Cover

Es ist ein Montag, als ich den Brief in der Post finde. Ich komme gerade vom Einkaufen zurück und will die schweren Tüten so schnell wie möglich loswerden, als ich ihn aus unserer Zeitungsröhre herausschauen sehe. Auf der Vorderseite prangt ein Logo vom Leipziger Sportgymnasium. Ich schließe die Haustür auf, stelle die Tüten in der Küche ab und setze mich mit dem Brief auf die Treppe. Dass er an Mum adressiert ist, interessiert mich herzlich wenig, schließlich kann es nur um mich gehen.
Ich bin total happy, doch als ich merke wie dick der Umschlag ist, verschwindet meine gute Laune augenblicklich. Nachdem ich den Brief geöffnet habe, bestätigt sich meine Befürchtung. Meine ganzen Unterlagen befinden sich in dem Umschlag – eine Absage. Obwohl das die erste Absage ist und ich mich darauf eingestellt hatte, bin ich frustriert. Ab jetzt wird es immer schwerer werden, Mum und Dad zu einer weiteren Bewerbung zu überreden, da das das nächstliegendste Sportinternat war, nur knapp eine halbe Stunde von meinem Heimatort Zwochau entfernt.
Deprimiert werfe ich den Brief mit den Unterlagen auf den Küchentisch und verschwinde mit einem Apfel und einer Flasche Wasser nach oben in mein Zimmer.
Ich bin allein zu Hause – deshalb lege ich erst einmal die CD mit meiner Kürmusik in den Player und drehe voll auf. Mum hasst es, wenn ich zu Hause übe, obwohl ich den größten Teil meiner Kür nur in der Halle trainieren kann. Ich kann ja schlecht anfangen, in meinem Minizimmer einen Flick-Flack zu springen. Und genau aus diesem Grund, weil ich kaum Teile üben kann, verliere ich schnell die Lust und wechsele die Musik. Dann rufe ich Anna an.
Sie ist meine beste Freundin seit dem Kindergarten und abgesehen von meinen Eltern und meiner Trainerin die Einzige, die von der Bewerbung weiß. Nicht einmal meinem Freund Connor habe ich etwas gesagt, er soll erst so spät wie irgendwie möglich einen hysterischen Anfall bekommen. Connor hält nämlich von der Idee, Profiturnerin zu werden, rein gar nichts. Genau wie meine Eltern. Die Einzige, die voll und ganz hinter mir steht, ist Anna.
Nach dem dritten Klingeln nimmt sie ab. „Na Süße?“, begrüßt sie mich, „Was gibt’s?“
„Schlechte Neuigkeiten“, murmele ich zerknirscht, „meine erste Absage...“
Ich höre Anna tief durchatmen, dann schnaubt sie: „Pah, die haben doch keine Ahnung was sie verpassen Süße, oder was meinst du? Welche Schule war das jetzt eigentlich?“
„Das Sportgymnasium Leipzig. Die Aufnahme wäre perfekt gewesen, so wird es jetzt immer schwieriger Mum und Dad dazu zu überreden, überhaupt eine weitere Bewerbung abzuschicken. Du kennst sie. Mum wird lachen und sagen 'Hab ich es dir doch gesagt, hättest du dich mal in Englisch angestrengt.“ und Dad wird einfach die üblichen Witze bringen, dass meine Beine am Sprung aussehen wie die von einem Frosch.“
„Ach Finchen, lass dich nicht unterkriegen. Gib deinen Traum nicht auf, du weißt doch was du kannst oder?!“
Finchen. Mein Spitzname. Eigentlich heiße ich Serafina, aber das ist viel zu lang. Findet zumindest Anna.
„Ich kämpfe für meinen Traum, solange es möglich ist, logisch“, antworte ich ihr.
Eine Zeit lang schweigt Anna, dann platzt eine Frage aus ihr heraus: „Mit wem gehst du zum Abschlussball dieses Jahr??“
Ich kann förmlich spüren wie sie mehrere Fragezeichen hinter diese Frage stellt, sie scheint irgendetwas zu wissen, was ich noch nicht weiß.
„Ich werde gar nicht gehen wahrscheinlich. Conner mag nicht tanzen und mit einem anderen zu gehen will ich nicht unbedingt riskieren, ich will ihn ja nicht verlieren“, halte ich meinen Vortrag, „aber warum fragst du Süße? Gibt’s da etwas was ich wissen sollte? Mit wem gehst du?“
„Ich gehe mit Kevin, so wie das seit April geplant ist. Aber um dich mache ich mir Sorgen, hätte dich ja schon gerne dabei …! Weißt du...wie wäre es...“
So druckst sie normalerweise nie herum und ich frage mich langsam ernsthaft was sie mir unbedingt sagen will.
„Jaa...?“, frage ich ungeduldig.
„Also, da gibt es so einen total süßen Boy aus der Achten. Ist zwar ein Jahr jünger als wir, aber voll lieb und bei ihm in der Klasse sind nur so Möchtegern-Tussen und ich dachte … Der ist ehrlich voll lieb Finchen, warum gehst du nicht mit ihm?“
Ich schüttele den Kopf. Typisch Anna.
„Mädel, ich habe einen Freund! Geht das Wort in deinen Kopf?“
Eine Zeit lang diskutiere ich mit Anna darüber, ob ich mit dem Achtklässler (mittlerweile habe ich erfahren er heißt Robin) auf den Abschlussball gehen soll oder nicht.
Dann plötzlich ruft Mum mich freudig nach unten und ich lege auf, weil ich wissen will was los ist.
„Wow, wir hätten nicht gedacht das du wirklich so gut bist“, strahlt Mum mich an.
Will sich mich veräppeln? Ist das wieder einer ihrer super ironischen Witze die sie in letzter Zeit so oft reißt?
„Dann stand dir dein Englisch ja gar nicht im Weg!“
Langsam werde ich wütend: „Mum! Hör einmal im Leben auf mich runter zu machen! Schaffst du das? Ein einziges Mal! Das ist die erste Absage, aber wer sagt das ich aufhöre? Ich kann es immer noch schaffen also nerv mich nicht!“
Verblüfft schaut Mum mich an. Was hat sie denn verdammt? Hat sie ernsthaft geglaubt ich lasse es mir gefallen, dass sie sich ständig über mich lustig macht?
„Schätzchen, was ist denn los mit dir? Ich bin diesmal ehrlich stolz das du es geschafft hast! Ich habe auch schon im Kalender geguckt, an dem Tag hast du Zeit.“
„An welchem Tag? Mum ich habe eine ABSAGE bekommen. Hast du dir das Zeug mal durchgelesen?“, schnaube ich wütend.
Jetzt lacht sie. Blöde Kuh.
„Ja, aber du anscheinend nicht. Ja du hast Recht, deine Unterlagen sind alle zurückgekommen, wie bei einer Absage, aber ganz hinten ist ein Brief beigelegt in dem du zu einem Vorturnen eingeladen wirst.“
„WAS?“
Erschrocken starre ich Mum an, vergesse zu atmen, japse nach Luft. Als sie mir den Brief in die Hand drückt, muss ich ihn ein paar Mal durchlesen, bis ich verstanden habe.


