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Wir schreiben den 21. Dezember. Es ist kurz vor neuen Uhr am Abend. Die Stadt ist dunkel und verlassen, die Straßen wie leergefegt. Der Mond ist vor Stunden schon hinter eine Wolke verschwunden. Seit ein paar Minuten regnet es heftig. Der Wind bläst durch die Gassen und lässt die Temperaturen auf gefühlte -12°C sinken. Von dem schönen Tag, der vor ein paar Stunden noch voll in Gange war, ist nichts mehr zu sehen. Die 20 cm dicke Schneedecke löst sich langsam auf, wird weggeschwemmt im strömenden Regen. Die Straßen sind glatt von Schnee und Matsch, die Bewohner der Stadt haben sich seit Tagen daran gewöhnt, ohne Auto auszukommen.
In einer Wohnung brennt schummriges Licht. Ein Mann und ein Frau streiten sich laut. Ein Schlag, ein Schrei, dann Stille.
„Du hast mich betrogen!“, brüllt der Mann.
Noch ein Schlag. Die Frau wimmert, bekommt noch einen Schlag.
„Gerhard bitte...es ist nicht so wie du denkst...“
Knall. Noch ein Schlag. Die Frau ist still.
Auf den Steinstufen vor dem Haus sitzt ein kleiner Junge. Seine Haare sind total durchnässt vom Regen. Sein T-Shirt klebt an seinem Oberkörper und er schlottert. Er zieht die Beine an und umschlingt sie mit den Armen. Er weint.


Die Kirchturmuhr schlägt neun Uhr. Plötzlich, wie auf Kommando geht ein Licht nach dem nächsten an. Alle Fenster leuchten wie aus großen Augen. Überall öffnen Leute die Türen und legen leuchtende Taschenlampen davor.
Für einen kurzen Moment setzt der Regen aus und der Mond schiebt sich groß und rund hinter einer Wolke hervor. Die Stadt leuchtet aus allen Ritzen.
„Sei still“, sagt der Mann, „am Taschenlampentag wird nicht geheult.“
Mit diesen Worten nimmt auch er eine Taschenlampe, öffnet das Fenster und platziert sie. Dann schließt er das Fenster wieder.
Der Junge sitzt immer noch auf der Treppe. Seine Haare schimmern golden im Licht der vielen Taschenlampen, seine Augen leuchten. Er rappelt sich auf, zieht ein kleines Exemplar aus seiner Hosentasche und beteiligt sich ebenfalls am großen Lichterspektakel.


Nach einer Minute ist es vorbei. Die Lichter gehen nach und nach aus, in den Häusern wird es still. Die Menschen haben ein Zeichen gesetzt. Sie huschen kurz vor die Tür, holen ihre Taschenlampen ins Warme und verschwinden wieder. Der Regen setzt wieder ein und der Wind heult weiter. Und trotzdem hat sich etwas verändert: Der Junge lächelt.

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Tag der Veröffentlichung: 21.12.2010

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