich weiß, es ist ärgerlich, Fremden Rechenschaft über sein Tun als deutscher Beamter geben zu müssen, aber die fremden Herren sind nun mal die Sieger und wir die Besiegten. Also benachrichtigen Sie die andere Seite noch heute.“
Der Bürgermeister erhob sich, ging um den Schreibtisch herum und reichte Stoßberg die Hand. Eine ungewöhnliche Geste.
„Und, Stoßberg, egal was die anderen sagen, Sie untersuchen weiter. Schließlich sind Sie immer noch Leiter der hiesigen Polizei.“

Die neuen Herren erwarteten Stoßberg in ihrem Hauptquartier, einen Steinwurf vom Rathaus entfernt. Vor dem Eingang stand ein Soldat mit geschultertem Gewehr. Stoßberg zeigte seinen Ausweis und durfte das Gebäude betreten. Uniformierte und Zivilisten eilten hin und her, treppauf, treppab, mit Papieren, Aktentaschen, Ordnern bewaffnet. Ihre Blicke, die auf seine preußische Polizeiuniform fielen, waren nicht gerade freundlich. Immer, wenn er dieses Haus betrat, fühlte er sich gedemütigt, als Deutscher, als Beamter und als ehemaliger Soldat.

Die Militärpolizei hatte ihr Büro auf der ersten Etage, im letzten Zimmer am Ende eines langen Flurs. Stoßberg klopfte an.
„Entrez“
Es war die Stimme von Detiège, dem Membacher, wie er im Kommissariat genannt wurde. Stoßberg trat ein. Im Halbrund mit den Gesichtern zur Tür, saßen, von Stoßberg aus gesehen, links Major Detiège, in der Mitte der Chef der Militärpolizei, Oberst Lambermont, und rechts ein junger Leutnant mit schmalem Lippenbart und pomadisiertem schwarzem Haar.

Detièges bartloses, eckiges Gesicht zeigte keine Regung. Er schob seine kräftigen Finger ineinander und legte die so verschränkten Hände auf einen kleinen Stapel Papiere, die vor ihm lagen. Stoßberg nahm Haltung an und grüßte militärisch, wie es sich für einen preußischen Polizisten gehört. In dem Gesicht des Oberst war kein Begrüßungslächeln auszumachen. Ihm fehlt nur das Monokel und jeder würde ihn für einen preußischen Junker halten, dachte Stoßberg.

Der Oberst gab Detiège ein Zeichen. Der erhob sich und sagte in einem recht guten Deutsch, wobei er das R stark rollte:
„Herr Kommissar Stoßberg. Ihnen wurde ein Leichenfund gemeldet. Warum haben Sie uns nicht sofort informiert?“
„Weil ich zuerst selbst feststellen wollte, ob da wirklich eine Tote lag“.
„Et alors… und?“
„Ja, es war eine tote Frau.“
„Mord?“
„Höchstwahrscheinlich.“
„Wer hat die Tote gefunden und wo und wann wurde der Fund gemeldet und weiß man, wer sie ist, und was haben Sie unternommen?“ wollte Detiège wissen.
Stoßberg gab die gewünschten Auskünfte.
Als er beendet und der Major alles ins Französische übersetzt hatte, ergriff der Oberst das Wort. Es wurde ein langer Monolog.
« Monsieur le Commissaire, vous savez bien que vous êtes obligé de nous rapporter... », begann er. Stoßberg verstand zwar kein Wort, doch aus der Schärfe des Tons und dem grimmigen Blick des Obersts schlussfolgerte er, dass er hier und jetzt zusammengestaucht wurde.

Und so war es. Er wisse doch, so später die geraffte Übersetzung durch Detiège, dass er alle besonderen Ereignisse der Militärpolizei sofort zu melden habe und der Fund einer Leiche irgendwo auf einer Wiese sei doch wohl ein außergewöhnliches Ereignis. Natürlich wisse er, dass Stoßberg und auch die anderen Polizisten und Beamten, vom Bürgermeister angefangen, die Belgier zum Teufel wünschten. Sie seien aber nun mal hier, weil sie die Sieger seien und dass sie hier seien, daran hätten die Deutschen nun mal selber Schuld, denn schließlich hätten sie Belgien 1914 überfallen. Und er drohte damit, Stoßberg beim nächsten Verstoß gegen die Besatzungsverordnungen aus dem Amt zu jagen. Von jetzt ab werde Major Detiège die polizeilichen Untersuchungen in dieser Sache leiten und Stoßberg und seine Leute hätten ihm dabei behilflich zu sein. Das sei ein Befehl.
« C’est un ordre, Monsieur le Commissaire, un ordre. Compris?“, wiederholte der Oberst seinen letzten Satz. Und der Major übersetzte.
Detiège würde also in diesem Mordfall sein direkter Vorgesetzter sein. Hoffentlich will der sich jetzt nicht in meinem Büro breit machen, dachte Stoßberg.
Der Oberst wedelte mit seiner rechten Hand über den Schreibtisch, so wie man eine lästige Fliege verjagt: Stoßberg war entlassen. Grußlos drehte sich der Kommissar um, ging zur Türe, öffnete sie und hörte wie, der Membacher ihm nachrief:
„Noch etwas Herr Kommissar, Leutnant Bodarwé wird mein Assistent und Stellvertreter sein.“

Auf dem Weg zum Rathaus knatterten zwei Motorfahrzeuge ohne Verdeck mit großen am Heck festgezurrten Koffern an Stoßberg vorbei. In jedem von ihnen saßen vier junge Frauen. Den Damen schien es Spaß zu machen, ihre Haare im Fahrwind flattern zu lassen.


4


In seinem Büro wurde Stoßberg von drei Zeitungsleuten erwartet. Sie wollten mehr wissen. Bereitwillig gab Stoßberg Auskunft. Nachdem die Presseleute in der Abenddämmerung gegangen waren, knipste Stoßberg das elektrische Licht an. Eine neue Erfindung, die erst seit kurzem im Kommissariat genutzt wurde. Genau wie der Fernsprechapparat auf seinem Schreibtisch. Er setzte sich hinter seinem Schreibtisch, holte Federhalter, Tintenfass, Löscher und Papier aus den Schubladen und platzierte alles in der gewohnten Reihenfolge auf seinen Schreibtisch. Er überlegte einige Minuten, dann griff er zur Feder, tauchte sie ins Tintenfass und begann den offiziellen Bericht über den Leichenfund zu schreiben. Es war Mitternacht, als er die letzte Zeile niederschrieb.

Stoßbergs Heimweg führte durch menschenleere Straßen, die teils von Gaslaternen, teils von den neuen elektrischen Birnen, teils aber auch nur vom Licht des Vollmondes, der wie ein leuchtender Ball zwischen den blitzenden Sternen hing, erleuchtet wurden. Da niemand auf ihn zu Hause wartete, beeilte er sich nicht sonderlich. Immer noch hing die Tageshitze zwischen den Häusern der Stadt. Die meisten ihrer braven Bewohner schliefen. Nur aus dem Depoltschen Haus strahlte elektrisches Licht durch die geöffneten Fenster, drang Klaviermusik, Lachen, Stimmengewirr in die Stille der Nacht. Eine breite Toreinfahrt an der linken Seite des Hauses führte in einen Hinterhof. In dieser Zufahrt war eines der beiden Automobile abgestellt, die Stoßberg mit den jungen Damen durch die Stadt hatte fahren sehen.

Siegfried Depolts Feste waren Stadtgespräch. Die weiblichen Gäste mussten jung, hübsch, freizügig und wie die Männer trinkfreudig sein, wurde kolportiert. Siegfried Depolt solle manchmal sogar Prostituierte, die er als Künstlerinnen ausgab, unter die Gäste mischen, um seinen Festen mehr Schwung zu geben.

Siegfried Depolt, der älteste der drei Söhne des Tuchfabrikanten Friedrich Depolt, hatte den Krieg überlebt, wenn auch nicht unbeschadet. Sein rechtes Bein war auf dem Schlachtfeld geblieben. Der mittlere der Brüder Depolt war gefallen. Nur der jüngste, Wolfgang, war unversehrt nach Hause gekommen.

Schade, dass man von der Straße her nicht sehen kann, was sich drinnen abspielt, dachte Stoßberg. Vielleicht von hinten? Eigentlich hatte er keinen Grund, hier heimlich andere zu beobachten, doch Stoßberg war von Natur aus neugierig. Es war die Gelegenheit, einmal genaueres über die Depoltschen Feste in Erfahrung zu bringen. Also schob er alle amtlichen Vorbehalte zur Seite und zwängte sich an den Automobilen vorbei in den langen, breiten Hinterhof, der mit Karossen voll gestopft war. Auch hier waren die Fenster der zweiten Etage weit offen. Vom Hof aus an einer Ecke des Hinterhauses führte an allen Fenstern vorbei eine Feuerleiter zu einer der Dachluken.

Nachdem Stoßberg sich vergewissert hatte, dass niemand sich zwischen den Automobilen herumtrieb, erklomm er die Leiter bis zur zweiten Etage. Er verfluchte sein Gewicht und nahm sich vor, endlich etwas dagegen zu tun. Von der Leiter aus konnte er durch eines der weit geöffneten Fenster fast den ganzen hell erleuchteten Raum in dem sich das Fest abspielte überblicken.

Auf einem Podest an der Wand zur Straßenseite stand das Klavier, hinter dem sich der Kopf des Spielers im Takt der Musik, mal rauf, mal runter, mal hin, mal her bewegte. Um den Teil des Podests, der nicht vom Klavier und seinem Spieler beansprucht wurde, standen junge Männer, die einen im Smoking, die anderen in Straßenanzügen und junge Frauen, alle in einfachen, ungeschnürten Kleidern, die von dünnen Riemchen über nackte Schultern so gerade am Herunterfallen gehindert wurden. Sie applaudierten einer Tänzerin mit langen blonden Haaren, die, vom flotten Rhythmus des Klaviers getrieben, ihren strammen Busen hinter dem lockeren Stoff ihres gerade bis zum Beginn der Oberschenkel reichenden weißen Kleides, das weder die Schultern noch die Arme bedeckte, schwingen und hüpfen ließ. Ab und zu drehte sie sich um und streckte ihr Hinterteil dem Publikum entgegen, und wackelte damit. Starken Applaus erhielt sie immer dann, wenn sie ihre langen Beine wie eine Cancan-Tänzerin in die Luft nach oben schwang.

Plötzlich betrat eine andere weibliche Person die Bühne. Sie trug das gleiche Kleid wie die Tänzerin, aber in Schwarz. Auch ihre Haare waren schwarz, sehr kurz zu einem Pony geschnitten und mit Pomade so glatt gestrichen, dass es aussah, als habe sie einen Helm auf dem Kopf. Mit langsamen, tänzelnden Schritten ging sie auf die Blonde zu, die eben ihren prächtigen Busen vor den gierigen Augen der Zuschauer hinter dem dünnen Stoff ihres Kleides hüpfen ließ, umschlang von hinten ihre Taille, drehte sie zu sich herum und presste dann den fremden Köper fest gegen den eigenen. Prompt wechselte der Klavierspieler vom wilden Hämmern in ein sanftes, wogendes Klimpern, und die beiden weiblichen Körper begannen, eng umschlungen zu tanzen.

Na ja, dachte Stoßberg, was die Tänzerinnen da vorführen, ist zwar etwas anzüglich und würde von den meisten braven Bürgern meiner Stadt schon als Perversität gebrandmarkt. Doch im Vergleich zu dem, was sich heutzutage in einer Großstadt auf diesem Gebiet abspielt, ist das noch ziemlich harmlos. So dachte Stossberg und beobachtete weiter.

Während sie miteinander tanzten, legten die beiden Tänzerinnen ihre nackten Arme über die nackten Schultern der Partnerin und begannen jeweils im Rücken der anderen die wenigen Knöpfe, die ihre kurzen Kleider zusammenhielten, zu öffnen. Als kein Knopf mehr in seinem Loch war, schoben sie sich gegenseitig die dünnen Träger von den Schultern. Dabei pressten sie ihre Körper noch enger aneinander und küssten sich schließlich. Als sie nach einem langen Kuss sich wieder trennten, rutschten ihre Kleider zu Boden. Darunter waren beide splitternackt.

Die Zuschauer waren begeistert. Niemandem schien das peinlich zu sein. Im Gegenteil. Zwei andere junge Frauen sprangen aus der Zuschauermenge aufs Podest und reichten den beiden je ein gefülltes Sektglas. Unter Beifall umarmten und küssten die beiden Nackten die junge Frauen, bis jemand rief: „Ausziehen“. Der Wunsch wurde sofort erfüllt.

Was Stoßberg jetzt sah, entsprach ganz und gar nicht seinen, wenn auch nicht allzu starren Moralvorstellungen. Doch auch er war ein Mann. Und wie die Gäste starrte er von seiner Leiter aus nur noch auf die vier nackten Schönheiten, wie sie tanzten, mal solo, mal zu zweit, mal Ringelrein.

Plötzlich stürmten aus dem Publikum acht Männer aufs Podest. Sie hoben die Damen, die sich nicht dagegen wehrten, wie Trophäen in die Höhe und trugen sie rücklings auf ihren hochgestemmten Armen liegend über die Köpfe der anderen in den Saal. Nichts von den jungen weiblichen Körpern blieb dabei den Zuschauern verborgen. Auch Stoßberg nicht. Und was er sah, das elektrisierte ihn.


5


Eigentlich hätte er gestern Nacht einschreiten sollen, denn die vier nackten Schönen waren von den Männern nicht etwa hinausgetragen, sondern zwischen den Gästen heruntergelassen worden. Fast gleichzeitig war das Licht ausgegangen und Kerzenleuchter herein getragen worden. Von seinem Fenster aus hatte er dann nicht mehr alles erkennen können. Er hatte nur noch gesehen, wie zwei andere Frauen begannen, sich ebenfalls ihrer Kleider zu entledigen. Er war nicht eingeschritten, sondern hatte einfach seinen Beobachtungsposten verlassen. Wäre er eingeschritten, hätten die jungen Leute ihn ausgelacht. Nicht nur das Kaiserreich war untergegangen, sondern auch die alten Moralvorstellungen waren im Kugelhagel des Krieges gestorben und unter dem Dreck der Schützengräben begraben worden. Autoritäten hatten keine Autorität mehr. Die Generation, die den Krieg überlebt hatte, wollte das Leben jetzt in vollen Zügen genießen. Außerdem war er kein Sittenwächter. Also war er nach Hause gegangen, jedoch mit der Absicht, dem Veranstalter am nächsten Morgen einige Fragen zu stellen.

Stoßberg versank in einem roten Salonsessel und sah in das unrasierte breite und blasse Gesicht des Siegfried Depolt. Ein tiefblauer Morgenmantel aus Seide umhüllte seine magere Gestalt und verbarg das fehlende rechte Bein, das er durch eine hölzerne Krücke ersetzte. Er war sicher nicht älter als fünfundzwanzig, sah jedoch aus wie ein Vierzigjähriger. Daran sind nicht nur die langen Nächte schuld, glaubte Stoßberg.

„Haben sich die Nachbarn beschwert?“, fragte Depolt mit heiserer Stimme.
„Nein, Herr Depolt, obwohl sie dazu allen Grund gehabt hätten, nicht wahr?“, antwortete Stoßberg.
„Das bisschen Musik. Banausen. Dass die Gäste vielleicht etwas laut waren, na ja, das ist bei Bällen nun mal so. Kirmesbälle sind auch nicht gerade leise. Doch da beschwert sich keiner.“
„Es hat sich ja auch niemand beschwert, Herr Depolt.“
„Warum klingeln Sie denn Sturm und treiben mich aus dem Bett?“
Stoßberg hatte eine giftige Bemerkung auf der Zunge, doch er schluckte sie hinunter und sagte: „Die Sache ist wichtig und dringend. Ich bin gestern, spät in der Nacht, rein zufällig an ihrem Haus vorbeigekommen. Sie hatten wohl viele Gäste?“
„Einige, ja. Wieso interessiert Sie das?“
„Alle von hier?“
„Nur zwei. Sonst alles alte Kameraden.“
„…und Freundinnen.“
„Sie meinen?“
„Nun, gestern Nachmittag bin ich zwei dieser neuen großen Automobile ohne Verdeck begegnet. Hübsche Frauen saßen darin. Die Fahrt schien ihnen viel Spaß zu machen. Später dann habe ich diese Fahrzeuge bei Ihnen in der Toreinfahrt entdeckt.“
Siegfried Depolt grinste: „Sie haben wirklich ein geschultes Auge, Herr Stoßberg. Und kombinieren wie Sherlock Holmes. Tatsächlich, die Damen hat mir ein Freund geschickt. Sie sollten hier die Stimmung anheizen. Sie verstehen, Herr Kommissar? Der Freund kennt ein Kabarett in Köln, die Damen sind dort angestellt.“
Der Kommissar nickte. Diese Sorte Kabarett kannte er. Dort wurde nicht der feine Geist vorgeführt, sondern der schöne Körper.
„Und bei deren Großzügigkeit… na ja, Sie wissen schon, kann die Stimmung schnell in Schwung gebracht werden“, bemerkte er.
Das blasse Gesicht von Siegfried Depolt rötete sich ein wenig.
„Ist das verboten?“
„Aber nein, Herr Depolt, solange es nicht öffentlich geschieht und, wie gesagt, niemand hat Anzeige erstattet. Ich möchte nur wissen, wie dieses Kabarett sich nennt und wo man es findet“.
„Wozu? Wollen Sie einige der Damen für den Polizeidienst engagieren?“
„Mich interessieren die Damen und auch die Betreiber des Kabaretts aus einem anderen Grund: Mord“.
Depolt sah Stossberg verständnislos an.
„Mord? Wer ist ermordet worden? Einer meiner Gäste? So weit ich mich erinnern kann, waren sie alle im Morgengrauen noch lebendig, wenn auch stark alkoholisiert.“
„Gestern Morgen wurde eine nackte weibliche Leiche im Wald gefunden. Niemand kennt sie. Vielleicht gehörte sie zu Ihrer Tanztruppe. Darum möchte ich wissen, ob seit dieser Nacht eine von den Damen vermisst wird. Das kann mir nur der Chef der Truppe sagen, nicht wahr? Die hat doch einen Chef? Oder können Sie das?“
Depolt grinste verlegen.
„Nein. Den Rest der Nacht haben die Damen hier in meinem Haus verbracht und sind dann, bis auf eine, vor einer halben Stunde nach Köln zurückgefahren. Ich habe nicht an der Türe gestanden und sie verabschiedet und folglich auch nicht gezählt.“
„Dann bitte ich um die Adresse des Kabaretts und dessen Telefonnummer, falls vorhanden.“
Depolt zögerte. Sein von der langen Nacht noch nicht ganz entschlacktes Gehirn schien heftig zu arbeiten. Schließlich verließ er ohne eine Erklärung das Zimmer. Nach einigen Minuten war er wieder zurück und reichte dem Kommissar einen Zettel.
„Das ist die Anschrift des Kabaretts `Rote Laterne` und die Telefonnummer“, sagte er.
„Vielen Dank, Herr Depolt.“

Stoßberg steckte den Zettel ein und drückte sich aus dem Sessel. Da wurde die Tür, durch die er eben den Salon verlassen wollte, aufgerissen und ein splitternacktes Weib lief an ihm vorbei und warf sich Siegfried Depolt an den Hals. Stoßberg erkannte sie sofort: Es war die große, schlanke, schwarzhaarige Tänzerin, die mit der Blonden gestern Nacht den Ausziehreigen eröffnet hatte. Depolt, ziemlich verlegen, versuchte mit einem Teil seines Morgenmantels die Nacktheit seiner Freundin zu verdecken.
„Wir haben Besuch“, sagte er.
„Weiß ich, Liebling“, antwortete sie und, zu Stoßberg gewandt, „ich hoffe, ich habe keine wichtigen Gespräche gestört“.
„Ich wollte gerade gehen“, sagte Stoßberg.
Auf halbem Wege zur Türe drehte er sich noch einmal um.
„Sie gehören doch zum Kabarett `Rote Laterne, oder?“, fragte er.
Die Tänzerin sah ihn erstaunt an und nickte.
„Ja“, ich gehöre dazu. Trete dort regelmäßig mit anderen auf. Möchten Sie uns engagieren? Wir bringen Schwung in jede Feier. So wie wir gebaut sind.“
Mit breitem Lächeln glitt sie aus Siegfried Depolts Armen und Morgenmantel. „Gefalle ich Ihnen?“, fragte sie und drehte sich dabei langsam um sich selbst. An ihr war alles stramm und fest, insbesondere ihre Brüste. Ein solches Weib kann einen Mann schon verrückt machen, dachte Stoßberg.
Da mischte sich Siegfried Depolt ein: “Der Herr ist von der Polizei“, bemerkte er.
Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht der Tänzerin.
„Polizei? Habe ich…haben wir etwas verbrochen? Das Fest von gestern Nacht?“
„Nein, Liebling. Aber der Kommissar muss einen Mord aufklären und…“
„Mord? Wer ist ermordet worden?“
„Eine junge Frau, wahrscheinlich Mitglied Ihrer Truppe“, antwortete Stoßberg.
„Wer?“
„Das wissen wir noch nicht.“
„Wie…wie kommen Sie darauf, dass sie zu unserer Tanztruppe gehören könnte?“
„Das werde ich später erklären. Leider muss ich mich jetzt verabschieden. Ich bitte Sie aber, mir um vierzehn Uhr hier im Hause zur Verfügung zu stehen. Ich habe Ihnen einige Fragen zu stellen. Sie sind doch damit einverstanden, Herr Depolt, dass diese Befragung hier stattfindet?“
Siegfried Depolt nickte zustimmend.


6


Seine Mittagspause war dahin und in seinem Büro erwarteten ihn auch noch Major Detiège und dieser Leutnant Bodarwé. Mit Missvergnügen sah Stoßberg, wie sich Detiège hinter seinem Schreibtisch breit machte. Leutnant Bodarwé stand daneben und streichelte immer wieder mit dem Zeigefinger der linken Hand seinen Oberlippenbart. Der hat wohl einen Tick, dachte Stoßberg.

Detiège griff in eine Aktentasche und knallte nacheinander drei Zeitungen auf den Tisch. Es waren die heutigen Ausgaben der Tageszeitungen der Stadt, in denen das Portrait der Ermordeten abgebildet war.
„Ohne unsere Genehmigung. Noch einmal eine solche Eigenmächtigkeit und Sie werden Ihres Amtes enthoben“, sagte Detiège scharf.
„Also bin ich noch nicht?“, antwortete Stoßberg.
„Noch nicht…“
„Dann, Herr Major, dann ist der Platz hinter meinem Schreibtisch immer noch mein Platz.“
Stoßberg entging nicht, dass sich Detiège über seine Bemerkung ärgerte. Doch der reagierte anders als erwartet. Er stand auf.
„Bitte sehr“, sagte er und deutete auf den Stuhl, auf dem er bisher gesessen hatte. Dann setzten er und der Leutnant sich auf die beiden Stühle vor dem Schreibtisch, ohne dass Stoßberg sie dazu aufgefordert hatte.
Stoßberg nahm den Helm ab, legte ihn wie gewohnt an den linken Rand des Tisches und nahm ebenfalls Platz.
„Maintenant du concret“, sagte Detiège, „um vier Uhr heute Nachmittag wird ein Pathologe der Universität Lüttich hier eintreffen, um die Leiche zu untersuchen. Ich möchte, dass Sie dabei sind.“
Stoßberg schaute auf seine Schreibtischuhr: zehn nach eins. Um zwei wollte er die Depoltsche Tänzerin befragen. Bis dahin würde er die Fotos der Toten haben und konnte sie Depolt und der Tänzerin vorlegen. Für das Verhör würden ihm anderthalb Stunden zur Verfügung stehen. Das würde reichen.
„Wenn es sein muss. Um vier Uhr bin ich in der Leichenhalle.“
„Das muss sein. Abgesehen davon, haben Sie, außer Fotos in den Zeitungen, noch etwas unternommen?“, wollte Detiège wissen.
„Nein“, antwortete Stoßberg, „solange wir nicht wissen, wer die Tote ist…“.
„Dann sehen wir uns in der Leichenhalle wieder. Ich erwarte Sie dort, Herr Stoßberg, pünktlich vier Uhr“, befahl Detiège.
Dieser Befehlston missfiel Stoßberg gewaltig. Doch er zwang sich, nicht darauf zu reagieren.


7


Diesmal war sie angezogen. Zwar nur mit einem giftgrünen Morgenmantel, aber immerhin war ihre Üppigkeit bedeckt und Stoßberg, der nicht nur Polizist war, begrüßte das. Er konnte sich auf die Befragung konzentrieren. Sie empfing Stoßberg im Salon von Johann Depolt, in einem der roten Sessel sitzend, die sich um einen rechteckigen Rauchertisch gruppierten. Als Stoßberg ihr gegenüber Platz genommen hatte, schlug sie ihre Beine übereinander. Dabei glitten die beiden Teile des Mantels von den Knien. Und somit konnte Stoßberg während der Unterredung immer wieder ihre wohlgeformten nackten Beine bewundern. Zwischen Daumen und Zeigefinder der rechten Hand hielt sie eine lange Zigarettenspitze, in der eine brennende Zigarette steckte. Neben die hölzerne Zigarrenkiste, die Zigarettendose aus geschlagenem Silber und den aus Glaskristall geformten Aschenbecher stellte der Hausherr eine offene Flasche Selterswasser und geschliffene Kristallgläser. Er hatte genau das gleiche an wie am Morgen. Sein Gesicht sah diesmal etwas ausgeschlafener aus.

„Bitte, Herr Kommissar, bedienen Sie sich“, sagte er freundlich, zeigte auf den Rauchertisch und nahm selbst eine Zigarre. Dann setzte er sich an das schmale Ende des Tisches. Stoßberg verzichtete auf die Zigarre, aber nicht auf ein Glas Selterswasser. Nicht billig, dieses wunderbare Wasser aus der Flasche, dachte Stoßberg, aber die Depolts haben’s ja. Trotz verlorenem Krieg.