Sehr geehrte Frau Reikel,

da wir von den schulischen Leistungen ihrer Tochter Serafina Reikel sehr angetan sind und wir der Meinung sind, dass sie auch in Englisch in unserem Internat einiges nacharbeiten und verstehen kann, würden wir sie gerne zu einem Vorturnen einladen. Auch sie und Serafinas Trainerin sind herzlich eingeladen.

Wann? Am 22. Mai 2010, 10:30 Uhr
Wo? In der Sporthalle des Leipziger Sportgymnasium,
Marschnerstraße 30,
04109 Leipzig

Mit freundlichen Grüßen
M. Leiker, Stellvertretende Schulleiterin




Es braucht ein bisschen, bis ich kapiere, dass ich falsch lag. Ich bin tatsächlich eingeladen!!!
„YES! Sportgymnasium Leipzig ich komme!“, rufe ich und stürme durch den Flur direkt zum Telefon. Dad, der gerade erst heim kommt steuert mit fragendem Blick auf die Küche zu.
Es dauert ein bisschen, bis bei Anna jemand dran geht. Ich hätte sie ja auch auf dem Handy anrufen können, aber das liegt oben.
„Meißner?“, fragt eine tiefe Stimme.
„Ja hallo Tom, ist deine Schwester da?“
„Die duscht grad glaub ich, sorry my dear. Was gibt’s denn so Wichtiges?“, fragt er neugierig.s
„Richte ihr aus ich habe es doch geschafft, habe einen Brief übersehen. Den Rest schreibe ich ihr gleich. Sie weiß was gemeint ist“, füge ich lachend hinzu. Dann lege ich auf. Ich verstehe nur noch wie Tom „Mädchensprache...“ in den Hörer nuschelt.
Als ich in die Küche komme breitet Dad grinsend die Arme aus.
Lachend sagt er: „Und deine Froschbeine kriegen sie dir auch noch ausgetrieben.“
Ich bin zu fröhlich, um eine dumme Antwort zu geben und umarme ihn. Mum drückt mir einen roten Filzstift in die Hand und ich trage am 22. Mai VORTURNEN ein.
„Ich muss Anna Bescheid geben“, sage ich entschuldigend und verschwinde nach oben. Dort ist mein Handy schon am Dauer-Vibrieren:
„Hey Süße, freu mich voll, hätte aber gern noch ein paar Infos (;“, lautet die Hauptmessage. Der Rest besteht größtenteils aus Fragezeichen. Gut, dass wir beide eine Flatrate haben.
„Sorry war feiern :-) Es wurden zwar alle meine Unterlagen zurück geschickt, aber es lag ein Brief dabei, dass ich am 22. Vorturnen darf. Dachte erst Mum verarscht mich :D“, tippe ich schnell zurück.
Innerhalb einer halben Minute kommt die Antwort.
„Cool! Wünsche dir ganz viel Glück :*“
Ich schmeiße das Handy aufs Bett und hole die Kiste mit den Turnsachen aus dem Kleiderschrank. Die beiden Vereinsanzüge lege ich gleich weg. Falls ich wirklich angenommen werden werden sie mir nur als Erinnerungen zurückbleiben. Jetzt muss ich mich zwischen einen ziemlich freizügigen Deutschland-Anzug, einem weißen Anzug und zwei verschiedenen farbigen Anzügen entscheiden.
Ich wähle den grünen Turnanzug mit den breiten Trägern.
Dazu suche ich weiße Socken heraus und meine Turnschläppchen. Die Bandagen liegen noch unten. Seit ich einmal das linke Fußgelenk gebrochen hatte mache ich kein Training mehr ohne sie. Meine Reckriemen muss ich ebenfalls noch holen. Nachdem ich alles in eine Tasche gepackt habe rufe ich Silvia, meine Trainerin, an.
Sie klingt sehr stolz und verspricht mir sofort, sich den Termin freizuhalten. Glücklich kehre ich in die Küche zurück.
Dort schneidet Mum schon die Tomaten für mein Lieblingsessen: gemischter Salat mit Putenstreifen. Dad steht neben ihr und rührt eine Schüssel mit Pfannkuchenteig. „Zur Feier des Tages gibt’s die sogar mit Nutella, obwohl kein Wochenende ist“, lacht er.
