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Ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht. Helena wurde verfolgt. Panisch lief sie durch die dunklen Gassen der Stadt. Eine Stadt konnte so ruhig sein, wenn man nach Geräuschen suchte. Sie drehte hektisch den Kopf, sah schon wieder einen Schatten. Er verschwand hinter einem Haus und Helena atmete auf. Vielleicht hatte er es doch nicht auf sie abgesehen und sie hatte sich alles nur eingebildet.
Sie war auf dem Heimweg gewesen, dann hatte sie plötzlich diese Schritte gehört. Zuerst hatte sie an Lea gedacht, die sie manchmal gerne erschreckte, wenn sie nach dem Tennistraining doch nochmal Helenas Weg kreuzte. Das kam nicht oft vor, doch Helena hätte es nicht gewundert.
Aber das hier war anders. Die Schritte klangen lauter, männlicher. Helena hatte es sofort erkannt. Und dann war da dieses Keuchen. Als ob dieser Typ sie schon durch die halbe Stadt gehetzt hätte. Da, schon wieder.
Helena lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Gruseliger ging es ja bald nicht mehr.
Oder war es vielleicht doch Lea? Stand die nicht seit neustem so auf Horrorfilme? Nein! Hör auf dir so etwas einzureden, dachte Helena.
Ihre beste Freundin konnte sich weiß Gott bessere Scherze einfallen lassen.
Langsam blieb Helena stehen und drehte sich um. Die Stadt war so still. Nirgends ein Geräusch. Die Häuser standen ruhig da, genauso ruhig wie immer. Dort hinten war das Haus, das aussah, als wäre es in Rotwein gefallen. Und dann dort drüben das Haus, in dem eine gute Freundin von ihr wohnte. Sollte sie dort hingehen und klingeln? Aber was sollte sie sagen? Hilfe, ein unbekannter Mann verfolgt mich aber ich kann ihn nicht sehen?
Nein, sie würde sich lächerlich machen.
Noch einmal blickte Helena in alle Richtungen, um sie zu vergewissern, dass da wirklich niemand mehr war. Dann zwang sie sich in normalem Tempo weiterzulaufen.
Doch bevor sie sich wirklich freuen konnte, hörte sie die Schritte schon wieder. Jetzt fing sie wirklich an zu rennen. Er wollte sie. Sie konnte es spüren. Ein kalter Schauer jagte ihr über den Rücken und sie zog schnell den Reißverschluss ihres Wintermantels ganz nach oben.
„Helena“, rief eine Stimme nah neben ihrem Ohr. Es war keine laute Stimme, eher ein stimmloses Murmeln. Doch sie verstand es ganz genau.
Dann fiel ihr plötzlich ein, dass diese Stimme gerade ihren Namen gesagt hatte. Woher wusste die Stimme wie sie hieß?
Die Schritte kamen näher, wurden lauter. Helena schrie.
Sie spürte den heißen Atem ihres Verfolgers an ihrem Ohr. Dann wurde sie von hinten gepackt und zu Boden geworfen. Ihr Kopf schlug hart auf.
Helena schrie und trat um sich, doch es half alles nichts. Gegen die beiden Hände, die ihre Armen gegen den Boden drückten, konnte sie nichts ausrichten. Sie war viel zu schwach.
Ihr Verfolger zerriss ihre Jacke und ihr Shirt, bis ihr Bauch zu sehen war. Er legte seine Hand auf ihren Bauch. Mit großem Entsetzen musste Helena mit ansehen, wie ihre Haut verschwand und grünes Gift in sie eindrang. Sie schrie, denn jede einzelne Faser ihres Körpers sträubte sich entsetzlich gegen das Gift.
Doch sie schrie umsonst. Langsam spürte sie, wie die Kraft aus ihrem Körper wich. Irgendwann konnte sie nicht einmal mehr schreien. Das war alles zu viel für sie.
Nach ein paar Minuten Hilfslosigkeit war sie erlöst und verlor das Bewusstsein.
Da lag sie, hilflos jenem Monster ausgeliefert, das gleich ihr Leben verändern würde.

***

Er hatte sie. Endlich. Glücksgefühle durchströmten ihn, denn er dachte, er habe sie schon verloren. Er zerriss ihre Jacke und ihr Shirt und legt seine Hände auf ihren Bauch. Er sah genüsslich zu, wie das Gift ihre Haut förmlich wegätzte und in ihren zierlichen Körper eindrang. Ihre Augen wurden farblos grau, ihr Blick starr und leer. Dann hatte das Gift ihren Körper ausgefüllt und ihre Augen leuchteten wieder. Sie hatten die Farbe gewechselt – von dunkelbraun zu giftgrün. Jetzt war sie eine Amada.
Zufrieden bettete er den Körper am Straßenrand in einen Streifen Gras und sah sie sich genauer an. Bis auf ein paar Makel, die nur er als Makel sah, gefiel sie ihm. Ihr schwarzes Haar fand er viel zu kurz. Mit einer kurzen Bewegung seiner Hände verlängerte er es, bis es ihr bis zur Hüfte reichte. Jetzt kamen auch ihre Locken zur Geltung. Außerdem befreite er sie von den lästigen Pickeln. Er wusste, wie nervig die sein konnten. Sie hatte von Natur aus leicht spitze Ohren, weshalb er hier nichts mehr verändern wollte. Seine Kraft schwand und er spürte, dass er sich beeilen musste. Er zog nur noch ein wenig Bräune aus ihrer Haut, dann war er fertig.
Schließlich betrachtete er sein Werk. Sie war perfekt – mal wieder. Genau deswegen hatte Orélie ihn ausgesandt.
Er wollte schon gehen, da fiel ihm noch etwas ein. Schnell steckte er ihr den Ring an den linken Mittelfinger und sah kurz dabei zu, wie er mit ihrer Haut verschmolz. Fast hätte er ihn vergessen. Nicht auszudenken, was das für Folgen gehabt hätte.
Er sah in den dunklen Stein des Ringes. Er merkte, wie sein Körper leichter wurde und sich langsam auflöste.
Er würde sie erwarten, um ihr den Weg zu zeigen. Sie würde zu ihm kommen. Bald.