Die Tänzerin trank einen großen Schluck von dem teuren Nass, das ihr von Depolt gereicht worden war. Dann stellte sie das Glas wieder zurück. Dazu musste sie sich vom Sessel aus in Richtung Tisch beugen. Ihr Morgenmantel öffnete sich, und Stoßberg konnte ihre kräftigen Brüste wie zwei große Birnen in den Falten des Mantels hängen sehen. Sie lehnte sich wieder zurück und sog genüsslich an ihrer Zigarettenspitze. Der Aschenkopf der Zigarette glühte auf und kurz danach blies sie durch ihre gespitzten Lippen den blaugrauen Qualm in Richtung Kommissar. Immer wenn sie die Asche von der Zigarette in den Aschenbecher beförderte, musste sie sich nach vorne beugen. Und immer öffnete sich dabei der Mantel. Stoßberg war sicher, dass das gewollt war. Sie wollte ihn irritieren.
Aus der inneren Seitentasche seines Uniformrocks holte Stoßberg Notizheft und Bleistift.
„Bitte, gnädiges Fräulein, Ihren Namen und Ihre Anschrift“, fragte er und sah die Tänzerin an.
„Warum wollen Sie das wissen? Habe ich etwas verbrochen? Ach, egal“, lächelte sie, „ich heiße Antonia Kleebank. Ich wohne im Kabarett ‚Rote Laterne’ in Köln, bin unverheiratet, Deutsche, geboren am 27. Juni 1895. Genügt das?“
„Genügt. Beruf?“
„Tänzerin“.
„Im Kabarett ‚Rote Laterne’?“
„Zur Zeit ja“.
„Nicht immer?“
„Wissen Sie, Herr Kommissar, in dem Beruf ist nichts für immer. Eigentlich sind wir Freischaffende“.
„Freischaffende?“
„Nun, jeder kann die Truppe zu jeder Zeit verlassen“.
„Wie viele sind es denn, die da frei schaffen?“
„Unbestimmt. Zurzeit sind wir zehn.“
„Und alle in der ’Roten Laterne’?“
„Ja, das ist sozusagen unser Stammsitz. Und wir wohnen auch alle dort.“
„Und wer sagt Ihnen, wo sie auftreten müssen, und wer handelt die Bezahlung aus?“
Antonia blies gekonnt eine neue Tabakwolke in Richtung Kommissar.
„Der Geschäftsführer der Laterne“, sagte sie.
„Der auch beim Auftraggeber kassiert.“
„Ja.“
Sie sog wieder an ihrer Zigarettenspitze und blies den letzten Rauch in die Luft. Die Zigarette war zu Ende. Jetzt konnte Stoßberg ihre Brüste etwas länger bewundern, denn diesmal beugte sie sich nicht nur nach vorne, um die Asche in den Ascher zu befördern, sondern auch den Zigarettenrest aus der Spitze. Depolt sah der Zeremonie schweigend zu.
„Haben Sie schon die Zeitungen gelesen?“, fragte Stoßberg.
Die Tänzerin und Depolt verneinten.
Stoßberg zog aus der anderen Seitentasche ein Foto - er hatte es auf dem Weg hierhin beim Fotografen abgeholt – und hielt es der Tänzerin entgegen. Sie hob das eine Bein vom anderen und nahm das Bild in die Hand. Lange sah sie es an. Ziemlich lange, fand Stoßberg und ihm schien, dass ihre Selbstsicherheit für einen Moment dahin war.
„Ist Ihnen diese Person bekannt?“, fragte er.
„Nein, Herr Kommissar“, antwortete Antonia Kleebank.
„Und Sie, Herr Depolt, kennen Sie diese Frau?“
„Ist mir nicht bekannt, Herr Kommissar. Ist das die Ermordete?“
„Ja, sie wurde erdrosselt.“
Antonia Kleebank hatte in der Zwischenzeit eine neue Zigarette auf ihre Spitze gesteckt. Als sie sie jetzt an den Mund führte und die Zigarette mit einem Streichholz anzündete, bemerkte Stoßberg, dass ihre Hände dabei leicht zitterten. Sie kennt die Tote, dachte Stoßberg. Ich sollte sie mit dem, was ich gestern Nacht gesehen habe, konfrontieren.
„Noch eine Frage, Fräulein Kleebank, sind Nackttänze die Spezialität ihrer Truppe?“, fragte Stoßberg direkt.
„Aber sicher, Herr Kommissar. Wir sind die besten weit und breit“, lächelte Antonia Kleebank. Stoßberg fand das Lächeln etwas verkrampft.
„Und ihr Markenzeichen ist ein rundes schwarzes Muttermal an ungewöhnlicher Stelle, nicht wahr?“
„Eine Idee unseres Chefs. Sozusagen ein Brandzeichen für seine Herde. Pervers nicht?“
Da mischte sich Siegfried Depolt ein.
„Was soll diese Frage, Herr Kommissar? Ja, was soll überhaupt diese ganze Befragung von Fräulein Kleebank? Wird sie vielleicht verdächtigt, diese Unbekannte umgebracht zu haben?“
„Bei einem Mord sind zunächst alle verdächtig, die die Tote kennen.“
„Aber Antonia kennt sie nicht.“
„Doch.“
„Und wieso?“
„Weil die Tote Mitglied ihrer Kabaretttruppe war.“
„Und woher wollen Sie das nun wieder wissen, verehrter Herr Kommissar?“
„Nun, Herr Depolt“, sagte Stoßberg, „ich war Zaungast ihres letzten Festes. Auf die Einzelheiten, die ich da gesehen habe, will ich nicht eingehen…“
Depolt unterbrach ihn: „Von wo aus wollen Sie das alles gesehen haben?“
„Vom letzten Fenster aus. Dort führt eine Feuerleiter vorbei.“
„Unverschämt. Das war Hausfriedensbruch. Ich werde Sie anzeigen. Beim Bürgermeister.“
„Ich habe in dieser Nacht nur meine Pflicht getan, denn ich hatte beim Vorbeigehen zwischen den parkenden Automobilen in der Einfahrt Ihres Hauses eine verdächtige Gestalt gesehen, die plötzlich verschwunden war. Ich wollte wissen wohin. Es hätte ja ein Einbrecher sein können“, log Stoßberg.
Depolt schien diese Lüge zu schlucken. Ein preußischer Beamter, der seine Pflicht tat…
„Und was hat mein Fest mit dem Mord zu tun?“
„Nicht direkt. Wahrscheinlich. Aber, nun ja, ich habe die Damen, zumindest vier davon, tanzen sehen, und wie sie alle Hüllen fallen gelassen haben und weggetragen wurden. Da wusste ich, dass die Tote zu ihrer Truppe gehörte. Sie trug die gleiche Tätowierung an außergewöhnlicher Stelle, wie ich sie bei Fräulein Kleebank heute Morgen gesehen habe.“


8


Antonia Kleebank legte ihre Zigarettenspitze in den Aschenbecher.
„Sie haben Recht, Herr Kommissar, ich kenne die Tote. Es ist Susanne“, sagte sie.
„Warum haben Sie es nicht gleich gesagt?“
„Weil ich in diese Sache nicht hineingezogen werden wollte, Herr Kommissar. Ich bin doch jetzt Ausländerin. Und was wir so tun… Werde ich jetzt wegen Unzucht verhaftet?“
„Niemand will Sie verhaften. Auch wenn es gestern Nacht nicht beim Tanzen geblieben ist. Hab’ ich Recht? Doch ich bin nicht von der Sitte.“
Dann wandte er sich an Depolt: „Und Sie bleiben dabei, die Tote hier auf der Fotografie nicht gekannt zu haben?“
„Mein Ehrenwort, Herr Kommissar, ich kenne diese Susanne nicht. Sie war an besagtem Abend nicht dabei. Im Übrigen war ich noch nie in der ‚Roten Laterne’. Den Tipp mit der Truppe habe ich von einem Freund, und bestellt habe ich sie über diesen Freund. Es war euer erster Auftritt bei mir, nicht wahr Antonia?“
Antonia nickte: „Ja, das war er.“
„Ich werde alles überprüfen lassen. Dazu brauche ich noch Namen, Adresse und, wenn vorhanden, die Telefonnummer Ihres Freundes. Wären Sie so freundlich, mir das Gewünschte zu geben, Herr Depolt?“
„Selbstverständlich.“
Stoßberg lehnte sich in seinen Sessel zurück.
„Nun zu Ihnen, Fräulein Kleebank, erzählen Sie mir von Susanne alles was Sie wissen. Wie ich schon gesagt habe, ich bin nicht von der Sitte, aber trotzdem Polizist“.
Antonia verstand.
„Nun“, sagte sie, „Susanne wurde uns vor einem halben Jahr vom Leiter des Kabaretts vorgestellt. Sie war nicht nur die Hübscheste von uns allen, sondern lernte schnell unsere Tänze und legte noch schneller ihre Befangenheit ab. Sie verstehen, Herr Kommissar?! Sie redete wenig, aber was sie tat, tanzen und so… das tat sie mit Hingabe, mit Freude, ja mit Lust. Sie genoss es, von den Männern begehrt zu werden.“
„Woher kam sie und wie ist ihr Familienname?“, wollte Stoßberg wissen.
Antonia zuckte mit den Schultern.
„Wissen Sie, Herr Kommissar, die Mädchen der Truppe wechseln oft, und keiner fragt, woher sie kommen, wohin sie gehen und wie sie wirklich heißen. Wir rufen uns alle nur mit dem Vornamen, der auch manchmal nur ein Künstlername ist. Nur der Chef weiß mehr“
„Wie war sie denn, die Susanne, mit wem hatte sie Kontakte außerhalb des Kabaretts oder der Truppe, hatte sie einen Freund, einen Geliebten?“
„Nun, sie ist…war sehr freizügig, wenn Sie verstehen, was ich meine. Männer? Natürlich lernte sie, wie jede von uns, viele Männer kennen, aber einen festen Freund oder gar Liebhaber schien sie nicht gehabt zu haben. Der Chef liebt es übrigens nicht, wenn eines der Mädchen zu feste Kontakte hat. Das ist ein Grund zum Rausschmiss. Er sagt immer: Ihr seid viel zu schön, um nur einen Mann zu erfreuen. Der will euch nicht teilen, und das ist schlecht fürs Geschäft.“
„Wann haben Sie Susanne das letzte Mal gesehen?“
„Vor einer Woche etwa.“
„Hatte Susanne irgendwelche Probleme?“
Antonia sog an ihrer Zigarette und blies den Rauch diesmal gegen die Decke.
„Wissen Sie, ab und zu hat jede von uns irgendwelche Probleme. Die sind aber schnell gelöst oder werden einfach vergessen. Vor einer Woche sollten wir bei einem Fest belgischer Offiziere auftreten. Susanne wollte nicht. Aber da kennt der Chef kein Pardon: Wer nicht dahin gehen will, wohin er einen hinschickt, der kann gehen. Und in diesem Fall war er besonders hart, denn das war die erste Einladung aus belgischen Militärkreisen.“
„Wo hat das Fest stattgefunden?“
„Bei Aachen. In einem alten Hotel mitten im Wald.“
„Und er hat Susanne gefeuert!“
„Hätte er, Herr Kommissar, garantiert. Sie ist dann doch mit den anderen zu dem Hotel gefahren. Was sollte sie sonst auch tun? Von heute auf morgen mittellos auf der Straße zu stehen, ist in diesen Zeiten nicht erstrebenswert. Meinen Sie nicht auch?“
Stoßberg gab ihr Recht und wollte wissen, warum Susanne sich gegen den geplanten Auftritt gesträubt habe.
„Sie befürchtete, dort auf Bekannte zu treffen. Doch der Chef blieb hart“.
„Sie war also bei dem Fest dabei?“
„Ja“
„Und danach?“
„Habe ich sie nicht mehr gesehen.“


9


Vor der Friedhofskapelle stand ein Militärauto. Der Chauffeur saß gelangweilt hinter dem Steuer, einen erloschenen Zigarrenstumpen im Mund. Als Stoßberg den kalten Sezierraum betrat, sah er, wie sich eine weiß gekleidete Gestalt über den auf einem schmalen Tisch liegenden nackten Körper der toten Susanne beugte und unter dem fahlen Licht einer elektrischen Lampe in dem aufgeschlitzten Bauch der Toten mit Instrumenten und Fingern herumhantierte. Dabei redete er ununterbrochen in Französisch, wobei er manchmal zu einem anderen Mann in Weiß hinüber sah, der an einem winzigen Tischchen seitlich der Totenbahre saß und eifrig mit einem Bleistift in einem Heft schrieb. Stoßberg verstand natürlich kein Wort. Außer diesen beiden waren noch Detiège, sein Stellvertreter und der Friedhofswärter anwesend. Alle drei standen stocksteif und bleich an der Wand vor dem Kopfende der Bahre und starrten mal auf die Leiche, mal ins Leere. Der Leutnant schien mit einem Brechreiz zu kämpfen. Stoßberg blieb neben dem Eingang stehen. Auch er fühlte sich hier nicht besonders wohl.

Während er zusah, wie der Pathologe an der Toten schnippelte, versuchte er seine aufkommende Übelkeit zu unterdrücken, indem er gedanklich eine Bestandsaufnahme des Falles machte und erste Folgerungen daraus zu ziehen suchte.

Die Tote war also Mitglied einer Truppe gewesen, die ihre Nackttänze nicht nur auf der Bühne eines Kölner Kabaretts vorführte, sondern auch bei privaten Veranstaltungen. Nach den Tanzeinlagen standen den anwesenden Herren die Damen zu weiteren Diensten zur Verfügung. Das Kabarett war sicherlich ein Tanzkabarett, aber auch gleichzeitig eine Fassade, hinter der Prostitution betrieben wurde. Der so genannte Chef in Köln also auch ein Zuhälter. Und wo die Liebe käuflich ist, da ist immer zwielichtiges Gesindel in der Nähe und Verbrechen, selbst Mord, nicht ausgeschlossen. War Susanne einem Verbrechen aus dem Milieu zum Opfer gefallen? Hatte sie aussteigen wollen? Da reagieren die Zuhälter hart, das wusste Stoßberg, aber die Abtrünnige dafür gleich umbringen, wo sie bei der ‚Roten Laterne’ jederzeit hätte aussteigen können. Doch was hatte Antonia gesagt? Susanne habe befürchtet, in Belgien auf Bekannte zu treffen. Hatte sie in belgischen Militärkreisen Bekannte? War der Mörder vielleicht in diesen Kreisen zu suchen? Warum wurde sie dann ermordet? Aus Leidenschaft? War es gar ein Lustmord? Die Kratzer auf ihrem Leib könnten darauf hinweisen. Susanne? War das ihr wirklicher Vorname oder nur der Künstlername? Und ihr Familienname? Für die Klärung des Falles musste er mehr über das Lebensumfeld Opfers wissen. Meistens hatten Mordopfer irgendeine verkorkste Beziehung zum Täter. Er musste mit dem „Chef“ des Kabaretts sprechen. Der wusste sicher von Susanne mehr als diese Antonia.

„C’est terminé“, sagte der Professor und legte die chirurgischen Instrumente in das große Spülbecken unter dem einzigen Fenster aus gewölbten Glassteinen, die zwar das abgeschwächte Tageslicht herein ließen, aber nicht die Blicke der Neugierigen. Während der Assistent die Instrumente und die blutbefleckten Handschuhe des Pathologen unter einem der beiden Wasserhähne reinigte und der Professor seine Hände unter dem zweiten Wasserhahn wusch, hasteten Stoßberg und die anderen aus dem Leichenraum. Alles andere war, Gott sei Dank, nun Sache des Friedhofswärters und des Assistenten des Professors.

„Sie sind also doch noch gekommen “, begrüßte Detiège Stoßberg vor der Leichenhalle, „ich denke, dass auch Sie an den Ergebnissen der Leichenschau interessiert sind.“
Der freundliche Ton Detièges machte Stoßberg misstrauisch. Der Major blieb neben dem Militärfahrzeug stehen, während der Professor und sein Assistent einstiegen.
„Monsieur le Commissaire Stoßberg“, sagte Detiège, „ich sehe, Sie sind zu Fuß. Darf ich Sie ein Stück begleiten?“
Der Major gab dem Fahrer ein Zeichen. Der kletterte aus dem Führerhaus, um die unterhalb des Kühlers hängende Kurbel zu drehen. Nach dem dritten Versuch sprang der Motor mit einem lauten Knall an. Detiège und Stoßberg warteten, bis das Fahrzeug scheppernd und knatternd den Kapellenvorplatz und den Friedhof verlassen hatte.
„Also“, sagte Detiège, „wir wissen jetzt mit Sicherheit, dass die Tote mit einem dünnen Riemen oder einer Kordel erwürgt wurde. Was Sie sicher schon gedacht haben. Zeitpunkt des Todes laut Leichenschau: vor etwa 24 Stunden. Genaueres konnte uns der Pathologe leider nicht sagen. Alter des Opfers: 22 bis 25 Jahre. Keine Vergewaltigung. Das Blut der Toten wird noch untersucht. Der Pathologe meinte, dass sie vor nicht allzu langer Zeit abgetrieben habe. Die Kratzspuren auf Bauch und Brüste sind nicht von Tieren. Um ihre Handgelenke waren leicht rötliche Striemen zu sehen, wie sie von Fesseln verursacht werden. Was ich Sie fragen wollte: Hat sich schon jemand bei Ihnen gemeldet, der die Tote identifizieren kann?“
Stoßberg schüttelte den Kopf, wohl wissend, dass er nicht die Wahrheit sagte.
Detiège blieb stehen.
„Aber bei uns“, sagte er und genoss die Überraschung, die Stoßberg nicht verbergen konnte.
„Einer unserer Offiziere hat sie erkannt. Nicht nur ich kann Deutsch und lese ihre Zeitungen“, meinte der Major süffisant.
Obwohl Stoßberg vor Neugier zu platzen drohte, gab er seiner Frage einen sachlichen Ton: „Und wer ist sie?“
„Wer die Tote ist, wissen wir noch nicht. Doch sie wurde von unserem Informanten gesehen.“
„Wo?“
„Sie soll an einem Fest teilgenommen haben, das, von einigen unserer Offiziere organisiert, in einem Waldhotel nahe der Grenze bei Aachen vor einigen Tagen stattgefunden habe. Dort seien, so der Informant, Tänzerinnen aufgetreten. Eine davon sei die Tote gewesen. Da war sich unser Zeuge sicher. `Zur Linde` solle das Hotel heißen. Kennen Sie es?“
Stoßberg kannte das Hotel. Vor dem Krieg ein viel besuchtes Ausflugslokal.
„Also werden wir dort einen Besuch machen“, sagte Detiège.
„Wir?“
„Ja, Sie und ich.“


10


Das Hotel „Zur Linde“ lag mitten im Wald, am Ende des gepflasterten Teils einer Straße, die kurz vor der neuen Grenze von der Hauptstraße abzweigte. Als das Militärfahrzeug mit Kommissar Stoßberg, gesteuert von Major Detiège zischend vor dem klotzigen Hotelgebäude anhielt, raste ein riesiger schwarzer Köter laut kläffend auf das Automobil zu. Hinter ihm tauchte ein Mann in Arbeitshosen und offenem Hemd auf.
„Ruhe, Benno. Platz. Du sollst Platz nehmen. Platz“, rief der Mann.
Der Hund gehorchte und setzte sich. Misstrauisch beäugte er die Fremden, die es wagten, sein Revier zu betreten. Ab und zu fletschte er warnend die Zähne.
Der Mann in dem Arbeitsanzug, eine lange, hagere Gestalt mit Glatze und bartlosem, kantigem Gesicht kam auf die Besucher zu. Stoßberg schätzte seine Größe auf fast zwei Meter und sein Alter so um die sechzig.
„Wir haben geschlossen“, knurrte der Mann und sah die Ankömmlinge nicht gerade freundlich an.
Detiège gab Stoßberg ein Zeichen, er solle sprechen.
„Mein Name ist Stoßberg, ich bin Polizeikommissar in Eupen und das ist Major Detiège von der belgischen Militärpolizei. Wir möchten den Wirt sprechen.“
„Warum?“, wollte der Zweimetermann wissen.
„Nun, das werden wir ihm schon sagen.“
„Ich bin der Wirt.“
Die Wirte, die Stoßberg kannte, sahen ganz anders aus. Ihre Markenzeichen waren Bierbauch und Doppelkinn.
„Also Herr…“
„Dombrowsky.“
„Also Herr Dombrowsky, Sie vermieten doch…“
„Wir haben geschlossen. Für immer. Hier wird nichts mehr vermietet“ unterbrach der Wirt.
„Vor einigen Tagen soll hier aber ein großes Fest stattgefunden haben.“
Dombrowsky verzog das Gesicht.
„Stimmt. Die Besatzer haben hier gefeiert. Die hatten das Haus einfach für zwei Tage beschlagnahmt. Für ein Manöver, sagten sie. Wollen Sie es wieder beschlagnahmen?“
„Nein“, beruhigte ihn Stoßberg. „Wer hat die Beschlagnahme angeordnet?“
„Ich kannte den Mann nicht. Ein belgischer Offizier hielt mir ein Papier vors Gesicht. Was darauf stand, konnte ich nicht lesen, es war Französisch. Dann sagte er, in Deutsch, das Haus wäre ab morgen Militärquartier, wegen bevorstehender Manöver. Ich solle für zwei Tage verschwinden. Am nächsten Morgen war derselbe Offizier wieder da, diesmal nicht allein, sondern mit zwei anderen Uniformierten. Sie zwangen mich, meine Wohnung zu verlassen und fuhren mich zu
einem Hotel in der Stadt. Den Zimmerpreis für eine Nacht bezahlten sie. Das war’s.“
„Sie waren also diese zwei Tage nicht zu Hause?“
„Nein.“
„Was soll das heißen?“
„Nun, am späten Abend bin ich zurückgekommen. Ich wollte wissen, was die wirklich vorhatten, denn ich glaubte nicht an ein Manöver. War selbst Stabsunteroffizier. Der Besitzer des Hotels, in dem man mich einquartiert hatte, ein alter Bekannter, hat mich in der Nacht bis zum Anfang der Abzweigung zu meinem Hotel gefahren. Durch den Wald habe ich mich dann an mein Haus herangeschlichen. Ich wollte nicht von den Wachen erwischt werden. Doch es gab keine Wachen. Bei einem Manöver undenkbar. Und aus den offenen Fenstern war Grammophonmusik zu hören. Das war kein Manöver. Durch ein schlecht schließendes Kellerfenster gelangte ich ins Haus und über die Diensttreppe in die erste Etage. Dort gibt es eine Möglichkeit von oben, den ganzen Saal zu überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Kommen Sie, meine Herren, ich lade Sie zu einem Schnäpschen ein. Dabei erzählt es sich
besser.“
„Nur wenn es etwas mit unseren Untersuchungen zu hat. Unsere Zeit ist knapp, Herr…“, entgegnete Detiège.
Dombrowsky machte eine einladende Bewegung mit der Hand: „Hat es, hat es sicher, meine Herren.“


11


Dombrowsky saß mit Stoßberg und Detiège an einem Tisch im Restaurantsaal. Vor ihnen standen eine Schnapsflasche und je ein volles Glas. Dombrowsky reckte einen Arm in die Höhe und zeigte auf die Zimmerdecke.

„Sehen Sie sich die Decke zwischen den beiden Leuchtern an. Da scheinen zwei Rechtecke auf den Verputz gemalt zu sein. In Wirklichkeit aber sind das die Ränder von Klappen, die man in einem kleinen Raum zwischen den Zimmern im ersten Stock nach oben öffnen kann, um bei großen Veranstaltungen den Abzug verbrauchter Luft zu begünstigen. Eine Art Ventilation. Durch diese Öffnungen kann aber auch der größte Teil des Restaurants überblickt werden. Ein idealer Beobachtungsposten, den wir als Kinder oft genutzt haben.“
„Und Sie haben von dort aus alles gesehen?“, fragte Stoßberg.
„Jawohl, Herr Kommissar. Also, was da vor sich ging …
Stoßberg unterbrach ihn. Er wusste, was da kommen würde.
„Haben Sie diese Frau auch dort gesehen?“, fragte er und schob die Fotografie der Toten über den Tisch Dombrowsky zu.
Dombrowsky nickte: “Ja, die habe ich auch gesehen. Sie hatte Streit mit einem der Offiziere.“
„Streit?“
„Ja, aber nicht sofort. Zunächst hatte sie, wie die anderen jungen Frauen, mit niemandem besonderen Kontakt. Sie führte, mal mit den anderen, mal alleine, Tänze vor, bei denen sie sich unter dem Jubel der zuschauenden Männer nach und nach auszog. Schließlich, es war schon weit nach Mitternacht, tanzten alle nackt vor den Tischen der Männer und verschwanden dann mit einem, manche mit zwei Männern aus dem Saal.“
„Wohin?“
Der Wirt grinste: „Wohin wohl? In die Gästezimmer der ersten Etage. Aus meinem Versteck heraus konnte ich sie zwar nicht sehen, aber hören.“
„Und die Frau auf dem Foto?“, drängte Stoßberg.
„Nun, nachdem sie wie die anderen vor einem der Tische, an dem zwei Männer saßen, ihren obszönen Tanz vorgeführt hatte, verschwand sie nicht mit einem der Männer, sondern setzte sich zu ihnen und ließ sich von ihnen begrapschen. Widerlich.“
Tut vor uns empört und hat es doch nicht lassen können zuzuschauen, dachte Stoßberg.
„War ihnen an der Frau und auch an den anderen Frauen etwas aufgefallen? Etwas Ungewöhnliches?“, wollte Stoßberg wissen.
Dombrowsky drehte verlegen sein leeres Schnapsglas zwischen Zeigefinger und Daumen.
„Wissen Sie, Herr Kriminalrat, das Besondere war, dass die Damen alle ziemlich jung und verdammt gut gebaut waren, insbesondere die Frau auf ihrem Foto.“
„Und sonst ist Ihnen bei den Damen wirklich nichts aufgefallen?“, ließ Stoßberg nicht locker. Detiège sah Stoßberg erstaunt an.
Die Frage war Dombrowsky unangenehm. Und Stoßberg konnte sich denken warum.
„Noch ein Schnäpschen, die Herren?“, wich Dombrowsky aus.
Stoßberg und Detiège verneinten. Der Wirt aber leerte sein Glas in einem Zug und füllte es rasch wieder. Dann beugte er sich über den Tisch, so als habe Stoßberg und Detiège ein Geheimnis mitzuteilen.
„Sie hatten alle“, flüsterte er, „ein schwarzes Muttermal oder Ähnliches dort, wo normalerweise die…die…Schamhaare sind.“
„Auch die Frau, die wir suchen?“
„Jawohl, Herr Kommissar. Auch die“, bestätigte der Wirt.
„Kannten Sie jemanden unter den Teilnehmern?“, fragte Detiège.
„Nein, niemanden. Bis auf den Offizier, der mir das Papier gezeigt hatte“, antwortete Dombrowsky.
„Und was geschah dann?“
„Nun, irgendwann waren alle in den Gästezimmern der ersten Etage verschwunden, bis auf einen, der total betrunken unter einem der Tische lag und bis auf Ihre Dame mit den …Kavalieren. Plötzlich tauchte ein anderer belgischer Offizier auf.
Er ging schnurstracks auf den Tisch mit der Frau und den beiden Männern zu, und ohne eine Wort zu sagen, griff er nach dem Arm der Frau, und versuchte sie vom Tisch weg zu ziehen.“
„Und die anderen Männer?“ Detiège sah den Wirt gespannt an.
„Die protestierten laut und heftig, bis der Uniformierte sie anbrüllte. Es klang wie ein Befehl. Und sie ließen es zu, dass er die Frau von ihrem Stuhl riss.“
„Und die Frau?“ fragte Stoßberg
„Sie sträubte sich. Sie wollte einfach nicht mitgehen. Doch er war stärker. Er zerrte sie durchs Restaurant und ich dachte, jetzt geht er mit ihr nach oben. Doch nein, sein Ziel war der Ausgang. Als er die Tür nach draußen aufstieß, rief sie plötzlich laut um Hilfe und einen Namen. Mehrmals“.
„Welchen Namen?“ Stoßberg und Detiège stellten diese Frage fast gleichzeitig.
„Toni.“
„Was taten die beiden anderen Männer?“
„Nichts. Sie widmeten sich dem Alkohol.“
„Und Sie, was taten Sie?“
„Nun, ich verließ meinen Beobachtungsposten und ging ans Fenster. In dem kleinen Raum dort oben gibt es ein Fenster, das man öffnet, damit die von unten kommende schlechte Luft abziehen kann. Ich schaute also nach draußen auf den Vorhof.“
„Und was sahen Sie?“, fragte Stoßberg ungeduldig.
„Der Offizier zwang die nackte Tänzerin, mit ihm in eines der Automobile zu steigen.“
„Und dann?“
„Sie stritten sich. Plötzlich jedoch sprang der Mann wieder aus dem Fahrzeug, mit einer Kurbel in der Hand und warf den Motor an.“
„Und die Frau blieb im Automobil sitzen?“, fragte Stoßberg.
„Ja, das hat mich gewundert. Sie hätte versuchen können, ins Hotel zurück zu laufen.“
„Wann fuhren sie dann los? Sofort?“
„Ja, Herr Kommissar. Aber nicht alleine.“
„Nicht alleine?“
„Gerade als das Automobil abfuhr, stürzte eine nackte Person aus dem Hotel und sprang von hinten auf die Rückbank des Autos.“
„Ein Mann oder eine Frau?“
„Kann ich nicht sagen, Kommissar. Ich habe die Person nur von hinten gesehen. Ich weiß nur, dass sie kurzes Haar hatte.“


12


An Stoßberg nagten auf einmal Zweifel. Er war nicht mehr ganz so sicher, ob es jetzt noch Sinn hatte, dem Major das zu verschweigen, was er wusste, nur um als
erster den Mörder zu entlarven. Und was wusste er denn schon mehr? Viel war es nicht. Bei den Besatzungstruppen, zu denen der oder die Mörder auch gehören konnten, durfte nur Detiège recherchieren. Machte der das alleine, da war Stoßberg sicher, würde er schnell auf die „Rote Laterne“ stoßen und sein Wissensvorsprung wäre dahin. Mehr noch, der Major würde ihn von der weiteren Verfolgung des Falles ausschließen. Wenn er Detiège aber seine Kenntnisse mitteilte und damit Bereitschaft zur Zusammenarbeit bekundete, bestand die Chance, bei der Aufklärung des ersten Mordfalles in seiner Stadt weiter mitwirken zu können. Überdies hatte er auf einmal das Gefühl, dass der Major an einer Zusammenarbeit interessiert war.

Und während Stoßberg mit sich rang, lenkte Detiège das schaukelnde und scheppernde Blechgefährt, in dem sie saßen, über das Kopfsteinpflaster von Aachen nach Eupen zurück. Schnurgerade zog sich die Straße durch ausgedörrte Wiesen. Nur wenige Kühe standen dösend und wiederkäuend im Schatten der Bäume und Hecken und beglotzten das seltsame Gefährt, das an ihnen vorbeiflitzte. Die Hitze, die schon seit Wochen das Land peinigte, wurde langsam unerträglich. Stoßberg betete zwar nicht oft, aber heute morgen, beim Anblick des immer noch wolkenlosen blauen Himmels, hatte er so einige Stoßgebete für Regen nach oben geschickt. Wenn es nicht bald regnete, würde es Probleme mit der Wasserversorgung der Stadt geben.