Grinsend nehme ich Teller aus dem Schrank und beginne den Tisch zu decken.
Nach dem Essen (ich habe mich tatsächlich überreden lassen einen Pfannkuchen mit Nutella zu essen, obwohl das nicht gut für eine Turner-Figur ist) verkrieche ich mich in meinem Zimmer und hole meinen Glücksbringer unter meinem Kopfkissen raus. Es ist ein kleines dunkelbraunes Holzschwein mit einem vierblättrigen Kleeblatt im Maul. Connor hat es mir geschenkt letztes Weihnachten. Vorsichtig lege ich es in die dazugehörige Dose, verschließe sie fest und packe sie in die Tasche.
Die nächsten Tage rauschen nur so an mit vorbei. Anna, die mich gefühlte tausendmal drückt und mir sagt, wie stolz sie sei. Connors wundervolle braune Augen und die Stimme in meinem Kopf „Sag es ihm endlich“. Seine Lippen auf meinen wenn er mich verabschiedet und denkt, es sei alles okay. Meine Englischlehrerin, die mich anmeckert, ich würde zu viel träumen.
Das alles sind nur flimmernde Bilder die an mir vorbeiziehen, als wäre mein Leben ein Film, der gerade vorgespult wird. Und immer wieder diese verwackelten Bilder von mir im Turnanzug, wie ich verschiedene Saltos springe und eine Medaille nach der nächsten gewinne.
Doch als ich am Samstag, den 22. Mai aufwache, bin ich hellwach. Nichts erinnert mehr an die Halbanwesenheit der letzten drei Wochen, jeder bekommt auf seine Fragen eine Antwort.
„Morgen Mum“, rufe ich ins Schlafzimmer und gehe nach unten in die Küche. Dort steht Dad und bereitet das Frühstück vor. So voll geladen habe ich unseren Tisch auch schon lange nicht mehr gesehen – vor lauter Obstschalen, Brötchentüten, Wurstpäckchen und verschiedenen Marmeladen und anderen Brotaufstrichen ist die Tischplatte kaum noch zu erkennen.
„Dad! Ich will beim Salto nicht mit dem Bauch am Boden hängen bleiben!“, sage ich lachend.
Mit einer großen Geste - „So macht man das Dad“ - greife ich in den Obstkorb und greife mir eine Kiwi. Dann hole ich eine Scheibe Vollkornbrot aus der Speisekammer und bestreiche diese mit Frischkäse.
„Siehst du? Ich platze nicht und habe trotzdem etwas im Magen.“
Verdutzt sieht Dad mich an. Dann huscht ein Lachen über sein Gesicht und seufzend räumt er zumindest Nutella, Croissants und Butter vom Tisch. Mittlerweile sehe ich meinen eigenen Teller wieder und lege das Brot darauf ab.
„Wo ist die Einladung Dad?“, frage ich misstrauisch. Bei Dad weiß man nie, nach so langer Zeit könnte dieses wichtige Dokument auch einfach im Ofen gelandet sein.
„Die müsste doch hier irgendwo...“, murmelt er und kramt hektisch in einem Haufen Blätter auf dem Regal.
Kopfschüttelnd schiebe ich mir das letzte Stück Frischkäsebrot in den Mund und schneide die Kiwi durch.
„Guten Morgen.“ Mum sieht nicht besonders ausgeschlafen aus. Sie und Dad scheinen heute aufgeregter zu sein als ich. Ich unterhalte mich noch ein bisschen mit ihnen und esse meine Kiwi, dann stehe ich auf, ohne etwas getrunken zu haben. Mit ihrer Nervosität und ihren Bemühungen machen die beiden mich total hibbelig, lieber gehe ich nach oben und packe meine Tasche.
Turnschläppchen, weiße Socken, Bandagen, Reckriemen und Turnanzug liegen schon lange in der Tasche. Die Schuhe habe ich gestern zum Glück noch einmal geputzt. Jetzt packe ich eine große Dose Äpfel, eine Tüte Käsegebäck und zwei belegte Brötchen ein.
„Muuuuum“, rufe ich nach unten, „wo ist die EINLADUNG?“
„Geh sie suchen Schatz!“, antwortet Mum nur.