***

Als Helena aufwachte, fühlte sie sich schrecklich. Ihr Körper schien wieder zu brennen. Sie schrie vor Schmerz, so lange bis sie keine Luft mehr bekam. Sie wälzte sich auf dem Boden, doch es wurde einfach nicht besser.
„MACH DAS ES AUFHÖRT“, schrie sie. Sie fühlte sich so klein und völlig hilflos. Eine alte Dame lief an ihr vorbei und Helena schrie sie an. Sagte, dass sie das Feuer löschen soll.
Doch die Frau lief einfach weiter, als würde sie das Geschrei nicht hören. Was war los mit ihr? Vorsichtig setzte sie sich auf, ignorierte die Schmerzen und lief, bis sie zu einem Schaufenster kam. Dort betrachtete sie sich zum ersten Mal.
Sie sah ein kleines Mädchen mit hüftlangen Haaren und Locken. Ihre Haut war blass, ihre Jacke und ihr Shirt völlig zerrissen und um ihren Bauchnabel schlängelte sich ein kompliziertes Tattoo.
Das konnte nicht ich sein! Völlig verstört blickte Helena nach unten und entdecke tatsächlich ein Tattoo. Jetzt konnte sie spüren, dass daher das schreckliche Brennen kam. Leise atmete sie aus, denn sie konnte ebenso spüren, dass es langsam schwächer wurde.
Geschockt betrachtete sie weiter ihren total blassen Körper. Wohin war ihre Bräune plötzlich verschwunden? Oder sah sie nur im Licht der Straßenlaternen so blass aus?
Da fiel ihr der Ring auf. Es war ein breiter, glänzender Goldring mit einem riesigen Smaragd. Helena versuchte ihn auszuziehen, doch es gelang ihr nicht. Egal wie viel Kraft sie auch aufwendete, der Ring bewegte sich nicht einen Millimeter.
Sie sah sich den Ring genauer an. Der riesige Smaragd erstreckte sich über die gesamte Oberfläche. Helena wollte ihn berühren, doch … -
Ihr Körper wurde leicht, löste sich auf. Sie schwebte.

***

Helena schlug hart auf dem Boden auf. In ihrem Kopf drehte sich alles. Langsam öffnete sie die Augen und versuchte, ihren Kopf zu drehen. Trotz einem leichten Klopfen im Hinterkopf war es möglich. Sie lag in einem großen Schlafzimmer auf dem warmen Holzboden. Die Wände waren aus Stein, eine Wand war komplett verspiegelt. Sie stand auf und betrachtete sich langsam.
Geschockt musste sie feststellen, dass sie nackt war. Ihre Haut war hellgrün, ihre Augen auch. Ihr langes Haar war sorgfältig zu einem Dutt zusammen gesteckt worden, nur ein paar Stränen hingen heraus. Ihre Ohren waren total spitz und an den Ohrläppchen hingen Ohrringe – Smaragde. Ihre Füße stecken in braunen Lederschuhen, die wie Mokassins gemacht waren. Sie fühlten sich eigentlich ganz bequem an. Und dieses verflixte Tattoo war immer noch da! Wer war das da in dem Spiegel? Das konnte nicht sie sein! Niemals!
Von dem Dunkel der Stadt war sie urplötzlich in einen von Morgensonne erstrahlten Raum gekommen. Und das ohne zu wissen wie.
Wie konnte das sein? Wo war sie?
Als sie Schritte vor der Tür hörte, suchte sie panisch etwas zum anziehen. Doch in dem Raum waren weder Kleider, noch war das Bett bezogen. Also nicht einmal eine Decke, hinter der sie sich hätte verstecken können.
In ihrer Not setzte sie sich auf den Boden, zog die Beine an und umschlang sie mit ihren Armen.


Keine Sekunde später öffnete sich die Tür und ein Mann betrat den Raum. Er sah Helenas Spiegelbild sehr ähnlich, nur hatte er Kleider an. Allerdings auch nicht sehr viele. Er trug schwarze Lederschuhe und eine Fellhose. Sein Oberkörper war nackt und glänzte im Licht der aufgehenden Sonne. Auf seinem Rücken hatte er ein riesiges Paar pinke Flügel.
Hilfe, Flügel? Und dann noch farbig? Was ging hier vor sich?
„Soléa“, sagte er, „endlich bist du angereist. Ich dachte schon, du kommst nicht mehr. Aber entschuldige, ich vergaß – hier sind deine Kleider.“
Er warf Helena einen Stapel Klamotten hin und drehte sich um. Helena wunderte sich über den komischen Namen, doch sie dachte nicht weiter darüber nach. Schließlich war außer ihnen keiner im Raum und er konnte somit nur sie gemeint haben.
Ängstlich nahm sie den Stapel auseinander und ließ den Mann dabei nicht aus den Augen. Eine Unterhose und ein gelb-orangenes Wollkleid. Mehr hatte sie nicht. Schnell zog sie sich die Sachen über. Erst beim Anziehen fielen ihr die beiden Löcher auf der Rückseite des Kleides auf. Für was sollten die denn sein?
„Ich helfe dir“, sagte der Mann, als ob er ihre Gedanken lesen konnte.
Helena wollte etwas erwidern (denn ihr Oberkörper war immer noch nackt und sie hatte keinen BH), doch der Mann ließ sich nicht beirren, kam auf sie zu und nahm ihr das Kleid aus der Hand.
Seine Berührung war Helena unangenehm und sie zuckte unwillkürlich zusammen.
„Ruhig, Soléa“, sagte er, „ich tue dir nichts. Aber deine Flügel müssen richtig entfaltet werden, Liebstes.“
Ihre Flügel?! Helena traute ihren Ohren nicht. Doch als sie in den Spiegel blickte, war der Mann wirklich gerade dabei, ein paar durchsichtige Flügel von Helenas Rücken zu nehmen und sie durch die Löcher in ihrem Kleid zu stecken. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und kniff sich in den Arm.
Doch kein Zweifel, sie war wach.
„Soléa, still...“, murmelte der Mann.