Detièges Stimme riss Stoßberg aus seinen Gedanken.
„Ich werde das Portrait der Toten in allen Kasernen am Mitteilungsbrett aufhängen lassen, mit der Frage: Wer kennt sie?“, sagte er.
Stoßberg nickte.
“Gute Idee, Herr Major. Vielleicht sollte man die Damen im Kabarett ‚Rote Laterne’ in Köln befragen.“
„Rote Laterne? Kabarett? Köln?“
„Die Tänzerinnen, die in Dombrowskys Hotel aufgetreten sind, gehören zu der Tanztruppe eines Kölner Kabaretts, das sich ‚Die Rote Laterne’ nennt“.
Der Major trat mit aller Kraft auf die Fußbremse, der Wagen schlingerte über das Kopfsteinpflaster. Mit einem Blubbern setzte der Motor aus.
„Seit wann wissen Sie das, Stoßberg? Und warum sagen Sie mir das erst jetzt? Was verschweigen Sie mir sonst noch?“, fauchte Detiège.
Nachdem Detiège fluchend den Motor wieder angekurbelt hatte und sichtlich gereizt die Fahrt fortsetzte, entschloss sich Stoßberg, ihn über alles zu informieren und berichtete, Gelassenheit demonstrierend, von seinen Beobachtungen und Gesprächen im Hause Depolt.

Vor dem Kommissariat verabschiedeten sich Detiège und Stoßberg mit Handschlag, zum Erstaunen der Dienst habenden Wachtmeister, die alles aus dem Fenster der Wachstube beobachteten. Es war die Besiegelung einer Vereinbarung: Stoßberg würde die Untersuchungen bei den Deutschen leiten und Detiège regelmäßig berichten. Letzterer würde das gleiche bei den Belgiern tun und Stoßberg berichten. Wenn nötig würden beide zusammen Verhöre durchführen. Die Atmosphäre zwischen beiden war damit plötzlich entspannt. Doch die Nachricht, die Stoßberg einige Stunden später erhielt, war nicht von der Art, die eben erreichte Entspannung zu festigen.

13


Über eine grüne Wiese jagte Stoßberg hinter einem nackten Weib. Plötzlich blieb die Nackte stehen, drehte sich um und hatte auf einmal eine belgische Militäruniform an. Erschrocken sah Stoßberg, dass sie kein Gesicht hatte, nur einen breiten Mund, weit aufgerissen, um zu schreien. Doch sie schrie nicht. Um ihren Hals hatte sich ein Seil geschlungen und plötzlich tanzte sie durch einen riesigen Saal und von irgendwo aus der Ferne rief jemand: Herr Kommissar, Herr Kommissar…

Stoßberg erwachte. An der Tür zu seiner Zelle stand Oberwachtmeister Willems. Sichtlich aufgeregt. Noch halb im Schlaf setzte sich Stoßberg auf die Pritsche und fragte:
„Was is’n los Willems? Warum die Aufregung?. Noch’n Mord?“
„Nein, nein, Herr Kommissar“, stotterte Willems, „nein, kein Mord. Der Bürgermeister ist verhaftet worden!“
Mit einem Schlag war Stoßberg hellwach.
„Was sagen Sie da? Der Bürgermeister verhaftet? Von wem?“
„Von den Belgiern.“
„Wann?“
„Jetzt eben. Mein Kollege Thielen und ich haben vor zehn Minuten vier belgische Offiziere die Treppe zum Bürgermeisterbüro herauf gehen sehen. Vor zwei Minuten sind zwei von ihnen wieder an der Wachstube vorbeigekommen. Mit dem Grafen in ihrer Mitte.“
„Und wie kommen Sie, Willems, darauf, der Graf wäre verhaftet worden?“
„Gehen Sie in Ihr Büro, Herr Kommissar und schauen Sie aus dem Fenster.“
Stoßberg sprang von der Pritsche, lief in sein Büro und sah aus dem Fenster. Der Rathausplatz war von belgischem Militär mit geschulterten Gewehren umstellt. In den Seitenstraßen sammelten sich Passanten, die von Soldaten daran gehindert wurden, den Rathausplatz zu betreten. Eine schwarze Limousine mit offenem Verdeck fuhr soeben in Richtung Aachen davon. In ihr saß auf der Rückbank, zwischen zwei belgischen Offizieren, der Bürgermeister. Stoßberg war außer sich. Sie hatten also ihre Drohungen wahr gemacht! Sie hatten ihn verhaftet! Weil er sich immer wieder gegen die Annexion ausgesprochen und sich geweigert hatte, eine Loyalitätserklärung gegenüber dem belgischen König zu unterzeichnen. Sie würden ihn nicht ins Gefängnis sperren, das wusste Stoßberg. Sie würden ihn über die neue Grenze ins Deutsche Reich abschieben! Stoßberg fühlte sich betroffen und wurde wütend, weil er nichts dagegen unternehmen konnte.

Kaum war die Limousine außer Sicht, gellte ein Kommandoruf über den Platz. Die Soldaten formierten sich zu einer Dreierreihe und marschierten in Richtung Verviers ab.

Es dauerte einige Zeit, bis die ersten Passanten, die in den anderen Seitenstraßen zurückgehalten worden waren, sich auf den Rathausplatz wagten. Zunächst waren es nur einige wenige, die sich vor dem Rathaus versammelten, doch schnell wuchs die Menge. Die Verhaftung des Bürgermeisters hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Je größer die Menge vor dem Rathaus wurde, um so lauter wurden die Unmutsäußerungen.
„Sie müssen sie nach Hause schicken“, sagte eine bekannte Stimme hinter Stoßberg.
Unbemerkt von Stoßberg und Willems hatte Detiège den Raum betreten.
„Monsieur le Commissaire“, fuhr er fort, „sagen Sie den Leuten, sie sollen nach Hause gehen. Wenn es hier zu einem Aufruhr kommt… Gendarmerie steht am Bahnhof bereit. Ein Anruf vom Colonel, und die sind in einer halben Stunde hier. Und was dann geschehen kann, das wissen Sie ja… Reden Sie mit den Leuten.“
Stoßberg und Willems drehten sich um.
“Ich soll die Leute beruhigen?“, zischte Stoßberg, „wer hat sie denn dazu gebracht, dass sie hier protestieren? Ihre Leute doch…Unseren Bürgermeister, ein wahrer Patriot, einfach wie einen Verbrecher zu verhaften! Nur weil er Ihre Volksbefragung als Witz, als einen Betrug bezeichnet hat! Was sie ja auch war! Ich protestiere gegen diese Verhaftung.“
„Darüber können wir uns ein anderes Mal unterhalten“, sagte Detiège eindringlich, „doch jetzt müssen Sie handeln, damit es nicht zu einer neuen Katastrophe kommt.“
Stoßberg sah wieder zum Fenster hinaus. Die Volksmenge wuchs weiter. Eine Reichsfahne wurde hochgehoben. Beifall, vereinzelte Bravorufe. Wenn aus dieser Ansammlung ein Demonstrationszug durch die Stadt wird, wenn möglich noch in Richtung Militärverwaltung, ist mit einem harten Durchgreifen der Besatzer zu rechnen, dachte Stoßberg. Wie die Gendarmen mit Demonstranten umgehen, dass hatte er bei der letzten Demonstration vor einigen Monaten gesehen. Auf Pferden sitzend, hatten sie mit Säbeln die Bürger auseinander getrieben. Es hatte an ein Wunder gegrenzt, dass es keine Toten gegeben hatte. Aber eine beachtliche Anzahl Verletzter. Auch wenn er sich am liebsten an die Spitze eines solchen Demonstrationszuges gestellt hätte, so sagte ihm der Verstand, dass Detiège Recht hatte. Die Besatzer würden rücksichtslos dreinschlagen. Da musste das patriotische Gefühl zeitweise hinten anstehen. Er war auch für die Sicherheit der Bevölkerung verantwortlich.
„Ich werde zu den Leuten sprechen“, sagte er zu Detiège.
Stoßberg zog rasch seine Uniform an, seinen Helm auf und verließ mit Oberwachtmeister Willems sein Büro.
„Sie begleiten mich“, befahl Stoßberg den Wachtmeistern Willems und Thielen.
Vor der breiten und schweren Rathaustüre blieb Stoßberg einen Augenblick stehen, rückte seinen Helm zurecht und strich über seinen Prachtschnauzer.
„Oberwachtmeister Willems, öffnen Sie die Türe“, befahl er.


14


Während Stoßberg und seine zwei Kollegen versuchten, draußen den Rathausplatz zu räumen und die Protestierenden davon abzuhalten, zur Kommandantur der Belgier zu marschieren, war Detiège nach oben ins Bürgermeisterbüro gegangen. Dort erwartete ihn ein Oberst, der dorthin beordert worden war, um vorübergehend die Funktion des Bürgermeisters wahrzunehmen, bis der Stadtrat einen neuen Bürgermeister bestimmen würde. Der Oberst verstand und sprach kein Deutsch und hatte nie irgendwelche Beziehungen zu den Bewohnern der Stadt gehabt. Detiège war ihm als Dolmetscher zugeteilt worden.

Detiège, als Membacher, kannte dagegen diese neuen belgischen Bürger sehr gut. Die Beziehungen der Bewohner seiner Grenzgemeinde zu den Bewohnern Eupens waren vor dem Krieg sehr eng gewesen. Es wurde sogar häufig über die Grenze hinweg geheiratet. Dann jedoch, als der Krieg ausbrach, und deutsche Soldaten die Grenze überschritten und dabei einen Membacher Einwohner erschossen, war es mit der Harmonie vorbei. Ironie des Schicksals: Der Erschossene war ein Deutscher gewesen, der eine belgische Bäuerin aus Membach geheiratet hatte.

Detiège, von Beruf Tierarzt und ein Sohn des letzten Membacher Feldhüters, war kurz vor Beginn des Krieges als Offizier der belgischen Kavallerie eingezogen worden. Kurz nach dem Waffenstillstand war er zur Militärpolizei nach Eupen versetzt worden. Weil er Deutsch reden konnte und weil er die Gegend und die Menschen in dieser Region, die jetzt belgisch werden würde, kannte.

Als Detiège das Büro des Bürgermeisters betrat, saß der Oberst, ein hoch gewachsener, breitschultriger Mann mit schmalem, bartlosem Gesicht und bereits stark ergrautem Haar hinter dem schweren Schreibtisch des Stadtoberhauptes, paffte eine dicke Zigarre und spielte gelangweilt mit einem Brieföffner, auf dessen Griff das Wappen der Stadt prangte.

Detiège grüßte militärisch kurz und setzte sich an den Besuchertisch. Seine Aufgabe war es, dem Oberst vorgelegte Akten mündlich zu übersetzen. Doch es lagen keine Akten vor. Der verhaftete Bürgermeister hatte noch alles bearbeitet, was zu bearbeiten und alles unterschrieben, was zu unterschreiben gewesen war.
So saßen die beiden da, jeder an seinem Platz, hatten sich nichts zu sagen und hörten, wie Kommissar Stoßberg auf die Menge einredete.

Hoffentlich reicht Stoßbergs Autorität, die Menge zu beruhigen, dachte Detiège. Er wollte eben aufstehen und ans Fenster gehen, um einen Blick nach unten auf den Rathausplatz zu werfen, da klopfte jemand an die Tür.

„Entrez. Herein“, rief Detiège.

Vorsichtig, so als läge hinter der Tür etwas Schreckliches, betrat eine blondhaarige junge Frau den verqualmten Raum. Detiège und der Oberst starrten sie an, als sei sie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Ihre Haare waren kunstvoll zu zwei Zöpfen gedreht, umrahmten ein breites, aber nicht unschönes Gesicht und endeten auf ihren Brüsten, die das nur bis zu den Knien reichende ärmellose Baumwollkleid zu sprengen drohten. Ihre Waden waren schlank und kräftig und ihre nackten Füße steckten in Holzschuhen.
„Verzeihung, ich möchte zur Polizei. Doch unten ist niemand“, sagte die Erscheinung.
Detiège ging auf sie zu. Sie war nur einen halben Kopf kleiner als er.
„Was kann ich für Sie tun, mein Fräulein?“, fragte er.
„Ich will zur Polizei, aber in der Wachstube ist niemand.“
„Ich bin auch von der Polizei“, erklärte Detiège.
„Sie haben zwar eine Uniform an, aber keine Polizeiuniform“, sagte sie misstrauisch.
Detiège grinste.
„Stimmt“, sagte er, „ich bin trotzdem Polizist, aber belgischer. Sie können mir ruhig alles sagen“.
Die junge Frau schaute zu dem Oberst rüber, dann sah sie wieder Detiège an, schon weniger misstrauisch.
„Ich habe einen Toten gefunden, mit einem Messer im Rücken“, sagte sie.
„Wie bitte?“ Detiège starrte sie verdattert an.
„Ja…beim Beerenpflücken habe ich ihn gefunden“.
„Wann?“
„Vor einer Stunde etwa.“
„Und wer sind Sie, mein Fräulein?“
„Helene Gouder. Ich bin die älteste Tochter vom Bauern Gouder.“
„Ist das der Bauer, der vor zwei Tagen die Tote gefunden hat?“
„Ja.“
„Und warum kommt er nicht selbst…?“
„Mein Vater meint, da ich den Toten gefunden hätte, müsse ich das auch melden. Ich sei ja schließlich alt genug. Er müsse sich um eine kalbende Kuh kümmern.“
„Wie alt sind Sie?“
„Dreiundzwanzig.“
„Und warum ist Ihre Mutter nicht mitgekommen?“
„Aus denselben Gründen“.
Detiège wandte sich an den Oberst, der während des Gesprächs, von dem er nichts verstand, heftiger als sonst an seiner Zigarre sog und dabei das Fräulein mit unverhohlenem Wohlgefallen betrachtet hatte. Detiège klärte ihn über den Sachverhalt auf und bat gleichzeitig um Erlaubnis, sich als Militärpolizist von der Wahrheit dieser Aussage überzeugen zu können, da der Kommissar anderweitig beschäftigt sei. Der Oberst war einverstanden.


15


Detiège und Helene Gouder verließen das Rathaus durch eine der Hintertüren. Detiège hatte diesen Weg gewählt, um die Bemühungen des Kommissars, die Demonstranten zu beruhigen, durch sein Auftauchen nicht zu torpedieren. Über einen Feldweg, der hinter dem Rathaus zum Gelände des früheren Bahnhofs führte, erreichten sie, von den Demonstranten unbemerkt, Detièges Hauptquartier. Er bat Helene, in seinem Dienstfahrzeug auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Er genoss es, ihr beim Einsteigen zu helfen. Die junge Frau in dem einfachen und kurzen Kleid, das viel von der von Sonne und Wind leicht gebräunten Haut sehen ließ, war ganz nach seinem Geschmack. Bevor sie abfuhren, holte Detiège noch seinen Stellvertreter.

Der Tote lag, in dem gleichen Wald, an dessen Rand die tote Tänzerin gefunden worden war, auf dem Bauch, die Arme ausgebreitet wie ein Gekreuzigter, im hohen Gras einer Lichtung, weit ab von der Straße. Tief in seinem Rücken steckte ein Dolch, eine Miniaturausgabe eines Säbels. Solche Dolche hatte Detiège bei höheren deutschen Offizieren gesehen. Der Tote hatte eine belgische Uniform an. Diese Uniform, so stellte Detiège fest, war unversehrt, abgesehen von den Blutstreifen unterhalb des Dolches und den trockenen Blättern, die an der Uniform hafteten. Auf den ersten Blick waren um die Leiche herum keine Kampfspuren zu sehen. Detiège fasste den Toten seitlich unterhalb des linken Armes und hob die Leiche soweit an, dass er auf der Brust des Toten die Rang- und Truppenabzeichen sehen konnte. Dabei konnte er nicht verhindern, dass, während er die Abzeichen prüfte, eine Gesichtshälfte des Toten sichtbar wurde. Susanne Gouder, die neben ihm vor der Leiche stand, schrie auf, wurde weiß um die Nase und Detiège befürchtete eine Ohnmacht. Doch sie fasste sich schnell. Kein schöner Anblick, fürwahr. Zwischen den feuchten Blättern, die im Gesicht des Toten klebten, und in den leeren Augenhöhlen wimmelte es von Ungeziefer; die Haut hatte sich größtenteils von den Wangenknochen gelöst. Ein Indiz, dass der Tote schon länger hier liegen musste. Wegen des Anblicks verzichtete Detiège darauf, ihn auf den Rücken zu drehen. Das sollten die Spurensicherer machen und auch seine Taschen durchsuchen. Die Uniform, die der Tote trug, war die eines Oberleutnants der Artillerie.

Detiège gab Leutnant Bodarwé, der sich an den üppigen Formen der Helene Gouder nicht satt sehen konnte, den Befehl, mit ihm durch die winzige Lichtung, in der nur mannshohes Gras und Beerensträucher wuchsen, zu streifen und nach Spuren zu suchen. Doch sie fanden nichts. Der Oberleutnant war höchstwahrscheinlich nicht in dieser Lichtung ermordet worden. Was hätte er auch hier suchen sollen? Andererseits war der Fundort ein idealer Platz, eine Leiche ohne viel Aufwand für lange Zeit, wenn nicht für immer, verschwinden zu lassen. In einigen Jahren wäre der Tote als ein Kriegsopfer angesehen worden. An dem Stilett klebte noch Blut, getrocknetes. Vielleicht gab es da verwertbare Fingerabdrücke. War der Mörder ein deutscher Offizier? Warum hatte der Mörder den Dolch dann nicht mitgenommen? Und noch etwas beschäftigte Detiège: die ermordete Tänzerin war auch im Gouderschen Wald gefunden worden, wenn auch am Rande. Gab es da einen Zusammenhang? War dieser Tote vielleicht derselbe, der die Tänzerin entführt hatte? Wenn ja, dann konnte er nicht ihr Mörder sein, denn der Zustand seines Gesichts ließ nur den Schluss zu, dass er länger hier lag als die tote Tänzerin am Rande desselben Waldes.

Nachdem auch im weiteren Umkreis nichts gefunden worden war, befahl Detiège seinem Stellvertreter, an Ort und Stelle zu bleiben und auf die Ankunft der Stoßbergschen Männer zu warten, während er Susanne Gouder nach Hause fahren und dann zum Rathaus zurückkehren würde, um dort alles Nötige zu veranlassen.

Der Platz vor dem Rathaus war wie leergefegt.
„Ich sehe, Sie haben Erfolg gehabt, Herr Kollege“, sagte Detiège betont leutselig, als er Stoßbergs Büro betrat.
„Ja“, antwortete Stoßberg einsilbig.
„Sie können also ihre kostbare Zeit wieder der Mördersuche widmen.“
„Ja.“
Detiège setzte sich vor Stoßbergs Schreibtisch.
„Wir haben einen zweiten Toten im Gouderschen Wald gefunden“, sagte er.
Stoßberg schaute ihn ungläubig an.
„Was?“
„Ja, ein belgischer Offizier. Mit einem deutschen Offiziersdolch erstochen.“
„Tja, wir sind eine kleine Stadt, voller Mörder. Ihren Bürgermeister hat man soeben verhaftet!“
„Also, Herr Stoßberg, ich möchte eines klarstellen. Ich habe nicht den Befehl gegeben, den Grafen zu verhaften. Das kam von ganz oben. Dass es soweit kommen würde, war zu erwarten. Das wussten Sie. Der Anschluss an Belgien ist nun mal beschlossene Sache. Da konnte der Bürgermeister, da können Sie und ich nichts mehr dran ändern. Ich bin Militär und Sie Beamter, und als solche haben wir zu gehorchen. Wenn dieser neue Mord nicht schnellstens aufgeklärt wird, wird die Militärverwaltung sich über meinen Kopf hinweg einmischen, und was das bedeutet, können Sie sich sicherlich denken.“
Stoßberg wusste, dass der Major Recht hatte.
„Der belgische Offizier ist also mit einem deutschen Offiziersdolch erstochen worden?“, fragte er.
„Ja. Ich kenne solche Dolche.“
„Was natürlich auf den ersten Blick bedeuten könnte, dass der Mörder ein deutscher Offizier oder ehemaliger Offizier ist“.
„Könnte, Herr Stoßberg. Doch warum sollte fast zwei Jahre nach dem Krieg ein deutscher Offizier einen belgischen Offizier ermorden!“
„Ich glaube auch nicht daran, doch wir sollten das trotzdem nicht ausschließen. Haben Sie den Toten schon identifiziert?“
„Den Namen habe ich noch nicht. Anhand der Uniformabzeichen, falls das seine Uniform ist, ist der Tote ein belgischer Oberleutnant der Artillerie. Ich habe ihn nicht weiter durchsucht, das soll bei der Leichenschau geschehen. Zunächst müssen die Spuren gesichert, die Leiche und die Örtlichkeiten fotografiert, der Tote identifiziert und in die Leichenhalle gebracht werden. Die übliche Prozedur eben. Würden Sie das veranlassen?“
„Ein ermordeter belgischer Offizier. Fällt das nicht in Ihren Bereich?“
„Im Prinzip ja. Doch der Tote wurde auf dem Territorium Ihrer Stadt gefunden und ich vermute einen Zusammenhang mit dem Mord an der Tänzerin. Ein Grund, auch hier zusammenzuarbeiten, meinen Sie nicht auch? Hatte die tote Tänzerin nicht Streit mit einem belgischen Offizier?“
Stoßberg musste ihm Recht geben. Da konnte ein Zusammenhang bestehen. Er gab die notwendigen Anweisungen.


16


Ziemlich verloren stand Stoßberg unter den vielen Menschen im Kölner Hauptbahnhof. Niemand würde ihn abholen und ihn durch die große Stadt zu seinem Ziel lotsen. Wer auch? Die Kölner Kripo? Die durfte davon nichts wissen, denn er war kein deutscher Polizist mehr. Er war hier als Privatmann. Als er den Vorschlag gemacht hatte, das Kabarett „Rote Laterne“ in Köln aufzusuchen und dort den Chef und seine Tänzerinnen zu befragen, war Detiège sofort einverstanden gewesen und hatte die notwendigen Papiere und Devisen in kürzester Zeit besorgt.

Stoßberg hatte seinen grauen Anzug aus der Mottenkiste holen müssen. Der war genau so eng wie die Uniform. Vorteilhaft sehe ich nicht darin aus, hatte er gedacht, sie werden mich alle anstarren. Doch niemand nahm besondere Notiz von dem rundlichen, älteren Herrn in dem abgetragenen Anzug. Nur sein Friedrich-Wilhelm-Schnauzer fand einige Beachtung. Die Anzüge und Kleider der meisten Männer und Frauen vor und im Bahnhof waren eher zu groß und dazu noch verschlissener als Stoßbergs graues Kammgarn. Die wenigen besser Gekleideten waren wie Farbtupfer auf einem grauen Feld. Doch diese Farbtupfer hatten es eilig, in ihre Erste-Klasse-Abteile oder nach draußen zu verschwinden.

Aus dem Menschengewühl tauchte plötzlich vor Stoßberg ein Mann mit eingefallenen Wangen und einer schwarzen Kappe in der Hand auf.
„Wünschen der Herr einen Dienstmann und vielleicht eine Droschke?“
Stoßberg nickte. Der Mann nahm seinen Koffer und, gefolgt von Stoßberg, strebte er dem Ausgang zu. Stoßberg hatte draußen Kutschen mit Pferdegespann erwartet. Stattdessen standen vier schwarze Automobile auf dem Bahnhofsplatz mit einem Schildchen „Taxi“ an der Windschutzscheibe. Der Dienstmann schob Stoßbergs Koffer auf den Beifahrersitz des ersten der vier Taxis, öffnete mit der einen Hand und einem “Bitte schön, der Herr“ die Türe zu den Rücksitzen und hielt die andere Hand, mit der Handfläche nach oben, Stoßberg entgegen. Stoßberg legte einen Geldschein hinein, was der Mann mit einem „Danke der Herr“ quittierte.
„Wohin, der Herr?“, fragte der Taxi-Chauffeur.
„Kennen Sie das Kabarett `Die Rote Laterne`?
Der Fahrer sah ihn erstaunt und abschätzend an.
„Ja, kenne ich.“
„Gibt es dort in der Nähe ein Hotel oder eine Pension?“
„Ja, die Pension `Flora`. Ist aber keine erste Adresse.“
„Egal. Fahren Sie hin.“


Fast eine halbe Stunde schaukelte und ratterte das Taxi zwischen Pferdekarren, Automobilen und Straßenbahnen durch die Kölner Straßen, in einer Glocke von Lärm und Gestank. Das ist eben Großstadt, urteilte Stoßberg. Als sein Taxi in eine Seitentrasse einbog, die zum Rhein führte, verringerte sich der Verkehr schlagartig, und mit ihm der Geräuschpegel und der Benzingeruch. Als sie dann entlang des Rheins fuhren, waren nur noch der Motor des Taxis und das Geklapper seiner Karosserie sowie das ferne Tuckern eines Flussdampfers zu hören. Die Straße lag wie ausgestorben vor ihnen. Stoßberg hatte gehofft, einen langen Blick auf den Vater Rhein werfen zu können. Er wurde enttäuscht. Hafenanlagen, Lagerhallen und Fabriken gaben nur sekundenlang Stücke davon für den Vorbeifahrenden zur Ansicht frei. Obschon es Werktag war, sah Stoßberg keine Kräne in Bewegung, keine Loren Lasten ziehen, keine Schornsteine rauchen, keine Arbeiter arbeiten. Nur vor den Werktoren bewegte sich etwas: Soldaten mit geschulterten Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite einfache Reihenhäuser. Vor einem dieser Häuser stoppte das Taxi.
„Pension Flora. Das Nachtlokal finden Sie am Ende dieser Häuserreihe. Eine Villa“, sagte der Fahrer.

Die Pension war wirklich keine erste Adresse. Aber Stoßberg war’s gleich, denn wichtiger war, dass sie in der Nähe des Kabaretts lag, dass er noch heute Abend besuchen würde.

In seinem Zimmer auf der ersten Etage, zur Straße hin gelegen, ballte sich schlechte Luft. Stoßberg warf Koffer und Hut auf die geblümte Bettdecke, riss das Fenster auf und schaute hinaus. Gegenüber, zwischen zwei Lagerhallen, sah er ein Stück des Rheins unter der nachmittäglichen Sonne blitzend vorüberziehen. Die „Rote Laterne“ würde bestimmt nicht vor Einbruch der Dunkelheit öffnen. Also hatte er viel Zeit, sich von der Reise zu erholen. Reisen war zwar schön, aber bei diesen Temperaturen schweißtreibend und anstrengend. Stoßberg zog das Jackett, die Schuhe und die Hose aus, legte alles auf den Koffer und sich selbst daneben, und schlief ein. Bis ein Knall ihn weckte.

Das Knallen wiederholte sich mehrmals. Jemand bemühte sich, den Motor eines Wagens anzukurbeln. Im Zimmer war es stockfinster. Von der Rheinseite wehte ein leichter Wind ins Zimmer und brachte etwas Kühlung. Stoßberg rutschte vom Bett und tastete sich durchs Zimmer zum Lichtschalter. Im gelblichen Licht der Deckenlampe fischte er seine Taschenuhr aus dem Jackett. Eine halbe Stunde vor Mitternacht. Mit der üblichen Sorgfalt brachte er seinen Prachtschnauzer in Ordnung, zog sich an, knipste das Licht aus und verließ das Zimmer. Die Alte, die ihn bei der Ankunft misstrauisch beäugt hatte, saß hinter der winzigen Rezeptionstheke in einem abgeschabten Ohrensessel und schnarchte mit offenem Mund. Stoßberg räusperte sich laut. Die Alte klappte den Mund zu und schrak hoch.
„Sie wünschen?“
„Einen Haustürschlüssel.“
Die Alte langte mit ihren krallenähnlichen Fingern unter die Theke und reichte Stoßberg den gewünschten Schlüssel.

In dem Augenblick, in dem er die Pension verließ, kam ein Automobil die Straße hinuntergefahren. Seine Scheinwerfer fraßen sich eilig durch die Dunkelheit. Auf dem Weg zum Kabarett zählte Stoßberg mehr als ein Dutzend Karossen, die im Mondlicht glänzten. Straßenlaternen gab es keine in dieser Straße. Die Villa, in der sich das Kabarett befinden sollte, lag einige Meter von der Straße hinter einem Vorgarten. Ein Eisengitter mit Tor grenzte es zur Straße hin ab. Das Tor war geöffnet. Eine Laterne beleuchtete den Kiesweg zum Haus. Stoßberg blieb einen Augenblick stehen und versuchte etwas mehr von dem Haus und seiner Umgebung wahrzunehmen, doch außer der Feststellung, dass das Haus über dem Ergeschoss zwei Stockwerke hatte, war nichts Genaueres festzumachen.

Der Kies knirschte laut unter seinen Füßen, als Stoßberg auf das Gebäude zuging. Rechts neben der Haustüre ragte ein Messingknopf aus der Mauer. Stoßberg zog daran. Wie aus weiter Ferne hörte er ein dünnes Bimmeln. Die Türe wurde einen Spalt geöffnet und ein Boxergesicht musterte Stoßberg von Kopf bis Fuß und fragte mit knarrender Stimme: „Kennwort?“. „Warum ist es am Rhein so schön“, antwortete Stoßberg. Ohne dieses Kennwort werde niemand hereingelassen, hatte Antonia Kleebank gesagt und es ihm verraten. Der Boxer trat zur Seite, grinste blöd und zeigte auf eine doppelte Glastür am Ende der Diele. Von dieser Diele aus führte eine breite Treppe in die oberen Stockwerke.