Pünktlich um halb 10 sitzen wir alle im Auto auf dem Weg zu Silvia. Die Einladung habe ich gefunden und eingepackt, sie lag begraben unter einigen Wurstpäckchen auf dem Küchentisch.
40 Minuten später parkt Dad vor dem Leipziger Sportgymnasium. Zwei Bäume säumen den Weg zum Eingangsbereich, in den Fahrradständern daneben lehnen noch einige Fahrräder – entweder vergessen oder von Internatsschülern. Ich steige acht Stufen nach oben und öffne die gelbe Tür zum Eingangsbereich. Von dort aus geht es geradeaus in Richtung Turnhalle, überall hängen Schilder mit der Aufschrift „zur Aufnahmeprüfung“. Ich bin aufgeregt. Als ich in die Umkleidekabine komme, bin ich nicht die einzige. Jeder hat seinen Platz, etwa 20 Blätter liegen auf den Bänken verteilt. An der Tür hängt ein Zettel.


Liebe Mädels,
bitte zieht euch um, wärmt euch auf und schaut, dass ihr bis 11:00 fertig seid. Dann werden wir nach und nach eine nach der anderen aufrufen. Bitte dehnt euch richtig, damit ihr volle Leistung bringen könnt, wir lassen keine Ausreden gelten. Denkt daran, dass wir nur für 5 Mädchen einen Platz haben.

Mit freundlichen Grüßen
Das Sportgymnasium Leipzig




Sie meinen es ernst, da merkt man. Hiervon hängt meine Zukunft ab. Meine Zukunft mit Anna, meine Zukunft mit Connor, meine Zukunft als Profiturnerin. Ich habe Angst. Mum, Dad und Silvia warten draußen, während ich mich ohne Scham ausziehe und meinen Turnanzug überstreife. Wenigstens kann ich meine Figur hier sehen lassen, im Gegensatz zu meiner Sitznachbarin. Ich schätze sie auf 70 Kilo. Sie kämpft mit einem blauen Turnanzug, der an den Armen mit silbernen Pailletten bestickt ist. Als sie ihn kurz hinlegt, guckt ein Schild heraus. Größe 38. Na kein Wunder, dass sie als einzige noch nicht angezogen ist. Kopfschüttelnd wende ich mich ab und ziehe Bandagen, Socken und Schuhe an. Dann breite ich meine Decke auf dem Boden aus und beginne schweigend mich aufzuwärmen.
Plötzlich sehe ich einen großen Schatten vor mir auftauchen und jemand tippt mir auf die Schulter.
„Du?“, fragt das Mädchen mit dem Größenproblem, „kannst du mir mal helfen? Das ist mein Lieblingsanzug, aber ich hatte ihn vor einem halben Jahr das letzte Mal an. Und irgendwie...klemmt er jetzt.“
Sie seufzt und lächelt mich schief an.
> In einem halben Jahr kann man so viel zunehmen?? <, fragt meine teuflische Hälfte.
> Sei nicht so hart zu ihr <, antworte ich und erhebe mich schweigend. Ich möchte etwas sagen, aber meine Kehle ist wie zugeschnürt.
Schließlich bringe ich doch einen Satz heraus.
„Ich bin Serafina.“
„Ich weiß“, erwidert sie lächelnd, „ich bin Valerie. Aber nenn mich Lia.“
Nachdem ich Lia in ihren Anzug geholfen habe (der erstaunlicherweise gar nicht so schlimm an ihr aussieht) beginnen wir uns gemeinsam aufzuwärmen.
Erstaunt sehe ich ihr zu, wie sie sich in alle Richtungen dehnt und verknotet. Irgendwann kann ich nicht anders und frage sie: „Ich möchte ja jetzt nicht unhöflich sein, aber wie schaffst du es dich zu verbieten als ob du..ähm...ach du weißt schon...“
„Ja ich weiß was du meinst“, erwidert sie lächelt, „und du bist die erste die es so freundlich formuliert. Ich dehne mich täglich und das sehr lange, damit ich einfach immer in Bewegung bleibe. Mit viel Ehrgeiz ist alles möglich.“
„Okaaay.“
Mehr bringe ich nicht heraus. Ich bin einfach komplett baff. Bin wohl nicht die einzige die bereit ist, alles für ihren Traum zu geben. Punkt 11:00 Uhr klingelt meine Armbanduhr. Etwa 7 Sekunden später wird die Tür aufgerissen.
„Anna-Lena Bernhard bitte.“
Im Türrahmen steht eine streng aussehende Frau mit rabenschwarzen Haaren, die in einem Dutt zusammengehalten werden. Hinter mir erhebt sich ängstlich ein spindeldürres Mädchen mit weißblondem Haar. Sie sieht jünger aus als ich, höchstens 13. Langsam nimmt sie ihre Reckriemen und folgt der Frau nach draußen. Als die Tür sich hinter den beiden schließt, bricht wildes Getuschel aus.
„Man, die sah ziemlich streng aus“, meint Lia, steht auf und rutscht langsam in den Spagat.
Völlig fasziniert schaue ich ihr zu.
„Gehen wir raus?“, frage ich, „da ist mehr Platz.“
„Gute Idee.“
Draußen beginnen wir mit einfachen Teilen. Handstand mit möglichst vielen Drehungen, Bogengang vorwärts und Rückwärts, Handstandüberschlag. Die wirklich schweren Teile wollen wir nicht üben, dafür ist der Boden viel zu hart auf dem Gang.
Alle 20 Minuten kommt die Frau wieder und holt ein Mädchen nach dem anderen. Katharina Landheck, Melanie Grals, Valerie Marie Takleta. Als Valerie gehen muss, stehe ich alleine im Gang. Erstaunlicherweise ist sonst keiner auf die Idee gekommen, die überhitzte Umkleidekabine zu verlassen und auf dem Gang zu üben.
Seufzend beginne ich, Drehungen und Sprünge zu üben. 20 Minuten später kommt die Frau wieder.
„Serafina Mira Reikel bitte.“
Schluck. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich traue mich kaum, noch einmal in die Kabine zurückzugehen, tue es aber dann doch. Mit Reckriemen und Kürmusik kehre ich zurück nach draußen und folge der Frau in die Turnhalle.
Alle 4 Geräte sind hier aufgebaut: ein Bodenmattenquadrat, ein Stufenbarren, ein Schwebebalken und ein Sprungtisch. An einem Tisch sitzt eine Jury mit 3 Mitgliedern.
„Hallo Serafina. Wir haben ausgelost und würden von dir gerne deine Bodenübung und deine Barrenübung sehen. Mit was möchtest du beginnen?“
Ein kurzer Blick um mich und ich bezweifle, dass gelost wurde. Auf dem Sprungtisch ist nicht eine Spur Magnesia zu sehen und am Schwebebalken steht nicht einmal ein Sprungbrett. Aber ist auch klar, warum sie unbedingt Boden und Barren sehen wollen. Am Boden erkennt man am besten, wie gespannt, grazil und konzentriert eine Turnerin ist. Und am Barren braucht man unglaubliches Gleichgewicht und Körperbeherrschung. Wenn man das nicht hat, hat man beim Turnen verloren.
„Ich würde gerne am Barren anfangen“, erwidere ich zögerlich.
Jetzt geht es los. Jetzt geht es um alles. Langsam lasse ich Magnesia auf meine Reckriemen rieseln und begrüße die Kampfrichter. Ich stelle mich in Position, spanne meine Muskeln bis zum Zerreißen und springe.