***

Adonis sah die Angst in ihren Augen. Angst vor ihm, Angst vor ihrer Gestalt. Erst die Gewohnheit würde ihr diese Angst nehmen.
Sie stieß Adonis von sich und sah ihn herausfordernd an.
„Was haben sie mit mir gemacht? Wer bin ich? WO bin ich? Und warum nennen sie mich immer Soléa?!“
Ihre Stimme zitterte. Adonis fand sie so süß, wenn sie aufgeregt war. Er wollte sie berühren, ihr samtiges Haar zwischen seinen Fingern spüren. Aber er wusste genau, sie würde das nie zulassen. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. Doch er wollte ihr diese Angst vor ihm schleunigst nehmen, sie machte ihn wahnsinnig damit.
„Du bist Soléa, Liebes. Soléa bedeutet Sonne. Und du bist die Sonne für dieses Land und für mich“, antwortete Adonis ihr, „du musst dieses Land retten. Und zwar sobald du alle Fragen gestellt hast. Deshalb fang bitte sofort an.“
„Wo bin ich?“, fragte sie sofort.
„Du bist in Del Apólika, dem Land der vier Reiche.“
„Wie bin ich hierher gekommen?“
„Du hast in den Ring gesehen, vermute ich.“
Ungläubig blickte Helena Adonis an.
„Dann ist der Ring so etwas wie ein...Teleporter?“
„Ich weiß zwar nicht, was das ist, aber ich schätze ja.“
„Wer sind sie?“
Eigentlich wollte er ihr diese Frage nicht beantworten, schließlich wollte er ihr die Angst nehmen und sie nicht noch ängstlicher machen. Aber er hatte einen Schwur abgegeben, ihr alle Fragen zu beantworten. Er musste es ihr sagen.
„Ich bin Adonis Crepolné, dein Meister, dein Erschaffer, dein Mann. Bald zumindest.“
Leise atmete Adonis auf. Er hätte es ihr nicht sagen sollen. In Helenas Gesicht wich die Angst einer großen Portion Wut. Ein falsches Wort und sie würde ihm die nächstgelegene Vase an den Kopf werfen. Unauffällig versuchte Adonis, sich vor ein besonders altes Exemplar zu stellen. Orélie fände es nicht gut, wenn sie kaputt gehen würde.
„Mein Mann?? Mein Erschaffer?? Für was halten sie sich denn? Für den Frauenheld hoch drei? Ich hasse sie, und ich hasse, was sie aus mir gemacht haben! Sehen sie mich doch an! Ich bin ein totaler Freak!“
Helena weinte fast. Sie wollte das alles nicht mehr, wollte nach Hause. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so danach gesehnt, ihren Vater zu sehen.
„Soléa, nein. Weine nicht. Du bist kein...Freak. Du bist eine Amada, ein Menschenkind. Und du bist wunderschön.“
Adonis versuchte, diesen Satz so glaubwürdig wie möglich rüberzubringen. Doch es gelang ihm nicht, obwohl er es ernster meinte denn je.
„Wunderschön? Was verstehen sie bitte unter wunderschön? Grüne Haut und eine Frisur aus dem 18. Jahrhundert?“
Helena war außer sich. Im Sprechen hatte sie wütend die Hände erhoben, jetzt tobte ein kleiner Sturm mitten im Raum.
„Stopp!“, rief Adonis und hob reflexartig die Hände. Der Sturm stoppte in letzter Sekunde und eine alte Vase schwankte bedrohlich an der Kante eines Schränkchens. Schnell stellte Adonis die Vase an ihren Platz zurück.
„Du musst vorsichtig sein“, sagte er, „du bist jetzt eine Luftbändigerin. Aber es ist wohl besser, wenn ich dir die ganze Geschichte erzähle.“
„Ja, das glaube ich auch“, sagte Helena stirnrunzelnd. Langsam und darauf bedacht, ihre Hände nicht zu bewegen, ließ sie sich auf das Bett sinken und sah Adonis herausfordernd an.

***

„Es begab sich zu einer Zeit, als alle Reiche noch friedlich miteinander umgingen“, begann Adonis zögernd.
„Welche Reiche gibt es denn in Del Apólika?“, unterbrach Helena ihn.
„Es gibt vier Reiche. Ein Reich der Elfen, ein Reich der Dryaden, ein Reich der Undinen und ein Reich der Hippogreifen. Aber bitte unterbrich mich nicht zu oft, die Geschichte ist sehr lang.“
„Tut mir leid, ich bin nur neugierig.“
„Da ereignete sich eine ungewöhnliche Liebesgeschichte.“, setzte Adonis seine Erzählung fort, „Eine Dryade, ein Lichtwesen, verliebte sich in den König der Hippogreifen, ein Dunkelwesen. Es war ein Skandal, doch keiner tat etwas dagegen.
Außer König Avignon, der damalige König der Dryaden. Er verbat dem Freund seiner Schwester, das Reich noch einmal zu betreten.
Seine Schwester war daraufhin so wütend, dass sie das Reich verließ und verbannt wurde. Doch weil sie ihren Baum nie wieder sehen konnte, nahm sie sich eines Tages vor lauter Sehnsucht das Leben.“
„Ihren Baum? Wie jetzt? Ich meine...sie starb weil sie ihren Baum so vermisst hat?“
Ungläubig und belustigt sah Helena Adonis an.
„Ja. Dryaden sind Baumgeister. Jede von ihnen ist seit der Geburt an einen Baum gebunden. Wird dieser Baum verletzt oder getötet, passiert der Dryade das Selbe. Oder wenn sie den Baum nicht mehr sehen können, haben sie schreckliche Sehnsucht.
König Avignon wollte seine Schwester aber nicht rächen, weil er fand, jetzt hätte jeder seine Lektion dabei gelernt.
Doch die Hippogreifen zettelten einen Krieg mit den Dryaden an, weil sie sich an jenen Wesen retten wollten, die ihrem König das Herz gebrochen hatten.
Der Krieg verlief lange Zeit fair und auch nur von Krieger zu Krieger, dann fiel der König der Hippogreifen im Kampf an der Front.
Von nun an töteten die Hippogreifen jeden, der ihnen in die Quere kam: Frauen und Kinder, Kranke und Alte.
Beide Seiten wurden so militärisch geschwächt und baten die neutralen Wesen, die Undinen und uns Elfen, um Hilfe. Bedauerlicherweise schlossen die Undinen sich den Hippogreifen an, wir Elfen hingegen halfen den Dryaden.“
„Warum schlossen sich die Undinen den Hippogreifen an?“
Helena wurde langsam neugierig. Die Geschichte klang absurd, doch wenn sie so in den Spiegel sah schon gar nicht mehr so arg. Schließlich sah sie wirklich elfenartig aus.
„Sie wurden bestochen. Die Hippogreifen versprachen ihnen Macht über uns Elfen und die Dryaden, wenn sie ihnen helfen würden. Doch ich glaube, wenn dieser Krieg so weiter geht, bleibt am Ende nicht mehr viel, was beherrscht werden kann.
Jetzt tobt der Krieg seit fast 30 Jahren und beide Seiten haben große Verluste zu beklagen, denn man wird sich einfach nicht über diese längst vergangene Liebesgeschichte einig.
Du bist jetzt ein Nachfahre der Krieger des Lichts. Du weißt, dass du adoptiert bist, schätze ich?“