Stoßberg stieß die beiden Flügel der Glastüre auf. Vor ihm ein diffuses Halbdunkel und Schwaden grauen Tabakqualms, aus dem sich ein weibliches Wesen mit nacktem Busen, winzigem Röckchen und riesigem Bauchladen auf ihn zu bewegte. Es führte Stoßberg an einen freien Tisch, bot ihm Zigarren, Zigaretten und Knabberzeug an und nahm seine Bestellung auf. Auf der hell erleuchteten Szene hüpften vier Schulmädchen in äußerst knappen Röckchen und Blusen, die vorne nur zusammen geknotet waren, herum. Getrieben von den wilden Rhythmen eines unsichtbaren Klaviers spreizten sie ihre Beine, warfen die Arme in die Luft, wackelten mit Hüften, Brüsten und Hintern, während sie über zwei Schulbänke turnten.

Nachdem seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, konnte Stoßberg den Saal und das darin sitzende Publikum in Augenschein nehmen. An runden Tischen saßen wohlgenährte Herren in dunklen Anzügen und Frauen in sehr offenherzigen Kleidern. Die Herren waren in der Überzahl und pafften Zigarren, die Frauen sogen Nikotin aus langen Zigarettenspitzen. Man unterhielt sich ungeniert laut, selbst über Tische hinweg; brüllte vor Lachen, wenn schweinische Witze erzählt wurden; bewertete die Vorführungen auf der Bühne mal mit Beifall, mal mit zotigen Zurufen, mal mit Pfiffen; trank Sekt und Wein, in silbernen Kübeln kalt gehalten. Alles Schieber, Schmuggler, Hochstapler, Gauner, war Stoßberg überzeugt, keine feine Gesellschaft saß hier, sondern viele Jahrzehnte Knast. Er selbst hatte nur ein Glas Wein bestellt, denn bei den hier geforderten Preisen war für ihn eine Flasche nicht denkbar. Neben der Bühne links machte Stoßberg eine Türe aus, die von ihrer Lage her hinter die Bühne, vielleicht sogar zu den Garderoben führen könnte.

Auf der Bühne sprangen die Tänzerinnen weiter zwischen, vor und auf den Schulbänken herum. Dabei lösten sie allmählich die vor ihren nackten Bäuchen geknoteten Blusen, zogen sie schließlich aus und warfen sie ins Publikum. Da verstummte das Klavier mit einem schrillen Akkord.

Eine hoch gewachsene Frau in einem schwarzen Kleid, das von den Zehenspitzen bis zum Kinn alles verhüllte, stand plötzlich im Klassenzimmer. Die Lehrerin. Ihre pechschwarzen Haare hatte sie zu einem Dutt gedreht und in der rechten Hand hielt sie ein flaches Lineal. Die Schülerinnen kletterten geschwind in ihre Schulbänke, die mit den Rückenlehnen zum Publikum standen, bedeckten verschämt ihre nackten Brüste mit den Händen und warteten auf die Bestrafung, die jetzt sicherlich kommen würde.

Mit einem Handzeichen befahl ihnen die schwarz Gekleidete, aufzustehen und hinter den Bänken mit dem Rücken zum Publikum Aufstellung zu nehmen. Als die Schülerinnen nun so da standen, schritt die Lehrerin bis an den Rand der Bühne, schaute einen Augenblick ins Publikum und drehte sich dann um. Das Publikum lachte, klatschte, einige pfiffen. Die Dame war hinten völlig nackt. Nur die hohe Halskrause und ein dünnes Stoffbändchen um die Taille hielten das Kleid am Körper.

Gespannt warteten nun alle auf die Bestrafung. Die Lehrerin stellte sich hinter ihre Schülerinnen und befahl ihnen, die Röckchen auszuziehen und sich über die Rückenlehne der Bänke zu beugen. Die Gören hatten natürlich keine Höschen an. Mit Applaus feierte das Publikum die Aussicht auf vier knackige, nackte weibliche Hintern. Jetzt kommt die Züchtigung, dachte Stoßberg. Und sie kam. Die Gestrenge ließ ihre Hand auf die strammen Hintern klatschen. Das Publikum applaudierte. Die Gezüchteten jammerten. Doch das war der Züchtenden noch nicht genug. Jetzt wurde das Lineal eingesetzt und in das Gejammer mischten sich bald spitze Schreie und Hilferufe. Das Publikum aber pfiff und johlte: „nur druff, lass es klatschen, gibt’s ihnen“.

Plötzlich schwangen zwei der Schülerinnen ihre Oberkörper aus der Beugung, drehten sich um – Stoßberg sah bei ihnen die ihm bekannte Tätowierung – rissen der Lehrerin zuerst das Lineal aus der Hand, dann das schwarze Kleid vom Körper, und zwangen sie, sich über die Schulbank zu beugen. Das Publikum raste. Die beiden anderen Zöglinge gaben ihr nun das zurück, was sie von ihr erhalten hatten. Zuerst mit den Händen, dann mit dem Lineal schlugen sie auf die hoch gestreckten Pobacken. Die Lehrerin jammerte und schrie, wie vorhin ihre Zöglinge. Das Publikum zählte die Schläge mit und brüllte Obszönes. Nach dem zehnten Schlag mit dem flachen Holz riss die Lehrerin plötzlich ihren Oberkörper mit den schweren Brüsten hoch und lief davon. Aber nicht, wie Stoßberg erwartete, in die Kulissen, sondern von der Bühne in den Saal durch die Tischreihen, verfolgt von den Schülerinnen. Da brach das Chaos aus.


17


Der Tote im Wald hieß Albert Meurisse, war Oberleutnant des 2. Artilleriebataillons. Sein ziviler Wohnsitz war Aubel, nicht weit von Eupen. Dort wohnte er, wenn er Urlaub hatte, bei seinen Eltern. Laut Pathologen war Albert Meurisse vor einer Woche ermordet worden. Der Mörder hatte zweimal mit dem Stilett zugestochen. In den Rücken des Opfers, denn nur dort waren Einstiche. Am Griff der Mordwaffe wurde getrocknetes Blut mit teils deutlichen, teils verwischten Fingerabdrücken gefunden. Den Dolch hatte der Leichenbeschauer mitgenommen, um die Fingerabdrücke zu sichern.

Was er jetzt zu tun hatte, war Detiège klar: den Oberst im Rathaus informieren, dann seinen direkten Vorgesetzten bei der Militärpolizei und von dort das 2. Artilleriebataillon. Später mussten im Bataillon und im Heimatort des Ermordeten seine Berufs- und Lebensumstände untersucht werden. Routine. Im Bataillon würde das die dort zuständige Militärpolizei tun. In Aubel aber, so beschloss Detiège, würde er das selber tun, sobald die Eltern des Ermordeten von den Militärbehörden unterrichtet worden waren.

Zunächst aber hatte er Hunger. Leider war die Essenszeit für die Kantine überschritten. Durch die weit geöffneten Fenster des Hotels, direkt neben dem Rathaus, sah Detiège, wie eine Kellnerin mit Speisen und Getränken durch die Tischreihen balancierte. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Leider war es verboten, ohne offiziellen Auftrag, in Uniform Restaurants, Kneipen oder ähnliche Lokale zu betreten, da dies die einheimische Bevölkerung zu feindlichen Reaktionen herausfordern konnte. Da sein Quartier nur wenige Gehminuten entfernt war, beschloss er, dort seine Uniform gegen Zivilkleidung zu tauschen.

Detiège logierte auf der zweiten Etage eines schmalen Hauses in der Hauptgeschäftsstraße der Stadt. Die Eigentümer, ein älteres Ehepaar, betrieben im Parterre einen kleinen Lebensmittelladen und wohnten auf der ersten Etage. Detiège war gegen ihren Willen in das Zimmer ihres vor Verdun gefallenen einzigen Sohnes einquartiert worden. Entsprechend eisig war der Empfang gewesen und eisig blieb das Verhältnis zwischen Eigentümern und Einquartiertem. Detiège hatte mehrmals versucht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, jedoch vergebens.

Um zu seinem Zimmer zu gelangen, musste Detiège durch den kleinen Laden. Wie gewohnt nahmen die beiden Alten hinter der Theke ostentativ keine Notiz von ihm, und auch den Blicken zweier anwesender Kundinnen war unschwer zu entnehmen, dass sie ihn ebenfalls zum Teufel wünschten.

Als er, diesmal in Zivil, wieder durch den Laden ging war niemand da. Die Glocke der nahen Nikolauskirche schlug die erste Stunde nach Mittag. Ein Fuhrwerk mit Fässern ratterte vorüber, gezogen von einem mageren Gaul, der sichtlich Mühe hatte, das schwere Gefährt voranzubringen. Das schien den Kutscher nicht weiter zu beunruhigen. In graublauer Arbeitskleidung, eine schwarze Ballonmütze auf dem Kopf, saß er auf dem Bock und biss genüsslich in eine dicke Zwiebel.

Das Restaurant direkt neben dem Rathaus kannte er von früheren Besuchen, alle vor dem Krieg. Dort verkehrten damals höhere Beamte, Offiziere, Geschäftsleute, Industrielle. Entsprechend waren auch die Einrichtung, die Bedienung, die Speisen, die Getränke und die Preise gewesen. Detiège setzte sich an einen Fenstertisch, so dass er den Rathausplatz im Blickfeld hatte. An einem größeren Tisch saßen zwei Herren in dunkelgrauen Anzügen beim Dessert. Am zweiten Fenstertisch, mit dem Rücken zu ihm, saß eine Dame mit einem reich verzierten Strohhut auf dem Kopf. Alle anderen Tische waren unbesetzt. Hinter der mit Kupferplatten beschlagenen Theke stand die Kellnerin, die er vorher mit dem Tablett hatte hantieren sehen. Jetzt spülte sie Gläser. Als Detiège Platz genommen hatte, öffnete sich die Tür neben der Theke, der Zugang zur Küche, und ein grauhaariger Kellner watschelte leicht gebückt, mit einem Bestellblock in der Hand, an seinen Tisch. Detiège erkannte ihn sofort wieder. Es war Heinrich, der vor dem Krieg von den Stammgästen wegen seines Fracks, der noch aus dem vorigen Jahrhundert stammte, Pinguin genannt wurde. Kaum zu glauben, sein Frack hatte den Krieg überstanden.
„Was wünschen der Herr?“
Hatte Pinguin früher dabei immer ein professionelles Lächeln aufgesetzt, so verzog er jetzt keine Miene. Ob er mich wiedererkannt hat, fragte sich Detiège und gab sich selbst die Antwort: natürlich hat er, denn schließlich bin ich von ihm mehrmals im Monat bedient und jedes Mal mit Monsieur Detiège begrüßt und verabschiedet worden. Der will mich jetzt einfach nicht mehr kennen.

Detiège gab seine Bestellung auf. Während er auf sein Essen wartete, sah er, wie Pinguin zu dem Tisch mit den beiden Herren schlurfte und ihnen etwas zuflüsterte. Dann verschwand er in der Küche. Die Herren drehten ihre Köpfe in Detièges Richtung, sahen ihn neugierig und unfreundlich an und hatten es plötzlich eilig, zu zahlen und das Restaurant zu verlassen. Als die Herren an Detièges Tisch vorbeikamen, bemerkte einer von ihnen, ein älterer fast glatzköpfiger Herr mit gestutztem, grauem Vollbart, dass die Luft im Restaurant unerträglich geworden sei. Detiège wusste, das war auf ihn gemünzt. Doch er reagierte nicht. Was hätte das auch gebracht? Durch das Fenster sah Detiège, wie die zwei Herren sich voneinander verabschiedeten und der, der die Bemerkung gemacht hatte, in der Rathausschenke verschwand.

Als Detiège den Sauerbraten, eine Spezialität des Hauses, anschnitt, verlangte die Dame am Nebentisch die Rechnung. Sofort nachdem sie bezahlt hatte, stand sie auf, glättete ihr eng geschnürtes Kleid, rückte den Hut über ihrem hübschen Gesicht zurecht und schenkte Detiège beim Vorbeigehen ein breites Lächeln, so als seien sie alte Bekannte. Detiège vergaß für einige Minuten seinen Braten und schaute ihr durchs Fenster nach, wie sie den Rathausplatz überquerte. Dabei geriet wieder die Rathausschenke in sein Blickfeld. Er beschloss, nach dem Essen dort ein Bier zu trinken.


18


Detiège musste sich bücken, um in die Kneipe zu gelangen. Die niedere Decke des Schankraumes war mit einem bräunlichen Jahrhundertfirnis überzogen und von dunkelbraunen, an manchen Stellen fast schwarzen Holzbalken durchbrochen. Es war angenehm kühl hinter den dicken Mauern und kleinen Kreuzfenstern. An der Theke standen vier Männer in Arbeitskleidung, wovon zwei aus gekrümmten Pfeifen Tabaksqualm über ihre Biergläser bliesen. Detiège setzte sich an einen Tisch direkt neben dem Eingang. Bei seinem Eintritt hatten die Männer aufgehört zu sprechen, sich umgedreht und ihn angestarrt, bis er Platz genommen hatte. Am anderen Ende des Lokals saß der Mann, der das Restaurant mit der Bemerkung über die plötzlich schlechte Luft verlassen hatte.

Aus einer Seitentüre tauchte ein schwabbelige Masse Fleisch mit Lederschürze auf und bewegte sich auf Detiège zu.
„Sie wünschen?“, piepste die Masse.
„Ein großes Bier. Vom Fass“.
Es dauerte so seine Zeit, bis Detiège das gewünschte Bier vor sich stehen hatte. Er nahm einen kräftigen Schluck. Das tat gut. Ein herbes Bier. Er hatte es früher schon gerne getrunken.

Ein kleiner Mann mit schütterem Haar und einem Kneifer auf der Nase betrat die Gaststube, sah Detiège erstaunt an und stellte sich neben die Arbeiter. Die begrüßten den neuen Gast mit Kopfnicken. Ohne dass der kleine Mann etwas verlangt hatte, stellte der Wirt ein Bier vor ihn auf die Theke. Detiège glaubte, den Mann schon mal im Rathaus gesehen zu haben. In seinem etwas abgetragenen grauen Anzug mit steifem Kragen passte er nicht so recht zu den Arbeitern. Trotzdem drängte er sich mit seinem Bier in der Hand zwischen sie und schien ihnen etwas mitzuteilen. Der Wirt beugte sich neugierig über den Tresen. Hatten die Arbeiter bisher nur bei seinem Eintritt von Detiège Notiz genommen, so änderte sich auf einmal ihre Haltung. Während der kleine Mann auf sie einredete, schauten sie immer öfter zu Detiège hinüber und es war keine Neugier in ihren Blicken. Detiège wusste, was das bedeutete. Plötzlich lag eine Spannung in der Luft, die vorher noch nicht da gewesen war.

Detiège ließ sich nichts anmerken und trank ruhig sein Bier, und als er sein Glas geleert hatte, gab er dem Wirt ein Zeichen.
„Sie möchten zahlen?“, fragte der.
„Nein, ich möchte noch ein Bier“, antwortete Detiège.
Der Wirt schaute kurz zu den Männern an der Theke und sagte: „Das Fass ist leer.“
Das war natürlich gelogen. Und Detiège wusste warum. Sollte er klein beigeben, bezahlen und das Lokal verlassen? Er tat es nicht.
„Dann hätte ich gerne ein Bier aus der Flasche“, sagte er.
„Für Besatzer gibt’s hier kein Bier. Auch kein Flaschenbier“, rief einer der Arbeiter, ein knochiger Typ mit einer Schlägermütze auf dem Kopf. Die anderen murmelten Zustimmung.
Detiège wollte gerade darauf antworten, als sich der Mann aus dem Restaurant einmischte.
„Aber meine Herren, lassen Sie doch dem Herrn…Besatzer sein Bier. Warum sollten wir ihm ein solches köstliches Produkt heimischer Braukunst nicht gönnen?“, sagte er von seinem Tisch aus, „wenn Sie etwas gegen die Besatzung tun wollen, dann kommen Sie nächste Woche zu der Großdemonstration. Das wird mehr Eindruck machen, als dem Herrn hier sein Bier zu verbieten. Eine Runde für alle, Herr Wirt“.
Er legte einen Geldschein auf den Tisch und verließ, den anderen zunickend, das Lokal. Detiège würdigte er mit keinem Blick.
„Zahlen“, rief Detiège. Der Wirt eilte herbei.
„Sie haben noch ein Bier zugute“, sagte er.
„Ich verzichte“, antwortete Detiège, zahlte und ging.
Draußen sah er, wie der Gutgekleidete eine Droschke bestieg. Detiège hätte zu gerne gewusst, wer er war.


19


Einige Männer versuchten, die Nackten, wenn sie an den Tischen vorbeiliefen, zu packen. Gelang das nicht, sprangen sie auf und liefen hinter ihnen her. Stühle fielen um, sogar Tische. Glas splitterte. Und wer nicht bei dieser Jagd nach dem nackten Fleisch mitmachte, applaudierte, brüllte vor Vergnügen und feuerte die Jäger und die Gejagten an. Das ging so eine ganze Weile durch den ganzen Saal, bis dann die Nackten durch die schwingende Glastür verschwanden und über die breite Treppe in der Diele nach oben stürmten, verfolgt von der aufgegeilten Meute der Jäger.

Während die beutehungrigen Herren hinter ihren Opfern herkeuchten, hatte Stoßberg das Durcheinander genutzt und sich durch den Saal zur Türe neben der Bühne geschlagen. Sie war nicht verschlossen. Stoßberg stieß sie auf und stand in einem hell erleuchteten Raum, in dem an Schminktischen und vor hohen Wandspiegeln ein halbes Dutzend nackter junger Frauen saßen oder standen. Mit Puderquasten oder Cremes betupften sie ihre Gesichter und Körper, probierten Flitter und Fummel und schwatzten. Am Ende des Raumes, neben einer Türe, etwas abseits von den anderen, lag bäuchlings auf einer braunen Ledercouch eine Nackte mit auffallend langen roten Haaren und las in einem Magazin. Niemand nahm von dem Eintretenden Notiz. Stoßberg war kein Voyeur, aber so viel junges nacktes Fleisch direkt vor seinen Augen ließ auch ihn nicht ungerührt, und er gönnte sich einige Minuten des genüsslichen Zuschauens. Insbesondere bewunderte er den wohlgeformten Hintern der Rothaarigen. Schließlich räusperte er sich. Die Tänzerinnen unterbrachen ihre Beschäftigungen und drehten sich nach Stoßberg um. Sie trugen alle die gleiche Tätowierung wie Susanne.

„Entschuldigen Sie, meine Damen, ich möchte Sie etwas fragen“, sagte Stoßberg. Eigentlich hatte er nach dem Chef des Kabaretts fragen wollen, doch im letzten Moment dachte er, dass die Kolleginnen der Ermordeten ihm auch einige Informationen, vielleicht intimere über Susanne geben konnten, als der Chef.

Er zog das Foto der Ermordeten und ließ es herumreichen. Alle erkannten die Abgebildete als Susanne. Als das Foto der Toten bei der Rothaarigen auf der Couch ankam, drehte die sich ungeniert auf den Rücken, nahm die Fotographie und während sie diese anschaute, hatte Stoßberg viel Zeit, ihren Körper zu betrachten. Er schätzte sie so um die dreißig. Ihre Haut war, wie bei Rothaarigen meistens, schneeweiß, ihr Gesicht mit Sommersprossen auf Nase und Stirn wirkte auf Stoßberg irgendwie männlich. Auch zwischen ihren kugeligen Brüsten schimmerten Sommersprossen. Fasziniert war Stoßberg von ihren langen, ungewöhnlich muskulösen Beinen. Wie die anderen war auch ihr Venusberg rasiert, aber ohne Tätowierung.
„Ja, das ist Susanne“, sagte sie, „aber sie sieht so seltsam aus, so als wäre sie…“
„Tot“, sagte Stoßberg, „sie ist ermordet worden.“
Plötzlich redete niemand mehr. Das kantige Gesicht der Rothaarigen war blass geworden.
„Von wem?“, fragte sie.
„Wissen wir noch nicht. Kannten Sie Susanne?“
„Ja.“
„Gut?“
„Wir waren befreundet“.
„Wie alle hier“, bemerkte eines der Mädchen.
„Sie waren alle mit Susanne befreundet?“
„Nein, wir waren alle mit Rosi befreundet“, sagte ein anderes Mädchen und kicherte.
„Und wer ist Rosi?“
„Ich“, sagte die Rothaarige.
„Dann können Sie mir sicher einiges über Susanne sagen.“
„Warum?“
„Um den oder die Mörder zu finden. Je mehr die Polizei über das Opfer weiß, umso schneller hat sie den oder die Täter. Die meisten Mörder haben immer eine Beziehung zu ihren Opfern gehabt“, erklärte Stoßberg.
„Sie sind also von der Polizei?“
Stoßberg nickte. Das stimmte, aber dass er hier keine polizeilichen Befugnisse hatte, brauchte er ja nicht zu sagen.
„Dann kommen Sie. Gehen wir in mein Zimmer“, sagte die Rothaarige zu Stoßberg, und an die anderen gewandt: „Weitermachen. In einer Stunde ist euer Auftritt.“
Sie stand auf, stieg in zwei hochhackige Schuhe, öffnete die Tür direkt neben der Liege und verließ die Garderobe. Stoßberg folgte ihr. Die Dame vor ihm fand es nicht für nötig, ihre Nacktheit zu bedecken.

Durch einen Raum mit Requisiten gelangte Stoßberg hinter Rosi in einen langen Flur mit vielen Türen, mehr schlecht als recht durch eine einsame von der Decke baumelnde Glühbirne erleuchtet. Vor der letzten Tür blieb Rosi stehen, öffnete sie, knipste das Licht an und ließ Stoßberg den Vortritt. Für Sekunden berührten sich ihre Bäuche, der eine nackt und leicht gewölbt, der andere bekleidet und schön rund.

Ein eisernes Doppelbett mit einer hellblauen Decke, zwei hölzernen Nachttischchen, am Fußende des Bettes ein Kleiderschrank mit eingebautem Spiegel und neben der Türe entlang der Wand ein Tisch mit Waschschüssel, Wasserkanne und zwei Stühlen davor. Eine karge Einrichtung.

Rosi zeigte auf die Stühle. „Bitte, nehmen Sie Platz“, sagte sie in einer Förmlichkeit, die hier und in ihrem Aufzug etwas seltsam anmutete. Stoßberg setzte sich. Rosi ging zum Kleiderschrank und holte von dem Brett oberhalb der Kleiderstange, wo sonst die Hüte abgelegt wurden, eine Flasche Cognac und zwei Wassergläser.
„Leider habe ich hier keine Cognacschwenker“, entschuldigte sie sich, während sie alles auf den Wandtisch hinstellte und einschenkte.
Stoßberg fand die Situation verwirrend. So als habe sie das bemerkt, sagte Rosi lächelnd:
„Ich bin nicht nur Nackttänzerin, sondern auch Anhängerin der Freikörperkultur. Wir treiben Sport in der Natur, leben drinnen und auch draußen, wo es möglich ist, in der Kleidung, die uns der Schöpfer gegeben hat.“
Stoßberg hatte davon gehört. Auch so eine neue Bewegung.
„Dann ist das hier ja der ideale Beruf für Sie?“, bemerkte er etwas süffisant.
Sie nahm ihr Glas und setzte sich auf den Bettrand, Stoßberg gegenüber.
Sie lächelte.
„Sie haben Recht. Eigentlich bin ich Krankenschwester.“
„Und warum sind Sie es nicht mehr?“
„Weil ich genug Blut gesehen habe, genug abgetrennte Beine und Arme, aufgerissene Leiber. Zu viele Tote. Zu viele Schreie habe ich gehört. Ich konnte das nicht mehr ertragen. Ich wollte anders leben, mich amüsieren. Aber dazu braucht man Geld. Also wurde ich Krankenschwester in einem zivilen Krankenhaus. Dort gab es wenigstens keine Schrapnell- oder Gasverletzungen, keine herum liegende Beinstümpfe, und viel weniger Blut.“
„Und warum haben Sie dort aufgehört?“
„Ich lernte eine Ärztin kennen. Sie machte mich zur Anhängerin der Freikörperkultur. Was wir dann auch, wenn wir beide Nachtdienst hatten, manchmal praktizierten. Wir nannten das dann Nacktdienst – Rosi kicherte - bis wir von einem Kollegen meiner Freundin beim Liebesakt erwischt wurden“.
„Rausschmiss?“
„Nein. Es wurde ein Dreier draus“, lachte sie.
„Wer hat Sie denn gefeuert?“
„Der Direktor. Ein schlafloser Patient hatte mich laufen gesehen und sich beschwert.“
„Und dann?“
„Ich zog zu meiner Freundin, der Ärztin, und wurde ihre Sprechstundenhilfe. Mein jetziger Chef war einer ihrer Patienten. Er bot mir einen Job als Tänzerin in seinem Kabarett an. Ich ging hin, sah mir alles an und fand, dass das zu mir passte, meinen Neigungen entgegen kam, und blieb.“
„Und ihre Freundin?“
„Die verstand das, ließ mich ziehen und besucht mich seitdem ab und zu.“
Donnerwetter, dachte Stoßberg, die ist aber offen. Hoffentlich auch, wenn es um Susanne geht.
Sie war es. Susanne, so erzählte Rosi, als Stoßberg wieder auf sein eigentliches Anliegen zurückkam, sei eines Tages im Büro des Geschäftsführers erschienen, um eine Putzstelle anzutreten.
Rosi trank einen kräftigen Schluck Cognac.
„Statt ihr die Stelle zu geben“, sagte sie, „holte der Chef mich aus dem Bett und stellte mir Susanne vor. Nicht wegen ihres Putzeifers, den sie noch gar nicht hatte zeigen können, sondern wegen ihres außergewöhnlich aparten Gesichts, den langen blonden Haaren und ihrer Figur. Mir gefiel sie auch sofort. Sie können sich Susannes Schock vorstellen, als ich so vor ihr stand, wie ich jetzt vor Ihnen sitze. Doch der Schock hielt nicht lange an und ich hatte gleich den Eindruck, dass ihr das gefiel. Sie muss nur die ihr von Eltern, Lehrern und Pfaffen eingeredete Scham vor allem Nackten loswerden, dann passt sie zu uns, dachte ich. Dafür würde ich schon sorgen. Wir schlugen ihr vor, Mitglied der Truppe zu werden. Doch vorher musste sie sich zeigen, wie wir hier sagen. Mit etwas Überredung brachten wir sie dann dazu, sich vor uns auszuziehen. Wir waren begeistert. Sie hatte einen Teufelskörper und ein Engelsgesicht. Die richtige Mischung für unser Kabarett. Sie nahm unser Angebot an. Natürlich hatte sie keine Ahnung vom Tanzen, von unserem Tanzen schon gar nicht. Doch das würde ich ihr schon beibringen. Das ist übrigens meine Aufgabe hier im Hause. Susanne lernte schnell und mit Hingabe. Nur ihre Schamhaare wollte sie anfangs nicht hergeben. Dafür erntete sie bei jedem ihrer Auftritte Pfiffe. Erst nachdem einer das Lied ‚Unrasiert und fern der Heimat’ angestimmt und die Lüstlinge im Parkett das begeistert aufgenommen hatten, ließ sie sich vor dem Publikum von mir rasieren.“
„Und die Tätowierung?“
„Später.“
„Wie bei allen anderen?!“
„Natürlich. Doch keine wird dazu gezwungen. Alle Neuen gehen durch meine Hände. Ich bringe ihnen alles Notwenige bei. Insbesondere helfe ich ihnen, das zu tun, was das Publikum von ihnen erwartet. Und die wollen zuallererst völlig nackte Tänzerinnen sehen. Dafür bezahlen sie nicht gerade wenig. Was und wie sie tanzen, ist zweitrangig. Alle Mädchen sind, wenn sie zu uns kommen, finanziell am Ende. Hier haben sie die reelle Chance, Geld zu verdienen. Wenigstens für einige Zeit. Besser als auf den Straßenstrich zu gehen oder in Bordellen jedem Kerl zu Diensten sein zu müssen. Im Bezahlen ist der Chef korrekt und was sie so nebenbei verdienen ist für sie.“
„Sie sind also so etwas wie ihre Trainerin?“
„Stimmt. Aber nicht nur das. Ich bin ihr Kummerkasten, ihre Masseuse und für manche ihre Geliebte. Schockiert?“
Stoßberg antwortete nicht, trank stattdessen einen kräftigen Schluck von ihrem Cognac und hörte Rosi sagen: „Ich schlafe aber nicht nur mit Frauen.“
Das war ein nur dünn verschleiertes Angebot.
„Sie treten also selbst nicht mehr auf?“, fragte er.
„Nur noch im kleinen Kreis, wenn gut betuchte Herren oder Frauen besondere Wünsche haben.“
„Und Susanne?“
„Sie wurde eine Art Star des Ensembles.“
„Hatte sie Freunde, Verwandte, war sie verheiratet?“
„Nein, zu der Zeit nicht. Vorher, so hatte sie mir erzählt, sei sie zweimal verlobt gewesen.“
„Wissen Sie, mit wem?“
„Keine Ahnung.“
„Hatte sie einen Freund, einen Geliebten?“
Rosi hob die Schultern: „Soviel ich weiß nicht. Eines der Mädchen hat zwar mal erzählt, Susanne gesehen zu haben, wie ein Mann sie in einer Toreinfahrt geküsst habe. Ich habe Rosi danach gefragt, denn die Mädchen hier dürfen keine festen Bindungen haben oder eingehen. Das ist schlecht fürs Geschäft. Sie beteuerte, keinen Geliebten zu haben.“
„Und wo hat sie gewohnt?“
„Bis vor einem halben Jahr hier im Haus, wie fast alle Mädchen. Wo sie gewohnt hat, bevor sie zu uns kam, das weiß ich nicht.“
„Susanne ist also vor einem halben Jahr hier ausgezogen. Wohin?“
„Eine neue Wohnung nahe dem Dom. Doch wo genau, hat sie mir nicht gesagt, aber der Chef müsste es wissen.“
Rosi leerte ihr Glas. Auch Stoßberg.
„Noch ein Glas? Bedienen Sie sich.“
Stoßberg bediente sich. Der Cognac brannte in der Kehle.
„Falls Ihnen zu warm ist, legen Sie doch einfach ab“, schlug Rosi vor.
Stoßberg zog sein Jackett aus.
Die Rothaarige sah ihn an und lächelte auffordernd.
„Machen Sie es doch wie ich“, sagte sie.
Die Hitze ist wirklich unerträglich, stellte Stoßberg fest.