Mittwochs morgens in der letzten Schulwoche findet Mum den Brief. Wir hatten nicht mehr damit gerechnet, und umso erstaunter öffne ich ihn und fange langsam an zu lesen. Einmal, zweimal, dreimal lese ich mir die wenigen Zeilen des Formbriefes durch.
„Mum, ich … ich glaube ich bin … aufgenommen. Aber ich bin mir nicht sicher ...“, stammele ich.
„Lies du mal bitte.“
Schweigend nimmt Mum den Brief und beginnt zu lesen. Ich sehe wie ihre Augen mehrmals über die Zeilen hüpfen, dann schaut sie auf.
„Ich glaube … du hast Recht“, erwidert sie tonlos.
Warum kann ich mich in diesem Moment nicht freuen? Weil ich meine Eltern jetzt nur noch an den Wochenenden sehe? Weil ich Connor noch alles beichten muss? Weil ich Anna vermissen werde?
Oder einfach nur, weil mir gerade bewusst wird, wie viel Verlust auch in diesem Gewinn steckt?
„Ich freue mich Schatz“, sagt Mum mit einem übertriebenen Lächeln auf den Lippen. Ich sehe, wie schwer ihr das fällt und nehme sie lange in dem Arm.
„Mum, ich komme euch besuchen. Jedes Wochenende. In Ordnung?“
„Ja“, sagt sie. Ja. Mehr nicht.

„Du bist WAS?“, ruft Anna und umarmt mich stürmisch. Dann fällt ihr ein, was mir schon seit heute morgen klar ist. Sie drückt mich an der Hüfte von sich weg und schaut mich argwöhnisch an.
„Du wirst mich doch nicht vergessen, oder? Serafina Reikel? Ich bitte dich!“
Plötzlich sehe ich ein Glänzen in ihren Augen und eine Träne kullert ihr die Wange hinunter. Sie hinterlässt einen schwarzen Mascarastreifen. Ich ziehe ein Taschentuch aus meiner Jackentasche und wische ihn weg.
„Hey, nicht weinen Süße“, murmele ich. Doch Sekunden später liegen wir uns beide weinend in den Armen. Nach gefühlten drei Tagen lösen wir uns voneinander und Anna sieht mich forschend an.
„Du hast es Connor noch nicht gesagt. Da kommt er, willst du es ihm jetzt sagen?“
„Ja“, sage ich. Ja. Mehr nicht.