Helena stockte der Atem. Woher wusste Adonis das? Hatte er sie beschattet? Oder kannte er womöglich ihre wahren Eltern?
Helena war adoptiert worden, als sie noch ein Baby gewesen war. Doch ihr war von Anfang an klar gewesen, dass Hugo und Andrea nicht ihre leiblichen Eltern sein konnten. Schließlich hatte sie schwarze Haare und eigentlich braune Augen, während Hugo und Andrea beide blond und blauäugig waren. Es war für Helena nichts Neues gewesen, als Hugo ihr nach der Trennung von Andrea erzählt hatte, dass er nicht ihr leiblicher Vater sei. Damals war sie vier Jahre alt gewesen.
Der Streit um das Adoptivkind war vor Gericht gegangen, doch Hugo hatte gewonnen. Und Helena war bis heute froh darüber.
„Woher wissen sie das?“, fragte sie nur.
„Ich habe Quellen, Soléa“, antwortete Adonis nur, „ich mache nie einen Fehler, wenn ich ein neues Wesen schaffe. Du musst die anderen drei Krieger finden. Du als Elfe bist eine Luftbändigerin, also musst du noch einen Erdbändiger, einen Wasserbändiger und auch einen Feuerbändiger finden. Nur ihr könnt diesem Land den Frieden zurückbringen.“
„Und wie soll ich das machen? Woher soll ich denn wissen, wer von diesen Tausend anderen Wesen jetzt noch ein Nachfahre ist?“
„Tausend“, Adonis lachte, „ach, du bist lustig. Wenn es nur Tausend wären. Del Apólika hat mehr Bewohner als eure kleine Erde. Aber trotzdem wird es nicht schwer sein, die anderen Nachfahren zu finden. Es wird nur gefährlich sein. Schließlich musst du dich mit Feinden verbünden.
Suche eine Dryade, eine Undine und einen Hippogreifen etwa in deinem Alter, die den Krieg von Anfang an nicht wollten und dadurch viel verloren haben. Du wirst sie erkennen.“


„Können sie mir noch mehr über Dryaden, Undinen und Hippogreifen erzählen? Worauf muss ich achten, was genau ist denn gefährlich?“
„An deiner Stelle würde ich bei den Dryaden anfangen zu suchen. Ihr Reich liegt neben unserem und sie sind schon unsere Verbündeten. Die Dryaden sind Erdbändiger und Wesen des Lichts. In der Dunkelheit können sie sehr schlecht sehen. Mit ihren Kräften könne sie die Erde anheben, Lawinen auslösen oder ganze Steingewitter heraufbeschwören.
Ihr Herrscher ist immer noch Avignon. Es wundert mich, dass er nach 30 Jahren Krieg immer noch lebt und die Dryaden anführt, aber es ist so.
Dryaden haben dunkelgrüne Haut und rotbraune Haare, sie sehen sich alle sehr ähnlich.
Die einzige Gefahr bei ihnen sind die Männer, vor denen solltest du aufpassen. Wenn sie ein Wesen sehr hübsch finden, versuchen sie es für sich zu gewinnen, indem sie betörende Kräfte einsetzen. Sie werden dich umgarnen und dich mit Essen überhäufen. Gehe nie auf solche Angebote ein, sonst könnte es dir passieren, dass du schon nach einem Reich deine Mission abbrechen musst.
Dann komme ich jetzt zu den Undinen. Undinen sind Wasserelfen und die freundliche Version von Nixen. Nixen gibt es hier nicht, nur im Nachbarland. Doch wir haben noch nicht herausgefunden, wie wir dort hin gelangen sollen.
Doch zurück zu den Undinen. Sie sind neutrale Wesen, genau wie wir Elfen. Das heißt, sie können bei Licht und bei Dunkelheit gut sehen. Sie leben in Seen und sind deshalb auch Wasserbändiger. Das heißt, sie können Wasser bewegen und seine Aggregatzustände verändern.
Sie haben seit einem Jahr eine neue Herrscherin, Asariya, die den Job für ihr Alter richtig gut macht. Sie ist ein junges Ding, erst 16 Jahre, und führt ein ganzes Reich an.
Undinen haben vom Wasser leicht bläuliche Haut und dazu lange blonde Haare.
Gefährlich sind Undinen eigentlich nur für Männer. Liebt eine Undine dich, und du begehst einen Fehler, kann sie nicht verzeihen. Das ist bei ihnen so veranlagt. Sie wird dich entweder verlassen oder töten, je nachdem wie gnädig die Undine und wie schwer dein Fehler war.
Kommen wir nun zu den Hippogreifen. Ich finde, sie sind die faszinierendste und auch die gefährlichste Art von allen. Aber das mag ich nur so sehen, weil ich gegen sie kämpfen muss.
Ich finde sie gefährlich, weil sie Feuerbändiger sind. Stell dir vor du kämpft gegen einen Krieger und denkst du gewinnst und plötzlich baut sich ein riesiger Feuerwall vor dir auf.
Das ist richtig gefährlich, denn ihr Feuer ist stark. Doch ansonsten kann ich die Hippogreifen schlecht beurteilen, da ich nie viel mit ihnen zu tun hatte.
Was mir noch einfällt, jede Art hat ihre besonderen Fähigkeiten. Wir Elfen können fliegen, die Dryaden machen sich unsichtbar, die Undinen können unter Wasser leben und Hippogreifen sind Gestaltwandler, sie können zwischen der menschlichen Gestalt und der Gestalt eines Hippogreifen wechseln. Ein verwandelter Hippogreif hat rötliche Haut und braune Haare, mehr weiß ich nicht über sie.