20


Den Rest des Nachmittags hatte Detiège in seinem Büro und im Büro des Bürgermeisters verbracht. Er hatte bei seinem Vorgesetzten erreicht, wegen der notwendig raschen Klärung der beiden Morde, ihn als Dolmetscher des Oberst-Bürgermeisters abzulösen. Es fand sich ein altbelgischer Zivilist innerhalb der Armeeverwaltung, um diese Funktion zu übernehmen. Der würde ab morgen den Zigarrenqualm des Obersten einatmen müssen.

Als Detiège das Rathaus verlassen wollte, stieß er auf den kleinen Mann aus der Rathausschenke. Der tat so, als habe er Detiège nicht gesehen und beeilte sich, den Hinterausgang zu erreichen.
„Halt. Sie da!“, hielt ihn Detiège an.
Der Mann blieb stehen und drehte sich um. Die Uniform schien dem Kneifer zu sagen, vorsichtig zu sein, auch bei einer fremden Uniform.
„Wer war der Herr in der Kneipe?“, wollte Detiège von ihm wissen.
Der Mann rückte seinen Kneifer zurecht und tat so, als müsse er überlegen.
Stell’ jetzt keine dumme Gegenfrage, dachte Detiège, du weißt, wen ich meine.
„Das war Herr Depolt. Der Tuchfabrikant“.
Depolt! Hatte Stoßberg den Namen nicht im Zusammenhang mit dem Mord an der Tänzerin erwähnt?
„Wo wohnt dieser Fabrikant?“
„In der Unterstadt. Es ist das größte Privathaus dort.“
„Sie können gehen“, entließ ihn Detiège.
Der kleine Beamte nahm Haltung an (was Detiège amüsierte) und verdrückte sich wortlos durch die Hintertür.


Die Sonne war hinter einer dicken grauen Wolke, die sich über die ganze Stadt gelegt hatte, verschwunden. Windböen trieben den Straßenstaub vor sich her. Plötzlich durchzuckte ein Blitz den Himmel, gefolgt von einem fürchterlichen Krachen. Dann prasselte es los.

Detiège blieb vor dem Rathauseingang stehen, vor dem Regen durch den von falschen korinthischen Säulen getragenen Rathausbalkon geschützt, und wartete auf das Ende des Gewitters. Dabei überlegte er, ob er dem Industriellen Depolt jetzt einen Besuch machen sollte, denn er wollte diesen Mann unbedingt kennen lernen. Darüber hinaus hatte Stoßberg von diesem Depolt einiges über die Ermordete erfahren. Vielleicht hatte Stoßberg ihm doch nicht alles gesagt. Detiège beschloss, den Besuch zu machen.

Wie ein weißer Riese dominierte das Depoltsche Haus die Hauptstraße im unteren Teil der Stadt, dort wo seit mehr als zweihundert Jahren Tuche hergestellt wurden. Ein doppelter Torbogen links neben dem Haupthaus und ein Seitenhaus rechts hielten es auf Distanz zu den Nachbarn. Etwas mulmig war Detiège schon zumute, als er den Messinggriff in Form eines Widderkopfes gegen die Eichentüre fallen ließ. Wie würde der Mann, der den Belgiern so feindlich gesinnt war und in einem Haus wohnte, das Macht und Einfluss verriet, ihn, den belgischen, den feindlichen Major empfangen?


Eine dralle weibliche Person mit Schürze und Häubchen öffnete die Pforte.
„Sie wünschen?“
„Ich möchte Herrn Depolt sprechen“.
„Welchen Herrn Depolt? Den Senior oder den Junior?“
Aha, hier gibt’s zwei Depolts, dachte Detiège.
„Den Senior“, sagte er.
„Sind Sie angemeldet?“
„Nein, aber sagen Sie Herrn Depolt, Major Detiège möchte ihn sprechen. Der Belgier aus der Kneipe.“
Die Magd sah ihn verständnislos an.
„Sie haben richtig gehört. Sagen Sie das Herrn Depolt senior.“
„Warten Sie. Ich werde den gnädigen Herren fragen, ob er Sie empfängt.“
Sprach’s und knallte Detiège die Tür vor der Nase zu.
Nach wenigen Minuten wurde sie wieder aufgerissen und die dralle Magd führte Detiège durch eine große Diele mit marmornem Fußboden in einen Raum, in dem der Hausherr in einem kurzen dunkelblauen Hausmantel zwischen schweren braunen Ledersesseln, Rauchtisch und Getränkeschrank auf ihn wartete, die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben.
„Sie wollen mich sprechen? Machen Sie es kurz, ich habe wenig Zeit“, sagte er kalt, ohne jede Begrüßung.
Doch Detiège ließ sich von der Attitüde des Industriellen nicht einschüchtern.
„Ich möchte Sie an unsere Begegnung in der Rathausschenke erinnern. Sie haben eine tätliche Auseinandersetzung …“
Depolt unterbrach ihn: „Weiß ich. Und Sie wollen sich dafür bedanken?“
Detiège schüttelte den Kopf.
„Ich weiß, Sie haben das nicht getan, um zu verhindern, dass dem Belgier, der da sein Bier trinken wollte, eine Tracht Prügel verabreicht wurde. Aber dafür bin ich nicht hier, sondern aus zwei anderen Gründen: Ihre Bemerkung über eine Demonstration und…“
„Aha. Daher weht der Wind. Jetzt wollen Sie mehr darüber wissen, zum Beispiel wann sie losgehen soll und wer sie organisiert.“
„Stimmt. Aber das werden Sie mir nicht sagen.“
Depolt nahm die Hände aus den Seitentaschen seines Hausmantels und verschränkte sie hinter seinem Rücken.
„Natürlich nicht“, sagte er.
„Nun, Herr Depolt, das ist ihre Sache, doch irgendwann werden wir davon erfahren. So etwas bleibt nie geheim. Trotzdem möchte ich Sie bitten: Verhindern Sie diesen neuen Aufmarsch. Denken Sie daran, was vor einigen Monaten geschehen ist. Wollen Sie verantworten, dass sich das wiederholt?“
„Ich… wir sollen also die Ausweisung unseres hoch verehrten Bürgermeisters durch die Besatzer einfach so hinnehmen? Das geht gegen unsere Ehre, mein Herr.“
„Ist diese Ehre Verletzte, vielleicht sogar Tote wert?“
Depolts Hände verschwanden wieder in den Manteltaschen.
„Sie hatten doch zwei Gründe genannt?“
„Jawohl, Herr Depolt. Der zweite hat allerdings nichts mit dem ersten zu tun. Hier geht es um Mord.“
„Um Mord?“
„Um den Mord an einer Tänzerin. Kommissar Stoßberg - wir ermitteln zusammen in dieser Sache – hat, so sagte er mir, von Ihnen die Anschrift der Truppe, zu der die Getötete gehörte“.
„Von mir? Er irrt. Solche Damen kenne ich nicht.“
„Aber, Kommissar Stoßberg war doch vor zwei Tagen bei Ihnen…und er hat mit Ihnen gesprochen, im Beisein einer Kollegin der Ermordeten.“
„Bei mir? Den Kommissar habe ich seit Monaten nicht mehr gesehen. Sie sind auf dem falschen Dampfer, mein Herr. Ich kenne keine Tänzerin.“
Detiège erinnerte sich, dass die Magd auch von einem Depolt junior gesprochen hatte.
„Vielleicht hat er mit Ihrem Sohn gesprochen?“
„Wolfgang? Unmöglich. Von einem Besuch des Kommissars wäre mir berichtet worden. Wolfgang holt solche Weiber nicht in unser Haus. War’s das, Herr Major? Den Weg hinaus finden Sie wohl alleine?“ Der Alte sah durch ihn hindurch.
Detiège machte eine leichte Verbeugung und ging zur Tür. Doch plötzlich blieb er stehen, griff in eine Seitentasche seiner Uniform und ging zum alten Depolt zurück.
„Haben Sie schon die Morgenzeitungen gelesen?“, fragte er.
Depolt verneinte. Detiège hielt ihm den Tagesanzeiger mit einem Foto der Ermordeten entgegen.
„Das ist die Ermordete. Ist sie Ihnen bekannt?“, fragte er.
Depolt schaute mit gewollt gelangweiltem Gesichtsausdruck auf die Fotografie. Doch der änderte sich plötzlich.
„Ja“, sagte er, „die kenne ich.“


21


Stoßberg konnte nicht widerstehen. Ein solches Angebot wird einem in die Jahre gekommenen Junggesellen ja nicht alle Tage gemacht. Er griff zu. Über eine Stunde lang küsste, streichelte und knetete er das üppige, aber stramme Fleisch der Rothaarigen. Sie ließ alles mit offen zur Schau gestellter Wollust geschehen. Irgendwann rutschte sie unter seinem ausgeprägten Bauch hinweg und forderte ihn auf, sich an ihrer Stelle auf den Rücken zu legen. „Ich werde dich jetzt reiten, Kommissar“, sagte sie. Das tat sie dann auch. Bis sie mit glasigem Blick und einem lang gezogenen Schrei, in den sich Stoßbergs schweres Atmen mischte, unter heftigen Zuckungen auf seinen sich aufbäumenden Bauch zusammensackte.

Eine halbe Stunde später standen sie beide, er wieder angezogen, sie immer noch nackt, vor dem Büro des Chefs. Es lag genau gegenüber Rosis Zimmer.
„Warte hier“, sagte Rosi, „ich werde zuerst mit ihm reden. Er liebt es nicht, von unangemeldeten fremden Besuchern überrascht zu werden, und wundere dich nicht, wenn er sein Gesicht im Dunklen lässt. Eine Kriegsverletzung.“
Sie klopfte an die Tür zum Büro des Chefs. Eine krächzende Stimme rief:
„Herein“.
Rosi drückte die Klinke nieder und schlängelte sich durch die halb geöffnete Türe ins Allerheiligste. Nach einigen Minuten war sie wieder zurück. Der Chef war bereit, Stoßberg zu empfangen.
„Bevor du gehst, schau noch mal bei mir vorbei“, sagte Rosi, „ich habe eine Überraschung für dich.“
„Mach’ ich“, antwortete Stoßberg und gab ihr einen kräftigen Schlag auf den nackten Hintern.
„Aua“, sagte Rosi und stöckelte in Richtung Garderobe davon.

Es gab nur eine Beleuchtung im Chefzimmer: die Schreibtischlampe. In ihrem eingeschränkten Lichtkegel lagen Papiere, Fotos, Büstenhalter, Höschen und Strümpfe herum. Alles andere blieb im Dunkeln. Auch das Gesicht des Mannes hinter dem Schreibtisch.
„Sie wünschen?“
Stoßberg ging auf den Schreibtisch zu. Auf halbem Wege stieß er gegen etwas, das er in dem fast dunklen Raum zwischen Türe und Schreibtisch nicht gesehen hatte.
„Der Stuhl ist für Sie“.
Stoßberg setzte sich.
„Mein Name ist Stoßberg“, stellte er sich vor, „ich bräuchte einige Informationen über die Tänzerin Susanne.“
„Wozu?“
„Weil sie ermordet wurde.“
Stoßberg sah wie zwei knochige, langfingrige Hände sich aus dem Dunkel ins Licht der Lampe über dem Schreibtisch streckten und einige Papiere von der einen zur anderen Seite schoben.
„Sind Sie von der Polizei?“
Diesmal hoben die Finger einige Sachen von der einen zur anderen Seite.
„Ja“ sagte Stoßberg, „wir wissen nur, dass Susanne zu Ihrer Truppe gehört hat. Das ist alles. Vielleicht können Sie uns mehr Informationen über Susanne geben.“
„Verstehe. Werde Ihnen sagen, was ich weiß. Man sollte es sich nicht mit der Polizei verderben, insbesondere nicht, wenn man ein Geschäft wie meines betreibt. Haben Sie schon die Mädchen, insbesondere Rosi befragt?“
„Ja. Ich weiß, dass Susanne ein Star der Truppe war und hier eigentlich als Putzfrau anfangen wollte. Nur wo Susanne wohnte, bevor sie hier anfing oder woher sie kam, das konnte mir niemand sagen. Auch nicht ihre jetzige Adresse.“
Die Hände des Chefs verschwanden aus dem Lichtkegel. Eine Schublade wurde aufgezogen, Papierrascheln und dann waren die Hände wieder im Licht.
„Ihre neue Anschrift ist Rheinstraße 4“, sagte der Mann im Schatten der Lampe, „sie hat auch ein Zimmer hier im Hause. Wie alle Tänzerinnen. Sie heißt Susanne Mockel, geboren am 21. März 1900 in Hinter- oder Hinderhausen. Wo das ist, fragen Sie mich nicht. Wahrscheinlich irgendwo in der Eifel. So steht es in meinen Unterlagen. Wo sie gewohnt hat, bevor sie zu uns kam, weiß ich nicht. Irgendwo in Belgien, hat sie mir gesagt.“
„Hatte sie einen festen Freund?“
„Verboten. Wer bei mir auftritt, muss ungebunden sein.“
„Sie soll aber einen Geliebten gehabt haben.“
„Eine Geliebte meinen sie wohl? Manche meiner Tänzerinnen leben zusammen wie Mann und Frau. Habe nichts dagegen. Deren Lesbenshows sind dafür fast immer die besten.“
„Und Rosi?“
„Die hat fast jede hier einige Zeit als Geliebte gehabt. Sie ist sozusagen die Mutter der Kompanie.“
„Im Evakostüm.“
„Das ist nun mal ihr Tick. Wenn’s ihr Spaß macht. Wir sind schließlich kein Kloster.“
„Haben Sie in der letzten Zeit irgendwelche Veränderungen in Susannes Verhalten bemerkt?“
„Keine Ahnung, das müssen Sie Rosi oder die Mädchen fragen.“
„Ihre Truppe tritt auch außerhalb des Kabaretts auf?“
„Ja, auf Bestellung.“
„Susanne soll sich vor kurzem geweigert haben, bei dem Fest der Belgier – ich nehme an, Sie erinnern sich daran - mitzumachen?“
„Stimmt. Sie befürchtete, dabei auf frühere Bekannte zu treffen. Das wollte sie nicht riskieren.“
„Und trotzdem ist sie dort aufgetreten.“
„Ja. Ich hatte sie daran erinnert, dass es zu der Weigerung nur eine Alternative gäbe: Rausschmiss.“
„Wer hatte die Truppe bei Ihnen bestellt?“
Der Chef hüstelte.
„Nun…äh…, das weiß ich nicht, Herr Kommissar.“
„Wie bitte?“
„Wirklich, ich weiß es nicht. Eines Abends erhielt ich einen Anruf. Jemand wollte wissen, was es koste, die Truppe oder Teile der Truppe bei einer privaten Feier auftreten zu lassen, wo die Mädchen das Gleiche wie im Kabarett vorführen und tun sollten, dabei betonte er das Tun. Ich nannte den Preis. Einige Abende später überreichte ein Unbekannter mir einen Umschlag mit den genannten Honoraren und der Adresse, wo die Feier stattfinden sollte. Ich habe das Geld genommen und eine Quittung ausgestellt. Wir sind nämlich ein seriöses Unternehmen. Der Termin für den Auftritt wurde später telefonisch vereinbart.“
Seriöses Unternehmen? Wie man’s nimmt, dachte Stoßberg und bedankte sich für die Auskünfte.
„Nichts zu danken, Herr Kommissar.“
Stoßberg erhob sich. Jetzt hätte er gerne das Gesicht des Kabarettchefs gesehen. Doch es blieb im Dunkeln.
Als er die Tür öffnete, hörte er gegenüber aus Rosis Zimmer Geräusche, die ihn an etwas erinnerten.
„Da wird wohl die Neue in Rosis Reich eingeführt. Sollten Sie sich ansehen, Herr Kommissar. Kostenlos“, rief der Chef hinter Stoßberg her und lachte meckernd, bis das Lachen in einem heftigen Hustenanfall endete.

Stoßberg betrat Rosis Zimmer, ohne anzuklopfen. Rosi lag rücklings auf dem Bett. Bäuchlings auf ihr eine nackte, schlanke Blondhaarige. Erschrocken wollte die Blonde von Rosis Körper springen, doch Rosi hielt sie fest.
„Keine Angst, Liebes, das ist mein Freund Stoßberg“, sagte sie, „Lust auf einen Dreier, Kommissar?“
Stoßberg verneinte, obwohl er sich gut vorstellen konnte, zwischen Rosi und der Blonden zu liegen.
„Nur eine Frage noch, Rosi. Hat Susanne wirklich nie etwas über Männer in ihrem Leben erzählt? Eine Schönheit wie sie, die bleibt doch nicht von Männern verschont.“
„Keine Männer, Herr Kommissar. Zumindest in der Zeit, in der sie bei uns war. Vielleicht stand sie auf Frauen. Was bei unseren Mädchen nichts Außergewöhnliches ist.“
„Welches ist Susannes Zimmer hier im Haus? Ich möchte es mir ansehen.“
„Die Treppe rauf. Das zweite Zimmer rechts. Also, Herr Polizist, ich hätte schon Lust auf einen flotten Dreier. Karin sicher auch.“
Die Blonde hob ihren Kopf aus Rosis Brüsten.
„Oh ja“, hauchte sie.


22


„Susanne war eine Zeit lang Zimmermädchen in unserem Hause“.
„Wie lange war sie bei Ihnen?“, wollte Detiège vom alten Depolt wissen.
„Nicht lange. Genau kann ich das nicht sagen. Um das Personal kümmert sich meine Gattin. Ich weiß nur, dass sich Susanne kurz vor Beginn des Krieges bei uns vorstellte. Sie kam aus der Eifel. Mitten im Krieg hat sie sich dann zum Lazarettdienst gemeldet. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.“
„Was könnte sie dazu bewogen haben, ihre Dienststelle so plötzlich zu verlassen?“
Depolts Haltung straffte sich.
„Wissen Sie, Herr Major, was Vaterlandsliebe ist?“
„Das weiß ich, Herr Depolt“, antwortete Detiège.
„Ihr Dienst fürs Vaterland war wichtiger“, betonte der Alte.
„Hatte sie Freunde, Freundinnen, war sie verlobt? Mit wem hatte sie Umgang?“
„Das weiß ich nicht. Sie war eine Hausangestellte, verstehen Sie…“
Detiège verstand. Was interessierte den Herrn des großen Hauses das Privatleben der Dienerschaft. Die Mitglieder des Hauspersonals wussten sicher mehr.
„Erlauben Sie mir, Herr Depolt, das Personal Ihres Hauses diesbezüglich zu befragen?“
Depolt sah ihn erstaunt an.
„Jetzt?“
„Wenn möglich.“


In der überdimensionalen Küche trafen nach und nach die Beschäftigten des Hauses Depolt ein. Auf Befehl des alten Depolt hatte das rundliche Zimmermädchen, das Detiège die Türe geöffnet hatte und das der Chef des Hauses Emma nannte, die Bediensteten benachrichtigt. Als alle um den großen Tisch versammelt waren, stellte Emma sich und ihre Kollegen vor:
„Maria, zweites Zimmermädchen; Josef, Kutscher und Hausmeister; Ludwig, Gärtner; Margarethe, Köchin; Anneliese, Küchenhilfe und ich selbst, Emma, Hausdame. Ich habe allen erklärt, dass Herr Depolt senior wünscht, dass sie Ihre Fragen beantworten.“
Detiège sah in ihren Gesichtern Neugier mit Abneigung gegen ihn gepaart. Detiège holte die Zeitung hervor und breitete die erste Seite mit dem Konterfei der Ermordeten auf den Küchentisch aus.
„Meine Damen und Herren“, sagte er, “wie Sie vielleicht bereits wissen, ist die junge Frau hier auf der Fotografie vor zwei Tagen in einem Waldstück nahe der
Stadt tot aufgefunden worden. Von Herrn Depolt senior habe ich nun erfahren, dass diese Frau für einige Zeit als Zimmermädchen in diesem Hause gearbeitet hat. Sie werden sie also gekannt haben.“
Alle nickten.
„Dann sind Sie sicher daran interessiert, den oder die Mörder ihrer ehemaligen Kollegin dingfest zu machen?“
Wieder nickten sie alle.
Also fuhr Detiège fort:
„Dazu brauchen wir Informationen über die Getötete. Wir, das ist Kommissar Stoßberg, den Sie sicher alle kennen, und ich. Wir arbeiten in der Sache zusammen. Für uns ist es wichtig zu wissen, mit wem Susanne Umgang gehabt hat. Hatte sie Verwandte hier oder Freunde, vielleicht einen Verehrer oder gar einen Verlobten?“
Plötzlich sahen alle den Gärtner Ludwig an, den Detiège auf etwa dreißig Jahre schätzte. Sein scharf geschnittenes, sonnengebräuntes Gesicht rötete sich.
„Was starrt ihr mich an?“, fauchte er, „ich war nicht mir ihr verlobt.“
„Aber du kanntest sie besser als alle hier. Du bist doch aus ihrem Dorf“, sagte Luise.
„Und warst öfter mit ihr zusammen als wir“, warf der Hausmeister Josef ein und verzog sein blasses, runzeliges Gesicht zu einem breiten Grinsen.
„Natürlich“, reagierte der Gärtner, „sie war mir dankbar, dass ich ihr die Stelle vermittelt hatte. Das ist alles.“
„Du warst nicht nur hinter ihr her, weil sie aus deinem Dorf kam“, bohrte der Hausmeister weiter.
„Wer hat ihr denn immer Blumen gebracht? Aus dem Garten der Herrschaften?“, bemerkte Maria, das zweite Zimmermädchen.
„Ja und?“, erwiderte der Gärtner trotzig, „Frau Depolt hatte mir das erlaubt. Und ich war nicht der Einzige, der…“
Da mischte sich Emma ein.
„Schluss damit“, herrschte sie, „der Herr will nur wissen, ob Susanne einen festen Freund hatte. Ja, sie hatte einen.“
„Wen?“
„Hermann-Josef Hausmann, den ältesten Sohn des Großhändlers Hausmann aus der Oberstadt. Die Verlobung war schon geplant. Doch dann…“
„Dann?“
„Dann verschwand sie plötzlich. Einen Tag später teilte mir die Herrschaft mit, dass Susanne gekündigt habe und als Hilfsschwester in einem Lazarett in den Dienst fürs Vaterland getreten sei.“
„Wann war das?“
„Gut zehn Monate vor Kriegsende.“
„Und ihr Verlobter? Wie reagierte er darauf?“
„Ich weiß nur, dass er verrückt nach ihr war.“
„Nicht nur er“, bemerkte der Gärtner Ludwig vieldeutig.
Die Köchin und das andere Zimmermädchen kicherten. Da klatschte Emma mit der Hand auf den Tisch.
„Ruhe“, rief sie, ja schrie sie fast. An Detiège gewandt, sagte sie dann mit normaler Lautstärke:
„Es ist wahr, Susanne verdrehte allen Männern den Kopf. Weil sie eine auffallende Schönheit war.“
„Auch den Depolts?“, fragte Detiège.
Emma blickte ihn erbost an.
„Herr! Unsere Herrschaft hat doch nichts mit Zimmermädchen!“, rief sie.
Die anderen starrten auf die Tischplatte und schwiegen.


23


Einem flotten Dreier wäre Stoßberg unter normalen Umständen nicht abgeneigt gewesen. Doch er hatte jetzt Wichtigeres zu tun. Er gab Rosi einen Abschiedskuss, der Kleinen einen Klaps auf den wohlgeformten, jungenhaften Po, den sie ihm entgegenstreckte, und verließ das Zimmer.

Die Möblierung in Susannes Zimmer war auf ein Minimum beschränkt, wie bei Rosi. Schnell hatte er alles durchsucht. Unter der Matratze von Susannes Eisenbett fand er einen Umschlag mit Schulheften. Er nahm ihn samt Inhalt mit.

In der Garderobe saß eine einsame Nackte, die ihren Körper mit einer Puderquaste betupfte. Im Saal hatten die Gäste sich mittlerweile etwas beruhigt. Bevor Stoßberg die Schwingtüre zum Flur aufstieß, warf er einen letzten Blick auf die Bühne. Zwei Frauen tanzten miteinander und entkleideten sich dabei gegenseitig. Wie an dem Abend bei Siegfried Depolt. Stoßbergs Taschenuhr zeigte die dritte Morgenstunde an. Solche späten Stunden war er nicht gewohnt. Die Müdigkeit verdrängte jede Lust, dem Spektakel auf der Bühne zuzusehen. Er verließ das Kabarett. Heute würde er das Haus in der Rheinstraße 4 und den Freund Siegfried Depolts, den Besitzer der Kfz-Werkstatt, aufsuchen.

Als Stoßberg, nach einem kargen Frühstück, gegen zehn Uhr die Pension verließ, waren alle Fahrzeuge aus der Straße verschwunden. Da es in der Pension kein Telefon gab, um eine Taxe zu rufen, musste er zu Fuß gehen. Immer am Rhein entlang, hatte die Wirtin gesagt, da treffen Sie unweigerlich auf die Rheinstraße. Nachdem er die Fabriken und Lagerhallen, die den Rhein verdeckten, hinter sich hatte, konnte er endlich den Vater Rhein in seiner ganzen Pracht bewundern. Die Morgensonne spiegelte sich im Wasser, zwei kleine Lastkähne tuckerten flussaufwärts. Verstreute kleine graue Wolken tauchten am Horizont über der anderen Rheinseite auf. Es würde wieder ein heißer Tag werden. Zumindest bis die grauen Wölkchen, so sah es aus, sich zu einer Gewitterfront versammelt hatten. Zwei Stunden brauchte Stoßberg bis zur Rheinstraße.

Über den Häusern der Altstadt streckte der Dom seine Zwillingstürme in den Himmel. Das Haus Nr. 4 war, wie die meisten Gebäude in dieser Straße, schmal, zwei Etagen hoch und alt, vielleicht vor hundert, vielleicht sogar vor zweihundert Jahren gebaut. Doch wie sollte er in Susannes Wohnung gelangen? Schlüssel hatte er natürlich keine und einen Durchsuchungsbefehl schon gar nicht. Er hatte nicht mal Polizeibefugnisse hier. Aber ohne Susannes Wohnung inspiziert zu haben, wollte er nicht zurückfahren. Als er nach seinem Taschentuch in der Hosentasche griff, um sich damit den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen, fühlte er etwas Metallisches. Seine Polizeimarke! Wie die Vorschrift es verlangte, hatte er die immer bei sich. Und die war noch preußisch! Das war die Lösung.