„Bonjour ma petite“, murmelt Connor und ich vergrabe mein Gesicht in seinen Haaren. Ich kann es ihm nicht sagen, ich kann einfach nicht. Aber ich muss. Oh mein Gott in was ich mich da hinein geritten habe.
„Connor, ich … wir müssen reden.“
Connor zuckt zusammen, das spüre ich. Dieser Spruch zieht bei Jungs immer, vor allem bei Connor. Er hasst reden.
„Was ist los?“, fragt er misstrauisch, „hast du mir etwa zu beichten?“
Ich höre die Eifersucht in seiner Stimme. Es ist nur ein Hauch von Bestimmtheit in seinen Augen, trotzdem habe ich das Gefühl durchbohrt zu werden. Ich wende den Blick ab, sehe zu Boden.
„Ja. Also, nein. Doch …“, stammele ich, „aber nicht … so etwas.“
Irritiert versucht Connor mich anzusehen, schiebt seinen Zeigefinger unter mein Kinn und zwingt mich in seinen Blick. Dann küsst er mich. Langsam, vorsichtig. Ich spüre seine warme Zunge zwischen meinen Lippen, wie sie sich vortastet, seine Hände behutsam an meiner Hüfte. Ich will ihn wegschieben, will dass er damit aufhört. Doch er deutet meinen Kraftaufwand wohl eher als entflammende Leidenschaft. > Verdammt <, denke ich mir und beiße ihm auf die Zunge. Im nächsten Moment bereue ich es schon wieder.
„Au!“, ruft Connor empört, „man Fina was ist mit dir los??“
In seinem Blick liegt fast so etwas wie Ekel. Ich habe einen dicken Kloß im Hals und stammele bloß vor mich hin.
„Ich … Connor … verdammt ich habe mich auf einen Platz am Sportgymnasium Leipzig beworben und habe ihn bekommen.“
Jetzt ist es raus.
Unauffällig beobachte ich, wie sein Blick sich verändert. Ungläubigkeit, Entsetzen, Ratlosigkeit, Trauer, Wut. Nun überdeckt die Wut alles. Ich spüre sie wie heiße Lava aus seinen Augen quellen. Instinktiv zucke ich zusammen und lasse seine Hände los. Ein Fehler, wie mir im Nachhinein klar wird.
„Wie lange weißt du das schon?“, flüstert er.
Im Hintergrund höre ich, dass es klingelt und auch die letzten Zuschauer im Gebäude verschwinden. Ich hebe kurz den Blick und sehe in Annas ratloses Gesicht, bis sie sich schließlich mit einem Schulterzucken umdreht und das Gebäude betritt.
Unwirsch zieht Connor mich in eine unbeobachtete Ecke des Schulhofes, wo meine ganze Aufmerksamkeit ihm gewidmet ist.
Dann spuckt er mir seine Frage regelrecht vor die Füße: „Seit wann weißt du das?“
Langsam wische ich mir die Spucke aus dem Gesicht, sehe zu Boden und sage: „Seit heute Morgen. Aber ich warte seit über fünf Wochen auf diesen Brief, um genau zu sein seit dem 22. Mai, als ich dort vorgeturnt habe.“
Ich sehe, wie ihm die Wut in den Kopf steigt und sein Gesicht langsam aber sicher die Farbe dunkelrot annimmt.
„Und … du hast es nicht für nötig gehalten mir das zu erzählen? Ich habe hier Zeit mit dir verbracht, nichtsahnend, obwohl du wusstest, dass es vielleicht die letzten Stunden zusammen sind?“
„Ja“, antworte ich kleinlaut. Das dritte Ja für heute.
„Dann sollen das jetzt auch die letzten Stunden sein. Es ist vorbei Serafina Mira Reikel.“
Ich schlucke. Ich hatte fest damit gerechnet, trotzdem trifft es mich wie ein Schlag ins Gesicht. Doch ich versuche cool zu bleiben.
„Dann geh doch du Feigling! Wenn du es nicht einmal versuchen willst, geh! Dann hast du es nicht besser verdient!“
Das war zu viel. Für einen kurzen Moment sehe ich, wie enttäuscht und verletzt er ist. Doch dann beginnt Connor zu zittern, seine Hände ballen sich zu Fäusten. Als ich die aufkommende Aggression in seinen Augen sehe, weiche ich langsam zurück. Ich weiß, wie schnell er aggressiv wird und dann vergisst wen er vor sich hat.
Doch ich war zu langsam. Seine Faust schnellt nach vorne, trifft mich über dem Auge. Ich stürze zur Seite, schlage hart auf dem Boden auf. Mein Kiefer knackt und ich schmecke Blut.
„Sag das … nie wieder“, keucht Connor.
Das letzte was ich höre sind seine Schritte, die sich entfernen. Dann verliere ich das Bewusstsein.