Hast du sonst noch Fragen Soléa?“
„Ja, Adonis.“ Helena kam es komisch vor, Adonis beim Namen zu nennen. Trotzdem tat sie es, um ihn nicht zu kränken. So war sie erzogen worden.
„Warum sind deine Flügel pink und meine durchsichtig?“
Sofort verhärtete sich Adonis' Blick und er sah nach unten. Wut kochte in ihm auf. Er wusste, dass er ihr das erklären musste, und doch wollte er es nicht. Er wollte nicht erinnert werden, wollte diesen Schmerz nicht mehr spüren. Zörnig wandte er sich von Helena ab und betrachtete die Wand. Sie war genau wie Mareîya, neugierig und klug.
Er hatte sie geliebt, und genau aus diesem Grund kam ihm seine Soléa so vertraut vor. Weil sie das selbe Wesen hatte wie ihre Mutter.
Wie konnte er ihr das klar machen? Wie konnte sie verstehen, dass sie heiraten würden? Und das, obwohl er vor langer Zeit ihre Mutter geliebt hatte?
Tränen schossen ihm in die Augen und er wischte sie gereizt weg. Dann drehte er sich um und sah Helena tief in die Augen.
„Jedes Wesen hat einen Körperteil, der die Farbe ändert. Bei uns Elfen sind es die Flügel, bei Undinen die Flossen, bei Hippogreifen die Augen und Dryaden haben verschiedenfarbige Streifen auf dem Körper.
Anfangs sind sie bei jedem Wesen gleich, doch sie verändern ihre Farbe, wenn du einen Partner findest, mit dem du dein ganzes Leben lang glücklich sein wirst.
Diesen Zauber zu durchbrechen, ist fast unmöglich. Es gibt nur wenige, die das jemals geschafft haben.
Ist dein Partner eine Elfe, werden deine Flügel sich grün färben. Ist er eine Undine, werden sie sich blau färben. Bei einem Dryaden werden sie sich braun färben und bei einem Hippogreifen schwarz.
Solltest du eine der wenigen sein, die sich in einen Menschen verliebt, werden deine Flügel durchsichtig bleiben, bis dieser Mensch erfährt, was du wirklich bist. Dann werden sie sich rot färben.
Ist dein Partner verletzt, haben deine Flügel die Farbe gelb. Und stirbt dein Partner, werden deine Flügel pink.“
Adonis' Stimme wurde leiser und brüchiger. Er konnte Helena die allgemeinen Gesetze erklären, aber er konnte und wollte ihr nicht erklären, warum seine Flügel pink waren.
Er wollte ihr diese lange Geschichte nicht noch erzählen, sie hatte genug gehört. Aber sie wollte es unbedingt wissen.


„Wer war dein Partner?“, hauchte Helena.
Sie wusste selbst, dass man solche Fragen nicht stellen sollte, und doch tat sie es. Denn insgeheim hatte sie das Gefühl, es habe mit ihr zu tun. Sie wusste nicht, warum.
„Musstest du das fragen?“, fragte Adonis trocken.
„Ja“, antwortete Helena nur.
„Deine Mutter war meine Gefährtin. Wir waren glücklich und jung. Damals wollte ich sie beeindrucken und unsterblich werden. Ich trank das Blut eines Zwerges, eines Einhorns und eines Drachen. Sehr seltene Wesen in unseren Wäldern und trotzdem da. Nachdem ich das Drachenblut gekostet hatte, wurde meine Haut zäh und dick. Ich wurde unverwundbar und unsterblich zugleich.
Deine Mutter fand es wahrlich faszinierend, wie ein Wesen unsterblich sein konnte. Doch als sie herausfand, wie ich die Unsterblichkeit erlangt hatte, wurde sie wütend und verließ mich.
So angeekelt von mir schaffte sie es, den Zauber abzustreifen, sodass ihre Flügel wieder durchsichtig wurden.
Kurz darauf verliebte sie sich in einen Menschen und bekam dich. Ihre Flügel färbten sich rot und sie war glücklich. Zumindest sagte sie das. Doch dieses Glück hielt nicht lange.
Als du etwa drei Monate alt warst, kam sie zu mir zum Kaffee trinken. Nur um mir auf die Nase zu binden, wie glücklich sie mit diesem Vollidioten war. Und ich Dummkopf ließ sie auch noch herein, weil ich mich so nach ihrer Nähe sehnte.
Sie erzählte ihrem Menschenfreund nicht, dass ich ihr Ex-Verlobter war, um ihn nicht zu verärgern.
Sie redete mit mir und es wurde ein langer Abend. Weil es schon spät war, bot ich ihr an, bei mit zu übernachten.
Zwischen uns lief nichts, glaub das bloß nicht. Mareîya, also deine Mutter, war eine treue Person. Sie hätte ihren Freund nie betrogen, obwohl er wirklich ein Arsch war. Sie befürchtete, dass er denken könnte, zwischen uns wäre etwas gewesen. Und sie hatte Angst, weil ihr Freund oft trank und dann zu einem wahren Monster wurde.
Doch in diesem Punkt hatte ich kein Verständnis für sie, so sehr ich sie auch liebte – sie hatte mich ja unbedingt verlassen müssen. Wir wären so glücklich geworden...“
Adonis' Blick verhärtete sich und er sah aus dem Fenster. Er schien völlig in Gedanken versunken. Er dachte an alte Zeiten und wie schön es mit Mareîya gewesen war. Ach, könnte er sie doch bloß zurück holen...
„Adonis?“, riss Helena ihn aus seinen Gedanken. „Was geschah danach?“
„Deine Mutter sollte Recht behalten mit ihrer Angst. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war sie weg und meine Flügel pink. Später erfuhr ich, dass er sie vom Balkon gestoßen hatte. Alles sah nach Selbstmord aus und dieser Mistkerl wurde nie bestraft.“
Adonis stiegen die Tränen in die Augen. Er wandte sich ab und setzte sich in einen Sessel nahe der Tür. Dann begann er zu weinen. Er hatte bis jetzt noch niemandem seine Geschichte erzählt. Doch bei Helena war das etwas Anderes. Sie war ihre Tochter – sie musste es erfahren. Langsam erhob Adonis sich von seinem Sessel.
„Adonis, bitte bleib“, flüsterte Helena. Doch Adonis ignorierte ihre Bitte.
„Ich werde jetzt gehen. Ich schicke dir Diener vorbei, die dein Bett beziehen. Ruhe dich aus, denke über alles nach. Du musst nun entscheiden, ob du die Aufgabe annimmst.“
Mit diesen Worten ließ Adonis Helena alleine.
„Habe ich denn eine Wahl?“, flüsterte Helena leise.