Erst nachdem Stoßberg mehrmals den Türklopfer gegen die Haustüre geworfen hatte, wurde geöffnet. Eine dürre Gestalt mit flatternden Hosen und in eine Schnapswolke gehüllt, sah Stoßberg mit geröteten Augen an und giftete: „Was soll der Lärm. Was wollen Sie?“
Stoßberg zeigte seine Polizeimarke.
„Wohnt hier ein Fräulein Mockel?“, wollte er wissen.
Der Mann starrte auf die Marke.
„Po…Polizei? Ein Fräulein… ?“, stotterte er.
„Mockel.“
„Ja, die wohnt hier.“
„Allein?“
„Nein, mit…mit…ihrem Mann.“
„Ihrem Mann?“
„Ja, kann aber auch ihr Freund sein. Ein komischer Freund.“
„Komischer Freund? Was wollen Sie damit sagen?“
Der Hausmeister druckste herum.
„Sieht so komisch aus. Mit Ponyfrisur und so.“
„Soso. Egal. Ich habe den Befehl, die Wohnung zu durchsuchen“, behauptete Stoßberg in strengem Ton.
„Aber…“
„Sind Sie der Hausmeister?“
„Ja“. „Dann haben Sie sicher einen Schlüssel zu der Wohnung.“
„Ja, habe ich…aber…“
„Holen Sie ihn. Aber schnell.“
Der Mann wagte keinen Widerspruch und holte den Schlüssel.
„Welches Stockwerk?“, fragte Stoßberg.
„Das erste“.
Als Stoßberg die Treppen zur ersten Etage hinaufstieg, warf er einen Blick zurück auf den Hausmeister. Der stand unten und glotzte eingeschüchtert und verständnislos nach oben.

Susannes Wohnung bestand aus Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer und Badezimmer. Alles kleine Zimmer und einfach eingerichtet. Da Stoßberg nicht wusste, wonach er eigentlich suchen sollte, begann er mit dem systematischen Durchstöbern aller Schränke und Schubladen. Er fand aber nichts, was nicht in jeder Wohnung einer Frau zu finden gewesen wäre. Vielleicht etwas zu viele weibliche Kleider und Schuhe im Kleiderschrank, zu viele Parfums und Schminkutensilien im Badezimmer und… zweimal Rasiermesser, Pinsel und Rasiercreme. Und einige männliche Bekleidungsstücke: weiße Hemden, einen Straßenanzug und einen Smoking. Hatte sie also doch einen Freund… oder waren es Requisiten für ihre Auftritte? In einem schmalen Regal im Wohnzimmer standen mehrere Bücher. Fontane, Schiller, Goethe, Zweig, sogar ein Gedichtband von Mörike. Erstaunliche Lektüre für ein Dienstmädchen und eine Nackttänzerin, dachte Stoßberg, es sei denn, die Bücher gehörten ihrem Freund, dauernder Mitbewohner oder auch nicht.

Neben den Büchern lag ein Fotoalbum. Neugierig schlug Stoßberg das Album auf: Nackte Frauen und Männer, meist aber Frauen, allein oder mit anderen, nebeneinander liegend oder stehend oder eng umschlungen. Die Männer und einige der Frauen versteckten ihre Gesichter hinter fantasievollen Masken. Die drei letzten Seiten waren leer, jedoch mussten auf ihnen einmal Fotos oder etwas anderes geklebt haben. Auf keine der Fotografien hatte er das Gesicht von Susanne ausmachen können. Dafür aber war auf fast allen Fotos ein Gesicht zu sehen, das Stoßberg bekannt vorkam. Er nahm eine dieser Fotografien heraus und besah sich die Rückseite. Kein Hinweis auf den Fotografen. Er steckte es ein.

Stoßberg sah auf die Uhr. Fast zwei Uhr nachmittags. Er legte das Fotoalbum in seinen Koffer und beschloss, noch einen letzten Durchgang durch die Zimmer zu machen. Als er im Schlafzimmer vor dem, wie ihm schien, flüchtig hergerichteten Doppelbett stand, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, unter die Bettdecken und Matratzen zu sehen. Er warf die Decken hoch. Am Zustand der Kissen und der Laken sah man, dass beide Betten vor nicht all zu langer Zeit benutzt worden waren. Auf den Kissen waren winzige rotbraune Flecken und blonde und schwarze Haare auszumachen. Susanne hatte also nicht alleine hier geschlafen. Er nahm einige Haare von den Kissen und brachte dann die Decken, nachdem er unter den Matratzen nichts gefunden hatte, in ihre ursprüngliche Lage zurück.

Wohin mit den Haaren? In der Küche fand er eine Papiertüte und legte sie hinein. Dabei bemerkte er, dass er noch etwas in der Wohnung nicht untersucht hatte: den kleinen Mülleimer. Es widerstrebte ihm, in Abfällen herumzuwühlen, aber wenn er später sagen wollte, er habe alles gründlich durchsucht, musste auch das sein. Er griff mit spitzen Fingern in den Eimer, hob eine leere Konservendose hoch, zog zusammengeknülltes Papier heraus, glättete es und schob damit Essenreste und andere unangenehme Abfälle zur Seite. Auf halbem Wege zum Eimerboden entdeckte er etwas, das mit normalem Küchenabfall nichts zu tun hatte.

Als Stoßberg Susannes Wohnung verließ, war unten in der Diele niemand zu sehen. Es roch nach billigem Schnaps. Draußen über dem Rhein hatten sich die einzelnen Wolken von heute morgen zu einer dunkelgrauen Gewitterwolke vereinigt. Stoßberg hatte den Eindruck, dass diese Wolke sich immer mehr ausbreitete und auf die Stadt zu bewegte. Er beeilte sich, eine der Taxen vor dem Bahnhof zu erreichen. Er hatte Glück. Kaum saß er in der Droschke, sauste vom Dom her ein plötzlicher Windstoß über den Bahnhofsvorplatz und wirbelte Staub, Papierfetzen, Tüten und Blätter in die Luft. Der Himmel verdunkelte sich und es fielen die ersten Regentropfen.
„Autowerkstatt- und Handel August Schmitz, Aachener Straße“, gab Stoßberg dem Taxifahrer sein Ziel an. Mit einem gewaltigen Donnerschlag öffnete der Himmel seine Schleusen.

Ein junger Mann in einer Latzhose voller Öl- und Fettflecken feilte an einem seltsam geformten Metallstück, als Stoßberg die Werkstatt betrat. Auf die Frage Stoßbergs nach Herrn Alfred Schmitz unterbrach die Latzhose das Feilen und zeigte mit dem Metallstück wortlos auf zwei Arbeitsschuhe, die unter einem Automobil herausragten, die Schuhspitzen nach oben.
Stoßberg ging auf das Auto zu, bückte sich und rief: „Herr Schmitz, mein Name ist Stoßberg, ich hätte Sie gerne gesprochen“.
Auf einem Brett rücklings liegend rollte ein Mann mit ölbeschmierten Händen und Gesicht unter dem Automobil hervor.
„Was kann ich für Sie tun?“
„Sagt Ihnen der Name Siegfried Depolt etwas?“
„Natürlich, ein Kriegskamerad.“
Alfred Schmitz rappelte sich hoch.
„Sie sind der Kommissar aus Eupen, nicht wahr?“
Das Telefon ist schon eine tolle Erfindung, dachte Stoßberg.
„Ja, der bin ich. Ich nehme an, Herr Depolt hat Sie nicht nur über mein Kommen informiert, sondern auch warum ich Sie besuche.“
Alfred Schmitz nickte.
„Hat er. Nach einem unserer Treffen – Sie werden’s nicht glauben, aber die Überlebenden unseres Bataillons treffen sich zweimal im Jahr hier in Köln – lotste ich Siegfried in das Kabarett `Rote Laterne`! Was dort vor Publikum geschah, war natürlich für ihn als Kleinstadtmenschen ziemlich hart. So was hatte er noch nie gesehen. Einige Wochen später rief er an und bat mich darum, in der `Roten Laterne` vorzufühlen, ob die Damen – er sagte tatsächlich Damen – auch privat auftreten würden. Ich brauchte nicht vorzufühlen. Ich wusste, dass die Truppe auch außerhalb des Kabaretts auftrat. Das sagte ich Siegfried, der mir daraufhin den Auftrag gab, die Truppe für Mitte Juli zu bestellen.“
„Und Sie haben dann mit dem Chef des Kabaretts gesprochen und auch bezahlt?“
„Jawohl. Das Geld für den Auftritt der Kabarettdamen bei Siegfried erhielt ich später durch einen Boten und habe es dem Chef übergeben. Gegen Quittung.“
„Haben Sie das auch so für die Belgier gehandhabt?“
„Genau so.“
„Welcher Offizier hat Ihnen den Auftrag gegeben?“
„Keiner. Dem Chauffeur, der ab und zu Dienstwagen hier bei uns reparieren oder überholen ließ, hatte ich irgendwann mal von dem Kabarett erzählt. Dabei musste ich wohl erwähnt haben, dass die Damen auch für private Zwecke außerhalb des Kabaretts gemietet werden konnten. Das musste er wohl weiter erzählt haben.“
„Wie heißt dieser Chauffeur?“
Alfred Schmitz hob die Schultern.
„Weiß ich nicht, Herr Kommissar.“
„Schade, das hätte uns weitergebracht. Trotzdem vielen Dank.“
Stoßberg gab Schmitz nicht die Hand, was der mit seinen verschmierten Händen auch nicht erwartet hatte.
Stoßberg war schon beim Garagentor und Schmitz wieder halb unter dem PKW, als dieser ihm nachrief: „Mir fällt soeben noch etwas ein, Herr Kommissar. Der Chauffeur brachte immer nur Dienstfahrzeuge höherer Offiziere. Er sei als Einziger für diese Wagen zuständig, behauptete er.“


24


Aus dem verlegenen Schweigen des Depoltschen Hauspersonals auf seine Frage, ob Susanne nicht auch Depoltsche Köpfe verdreht habe, folgerte Detiège, dass es zwischen Susanne und zumindest einem der Depolts doch eine andere Beziehung gegeben haben musste, als nur die zwischen Herrschaft und Dienstmagd. Wolfgang Depolt musste verhört werden. Das sollte aber Stoßberg machen. Für ihn selbst hatte im Moment der zweite Mord Vorrang. Der tote Oberleutnant war identifiziert worden und der ungefähre Zeitpunkt des Todes war bekannt. Dass der Offizier in die Lichtung gebracht worden war, aber dort nicht ermordet wurde, konnte als sicher gelten. Sobald das Foto des Toten verfügbar war, würde er zum Waldhotel fahren und es dem Besitzer vorlegen. Und noch etwas musste endlich aufgeklärt werden: Welche Offiziere hatten an der Orgie teilgenommen? Jeder konnte Mörder oder Zeuge sein. Dafür musste der Organisator des Ganzen bekannt sein. Detiège hoffte, dass Stoßberg das in Köln in Erfahrung bringen konnte.

Kaum saß Detiège wieder hinter seinem Schreibtisch im Hauptquartier, verdunkelte sich nach und nach der Himmel. Plötzlich zuckte ein Blitz an seinem Fenster vorbei, unmittelbar gefolgt von einem Knall, als sei in unmittelbarer Nähe eine Kanone abgeschossen worden. Die schwarzgrauen Wolken ließen ihre Wasserlast auf die ausgedörrte Erde fallen. Da wurde ihm vom Wachthabenden Kommissar Stoßberg gemeldet.

Detiège empfing ihn mit unverhohlener Neugier und bot ihm ein Glas französischen Cognac an.
„Eine vorbeugende Medizin gegen Erkältungen“, grinste er, „und entschuldigen Sie, dass Sie draußen warten mussten.“
Stoßberg entschuldigte, trank den Cognac und erstattete Bericht über den Club, den Chef, die Tänzerinnen und sein nicht ganz legales Eindringen in die Wohnung der Toten und was er dort gesehen hatte. Zum Schluss überreichte er Detiège das Fotoalbum. Die Episode mit Rosi und einiges andere behielt er für sich. „Interessant“, sagte Detiège und vertiefte sich in die fotografierten Nacktheiten.
„Soweit die Gesichter zu erkennen sind, ist die Getötete nicht darunter. Vielleicht ist sie aber eine der Maskierten“, meinte er und schlug das Album zu.
Dann berichtete er von seinen Erkenntnissen über den zweiten Mord.
„Im übrigen habe ich den Herrn Depolt in der Unterstadt besucht“, bekannte er zum Abschluss.
„Den Alten? Warum?“, fragte Stoßberg erstaunt.
Detiège erzählte von seiner Begegnung mit Depolt senior im Restaurant und in der Kneipe.
„Ich wollte diesen Mann näher kennen lernen und da ich annahm, dass das Ihr Depolt war…“
„Mein Depolt, wie Sie ihn nennen“, unterbrach ihn Stoßberg, „ist nicht der Alte, sondern sein Sohn Siegfried“.
„Das weiß ich jetzt, aber der alte Depolt kannte die Ermordete!“
„Was?“
Detiège machte eine Pause, so als wolle er die Spannung bei Stoßberg noch erhöhen, dann berichtete er:
„Sie war eine kurze Zeit Dienstmädchen bei den Depolts. Wurde von allen Männern im Hause Depolt angehimmelt. Bis sie dann eines Tages kündigte, um als Lazarettschwester an die Front zu gehen. Dabei soll sie kurz vor der Verlobung mit einem Sohn des Großhändlers Hausmann gestanden haben. Der Mann sei verrückt nach ihr gewesen. Scheinbar waren aber alle Männer verrückt nach ihr. Vielleicht war das auch der zweite Depoltsche Sohn, der ja im Elternhaus wohnt?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Nun, auf meine entsprechende Frage an das Personal und der voreiligen Bemerkung des Gärtners reagierte die Hausdame sehr heftig und das übrige Personal mit betretenem Schweigen. Ich finde, dass das eher ein beredtes Schweigen war. Daraufhin wollte ich den Sohn des Alten befragen. Doch er war nicht im Hause. Er sei verreist, hieß es, werde jedoch morgen zurück erwartet. Ich schlage vor, dass Sie ihn befragen.“
Stoßberg nickte. Er verstand, dass Detiège ihm das „Verhör“ überlassen wollte. Die Depolts waren kaisertreue Patrioten und die Kapitulation hatte, mehr noch als bei ihm, ihr Weltbild zerstört. Sie hassten die Sieger.
„Einen konkreten Verdacht gegen Wolfgang Depolt haben Sie nicht?“, fragte Stoßberg.
Detiège fuhr mit einer Hand durch seine krausen schwarzen Haare.
„Nun, sagen wir mal so: was tut eine begüterte Familie, wenn ein Sprössling sich mit einer Dienstmagd abgibt? Die Magd erhält einen Beutel Geld und verschwindet. Das ist doch in diesen Kreisen so üblich, oder? Vielleicht ist sie nach dem Krieg wieder bei Wolfgang Depolt aufgetaucht und hat Forderungen gestellt?“
„Weil diese Beziehung die Folge hatte, die der Pathologe festgestellt hat“, ergänzte Stoßberg.
„Könnte ja sein… Das wäre dann ein handfestes Motiv.“
„Alles Vermutungen, Herr Kollege. Und der fast Verlobte?“
„Auch der hätte ein Motiv. Seine Braut verschwindet einfach und lässt sich nicht mehr sehen. Vielleicht sind sie sich irgendwann vor kurzem irgendwo wieder begegnet. Jetzt will er alles klar machen, doch sie hat jemand anderen oder sie will einfach nicht mehr. Ein Motiv für einen Mord? Schwächer als bei Depolt, zugegeben, trotzdem…“
„Ich werde beide verhören“, entschied Stoßberg.
„Gut so. Ich erwarte morgen früh die Fotografien des ermordeten Oberleutnants. Wenn ich sie habe, werde ich Ihnen Bescheid geben. Die werden wir dem Hotelier dann vorlegen. Einverstanden?“
Stoßberg war einverstanden und wollte sich verabschieden, als ihm einfiel, dass er Detiège noch nichts von seinem Gespräch mit dem Mann, der dem Depolt die Truppe besorgt hatte, gesagt hatte.
„Einen Augenblick noch, Herr Major“, sagte er, „Ich habe in Köln auch den Kameraden von Siegfried Depolt, den Autohändler und Werkstattbetreiber gesprochen. Er hatte die Tanztruppe besorgt. Irgendwann, so erzählte der Händler mir, habe er dem Chauffeur, der regelmäßig Offizierswagen zu Reparaturen bringe, von dem Kabarett erzählt und, dass man die Tänzerinnen auch mieten könne. Einige Tage später habe dieser Chauffeur die Adresse und die Telefonnummer des Kabaretts haben wollen. Er habe sie ihm gegeben.“
„So viele Offizierswagen gibt es nicht in Köln. Jetzt haben wir die Möglichkeit, die Teilnehmer der Orgie zu eruieren. Den Namen des Chauffeurs kannte der Autohändler wohl nicht? Das würde die Suche erleichtern.“
Stoßberg hob die Schultern. „Leider nicht“, antwortete er.


25


Das Gewitter, das am späten gestrigen Nachmittag begonnen hatte, hatte sich mit kurzen Unterbrechungen in der Nacht fortgesetzt und Stoßberg den Nachtschlaf zerstückelt. Doch nicht nur die himmlischen Kracher hatten ihn daran gehindert, wie üblich sofort nach dem Zubettgehen einzuschlafen, sondern auch seine Gedanken, die sich natürlich mit den beiden Morden beschäftigten.

Und so saß er dann unausgeschlafen hinter seinem Schreibtisch, als Detiège hereinspazierte.
„Ich habe die Portrait-Fotografien des toten Oberleutnants“, sagte er und legte eine davon vor Stoßberg auf den Schreibtisch. Sie zeigte ein schmales Gesicht mit einem schweren schwarzen Schnauzer über den Oberlippen. Die Augen waren geschlossen.
„Fahren wir zum Waldhotel? Haben Sie Zeit?“.
„Ich habe Zeit“, antwortete er.
„Und dann habe ich noch eine Visite auf dem Programm, Herr Stoßberg. Doch die ist sehr heikel. Da wir ja zusammen die beiden Morde aufklären wollen, möchte ich nach unserem Besuch im Waldhotel, mit Ihnen, in Aubel die Eltern des ermordeten Oberleutnants aufsuchen. Darum bitte ich Sie, bevor wir zum Waldhotel fahren, Zivilkleidung anzulegen. Sie verstehen…“
Stoßberg verstand.
„Aber, ich spreche kein Französisch“, gab er zu bedenken.
„Macht nichts. Alles, was dort gesagt wird, werde ich Ihnen später gerafft mitteilen. Wichtig ist mir, dass durch Ihre Anwesenheit erkennbar ist, dass auch die ehemals deutsche Polizei an der Aufklärung dieses Mordes interessiert ist. Im Übrigen sind die Eltern bereits über den Tod ihres Sohnes informiert worden.“

Eine halbe Stunde später schaukelten beide in einem belgischen Militärfahrzeug in Richtung Waldhotel. Detiège in Uniform, Stoßberg in Zivil.

Der Hotelbesitzer war sicher: Der fotografierte Tote sei der Mann, der die Nackte aus dem Hotel und in das Auto gezerrt habe.

Während der Fahrt vom Waldhotel nach Aubel schwiegen Stoßberg und Detiège. Stoßberg fühlte sich nicht wohl. Wie würde ihn die Familie des mit einem deutschen Offiziersdolch erstochenen Sohnes aufnehmen?


26


Stoßberg war erleichtert, als die Haustüre hinter ihnen geschlossen wurde.
„Kennen Sie die Abtei Val-Dieu, Gottesthal?“
Stoßberg hatte von dieser Abtei gehört, doch nie besucht.
„Wie wär’s, wenn wir auf dem Rückweg einen kleinen Umweg dorthin machen würden?“, schlug Detiège vor.
„Warum nicht“, antwortete Stoßberg. Er war mit seinen Gedanken noch bei der Unterredung Detièges mit dem Vater des ermordeten Oberleutnants, wobei er nur Zuhörer gewesen war und natürlich nichts von dem verstanden hatte, was Detiège und der Vater – die Mutter hatte sich nicht sehen lassen – miteinander gesprochen hatten. Er wartete darauf, dass Detiège ihm während der Fahrt die versprochene Zusammenfassung der Unterredung geben würde. Doch der schwieg. Als Detiège Stoßberg vorgestellt hatte, hatte der Vater, ein großer, stämmiger Mann, seine bereits ausgestreckte Hand sofort zurückgezogen und Stoßberg war dann für ihn nicht mehr vorhanden gewesen. Er hatte ihm nicht einmal einen Platz angeboten. Beim Abschied hatte der Vater nicht einen Blick, geschweige denn einen Händedruck für Stoßberg übrig gehabt.

Sie fuhren auf einem breiten, gefestigten Feldweg, immer leicht bergab, durch Apfel- und Birnbaumplantagen, hinter sich eine dünne braune Staubwolke aufwirbelnd. Es war das Land des Apfelweins und des Apfelkrauts, Produkte, die auch in Stoßbergs Heimatstadt vor dem Krieg angeboten worden waren. Der Feldweg endete vor einem riesigen Tor aus schweren Holzbalken, die einzige Öffnung in einer wehrhaften Mauer aus grob bearbeiteten Granitblöcken, die den Abteikomplex ‚Val Dieu’ umschloss. In das Tor war ein schmales Türchen eingelassen. Es stand offen. Stoßberg und Detiège ließen den Wagen an der Mauer stehen und gingen durch das Türchen, an den Friedhof vorbei, in die Kirche.
Es war angenehm kühl in dem schlichten Gotteshaus. Durch die hohen Fenster, alle ohne Bemalung, holte das Sonnenlicht in breiten Streifen Teile des Innenraums aus der Dunkelheit. Detiège und Stoßberg setzten sich in eine der Bänke in der Mitte der Kirche. Von irgendwoher floss gregorianischer Chorgesang behäbig wie ein breiter Strom durch den Kirchenraum.
„Klöster haben etwas Beruhigendes an sich. Finden Sie nicht auch, Stoßberg? Die Sorgen bleiben draußen vor den Mauern“, flüsterte Detiège.
„Mag sein“, gab Stoßberg genau so leise zurück, „aber verschwunden sind sie dafür nicht.“ Dann schwiegen beide und starrten irgendwohin.

Seitlich vom Hauptalter wurde eine Tür aufgestoßen und eine weiße Kutte schlurfte herein. Gebückt, so als habe er eine große Last zu tragen, ging der Mönch bis zum Altar, zupfte an den Paramenten, strich mit den Händen darüber, rückte den Blumenschmuck und die Kerzen zurecht und verließ, nach einer Kniebeuge vor dem Altar, den Kirchenraum durch dieselbe Tür, durch die er hereingekommen war.

„Susanne war die Geliebte des Oberleutnants“, brach Detiège das Schweigen. Stoßberg sah ihn an, ziemlich überrascht.
„Sicher?“, fragte er.
„Ganz sicher. Der Oberleutnant habe sie, so der Vater, in einem deutschen Lazarett kennen gelernt. Gleich nach dem Waffenstillstand sei er nach Hause entlassen und das Lazarett aufgelöst worden. Er habe sie mitgenommen. Die Eltern und auch die Bevölkerung Aubels hätten sie natürlich abgelehnt. Ja, das ganze hätte sich zu einem Skandal ausgeweitet, als er allen kundgetan habe, dass er sie heiraten wollte. Doch zwei Tage vor der geplanten Hochzeit sei sie dann plötzlich verschwunden. Seitdem habe niemand mehr etwas von ihr gehört. Vermutet wird, dass sie sich den von der Front heimkehrenden Deutschen angeschlossen habe.“
„Und sie ist dann in Köln hängen geblieben und Tänzerin geworden…“
„…und trifft dabei wieder ihren Oberleutnant. Schicksal. Unberechenbar und grausam“, schloss Detiège.
„Das kompliziert die ganze Sache“, erwiderte Stoßberg, „bei einer solchen engen Beziehung, die dann plötzlich in die Brüche geht, ist selten ein Dritter der Mörder. Möglich also, dass Susanne den Oberleutnant getötet hat.“
„Der Offiziersdolch spricht dafür“, warf Detiège ein, „sie könnte einen solchen Dolch in einem Lazarett gefunden, gestohlen, vielleicht von einem Offizier geschenkt bekommen haben.“
„Möglich. Doch der Hotelier hat keinen in ihrer Hand gesehen, als sie vom Tisch gezerrt wurde. Wo hätte sie ihn auch verstecken sollen. Sie war ja nackt.“
„Könnte natürlich in dem Auto gelegen haben, in das sie hineingezerrt wurde.“
„Auch wieder möglich, Herr Major, aber sehr unwahrscheinlich. Da ist aber noch die dritte Person, die der Hotelier aus dem Hotel hat rennen sehen? Die könnte den Oberleutnant auch erstochen haben.“
Detiège seufzte: „Natürlich, der große Unbekannte“.
Stoßberg war nicht so pessimistisch: „Richtig, doch wir haben blutige Fingerabdrücke auf der Mordwaffe. Die werden uns weiterhelfen. Und wir wissen jetzt manches über die beiden Toten und ihr Umfeld. Das wird uns auch weiterbringen“.
Beide lauschten dem gedämpften Gesang der Mönche.
Stoßberg beendete das Schweigen: „Wir kennen nun die Verbindungen zwischen der Ermordeten und dem Ermordeten. Und wir haben für den Mord an der Tänzerin Susanne zwei mögliche Tatverdächtige: Den Sohn des Industriellen und den Sohn des Kaufmanns“.
„Auch für den Mord an dem Oberleutnant. Susanne und eine unbekannte nackte Person“, ergänzte Detiège leicht ironisch.
„Dann wollen wir mal an die Arbeit gehen, Herr Kollege“, sagte Stoßberg und erhob sich.


27


Hermann-Josef Hausmann, einziger Erbe des Kolonialwarenhändlers Arthur Hausmann, war 28 Jahre alt, schmalbrüstig, trug eine Nickelbrille und hatte bemerkenswert feingliedrige Hände. Er saß vor Stoßbergs Schreibtisch, die Hände auf seinem Schoß gefaltet und wartete auf die Fragen des Kommissars, wie ein Schüler auf das Donnerwetter seines Direktors. Als Stoßberg ihn gebeten hatte, am nächsten Vormittag ins Kommissariat zu kommen, hatte er sofort zugesagt und hinzugefügt, er habe sowieso vorsprechen wollen. Schließlich lese er Zeitung.