Als ich aufwache, glüht mein Gesicht. Auf dem Schulhof ist es ruhig, das heißt es ist keine Pause in der mich jemand finden könnte.
Ich will mich aufrichten, aber mein Arm hält dem Druck nicht stand. Blind taste ich um mich, bis ich etwas finde, an dem ich mich hochziehen kann. Ich rappele mich auf, versuche mein Gleichgewicht zu finden. Dann taumele ich langsam in Richtung Mädchentoilette, um mich im Spiegel zu betrachten. Mein Mund schmeckt nach Blut und der metallische Geruch in meiner Nase macht mich wahnsinnig. Mein Spiegelbild sieht auch nicht viel besser aus. Meine Augenbraue ist aufgeplatzt, mein Auge geschwollen, meine Wange blutverschmiert. Das ist zu viel für meinen Magen. Ich stützte mich auf das Waschbecken und erbreche mein ohnehin schon spärliches Frühstück.
Vorsichtig versuche ich meine Wange zu reinigen. Sie brennt von Dreck und Blut, aber ich gebe nicht auf, bis auf meiner Wange nur noch ein paar weiße Risse zu sehen sind.
Meine Augenbraue hat aufgehört zu bluten. Mein Auge färbt sich schon langsam dunkelrot, also nehme ich mein Make-Up aus dem Ranzen und beginne das Veilchen zu überschminken.
Ich habe nicht vor, Connor zu verraten.
Dann wasche ich meine Haare aus und trockne sie unter dem Handföhn. Erst als mein Gesicht wieder einigermaßen passabel aussieht, gucke ich auf die Uhr. 9:17 Uhr. Zu Französisch schaffe ich es noch. Langsam mache ich mich in Richtung Schulgebäude auf. Mein Knie tut weh, aber es ist kein Fleck auf der Hose, also blutet es nicht. Wenigstens etwas. Ich betrete den Klassensaal ohne zu klopfen und setze mich auf meine Platz.
„Auraient-ils me raconter leur arrivée tardive, Madame Reikel?“, fragt Herr Laurent.
Ob ich ihm bitte erklären würde, warum ich zu spät bin.
„Je me suis senti malade et je dois vomir“, antworte ich ihm.
Mir sei schlecht geworden und ich hatte brechen müssen.
„Ahja“, sagt er nur und beachtet mich dann nicht weiter.
In Französisch bekomme ich kaum noch etwas mit, dann wird mein Kopfweh so schlimm, dass ich es nicht mehr ertragen kann.
„Frau Rauc?“, krächze ich in Mathe. „Ich kann nicht mehr. Mein Kopf dröhnt so, ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren … “
„Möchtest du heim gehen?“, fragt sie freundlich.
„Jaa, bitte“, jammere ich.
„Ist gut, Louise wird dir die Hausaufgaben bringen.“
„Danke.“
Schweigend packe ich meine Sachen zusammen und verlasse den Raum. Auf dem Schulhof laufe ich mitten in eine Gruppe Tauben, die kreischend das Weite suchen. Ihr Geschrei ist mir zu laut und ich stecke mir die Finger in die Ohren. Ich komme mir vor wie ein kleines Kind und verlasse fluchend den Schulhof.
Es ist 10:15 Uhr. Der Bus fährt stündlich, also habe ich noch Zeit. Irgendwie muss ich Anna erreichen. Da ich in der Pause nicht raus gegangen bin, macht sie sich bestimmt Sorgen. Nach kurzem Überlegen fällt mir ein, dass Anna jetzt Geschichte hat. Sie hasst alles, was auch nur annähernd mit Geschichte zu tun hat, deshalb holt sie immer ihr Hand raus und schreibt SMS. Ich werde sie also erreichen können.
„Muss mit dir reden, kommst heute zu mir?“ :* Finchen“, schreibe ich. Und wirklich, innerhalb von 30 Sekunden bekomme ich eine Antwort.
„Komme nach der Schule, wird schon gehen. :* Anna“
Gut. Wenigstens einer Person muss ich alles erzählen. Mum würde es nicht verstehen. Anna ist in meiner Parallelklasse, in Connors Klasse. Ich würde ihn nur noch in den Pausen sehen müssen, nur noch 3 Pausen muss ich aushalten. Das dürfte zu schaffen sein. Dann werde ich ihn wahrscheinlich nie wieder sehen, denn zum Abschlussball am Freitag Abend wird er sicher nicht kommen.
Mir steigen Tränen in die Augen, als ich an ihn denke, deshalb lasse ich es sein. Ich setze mich an den Busunterstand und höre Musik, bis mein Bus um 10:57 Uhr endlich eintrudelt. Mir ist kalt, obwohl es bestimmt 28°C im Schatten sind. Schnell springe ich auf und setze mich in den Bus. Ein Fehler. Mein Kopf rächt sich mit einem dumpfen Hämmern, das ich auch nach einer halben Flasche Wasser nicht loswerde.

Als ich zu Hause ankomme, bin ich allein. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel, dass im Kühlschrank eine Portion Tortellini steht. Ich ignoriere den Zettel, denn mir ist schlecht. Richtig schlecht. Ohne mich umzuziehen lege ich mich ins Bett und schlafe sofort ein.