***

Nun saß sie da, den Kopf voller Informationen und Fragen. Fragen an sich selbst, Fragen an Adonis.
Ihre Mutter hieß Mareîya. Sie war mit Adonis verlobt gewesen und hatte ihn verlassen. Warum? Aus Ekel? Aus Furcht? Helena wusste es nicht und sie wusste auch nicht, ob sie es jemals erfahren würde.
Wie gerne hätte sie jetzt mit ihrer Mutter gesprochen, sie gefragt warum sie das alles gemacht hatte. Warum sie so einen Mann wie Adonis gehen ließ, nur weil er sie beeindrucken wollte. Oder war sie wütend gewesen, weil sie nun weiter alterte und Adonis ewig jung blieb? Er hätte ihr das Ganze doch bestimmt auch ermöglicht. Warum hatte ihre Mutter keine Alternative mehr gesehen?
Adonis sah in Helenas Augen nicht sehr alt aus. 17, höchstens 18. Sie musste gestehen, sie fand ihn verdammt gut aussehend. Doch die Tatsache, dass er nicht mehr alterte und somit schon ihre Mutter geliebt hatte, erschreckte sie.
Doch da war nicht nur der komische Adonis, der sich in ihre Gedanken schlich. Auch diese Sache mit dem Krieg. Wie sollte sie das lösen? Und noch wichtiger: Wollte sie das überhaupt lösen? Und was geschah in diesem Moment, in dem sie abseits von der Erde nachdachte, mit Hugo?
Vermisste er sie? War es ihm überhaupt schon aufgefallen, dass sie weg war?
Als es schließlich dämmerte, kam ein junges Mädchen mit Bettzeug in ihr Zimmer. Höchstens zwölf, vielleicht auch jünger. Es war schwer zu sagen, da sie sehr klein war. Fast...zwergenhaft.
Aber spätestens nach der Geschichte mit den verschiedenfarbigen Flügeln wunderte sich Helena über gar nichts mehr.
Das Mädchen ging ihr nicht einmal bis zur Hüfte. Es hatte kräftige Arme und Beine. Es trug braune Hosen und ein kariertes Flanelhemd; Schuhe hatte es keine.
Es hatte dunkelblonde Haare, das sah Helena, doch seine Augen bekam sie nicht zu Gesicht.
Wortlos bespannte das Mädchen ihr Bett mit einem weißen Spannbetttuch und brachte kurz darauf eine rote Decke und ein rotes Kissen mit goldenem Rand herein.
„Bist du ein Zwerg?“, fragte Helena irgendwann.
Das Mädchen sah empört aus, doch dann nickte es langsam. Während sie die Vorhänge am Bettgestell befestigte sah Helena sich das Zimmer genauer an.
Es war ziemlich rechteckig. Gegenüber der Tür war ein großes, spitzes Fenster. Draußen sah man größtenteils in den Wald, vereinzelt waren ein paar Hütten zu sehen.
An der Wand rechts neben dem Fenster stand das große Himmelbett. Es war ein riesiges Doppelbett, das man mit Vorhängen vor neugierigen Blicken schützen konnte.
Die Wand, an der das Doppelbett stand, war komplett verspiegelt.
In der Ecke stand ein kleines Schränkchen mit zwei Schubladen. Helena wollte sie öffnen, doch sie waren verschlossen.
Auf dem Weg zum Schrank gegenüber stieß sie gedankenversunken mit dem Zwergenmädchen zusammen.
Die Kleider, die es auf dem Arm gehabt hatte, fielen zu Boden und das Mädchen gestikulierte wild mit seinen Händen.
Das ist wohl Gebärdensprache für 'Pass doch besser auf!', dachte Helena.
Mit entschuldigendem Blick taumelte Helena zurück und setzte sich aufs Bett. Den Schrank und den Schreibtisch würde sie sich später ansehen.
Später? Es war schon dunkel!
Sobald das Mädchen nicht mehr wiederkam, schloss Helena die Tür und zog sich aus. Im Kleiderschrank fand sie ein viel zu kurzes Nachthemd in himmelblau.
Naja, wenigstens etwas.
Plötzlich spürte sie auch, wie müde sie war. Das lange Gespräch mit Adonis und die vielen Informationen zerrten an ihren Nerven. Aber Moment mal – sie war jetzt seit über 28 Stunden auf den Beinen!
Langsam ließ sie sich in das große Himmelbett gleiten und zog sich die Decke über.
Ihr Kopf hatte das Kopfkissen noch nicht richtig berührt, da fiel sie schon in einen unruhigen Halbschlaf.