„Also Herr Hausmann, wir haben in Erfahrung gebracht, dass…“, begann Stoßberg das Verhör und wurde gleich von Hausmann unterbrochen.
„… ich mit Susanne quasi verlobt war. Das wollten Sie doch sagen, Herr Kommissar?“
„Ja.“
„Das stimmt. Es war aber keine offizielle Verlobung. Mein Vater war nämlich gegen diese Verbindung. Ein Hausmann heiratet kein Dienstmädchen. Das war alles, was er sagte, als ich ihm den Verlobungswunsch bei meinem vorletzten Fronturlaub vortrug. Trotzdem hoffte ich, ihn irgendwann doch noch umstimmen zu können, indem ich ihm beim nächsten Urlaub Susanne einfach vorstellen würde. Ihre Schönheit würde auch ihn beeindrucken, mehr noch ihr Verstand und ihre Kenntnisse. Sie ist … war nämlich sehr belesen, Herr Kommissar. Sie war kein dummes Dienstmädchen, müssen Sie wissen.“
„Und, haben Sie Ihren Vater bewegen können, sie kennen zu lernen?“
„Nein, es gab keine Vorstellung, denn als ich sie bei den Depolts abholen wollte, erklärte man mir, sie sei verschwunden. Wohin, das wisse keiner.“
„Ein Schock für Sie, nicht wahr?“
„Und ob, Herr Kommissar. Doch zunächst glaubte ich das nicht so recht und erkundigte mich selbst bei Wolfgang Depolt. Der konnte das nur bestätigen.“
„Und, haben Sie etwas unternommen?“, fragte Stoßberg.
„Unternommen? Ich? Natürlich habe ich etwas unternommen. Ich habe die Bediensteten bei Depolt befragt. Keiner konnte sagen, warum sie plötzlich nicht mehr da war, noch wohin sie hätte gegangen sein können. Wen sollte ich noch befragen? Wenn die Herrschaft und die anderen Dienstboten nichts wissen, wer sollte es dann? Die Welt eines Dienstmädchens ist nicht besonders groß, Herr Kommissar.“
„Und irgendwelche Andeutungen hat sie bei Ihnen vorher auch nicht gemacht?“
„Nein, Herr Kommissar, keine einzige Andeutung.“
„Sie soll einige Zeit später der Familie Depolt geschrieben haben. Hat man Ihnen das mitgeteilt?“
„Ja, ich habe es durch meine Mutter erfahren. In einem ihrer Briefe, der fast zwei Wochen gebraucht hatte, um mich an der Front zu erreichen, teilte sie mir mit, dass Susanne Hilfsschwester in einem Lazarett sei. Herr Depolt habe sie darüber informiert. Ich habe dann versucht, Susanne über den Stabsarzt meines Bataillons ausfindig zu machen. Der hat auch meine Bitte an übergeordnete Stellen weitergereicht, doch ich habe nie eine Antwort erhalten.“
„Und Sie haben sie auch später nicht mehr gesehen?“
„Nein.“
„Und sie hat Ihnen auch nicht geschrieben?“
„Nein, nicht ein einziges Mal.“
„Sagt Ihnen der Name Meurisse, Oberleutnant Meurisse etwas?“
„Nein, Herr Kommissar. Nie gehört. Ein belgischer Offizier?“
„Ja. Eine letzte Frage: Wo waren Sie am 15. und in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli?“
„Zu Hause. Meine Eltern können das bezeugen.“
„Und am 20. Juli nachmittags und abends?“
Hermann-Josef Hausmann wurde plötzlich verlegen.
„Ist das wichtig, Herr Kommissar?“
„Natürlich, sonst würde ich nicht fragen.“
„Nun, ich war tagsüber zu Hause und am Abend und in der Nacht auf einem Fest.“
„Wo?“
„In der Stadt.“
„Welches Fest?“
„Ein… privates“.
„Bei wem?“
„Bei Siegfried Depolt.“


28


Am Nachmittag saß Wolfgang Depolt vor Stoßbergs Schreibtisch. Er war im gleichen Alter wie Hermann-Josef Hausmann, physisch jedoch das Gegenteil von ihm. Wie er so da vor Stoßbergs Schreibtisch saß, wusste er nicht so recht, wohin mit seinen kräftigen Händen. Mal umspannte er seine Knie damit, mal suchte er etwas in seinen Westentaschen, mal fuhr er mit den Fingern einer Hand durch seine blonden Haare. Reichlich nervös der Mann, dachte Stoßberg.
„Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Herr Depolt“, begann Stoßberg.
Wolfgang Depolt rümpfte die Nase.
„Ich weiß zwar nicht, warum ich zu dem Mord an einem unserer ehemaligen Dienstmädchen befragt werden soll, aber Sie werden wohl Ihre Gründe haben, Herr Kommissar.“
„Nun, Herr Depolt, die habe ich. Sonst würde ich Sie nicht zu diesem Gespräch gebeten haben. Susanne war eine schöne junge Frau. Eine solche Frau bringt bei den meisten Männern das Blut in Wallung, seien sie jüngeren, seien sie älteren Semesters. Auch wenn sie nur ein Dienstmädchen ist. Meinen Sie nicht auch?“
„Mag sein, Herr Kommissar.“
„Und Sie? Wie fanden Sie Susanne?“, wollte Stoßberg wissen.
„Ein hübsches Kind.“
„Und Ihre Beziehungen zu ihr?“
„Was wollen Sie damit andeuten, Herr Kommissar?“
„Ich will nur von Ihnen hören, ob Ihre Beziehungen zu Susanne über das übliche Verhältnis eines Dienstherrn zu seiner Dienstmagd hinausgingen?“
„Eigentlich geht Sie das gar nichts an“, antwortet Wolfgang Depolt überheblich, „doch ich will es Ihnen sagen. Sie war für mich eine Dienstmagd, wie jede andere, sonst nichts, und ich pflege Dienstleute freundlich zu behandeln, ob weibliche oder männliche. Wenn daraus von anderen im Falle von Susanne bestimmte Schlüsse gezogen werden, so kann ich das nicht verhindern.“
„Haben Sie Susanne seit ihrem Verschwinden wieder gesehen, oder hat sie Ihnen geschrieben?“
„Nein. Mir schreiben? Susanne? Warum sollte sie? Sie war das Dienstmädchen meiner Eltern. Sie haben einen Brief von ihr erhalten, nicht ich.“
„Haben Sie eine Erklärung für das plötzliche Verschwinden Susannes? In ihrem Brief soll nichts davon gestanden haben, warum sie ihre Stellung aufgegeben hat.“
„Nein, Herr Kommissar“, erwiderte er, „Ich war genau so überrascht wie alle anderen.“
„Auch ihre Eltern?“
„Natürlich. Warum sollten sie nicht überrascht gewesen sein?“
Stoßberg klopfte auf den Busch: “Vielleicht wussten ihre Eltern doch mehr?“
Stoßberg registrierte, wie Depolts Hände die Stuhllehne plötzlich so fest umklammerten, als müsse er den Stuhl hochheben.
„Was wollen Sie damit sagen, Herr Kommissar? Glauben Sie mir nicht?“
„Ich muss jedem glauben. Bis zum Beweis des Gegenteils.“
„Dann führen Sie den Beweis! Ich bleibe bei meinen Aussagen. Haben Sie sonst noch Fragen? Ich habe Wichtigeres zu tun als hier herumzusitzen.“
Ohne dass Stoßberg ihn dazu aufgefordert hatte, erhob Wolfgang Depolt sich von seinem Stuhl und ging zur Tür.
Stoßberg rief ihn zurück: „Bitte noch einen Augenblick, Herr Depolt. Ich habe noch drei Fragen. Kennen Sie einen Oberleutnant der belgischen Streitkräfte mit Namen Meurisse?“
Wolfgang Depolt blieb vor dem Türrahmen stehen: „Meurisse? Sagt mir nichts. Was ist mit diesem Meurisse?“
„Er wurde ermordet.“
„Aha.“
„Wo waren Sie am 16. und in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli und am 21. Juli nachmittags und am Abend?“
„Wo denn sonst als in der Fabrik, tagsüber natürlich. Abends? Entschuldigen Sie, das ist doch wohl meine Sache.“
„Wahrscheinlich wurde Oberleutnant Meurisse am 16. oder in der Nacht zum 17. Juli ermordet und Susanne höchstwahrscheinlich am 21. Juli.“
„Und Sie verdächtigen ausgerechnet mich, diese zwei Morde begangen zu haben?“
„Nun, ich verdächtige Sie nicht mehr und nicht weniger als viele andere. Wie heißt es doch so schön: bei einem Mord ist zunächst jeder verdächtig. Also, wo waren Sie in dieser Nacht?“
„Das bleibt meine Sache, Herr Kommissar“, sagte er barsch und knallte die Tür hinter sich zu.


29


Am nächsten Tag saß Major Detiège schon früh morgens in Stoßbergs Büro. Er hatte Neuigkeiten. Den Namen des Fahrers des Offizierswagens hatte er erfahren und von ihm auch, für welchen Offizier er sich bei dem Garagenbesitzer über das Kabarett „Rote Laterne“ informiert hatte. Dieser Offizier und die anderen beteiligten Offiziere hätten vom Platzkommandanten den Befehl erhalten, sich für ein Verhör durch Detiège bereit zu halten.

„Was haben Ihre Verhöre der Herren Hausmann und Depolt erbracht?“, wollte Detiège wissen.

Stoßberg hob die Schultern: „Das, was zu erwarten war: Nicht viel. Beide erklärten, den toten Oberleutnant nicht gekannt zu haben. Das Alibi des Hausmann-Sohnes für die wahrscheinliche Tatzeit der Ermordung der Tänzerin muss ich noch überprüfen. Für die höchstwahrscheinliche Tatzeit hat mir Wolfgang Depolt nur für den Tag ein Alibi gegeben. Ist noch zu überprüfen. Für den anschließenden Abend und die Nacht wollte er mir keine Auskunft erteilen.“
„Aha. Ist das nicht verdächtig?“
„Vielleicht. Vielleicht steckt aber auch ein anderer Grund dahinter.“
„Und der wäre?“
„Ich weiß es nicht. Wenn ich ehrlich sein soll, ich glaube nicht, dass Wolfgang Depolt ein Mörder oder gar ein Doppelmörder ist. Auch nicht Hermann-Josef Hausmann. Letzterer behauptet, in dem Zeitraum, in dem wahrscheinlich Susanne ermordet wurde, an einem Fest bei Siegfried Depolt teilgenommen zu haben. Das ist sein Alibi für den Mord an Susanne. Natürlich muss das noch überprüft werden. Was nun Wolfgang Depolt anbelangt, so habe ich das unbestimmte Gefühl, dass er in besagter Nacht irgendwo war, wo das Licht der Öffentlichkeit nicht unbedingt erwünscht ist.“
„Und wo denken Sie war er?“, fragte Detiège.
„Keine Ahnung. Vielleicht bei einer unbekannten Geliebten. So etwas wird in diesen Kreisen nicht an die große Glocke gehängt.“ sagte Stoßberg.
Detiège grinste: „Der feine Herr genießt und schweigt. Genau so wie bei uns.“
Wenig später verabschiedete sich Detiège recht freundlich von Stoßberg, und der Kommissar konnte sich den Routineaufgaben widmen. Zum Beispiel die Berichte der Revierpolizisten lesen. Wie fast immer war nichts Aufregendes vermerkt worden. Alle sprachen zwar davon, dass die Leute noch immer über die Abschiebung ihres Bürgermeisters durch die Belgier erbost waren. Aber von irgendwelchen Zusammenrottungen oder Plänen einer neuen Demonstration wurde nichts gemeldet. Der Alltag hatte schnell wieder die Oberhand gewonnen. Was in diesen schwierigen Zeiten verständlich war.

In einem der Berichte fand Stoßberg trotzdem etwas, das ihn besonders interessierte. Am Rande der Stadt, in der Nähe des Waldes, so berichtete der zuständige Revierpolizist, habe der Förster Heilmann auf seinem Heimweg in der Dämmerung die Ankunft mehrerer Fahrzeuge vor dem seit Anfang des Krieges nicht mehr benutzten Jagd- und Gästehaus der Familie Depolt beobachtet. Nur Herren seien aus den Fahrzeugen gestiegen und in das Haus gegangen. Später in der Nacht habe er dann, durch Motorengeräusche geweckt, dieselben Automobile an seinem Haus, das zwischen der Stadtgrenze und dem Depoltschen Jagdhause liege, vorbeifahren sehen. Alle in Richtung Stadt.


30


Als der von zwei schwarzen Pferden gezogene Leichenwagen gegen zehn Uhr an seinem Fenster vorbeifuhr, verließ Stoßberg sein Büro und schloss sich dem Leichenzug an. Außer dem Geistlichen, einem Messdiener und Stoßberg selbst begleiteten, hinter den Depoltschen Dienern und Mägden, zur Verwunderung Stoßbergs, der alte Depolt, sein Sohn Wolfgang und Herman-Josef Hausmann die tote Susanne auf ihrem letzten Weg. Der Himmel strahlte in hellem Blau und die Sonne brannte jetzt noch stärker als vor dem Gewitter. Auf die weithin hörbare Litanei, die der Priester vorbetete, antwortete der Leichenzug mit einem kaum hörbaren Gemurmel. Die wenigen Passanten, die ihnen begegneten, blieben einen Augenblick stehen und bekreuzigten sich.

Nachdem Priester und Messdiener mit Weihrauch, gesegnetem Wasser und Gebeten vor dem Grab ihre Pflicht getan und jeder Trauergast sein ihm vom Friedhofswärter auf einer kleinen Schaufel gereichte Häufchen Erde auf den Sarg geworfen hatte, verließen alle eiligst den Friedhof. Nur der alte Depolt und, hinter ihm, etwas abseits, Stoßberg, blieben noch einige Minuten vor der Grube stehen und sahen den Friedhofsarbeitern zu, wie sie den Sarg mit der ausgehobenen Erde zudeckten und schließlich auf den so entstandenen hellbraunen Lehmhügel einen kleinen Kranz ohne Schleife legten.

Der alte Depolt griff in seine Hosentasche, zog ein blütenweißes Taschentuch hervor und wischte damit über sein Gesicht. Dann setzte er seinen Hut, den er beim Beginn der Zeremonie abgenommen und während der ganzen Zeit in der Hand gehalten hatte, wieder auf, schob das Tuch in die Hosentasche zurück, drehte sich um und sah Stoßberg an.
“Ich finde es immer sehr traurig, wenn ein junges Leben so plötzlich endet“, bemerkte er.
„Besonders wenn das durch fremde Gewalt geschieht“, antwortete Stoßberg.
„Ja, dann ganz besonders.“
„Darf ich Sie begleiten, Herr Depolt?“, fragte Stoßberg, der plötzlich spürte, dass der Alte ihm etwas zu sagen hatte.
„Bitte, Herr Kommissar“. Ein kurzes Lächeln huschte über Depolts Gesicht. „Ich nehme an, Sie haben so einige Fragen, die Sie mir stellen wollen.“
„Sie haben es erraten.“
„Also fragen Sie.“
Beide nickten kurz den Arbeitern zu und verließen die Grabstätte.
„Major Detiège…“, begann Stoßberg.
„Ein aufdringlicher Kerl.“
Stoßberg ging nicht darauf ein.
„Major Detiège“, begann Stoßberg aufs Neue, „hat mir von seiner Unterredung mit Ihnen und Ihrem Personal berichtet. Sie wussten, so sagte er mir, keinen Grund zu nennen, warum Susanne ihre Stelle so plötzlich verlassen hatte und auch in ihrem Brief, den Sie später von ihr erhalten haben, hätte sie nichts über ihre Gründe für ihr plötzliches Verschwinden geschrieben. Stimmt das?“
Der alte Depolt antwortete nicht.
„Und Ihr Sohn Wolfgang, wusste der auch nicht warum?“, fragte Stoßberg weiter.
„Was wollen Sie damit sagen, Herr Stoßberg?“.
„Nun, verzeihen Sie, aber ich will offen mit Ihnen reden. Aus Bemerkungen und Andeutungen des Personals hat Major Detiège mir gegenüber den Schluss gezogen, dass Ihr Sohn Wolfgang eine etwas engere Beziehung zu Susanne hatte. Und er glaubt Ihnen auch nicht, dass Sie keinen Grund für Susanne plötzliches Verschwinden angeben können.“
Der alte Depolt blieb stehen.
„Soll das heißen, dass Wolfgang von Ihrem Major verdächtigt wird, Susannes Mörder zu sein?“
„Bei einem Mord sind alle, die mit dem oder der Ermordeten in irgendeiner Verbindung gestanden haben, verdächtig. Je enger diese Verbindung, umso verdächtiger. So denken wir Kriminalisten nun mal. Ihr Sohn Wolfgang hat sich darüber hinaus geweigert, mir über seinen Aufenthalt in der von uns angenommenen Mordnacht Auskunft zu geben“, antwortete Stoßberg.
„Hat er das. Also haben Sie gleich zwei Verdächtige im Hause Depolt: meinen Sohn und mich“, sagte Depolt und verzog den Mund zu einem dünnen Lächeln.
„Ich bitte Sie, Herr Depolt. Sie doch nicht.“
„Doch, doch, schließlich war Susanne jung und sehr schön und wir haben sie fast jeden Tag irgendwo im Haus getroffen. Warum mich also ausschließen? Weil ich für solche Gefühle zu alt wäre? Weil ich in dem Alter bin, von dem man sagt, es sei jenseits von Gut und Böse?“
„Aber, Herr Depolt…“
„Spaß beiseite…“, sagte Depolt. Er zeigte auf eine Bank in der Nähe des Friedhoftores: „Setzen wir uns, Herr Stoßberg. Ich habe Ihnen einiges zu sagen.“


31


Am nächsten Morgen beim Glockenschlag acht saß Major Detiège schon vor Stoßbergs Schreibtisch.
„Der Dolch, mit dem der Oberleutnant erstochen wurde“, sagte er, „hat einem der Teilnehmer an der Orgie gehört, einem Leutnant. Der Leutnant erklärte mir, dass ihm dieser Dolch, eine private Kriegsbeute, in besagter Nacht gestohlen worden sei. Den Diebstahl habe er erst am nächsten Tag beim Ankleiden bemerkt. Er vermute aber, dass die Tänzerin, die er mit aufs Zimmer genommen habe, den Dolch an sich gebracht haben könnte, als sie plötzlich, auf Schreie von draußen reagierend, ihm ‚von der Stange gesprungen sei’.“ Detiège grinste: „So hat er sich ausgedrückt. Sie habe kurz in seinen Sachen herumgewühlt und sei dann aus dem Zimmer gerannt.“
„Konnte er sie beschreiben?“
„Ja. Besser noch: Ich habe nach seinen Angaben ein Bild dieser Dame malen lassen“, sagte Detiège, nicht ganz ohne Stolz, „hier ist es.“
Er entrollte auf Stoßbergs Schreibtisch ein Papier so groß wie die Seite einer Tageszeitung.
Der Zeichner hatte nach den Angaben des Leutnants nicht nur das Gesicht der ‚abgesprungenen’ Dame zu Papier gebracht, sondern auch ihren nackten Körper. Sie musste wohl bei dem Leutnant einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben. So wie jetzt bei Stoßberg. Aber aus einem anderen Grund.
Er beglückwünschte Detiège zu dieser Initiative und wollte noch wissen:
„Und die Fingerabdrücke, Major?“
„Die haben wir von allen Mädchen und Offizieren genommen. Sie werden zurzeit mit denen am Dolch verglichen. Auch alle Fahrzeuge, die in dieser Nacht vor dem Hotel gestanden haben, wurden festgestellt. Zurzeit wird in ihnen nach Spuren gesucht.“
Nachdem Detiège wieder gegangen war, gab Stoßberg die Order aus, ihn unter keinen Umständen zu stören und schloss die Tür zu seinem Büro.
Nach der Mittagspause gab er den Wachhabenden bekannt, dass er den ganzen Nachmittag dienstlich abwesend sei, und verließ das Rathaus.

Am nächsten Morgen übergab Stoßberg Oberwachtmeister Willems mehrere geschlossene Briefumschläge. Er befahl ihm, diese unverzüglich den auf den Umschlägen vermerkten Adressaten auszuhändigen und dafür zu sorgen, dass sich um sechs Uhr abends alle acht Polizisten in seinem Büro einfanden. Er habe Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen.

Punkt 18 Uhr stand vor Stoßbergs Schreibtisch die gesamte Polizeitruppe der Stadt stramm. Acht blau Uniformierte mit Pickelhaube. Erwartungsvoll sahen sie auf ihren Chef, der hinter dem Schreibtisch saß.
„Meine Herren“, begann Stoßberg, „am nächsten Sonntag ab neun Uhr benötige ich Sie dienstlich, aber, bis auf Wachtmeister Thielen, alle in Zivil. Ich hoffe, an diesem Morgen die Morde an den beiden Toten im Wald endgültig aufzuklären.“
Ein Raunen ging durch die Versammelten.
„Ich weiß, dass das ungewöhnlich ist, aber die Umstände unserer Aktion verlangen das. Ich werde jetzt dazu keine weiteren Einzelheiten mitteilen. Das erfahren Sie Sonntag.“


32


Der nächste Sonntag begann wie seine drei Vorgänger mit einem strahlend blauen Himmel. Bereits seit acht Uhr saß Stoßberg hinter seinem Schreibtisch, in Zivilkleidung und mit steifem Kragen. Um halb neun erschien Detiège und um neun Uhr waren dann auch Stoßbergs Leute versammelt. Bis auf Wachtmeister Thielen sahen alle so aus, als hätten sie sich hier nur zusammen gefunden, um gleich mit der Familie zum Sonntagsspaziergang aufzubrechen.

„Meine Herren“, begrüßte sie der Kommissar, „wir, bis auf Wachtmeister Thielen, der in der Wachstube bleibt, werden jetzt von einem belgischen Militärtransporter zum Hotel ‚Zur Linde’ gebracht. Ich nehme an, jeder kennt das frühere Ausflugslokal.“
Ein Murmeln ging durch die Wartenden.
„Dort werden um elf Uhr mehrere belgische Offiziere und einige euh… leichte Damen aus Köln eintreffen“, fuhr Stoßberg fort. Als sich unter den Wartenden wieder Unruhe breit machte, stoppte er diese mit einer Handbewegung.
„Sie haben“, instruierte er seine Männer, „mit Angehörigen der belgischen Militärpolizei, im Hotel ‚Zur Linde’ für Ruhe und Ordnung zu sorgen und die Ausgänge zu bewachen. Um Sie als Polizeikräfte kenntlich zu machen, werden Ihnen vor Ort Armbinden mit der Aufschrift ‚Police’ übergeben. Irgendwelche Fragen?“
„Warum nicht in unseren Uniformen?“, wollte ein Polizist wissen.
„Weil an dieser Zusammenkunft belgische Offiziere teilnehmen. Sie wollen keine deutsche Uniformen sehen, auch nicht die von Polizisten.“

Die Passanten blieben erstaunt stehen, als vor dem Rathaus Männer in Zivil, in denen so mancher seinen Revierpolizisten erkannte, in belgische Militärfahrzeuge einstiegen und in Richtung Aachen davonfuhren. Wurde nach dem Bürgermeister jetzt auch die ganze Polizeitruppe abgeschoben?


33


Stoßberg zog nervös an der Schleife vor seinem Kinn. Der steife Kragen, um den sie geschlungen war, zwang seinen Hals in eine Beinahe-Unbeweglichkeit. Das war schlimmer als der hohe Kragen seiner Polizeiuniform. In seiner langen Karriere als Polizeikommissar von Eupen waren die Morde an dem Oberleutnant und der Tänzerin seine ersten Morde. Die Toten, die er in den Jahren davor in Augenschein hatte nehmen, manchmal auch sezieren lassen müssen, waren Selbstmörder oder Unfallopfer gewesen. Dass er bis zur endgültigen Klärung dieser beiden Morde wie ein Schauspieler auf einer Bühne vor großem Publikum hinter einem Tisch sitzen würde, daran hätte er nicht mal im Traum gedacht.

In dem ehemaligen Tanz- und Restaurantsaal des Waldhotels, in dem auch das famose Fest der Belgier stattgefunden hatte, saßen an den Tischen die Offiziere und Tänzerinnen, so wie sie damals nach dem Ende der Tanzvorführungen gesessen hatten. Sie waren in dieses Waldhotel gekommen, weil ihnen das befohlen worden war. Den Offizieren von ihrem kommandierenden General, den Tänzerinnen von ihrem Chef.

An einem Tisch, rechts vom Podium, saßen Vater Depolt, Wolfgang und Siegfried Depolt, Hermann-Josef Hausmann und Dombrowsky, der Hotelier.

Stoßberg sah Detiège an, der neben ihm saß.
„Soll ich anfangen?“, fragte er.
„Wenn Sie wollen, aber bitte nicht zu schnell. Ich muss ja schließlich alles übersetzen und ich bin kein gelernter Dolmetscher.“
Stoßberg erhob sich. Sofort war es im Saal totenstill.
„Meine Damen und Herren, Sie sind von unseren Beamten und Militärs…“, begann er und bemühte sich langsam zu sprechen.
Da sprang einer der belgischen Offiziere auf, zeigte auf Stoßberg und rief etwas auf Französisch. Zustimmendes Gemurmel bei den Uniformierten. Daraufhin erhob sich Detiège und redete minutenlang in Französisch. Dann setzte er sich wieder und sagte zu Stoßberg:
„Sie wollten nicht in Deutsch angesprochen werden. Ich habe ihnen erklärt, dass das auf Befehl des Generals geschehe. Sie können weitermachen, Stoßberg.“
Und Stoßberg fuhr fort:
„Sie sind alle, im Zusammenhang mit unseren Recherchen zur Aufklärung der beiden Morde, befragt worden, weil Sie alle eine private, berufliche oder gelegentliche Beziehung zu dem oder der Ermordeten, oder zu beiden, gehabt haben. Wir hoffen, dass jeder von Ihnen alles zu Protokoll gegeben hat, was er weiß“.
Er machte eine Pause, um Detiège die Zeit zu geben, seine Übersetzung des Gesagten ins Französische zu beenden.
„Wir haben Sie hier zusammengerufen, weil wir, bis auf eine Kleinigkeit, alle Teile zusammen haben, um die beiden Morde aufzuklären. Sie sitzen heute, so wie es von uns gewünscht wurde, an den Tischen und mit den Personen zusammen, wie an dem Abend der Tanzvorführungen. Wie ich sehe, haben Sie das nicht vergessen.“
Die Tänzerinnen kicherten und die Offiziere wirkten verlegen.
Während Detiège übersetzte, nestelte Stoßberg an seinem steifen Kragen, um ihn etwas zu lockern.
„Am Morgen des 21. Juli“, fuhr er fort, als Detiège seine Übersetzung beendet hatte, „fanden die Eheleute Gouder am Rande einer ihrer Waldungen an der früheren Straße von Eupen nach Kettenis die nackte Leiche einer jungen Frau. Wir stellten fest, dass sie erwürgt worden war, aber nicht am Fundort. Die Strangulierungseinschnitte rund um den Hals rührten von dünnen Lederriemen her. Ihre Brüste und ihr Bauch wiesen Spuren von Kratzern auf, die ihr nicht von Tieren, sondern von Menschen zugefügt worden waren. Zunächst kannte niemand die Tote. Unsere Recherchen mit Hilfe einer Fotografie der Toten führten aber schnell zu ihrer Identifizierung. In diesem Zusammenhang erhielt Major Detiège einen Hinweis auf ein Fest, welches nahe Aachen mit der Toten als Tänzerin stattgefunden hatte.“

Pause. Detiège übersetzte.

Stoßberg: „Diese Tänzerinnen gehörten zum Kabarett ‚Die Rote Laterne’ und Susanne gehörte zu ihnen. Denn sie trug wie diese anstelle der wegrasierten Schamhaare eine kleine Tätowierung: eine chinesische Laterne. Das wurde mir von einer dieser Tänzerinnen, die mit Herrn Siegfried Depolt eng befreundet war, bei einer Befragung kundgetan. Am Abend des Tages, an dem Susannes Leiche gefunden wurde, war sie im Hause von Siegfried Depolt aufgetreten.“

Einige der Tänzerinnen im Saal kicherten. Doch Stoßberg ließ sich nicht beirren. Er wartete, bis Detiège wieder übersetzt hatte und fuhr dann fort.

„Eine Reise nach Köln brachte weitere Erkenntnisse. Doch davon später. Während meiner Abwesenheit wurde eine weitere Leiche im selben Wald gefunden, diesmal eine männliche. In seinem Rücken steckte ein deutscher Offiziersdolch. Der Tote konnte anhand seines Militärausweises sofort identifiziert werden: Oberleutnant Albert Meurisse. Die Spurensicherung ergab, dass er nicht dort ermordet worden war, wo man ihn gefunden hatte. Vermuteter Todeszeitpunkt: laut Leichenschaubericht etwa vier Tage vor dem Tod der Tänzerin. Dies war zunächst ein Fall für die belgische Militärpolizei, doch stellten Major Detiège und ich uns sofort die Frage, ob beide Morde nicht etwas miteinander zu tun hatten, da die beiden Leichen im selben Wald gefunden worden waren.“

Wieder machte Stoßberg eine Pause, während Detiège das Gesagte übersetzte. Dann fuhr Stoßberg fort:

„Vom Besitzer dieses Hotels, der die beiden Toten anhand der Fotografien wiedererkannt hatte, erfuhren wir, dass der Oberleutnant bei besagtem Fest mit Susanne in Streit geraten war und sie gezwungen hatte, mit ihm das Hotel zu verlassen, in ein Militärauto zu steigen und mit ihm davonzufahren. Hatte Susanne den Oberleutnant erstochen? Das war unsere erste Frage. Doch der Zeuge hatte keine Waffe bei ihr gesehen. Wo hätte sie diese auch verstecken sollen? Sie war ja nackt, als der Oberleutnant sie aus dem Hotel zerrte. Als Täterin also unwahrscheinlich? Möglich. Erst recht, als sich der Zeuge auch noch daran erinnerte, eine weitere nackte Person gesehen zu haben, die plötzlich aus dem Hotel gestürmt und auf den abfahrenden PKW gesprungen sei. Leider hatte er sie nur von hinten gesehen.“

Ein Raunen ging durch den Saal. Dann wieder gespannte Stille. Nur Detiège, der übersetzte, war zu hören, bis Stoßberg seine Erläuterungen fortsetzte.

„Wer war diese Person? Der Zeuge hatte sie nur von hinten gesehen und konnte nicht sagen, ob es eine weibliche oder männliche Person gewesen war. Das warf einige Fragen auf. Warum ist diese Person nackt aus dem Hotel gestürmt und auf den fahrenden Wagen gesprungen? Wer so etwas tut, muss schon einen besonderen Grund haben. Hat diese Person den Oberleutnant mit dem Stilet erstochen? Woher hatte sie dann den deutschen Offiziersdolch, denn ein solcher steckte im Rücken des Ermordeten? Auf der Mordwaffe wurden blutige Fingerabdrücke gefunden und überprüft. Es waren nicht die von Susanne. Von wem dann? Von der dritten Person? Major Detiège und ich beschlossen, dass er die Beziehungsfelder des Ermordeten und ich die der Ermordeten erkunden sollten. Darüber hinaus musste festgestellt werden, wer an besagtem Fest im Waldhotel teilgenommen hatte. Major Detiège erfuhr vom Vater des Oberleutnants, dass Susanne eine Liebesbeziehung mit seinem Sohn gehabt hatte. Sie wollten sogar heiraten. Nachdem sie einige Zeit in seinem Elternhaus gewohnt hatte, war sie eines Morgens verschwunden. Es wurde vermutet, dass sie Belgien mit den ins Deutsche Reich zurück marschierenden deutschen Soldaten verlassen hatte.“

Stoßberg trank einen Schluck Wasser, wartete wieder auf das Ende der Übersetzung und fuhr dann fort.