***

Helena wurde von einem leisen Knacken geweckt. Dumpfe Schritte, der Vorhang am Bett wurde zurück gezogen. Dann kurze Stille – bis der Vorhang wieder zurück gezogen wurde und die Bettfedern knackten.
Warme Arme umschlagen sie und hielten sie fest. Helena genoss die Wärme und schmiegte sich grummelnd an den weichen Körper.
Bevor sie sich Gedanken darüber machen konnte, wer da mitten in der Nacht in ihr Schlafgemach eingedrungen war, wurde sie wieder in das tiefe, schwarze Reich der Träume gezogen.

***

Als Helena aufwachte, spürte sie die unnatürliche Hitze sofort. Doch sie genoss sie. Zu Hause war sie immer aufgewacht und hatte gefroren, denn im Westerwald herrschte gerade ein wunderschöner, aber harter Winter. Ach, der Westerwald. Wie sehr vermisste sie die vielen verschneiten Tannen und die verdorrten Laubbäume.
Sie hatte wirklich ein wunderschönes Zuhause. Hugo hatte sich zwar gewundert, als sie den Wunsch geäußert hatte, an einen ruhigeren Ort zu ziehen, doch er hatte nicht weiter nachgefragt.
Denn eigentlich kam Helena aus London, hieß Chloe Brooks und hatte einen cricketbegeisterten Vater. Doch da dieser sie schon mit 1 ½ Jahren zur Adoption freigegeben hatte, war das auch schon alles was sie über ihn wusste.
Doch sie hatte damals einen Traum gehabt, ja fast schon eine Vision. In dieser Vision war ihr Vater betrunken gewesen, hatte sie geschlagen und dann einfach in ihrem Zimmer eingeschlossen.
Seit diesem Tag hatte sie nur noch raus gewollt aus Hamburg, dieser großen, lauten Stadt in der sie alles an ihre kurze Zeit in London erinnerte.
Dann hatte Hugo im Internet das Haus entdeckt. Es war weit weg, vier Stunden Fahrt entfernt von Hugos geliebter Großstadtwohnung.
Doch für Helena tat Hugo alles. Also zogen sie im Sommer, als Helena sechs Jahre alt war, von Hamburg in den Westerwald.
Gerade rechtzeitig, damit Helena die erste Klasse schon im neuen Ort besuchen konnte.
Seitdem war Helena mit ihrem Zuhause zufrieden. Sie konnte schon mit acht oder neun Jahren mehrere Tage allein zu Hause bleiben, weil sie sich in ihrem großen, geräumigen Dachzimmer einfach sicher fühlte. Sie lernte Kochen und Backen und sich selbst zu versorgen.
Später feierte sie wilde Partys, wenn Hugo nicht da war. Oder auch wenn er da war. Es war egal, sie durfte das. Denn sie war kein Kind, was wilde Partys feierte, sich dann volllaufen ließ, das Bad vollkotzte und dann den ganzen Müll für seinen Vater stehen ließ.
Nein, das war sie nicht. Sie hatte auch schon getrunken, doch auf ihren Partys gab es selten Alkohol. Erstaunlicherweise waren die meisten Leute sogar gekommen wenn sie vorher angekündigt hatte, dass es nur Cola und Sprudel geben würde.
Das Aufräumen danach erledigte sie immer mit ihrer besten Freundin. Lea. Oh Gott die Arme, ob sie sie vermisste?
Helena wusste es nicht. Ihr Leben war perfekt gewesen. Und dann war dieser Adonis gekommen und hatte sie entführt.


Nachdem sie über all das nachgedacht hatte, fiel ihr diese unnatürliche Hitze wieder auf. Panisch dreht sie sich um, um zu sehen woher sie kam. Bis jetzt hatte sie immer schön an einen knuddeligen Hund mit zottigem Fell gedacht. Doch welcher Hund brach nachts in Zimmer ein, zog Vorhänge auf und zu und legte sich zu Menschen ins Bett?
Es war Adonis. Vor Schreck sprang Helena förmlich aus dem Bett und fiel halb auf den Boden. Dabei stieß sie sich den Kopf heftig am Nachtschrank und hielt sich wimmernd die Stirn.
Ängstlich sah sie zu Adonis rüber, doch der grunzte nur und drehte sich auf die andere Seite. Dann war es wieder still.
Sie beschloss, sich den Schreibtisch genauer anzusehen. Dort fand sie einen Stiftebecher (mit Federn am Ende jedes Kugelschreibers) und mehrere Stapel mit Zetteln.
Sie riss sich einen davon ab und hinterließ Adonis eine kurze Notitz.

Adonis.
Sehe mir den Wald an. Mir wird das hier zu viel, ich brauche frische Luft.
Ich muss doch wissen, was ich hier retten soll.
Mein Kopf brummt total, muss erst einmal meine Gedanken ordnen.
Helena

P.S. Ich möchte nicht noch einmal erleben, dass du in mein Bett krabbelst, selbst wenn ich hier nur Gast bin. Wo kämen wir denn da hin? Wenn ihr zu wenig Betten habt, schlafe ich lieber auf dem Boden. Ich kenne dich ja gar nicht.