„Wer war Susanne? Susanne war eine Waise aus einem Eifeldorf. Ihre Eltern und Geschwister waren bei einer Feuersbrunst, die den von den Eltern gepachteten Hof völlig zerstörte, umgekommen. Als sie bei der Familie Depolt vorstellig wurde -ein Bekannter aus ihrem Dorf hatte sie auf die offene Stelle bei der Familie Depolt hingewiesen-, hatte sie Empfehlungsschreiben ihres Dorfpfarrers und des Bürgermeisters bei sich, bei dem sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr als Dienstmädchen gearbeitet hatte. Sie wurde von Frau Depolt sofort eingestellt. Sie war damals achtzehn Jahre alt und eine auffallende Schönheit. Prompt lagen ihr die Männer im Depoltschen Hause zu Füßen. Das stimmt doch, Herr Wolfgang Depolt?“

Stoßberg sah zu den Depolts hinüber. Der Jüngere wurde puterrot im Gesicht und wollte aufspringen. Sein Vater hielt ihn jedoch am Ärmel zurück. Statt auf eine Antwort zu warten, fuhr Stoßberg fort:

„Doch wie ich schon sagte, waren die Herren im Hause Depolt nicht die Einzigen, die Susanne gerne für sich gehabt hätten. Auch Herr Hermann-Josef Hausmann wollte sie haben. Zwei- oder dreimal hatte er das Haus Depolt während eines Heimaturlaubs mit Lebensmitteln beliefert, dabei hatte er sie kennen gelernt. Doch dann verschwand sie, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.“

Stoßberg machte eine erneute Pause und musterte die ihn erwartungsvoll anschauenden Zuhörer. Hermann-Josef Hausmann saß leicht gebeugt auf seinem Stuhl. Es machte ihm, so interpretierte Stoßberg sein Verhalten, sichtlich etwas aus, dass jetzt alle Welt wusste, dass er mit der Ermordeten verlobt gewesen war, die dazu noch, wenn auch nach ihrem Verschwinden, als Nackttänzerin aufgetreten war.

„Hermann-Josef Hausmann, der sich ernsthaft Sorgen um Susanne gemacht und versucht hatte, sie zu finden, erfuhr von Herrn Depolt senior, dass Susanne in einem Feldlazarett als Hilfsschwester arbeitete. Das hatte sie der Familie Depolt in einem Brief mitgeteilt, aber nicht gesagt, in welchem Lazarett und auch nicht, seit wann sie dort tätig war. Herr Hausmann versuchte, sie ausfindig zu machen. Vergebens.“

Stoßberg machte erneut eine Pause, wartete auf das Ende der Übersetzung und sagte: „Wirklich vergebens? Ja, sicherlich. Jedoch der Zufall ließ Herrn Hausmann Susanne wieder finden. Warum haben Sie mir das nicht gesagt, Herr Hausmann?“
Der kroch noch mehr in sich hinein.
„Während das Fest in diesem Hotel in vollem Gange war, musste Herr Hausmann junior eine späte Lieferung von Getränken ins Waldhotel bringen. Dort sah er seine Verlobte wieder. Aber unter welchen Bedingungen. Er sah, wie sie sich vor andern Männern entkleidete und nackt vor ihnen tanzte. Das war ein Schock für ihn, und ein Motiv. Doch, wie der Organisator des Festes bestätigte, verließ Hausmann, nachdem er die Ware abgeliefert hatte, das Hotel gegen viertel nach elf durch die Hintertür, durch die er auch hereingekommen war. Zudem bestätigten seine Eltern, dass er gegen halb zwölf Uhr wieder zu Hause war, ziemlich aufgewühlt, und sofort zu Bett gegangen sei. Er kam also für den Mord an dem Oberleutnant nicht in Frage. Im Übrigen waren seine Fingerabdrücke nicht auf der Mordwaffe. War er dann Susannes Mörder? Ein Motiv hätte er gehabt, wie gesagt. Doch auch hier hatte er ein Alibi. Am 20. Juli hatte er den ganzen Tag im väterlichen Geschäft gearbeitet. Am Abend gegen acht Uhr hatte er die Wohnung von Herrn Siegfried Depolt betreten und ist dort bis zum frühen Morgen geblieben. Alles von Herrn Depolt bestätigt. Herr Hausmann hatte die notwendigen Getränke und Esswaren ins Depoltsche Haus in der Gospertstraße geliefert und dabei erfahren, dass eine Truppe junger Tänzerinnen aus Köln an diesem Abend auftreten würde. Aus Köln. Es könnte sich, so hatte er gedacht, um die gleiche Truppe wie bei den Militärs handeln. Wenn er Glück hatte, war Susanne dabei. Er erreichte, dass Herr Siegfried Depolt, ein enger Freund aus Studientagen, ihn zu dem Abend einlud. Doch die Truppe kam ohne Susanne.“

Stoßberg sah in Richtung der Depolts.

„Doch nicht nur Hausmann begehrte“, sagte Stoßberg, „da gab es noch einen. Nicht wahr, Herr Wolfgang Depolt?“

Wieder drehten alle ihre Köpfe in die Richtung in die Stoßberg blickte.

„Die Befragung der Angestellten des Hauses Depolt durch Major Detiège ergab konkret nichts. Doch mein Kollege schlussfolgerte aus dem Verhalten der Befragten, dass sie wussten, dass Susanne für Wolfgang Depolt mehr war als nur ein Dienstmädchen. Ich beschloss, ihn zu befragen. Als Herr Depolt senior von mir erfuhr, dass sein Sohn Wolfgang, zwar für die Zeit, in der der Oberleutnant ermordet wurde, ein Alibi hatte, sich jedoch geweigert hatte, seinen Aufenthaltsort zum Zeitpunkt der Ermordung Susannes zu nennen, da war für ihn der Moment gekommen, mir reinen Wein einzuschenken. Ich möchte mich hier bei Herrn Depolt senior dafür bedanken, denn das war für unsere Ermittlungen äußerst hilfreich.“

Stoßberg verbeugte sich leicht in Richtung der Depolts.

„Susanne hatte gleichzeitig ein Verhältnis mit Hermann-Josef Hausmann und Wolfgang Depolt! Die Folge: Sie wurde schwanger. Aber von wem? Hausmann oder Depolt? Sie wusste es nicht. Also erklärte sie kurzerhand den Vermögenderen zum Vater: Wolfgang Depolt. Auf Anraten seines Bruders Siegfried gab er ihr Geld, keine geringe Summe, und eine Adresse, wo sie abtreiben konnte. Ein Lazarett, das auf solche Fälle spezialisiert war. Bei Nacht und Nebel verließ Susanne das Depoltsche Haus. Nach der Abtreibung blieb sie in dem Lazarett, wurde Hilfsschwester und lernte den belgischen Oberleutnant Meurisse kennen.“

Stoßberg machte erneut eine Pause und fuhr dann, nachdem Detiège alles übersetzt hatte, fort:

„Hatte sie seit ihrem Verschwinden oder seit dem Eintreffen ihres Briefes bei den Depolts Kontakte mit Wolfgang gehabt? Depolt Vater und Sohn verneinten das. Auch vom Personal hatte seit ihrem nächtlichen Verschwinden keiner mehr Susanne gesehen. Wolfgang Depolt war trotzdem verdächtig. Denn er weigerte sich, zu sagen, wo er in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli gewesen war. Bis ich es von seinen Vater erfuhr. Was Herr Depolt senior mir berichtet hatte, wurde von anderen bestätigt. Damit schied Wolfgang Depolt als Mordverdächtiger im Falle Susanne aus. Zur Zeit der Ermordung des Oberleutnants war Wolfgang Depolt auf Geschäftsreise gewesen. Wenn nicht Hausmann und nicht Depolt, wer hatte dann die beiden Morde begangen?


33


„Meine Damen und Herren, eigentlich könnte jeder, der an dem Fest im Waldhotel teilgenommen hat, den Oberleutnant umgebracht haben. Auch könnte die später ermordete Susanne den Oberleutnant erstochen haben. Allein oder mit Hilfe einer dritten Person. Eine dritte Person wurde, wie ich bereits sagte, von unserem Hauptzeugen beobachtet, als sie auf das Automobil aufsprang, mit dem der Oberleutnant, Susanne auf dem Nebensitz, vom Hotelhof davonfuhr. Was wussten wir von dieser Person? Nichts. Nicht mal, ob sie weiblich oder männlich war, da der Zeuge sie nur von hinten im schwachen Licht einer Laterne gesehen hatte, als sie plötzlich nackt aus dem Hotel herauslief und auf den schon fahrenden Wagen sprang. Wer so etwas tut, sagten wir uns, der muss schon schwerwiegende Gründe haben. Überdies hatte der Zeuge gehört, wie Susanne nach einem Toni gerufen hatte. War dieser Toni die dritte Person?“

Wieder machte Stoßberg eine Pause.

„Bei meinen Recherchen in Köln habe ich auch Susannes Wohnung durchsucht. Ich wollte wissen, ob Susanne eine feste Beziehung hatte. Während die anderen in dem Haus, in dem auch das Kabarett untergebracht war, in Einzel- oder Doppelzimmern wohnten, hatte Susanne eine komplette Mietwohnung am Rhein. Dort fand ich Hinweise auf eine Person, die dort mit Susanne gelebt oder sie zumindest sehr oft besucht haben musste. Der Hausmeister bestätigte meinen Verdacht.“

Stoßberg bückte sich und legte eine Aktentasche auf den Tisch. Unter den gespannten Blicken der Zuhörer zog er das Fotoalbum, das er in Susanne Wohnung gefunden hatte, heraus.

„Dieses Album enthält eine Menge Fotografien. Keine zeigt Susanne, oder genauer, auf keinem dieser Fotografien ist Susannes Gesicht zu sehen. Die letzten vier Seiten sind leer. Jedoch musste vorher etwas auf ihnen geklebt haben. In einem Mülleimer in Susannes Küche fand ich ein halbes Dutzend Fotografien, alle in kleine Stücke zerrissen. Ich legte sie zusammen, wie ein Puzzle und … sah Susanne. Mal alleine, mal mit einer anderen weiblichen Person! Beide nackt. Auf zwei dieser zerrissenen Fotografien waren sie jedoch angezogen: Susanne in einem kurzen Trägerkleid, die andere aber in einem Männeranzug! Auf den Rückseiten der Bilder standen Sätze wie: In großer Liebe, oder; Ich bin dein und du bist mein! Liebesbekundungen also. Warum zerreißt jemand solche Fotografien?“

Erregtes Gemurmel unter den Tänzerinnen, dann, nach der Übersetzung, unter den Offizieren. Stoßberg wartete, bis die Aufregung abgeklungen war.

„Und noch etwas habe ich in dem Mülleimer gefunden“, sagte er und griff wieder in die Aktentasche. Er zog mehrere dünne Lederriemen heraus, zeigte sie dem Publikum und legte sie auf den Tisch.

„Mit diesen Riemen wurde Susanne gefesselt und erdrosselt. Höchstwahrscheinlich in ihrem Bett, auf dem ich kleine Blutflecken festgestellt habe, sowie schwarze kurze und lange blonde Haare.“

Wieder machte Stoßberg eine Pause. Totenstille im Saal.

„Ich stellte mir die Frage, die Sie sich sicherlich auch jetzt stellen: Wer ist die Frau, die, eng umschlungen mit Susanne und im Herrenanzug, auf den Fotografien zu sehen ist?“


34


Stoßberg sagte etwas zu Major Detiège. Beide verließen die Bühne. Stoßberg gab Oberwachtmeister Willems ein Zeichen. Die Stille im Saal wurde bleiern. Gefolgt vom Major und dem Oberwachtmeister, ging Stoßberg auf den Tisch zu, an dem Antonia Kleebank mit dem belgischen Offizier saß, mit dem sie in der Mordnacht Geschlechtsverkehr gehabt hatte.

Auf Französisch fragte Major Detiège den Hauptmann, ob im Saal die Tänzerin anwesend wäre, die damals plötzlich aus dem Zimmer gerannt sei, in dem er mit ihr…er wisse schon… Der Hauptmann zeigte auf die plötzlich leichenblass werdende Antonia Kleebank.

„Ja“, sagte Stoßberg mit Bestimmtheit, „sie waren die Nackte, die auf den anfahrenden Wagen gesprungen ist. Den Dolch hatten Sie bei sich. Sie hatten ihn dem Offizier gestohlen, mit dem Sie gerade im Bett lagen, als Susanne verzweifelt nach einem Toni rief. Dieser herbeigerufene Toni war aber kein Mann. Sie sind Toni, Sie die Geliebte Susannes auf den Fotografien. Antonia, Toni. So ließen Sie sich von Ihrer Geliebten nennen. Zusammen mit ihr haben Sie sicher versucht, den Chauffeur am weiterfahren zu hindern. Als das nicht gelang, haben Sie ihn erstochen.“
„Das müssen Sie beweisen“.
„Das kann ich. Auf dem Dolchgriff sind im getrockneten Blut Ihre Fingerabdrücke konserviert.“
Stoßberg legte die von ihm im Mülleimer gefundenen und später wieder zusammengeklebten Fotografien und das Stilet vor der Verdächtigten auf den Tisch.
„Auf einer der Fotografien steht etwas, was ich noch nicht erwähnt habe: `Wir lieben uns – Susanne und Toni`. Jede von ihnen hatte zwar ein Zimmer über der ‚Roten Laterne’, aber nur, um fremde Herren oder Frauen zu empfangen. In der Wohnung Rheinstraße 4 fand ich neben weiblicher auch männliche Kleidung, sowie Parfums und Schminksachen immer in doppelter Ausführung. Sie liebten es, sich in Männerkleidung in der Öffentlichkeit zu zeigen. Leider haben sie für diesen Zweck zu große Brüste. Doch ein Brusttuch hilft, sie einigermaßen flach zu halten. Solche Tücher habe ich ebenfalls in der Wohnung gefunden. Vom Hausmeister erfuhr ich, dass diese Wohnung von einem Ehepaar gemietet worden war. Den Mann habe er aber nur ein- oder zweimal gesehen. Er fand ihn ziemlich weibisch.“

Erneutes Raunen im Saal. Plötzlich sprang Antonia auf.

„Jawohl“, rief sie, „ich habe Susanne geliebt. Ich war verrückt nach ihr. Ist das ein Verbrechen? Ja, ich habe den Oberleutnant, dieses Schwein, erstochen, aber in Notwehr. Er wollte sie umbringen.“ Dann sackte sie wieder zurück auf ihren Stuhl.
„Notwehr?“ fragte Stoßberg.
Antonia sah ihn direkt an.
„Jawohl, Herr Kommissar, Notwehr. Der mir unbekannte Mann und auch Susanne hatten nicht bemerkt, dass ich auf den anfahrenden Wagen gesprungen war. Während der ganzen Fahrt stritten die beiden heftig miteinander. Plötzlich brachte der Fahrer das Auto zum Stehen und griff mit einer Hand in Susannes Haare. Er versuchte, ihren Kopf an sein Gesicht heranzuziehen. Er wollte sie küssen. Als ihm das nicht gelang, ließ er genau so plötzlich Susannes Kopf wieder los, krallte stattdessen seine Finger in ihre nackten Schultern und drückte ihren Oberkörper gegen die Beifahrertüre, so dass ihr Kopf über den Türrand nach draußen hing. ‚Hure’, schrie er dabei. Susanne versuchte, sich von seinem drückenden Gewicht zu befreien. Für einen Moment gelang ihr das auch. Doch dann packten seine Hände ihren Hals, als sei es ein Stück Rohr. Der bringt sie um, dachte ich. Da habe ich ihm den Dolch, den ich die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, in den Rücken gestoßen. Zweimal.“

„Sie haben also Susannes Leben gerettet“, bemerkte Stoßberg mit leicht ironischem Unterton, „warum haben Sie es dann eine Woche später selber ausgelöscht?“

Antonia gab keine Antwort.

„Ich werde es Ihnen sagen. Ihre Freundin wollte Sie verlassen. Ich habe nämlich nicht nur die Fotografien gefunden und die Riemen, mit denen Susanne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ans Bett gefesselt und erdrosselt wurde. Auch Susannes Tagebuch, Schulhefte, denen sie ihre geheimsten Gedanken anvertraut hat, habe ich gefunden. Nicht in der Wohnung, sondern in Susannes Zimmer im Kabarett. Und darin stand unter dem Datum vom Vortag ihrer Ermordung, dass sie sich entschlossen habe, ein neues Leben anzufangen, ohne Antonia. Und das wollte sie Ihnen am nächsten Tag gestehen. Ich gehe davon aus, dass sie das auch getan hat.“

Während Stoßberg sprach, saß Antonia auf ihrem Stuhl und sah an Stoßberg vorbei, so als gehe sie das alles nichts mehr an.

„Und in dem Heft steht auch noch manches andere“, sagte Stoßberg und sah dabei zu dem Tisch, an dem die Depolts und Hausmanns saßen, „dass sie, Susanne, während sie im Hause Depolt arbeitete und lebte, schwanger geworden war. Von wem konnte sie nicht sagen, denn sie schlief mal mit Wolfgang Depolt, mal mit Hermann-Josef Hausmann. So schreibt sie: ‚Ich schlafe mit beiden, aber ich liebe weder den einen noch den anderen’, später, ‚Ich habe Wolfgang gesagt, dass ich von ihm schwanger sei, trotzdem auch Hermann-Josef der Vater sein kann. Doch Wolfgang ist reicher’. Wieder etwas später notiert sie in ihr Tagebuch: ‚Wolfgang hat mir Geld gegeben, ziemlich viel Geld, und von seinem Bruder hat er mir eine spezielle Adresse gegeben, ein Lazarett in Belgien, für Frauen, die von Feinden schwanger geworden sind. Ich werde dahin verschwinden. Von Wolfgangs Geld kann ich einige Zeit leben.’

Siegfried Depolt war also eingeweiht gewesen. Später schrieb sie an Wolfgang, dass sie in einer erbärmlichen Lage sei und bat um Geld. Doch er reagierte nicht. Darum wandte sie sich schriftlich an Herrn Depolt Senior. So erfuhr das Oberhaupt der Familie Depolt von der ganzen Angelegenheit. Natürlich forderte sie von ihm Geld und bot dafür ihr Schweigen an. Er war bereit, zu zahlen. Doch dann wurde ihre Leiche gefunden.“
„Ich habe sie nicht umgebracht“, murmelte Antonia.
„Doch das haben Sie. In dem Tagebuch schreibt Susanne, dass sie beide gerne als Mann und Frau die einschlägigen Lokale besuchten. Sie beschreibt auch ihre etwas außergewöhnlichen sexuellen Vorlieben.“
Antonia schwieg. Stoßberg holte Susannes Tagebuch aus der Aktentasche.
„Und noch etwas steht hier“, sagte er und tippte mit dem Zeigefinger auf eine aufgeschlagene Seite, „’ich werde alles der Polizei erzählen. Ich kann nicht mit einer Mörderin zusammenleben und so tun, als sei nichts geschehen. Ich liebe sie nicht mehr. Ich habe Angst vor ihr. Ich werde ihr das alles sagen’. Hat sie Ihnen alles gesagt?“
Antonia hob den Kopf. Ihre Augen waren feucht.
„Ja“.
„Wann?“
„Am Morgen vor unserem Auftritt bei Siegfried Depolt.“
Stoßberg spürte, dass sie bereit war, zu reden.
„Erzählen Sie“, sagte er.
Und sie erzählte. Zunächst stockend, doch dann brach es aus ihr heraus, so als könne sie sich damit einer schweren Last entledigen.

„Susanne war meine große Liebe. Doch sie wollte zunächst von Liebe zwischen uns nichts wissen: Liebe zwischen Frauen sei doch abartig. Doch dann, bei unserer ersten Lesbenschau im Kabarett ‚Rote Laterne’, geschah es. Aus dem, was nur Schau sein sollte, wurde ein wirklicher Liebesakt zwischen Susanne und mir. Das Publikum raste und ich, ich war glücklich. Und so ging es dann fast jede Nacht. Aber nicht nur nachts und nicht nur auf der Bühne. Schließlich mieteten wir eine gemeinsame Wohnung in der Stadt. Ich gab mich dabei als ihr Gatte aus. Sie haben Recht Herr Kommissar, ich liebte es, Männerkleidung anzuziehen, mich Toni nennen zu lassen und durch die Stadt mit Susanne wie ein verliebtes Ehepaar zu gehen. Es war eine schöne Zeit, Herr Kommissar.“
„Und warum haben Sie sie denn getötet?“, fragte Stoßberg.
„Sie haben es doch in Susannes Tagebuch gelesen. Weil sie mich verlassen, schlimmer noch, weil sie mich bei der Polizei anzeigen wollte, als wäre ich eine gewöhnliche Verbrecherin. Was da in dem Automobil geschehen war, das müsse sie erst verkraften, erklärte sie mir immer wieder. Am Morgen vor dem Auftritt bei Siegfried Depolt, wir lagen noch im Bett, sagte sie: ‚Dieser Morgen ist unser letzter gemeinsamer Morgen. Ich werde dich heute verlassen und zur Polizei gehen’. Ich war erschrocken. Zuerst glaubte ich nicht, dass es ihr ernst war. Doch es war so. Da habe ich sie angefleht, bei mir zu bleiben, nicht zur Polizei zu gehen. Ich hatte es doch für sie getan. Als ich feststellte, dass meine Worte nicht den gewünschten Erfolg hatten, begann ich, sie zu streicheln und zu küssen. Nach diesen meinen Händen und meinem Mund war ihr ganzer Körper immer süchtig gewesen. Wenn sie jetzt meine zärtlichen Berührungen annahm, ihnen entgegen kam und nach mehr verlangte, war nicht alle Hoffung vergebens. Doch sie lag da, wie eine Magd, die, aus Angst ihre Stellung zu verlieren, sich vom Hausherrn begrapschen lässt und nur darauf wartet, dass es bald zu Ende ist. Da wurde ich wütend. Ich lief aus dem Zimmer.“


35


„Und was geschah dann?“, fragte Stoßberg.
Im Saal rührte sich keiner. Man hätte es gehört, wenn eine Stecknadel gefallen wäre.
Antonia hob den Blick. Ihre Augen waren feucht.
„Ich bin mit den Lederriemen, die Sie, Herr Kommissar im Mülleimer gefunden haben, zurückgekommen. Nein, nicht um sie umzubringen. Es war für mich das letzte Mittel, sie wieder an mich zu binden“, ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, „denn sie war von dieser Art Liebesspiel wie besessen. Als ich ihre Beine und Arme spreizte, um sie an die Enden des Bettes zu binden, sagte ich zu ihr: ‚Das gefällt dir, nicht wahr? Wenn du mich verlässt, wer wird dich dann so fesselnd lieben wie ich?’. Sie erwiderte nichts. Ich stürzte mich auf sie und begann das Spiel mit ihrem Körper. Ich küsste, streichelte und leckte sie. Und meine Lust vermischte sich mit der Wut darüber, dass Susanne mich verlassen wollte. Ich biss und krallte meine Fingernägel in ihre Brüste, ihren Bauch…“
„Einzelheiten sind nicht nötig, Fräulein Kleebank“, unterbrach Stoßberg den Erzählfluss.
„Wie Sie wollen, Herr Kommissar.“
Antonia betrachtete ihre Hände, die auf dem Tisch lagen.
“Ich hatte nie die Absicht gehabt, Susanne zu töten. Das müssen Sie mir glauben. Noch weniger, als sie da gefesselt, vor Lust stöhnend und sich aufbäumend im Bett lag, während ich mit ihrem Körper machen konnte, was ich wollte. Ich beherrschte sie. Wie früher. Ich war davon überzeugt, dass sie den Gedanken, mich zu verlassen, aufgeben würde. Doch ich irrte mich. Als sie, nachdem sie mehrmals gekommen war, erschlafft und lächelnd, glücklich lächelnd, so dachte ich, in den Riemen hing, fragte ich sie: ‚War das nicht schön?’. Statt einer Antwort, schloss sie die Augen und nickte. ‚Willst du mich immer noch verlassen?’, fragte ich sie.“
Sie öffnete die Augen, sah mich an und sagte: ‚Toni, das was du jetzt mit mir gemacht hast, war schön, ich habe es genossen und wenn du mich jetzt losbindest, werde ich mit dir das Gleiche tun und dir Lust bereiten. Doch seit besagter Nacht ist in mir etwas zerbrochen: Meine Liebe zu dir. Es ist nur noch Lust. Doch plötzlich sind deine Hände, die über meinen Körper gleiten, dieselben Hände, die einen Menschen umgebracht haben. Mörderhände. Ich muss immer daran denken. Auch wenn die Lust, die mir diese Hände bereiten, diesen Gedanken manchmal verdrängen. Sie löschen ihn aber nicht aus. Darum bitte ich dich, gib mich frei, lass mich gehen.’
‚Damit du sofort zur Polizei rennst’, erwiderte ich.
‚Nein, ich gehe nicht zur Polizei. Ich verschwinde einfach irgendwohin.’, antwortete sie.
Ich glaubte ihr nicht. Ich betrachtete ihr schönes, erhitztes Gesicht, ihren perfekten Körper, die kleinen Kratzer auf Bauch und Brüste und fühlte, wie der Gedanke, diese Schönheit nicht mehr bei mir zu haben, nicht mehr mit den Händen fassen, mit Zunge und Lippen erfahren zu können, mir Schmerzen bereitete. Der Körper, der da gefesselt auf dem Bett lag, gehörte mir, keinem, keiner anderen.
‚Du willst mich also verlassen? Für immer?’, fragte ich sie und sprach von den vielen schönen gemeinsamen Stunden, in der Hoffnung, dass sie ihren Vorsatz doch noch aufgab. Sie tat es nicht.
Einer der Riemen, die ich mitgebracht hatte, lag neben ihrem Kopf. Hastig griff ich danach und ehe sie wusste, was ich wollte, hatte ich mich rittlings auf ihren Bauch gesetzt und ihr den Riemen um den Hals geschlungen. Ein letzter Versuch: ‚Du willst mich also wirklich verlassen?’, fragte ich sie eindringlich. ‚Ich kann nicht anders’, war ihre Antwort.
Da habe ich die Schlinge zugezogen.“

Antonia versteckte ihr Gesicht hinter ihren Händen. Die Stille im Saal war bleiern. Nur Antonias leises Schluchzen war zu hören. Stoßberg ließ ihr Zeit, bevor er seine letzte Frage stellte: „Wie haben Sie Susannes Leiche von Köln nach hier gebracht?“
Antonia hob das Gesicht aus ihren Händen und sah Stoßberg verständnislos an:
„Können Sie sich das nicht denken, Herr Kommissar? In meinem Überseekoffer. Darin transportierte ich immer Susannes und meine Sachen zu den Auftritten außerhalb des Kabaretts. Ich legte also die tote Susanne hinein und deckte sie mit unseren Kostümen und Kleidern zu. Der Hausmeister und einige meiner Kolleginnen halfen mir, den Koffer von der Wohnung durchs Haus zu tragen und auf den Wagen zu hieven. Später, in Eupen angekommen, während meine Kolleginnen bei Siegfried Depolt ausstiegen, gab ich an, noch einen Besuch machen zu müssen und fuhr mit dem Wagen und meinem Koffer zu dem Wäldchen, in dem Susanne und ich den Belgier eine Woche vorher abgelegt hatten. Es war bereits dunkel. Niemand war auf der alten Landstraße zu sehen. Nachdem ich Susanne aus dem Koffer gehoben hatte, hatte ich keine Kraft mehr, sie in den Wald zu tragen. Ich ließ sie einfach am Straßenrand liegen.“

„Oberwachtmeister Willems, walten Sie Ihres Amtes“, befahl Stoßberg.


36


Einige Tage später erhielt Kommissar Stoßberg von Detiège eine Einladung zu einem Treffen in der Rathausschenke.
„Tja, Herr Stoßberg“, sagte Detiège, nachdem sie sich zunächst begrüßt, dann schweigend ihre Biergläser zur Hälfte geleert hatten, „ich werde in den nächsten Tagen Eupen verlassen. Man hat mich versetzt. Irgendwo nach Flandern. Warum, weiß ich nicht. Beim Militär werden dafür keine Begründungen mitgeteilt. Aber, das wissen Sie ja selbst, denn beim deutschen Militär wird es wohl nicht anders sein.“
„Stimmt. Das ist, glaube ich, bei allen Armeen so“, antwortete Stoßberg.
„Jedenfalls möchte ich mich nochmals für ihre loyale Mitarbeit bedanken.“
Stoßberg wollte ihn unterbrechen.
„…Ja, ja, ich weiß, die Riemen, die Fotografien im Mülleimer, die Flecken auf den Bettlaken, die sie mir vorenthalten haben. Vergessen Sie’s. Hoffen wir, dass irgendwann für alle in diesem Landstrich die Zusammenarbeit, wie die unsere, die Gegnerschaft ersetzen wird. Es muss ja nicht unbedingt Liebe sein.“
„Liebe, das wird es wohl nie. Aber Zusammenarbeit, warum nicht.“
„Und noch etwas, Herr Kollege, in den nächsten Tagen erhalten Sie und ihre Leute neue Uniformen. Belgische.“
Hoffentlich sind sie luftiger und leichter als die preußischen, dachte Stoßberg.

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Tag der Veröffentlichung: 04.01.2009

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