Sie legte den Zettel auf ihr Kopfkissen und zog dann leise den Vorhang zu, damit Adonis nicht mitbekam, wie sie sich leise auszog und dann neue Kleider im Schrank suchte.
Sie fand eine braune Kordhose und ein rotes T-Shirt. Immerhin etwas normales. Nicht so wie dieses komische Kleid von gestern.
Helena hasste solche Klamotten. Sie war ein handfester Typ; mit ihr konnte man Pferde stehlen. Zu so einem Image passte kein Glamour Kleidchen im Edellook.
Schnell schlüpfte sie in ihre Sachen und stahl dich aus dem Zimmer. Auf dem Flur überlegte sie – links oder rechts?
Ach egal, dachte sie, irgendwo geht es immer raus.
Also entschied sie sich für rechts und stieß prompt nach ein paar Metern auf einen dicken Wandteppich. Als sie sich entschloss, ihn beiseite zu schieben, fand sie dahinter eine lange Holzwendeltreppe. Unten angekommen musste noch einen Wandteppich zur Seite schieben, dann stand sie in der Eingangshalle des Schlosses.
Das ging ja einfach, dachte sie.
Die Eingangshalle sah nicht aus wie ein gewöhnlicher Raum in einem Schloss. Gegenüber der großen Holztür befand sich eine riesige Treppe, die nach etwa 20 Stufen nach rechts und links abbog. Sie war auf beiden Seiten gesäumt von Wandteppichen. Hinter dem einen war Helena eben hervorgekrochen.
Neben der Treppe gingen lange, verzweigte Gänge in alle möglichen Richtung. Die wollte sie noch nicht erkunden, schließlich wollte sie sich nicht verlaufen.
Also nahm sie die Tür nach draußen. Die große Holztür öffnete sich zu ihrem Erstaunen ganz einfach und vor allem ohne zu quietschen. Schnell schlüpfte Helena nach draußen und staunte.
Was vom Fenster wie leuchtend grüne Bäume ausgesehen hatte, waren in Wirklichkeit fast nur Blumen. Riesige Blumen, vom ein Meter fünfzig bis mindestens 30 Meter hoch.
In allen Farben rankten sie sich in die Höhe. Grün, blau, rot, gelb, lila, orange. Wow. Es sah total faszinierend aus.
Mit großen Augen hangelte Helena sich an einer der Blumenblätter bis nach oben auf Blüte. Von hier oben hatte man wirklich einen tollen Ausblick.
In dieser Hinsicht war das Elfenleben also wirklich lebenswert. Dann schätzte sie die Höhe der Blume ab. Etwa zwei Meter. Einen Sturz von hier würde sie, wenn auch nicht unverletzt, überleben.
Also versuchte sie ihre Flügel auszubreiten. Da fiel ihr ein, dass sie sie gar nicht durch die Löcher gesteckt hatte. Langsam merkte sie auch, wie es auf ihrem Rücken unangenehm zu jucken begann.
Hektisch fummelte sie an ihrem T-Shirt herum, bis sie die Löcher gefunden hatte und ihr Flügel hindurch gezwängt hatte.
Dann breitete sie sie aus. Erstaunlicherweise spürte sie sie, wie einen normal Körperteil. Wie einen Arm zum Beispiel. Den musste man ja auch nicht mit einem anderen Arm hochheben, um ihn zu steuern.
Also breitete sie ihre Flügel aus und stieß sich kräftig vom Blütenrand ab.

***

Sie fühlte sich so frei. Fliegen war wirklich etwas Tolles. Die Blumen und Bäume unter ihr waren nur noch kleine Stecknadelköpfe. Über ihr waren riesige, aufgeplusterte Wolken in allen möglichen Farben. Sie drehte einen Salto nach dem anderen, denn der Ausblick war einfach traumhaft.
Als sich der Wald langsam lichtete und sie irgendwann nur noch über freies Feld flog, setzte sie zur Landung an. Leichtfüßig setzte sie auf dem Boden auf und sortierte ihre Gedanken.
Sie musste dringend nachdenken. Dieses Leben war ja schön und toll, aber sie musste auch noch an andere Dinge denken. An Hugo zum Beispiel. Oder an Lea.
Mist, sie musste dringend nach Hause. Hugo würde sterben vor Sorge!
Doch bevor sie sich weiter Gedanken über Hugo und Lea machen konnte, entdeckte sie einen kleinen Punkt am Himmel. Schnell flatterte sie auf eine der höheren Blumen um zu erkennen, was da vom Himmel kam.
Eine andere Elfe, dachte sie erfreut als sie ein paar pinke Flügel ausmachen konnte. Doch als sie erkannte, wer sich da näherte, wurde sie wütend. Adonis.
„Was tust du hier?“, rief Helena zornig als er sich neben ihr auf der Blume niederließ.
„Ich bin deiner Spur gefolgt“, lächelte er nur. Grinsend zeigte er auf eine goldene Glitzerspur, die sich irgendwo im Wald verlor.
„Scheiße“, flüsterte Helena.
Anstatt einer Antwort lächelte Adonis nur weiter ganz süffisant.
„Jetzt hast du es versaut“, grunzte Helena.
„Ich gehe jetzt. Dieser Ring...er bringt mich bestimmt zurück. Irgendwie. Hauptsache weg von hier.“
„Schnell fühlte sie mit ihren Fingern, ob der Ring noch da war. Ja, er war da. An ihrem linken Mittelfinger stecke er noch genauso fest wie in den ersten Stunden.
Dann hob Helena drohend den Arm. Entschlossen, beim nächsten dummen Kommentar zu verschwinden.
Plötzlich packte Adonis sie an beiden Handgelenken und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.
„Soléa. Ich verstehe, wenn du verwirrt bist. Und ich werde dir auch Zeit zum Nachdenken geben. Aber ich bitte dich, entscheide dich richtig. Dein Reich braucht dich.
„Ach was“, schnaubte Helena, „das sehen wir dann.“
Dann riss sie sich von Adonis los und betrachtete den großen, grünen Stein. Zu ihrer Erleichterung spürte sie, dass ihr Körper wieder leichter und leichter wurde, bis sie schließlich verschwand.
Traurig blickte Adonis ihr hinterher. Doch er spürte, sie würde wieder kommen.

Impressum

Texte: Textrechte liegen bei mir. Das Titelbild wurde gemalt von meiner besten Freundin, da ich in Kunst leider total talentfrei bin. Die Rechte liegen bei ihr.
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Geschichte meinem besten Freund. Weil er mir bei der Idee geholfen hat und es ohne ihn diese Geschichte gar nicht gäbe.

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