Geweckt werde ich von einem wütenden Klopfen an der Balkontür. Als ich verschlafen die Treppe hinuntersteige, sehe ich Anna an der Scheibe.
„Das ist so typisch“, schimpft sie, als ich die Tür öffne, „die Klingel überhört sie, aber wenn ich an die Scheibe klopfe kommt sie.“
„Sorry, hab gepennt“, sage ich lachend. Das Lachen bleibt mir im Halse stecken, weil es so schrecklich wehtut. Unauffällig betaste ich mein Auge und merke, dass es noch geschwollener ist als vorhin.
„Oh mein Gott“, entweicht es Anna, als sie sieht wie ich aussehe, „was ist passiert?? Und warum war Connor nicht mehr im Unterricht? Also nach Latein ist er zumindest nicht mehr gekommen. Obwohl, wenn ich so überlege' … war er in Englisch auch nicht da.“
„Er hat Schluss gemacht. Ich hab ihn provoziert. Er hat mich geschlagen. Ich war ohnmächtig. Ich hab mich übergeben, dann gewaschen und dann konnte ich mich vor lauter Kopfweh nicht konzentrieren und bin in Mathe heim.“
Ich versuche das ganze so beiläufig wie möglich aufzulisten, doch ich sehe ganz genau wie Annas Augen sich vor Schreck bedrohlich weiten.
„Er hat … WAS?“, ruft Anna geschockt, „Finchen, du musst ihn anzeigen, das ist Körperverletzung!“
„Ich werde ihn nicht anzeigen Anna. Ich muss ihn noch 3 Pausen sehen und dann nie wieder, das werde ich wohl schaffen.“
„Du bist verrückt, eindeutig. Aber weißt du was? Ich rufe jetzt Robin an und frage, ob er schon eine Verabredung für den Abschlussball hat“, beschließt Anna.
Zwei Minuten später habe ich ein Blind Date für den Abschlussball.
Irgendwie freue ich mich. Ich muss Connor nicht sehen und kann einen letzten Abend ganz entspannt mit meinen Freunden verbringen. Doch wenn ich gewusste hätte, dass dieser Abend nochmal alles aufwühlen würde, hätte ich niemals zugesagt.

Als ich freitags mit Anna auf dem Heimweg bin, sind wir gut gelaunt. Sie kommt (mal wieder) zu mir und wir quatschen über Gott und die Welt. Doch im Moment sind unsere Zeugnisse Hauptthema. Ich bin eigentlich sehr zufrieden mit meinem „Giftzettel“, wie Anna die Zeugnisse nennt. Ich habe zwar immer noch eine vier in Englisch, aber dafür in Mathe und Deutsch eine zwei und in Französisch sogar eine eins (was für ein Zufall).
Anna ist eher so ein Deutsch und Latein Streber, dafür steht sie in Mathe gnadenlos auf fünf. Außerdem hat sie (genau wie ich) eine fünf in Geschichte. Doch da sie beides locker ausgleichen kann, macht ihr das keine Probleme.
Nachdem wir beide eine große Portion von Mums Speziallasagne gegessen haben, und viele Lobe auf uns eingeprasselt sind, verkrümeln wir uns in mein Zimmer. Als wir eine Weile gequatscht haben quietscht Anna plötzlich los: „Ah, shit, Mum, das Kleid!!“
Ich kapiere zuerst gar nichts, bis sie ihr Handy aus der Hosentasche zieht und schnell die Nummer ihrer Mutter wählt.
„Mum? Ja, du musst das Kleid noch vorbeibringen. Jaa, ich zeige dir mein Zeugnis. Jaaa. Beeil dich bitte!“
Sie lacht als sie auflegt und als eine viertel Stunde später ihr Mutter bei uns klingt entwickelt sich aus ihrem Lachen ein richtiges Strahlen. Annas Mutter ist Näherin und näht jedes Jahr unsere Kleider für den Abschlussball. Nach ewigen Diskussionen über unsere Zeugnisse kehren wir in mein Zimmer zurück und Anna kommandiert:
„Augen zu! Ich helfe dir jetzt, dein Kleid anzuziehen und dann darfst du gucken. In Ordnung?“
„Okaay“, lache ich.
Als ich endlich gucken darf, traue ich meinen Augen nicht. Das Kleid ist wunderschön.
Es ist orange und geht an der Hüfte leicht auseinander. Der Stoff geht bis kurz über das Knie, darunter gucken ein paar Zentimeter orangefarbener Tüll heraus. Es ist fast trägerlos, nur zwei dünne Schnüre um den Hals halten es fest.
„Wow.“
Mehr bringe ich nicht hervor. Mit triumphierendem Blick steigt Anna in ihr Kleid. Das selbe Model wie meines, nur in Türkis. Es steht ihr genauso toll wie das orange mir.
„So und jetzt überschminken wir dein Auge Süße“, meint Anna.
Das erweist sich mittlerweile als wirklich schwierig, denn mein Auge hat einen grün-lila Ton angenommen. Nachdem wir es endlich geschafft haben, schminken wir Anna. Dann sehen wir auf die Uhr. 18:07. Jetzt ist noch schnell Zeit um die Handtaschen zu packen und die Schuhe anzuziehen. Mist! Welche Handtasche passt zu diesem Kleid??
Als könnte sie meine Gedanken lesen zieht Anna noch zwei Satin Handtaschen aus der Kisten, in den passenden Farben zu unseren Kleidern. Ich lächele dankbar und stecke schnell Handy, Lipgloss und Schülerausweis hinein. Mehr brauche ich nicht.
Schnell schlüpfe ich unten in meine schwarzen Absatzschuhe und rufe nach Mum.
„Muuum, fährst du uns? Der Ball beginnt pünktlich um halb sieben mit einem langsamen Walzer und wir müssen Robin noch abholen!“
„Wer ist dieser Robin denn überhaupt? Und was ist mit Connor?“
Mum scheint verwirrt zu sein. Sie weiß nicht was los ist und hat nur am Rande mitbekommen, dass ich Stress mit Connor habe. Warum, weiß sie nicht.
„Siehst du dann. Und lass mich zufrieden mit Connor.“
An der Schule angekommen sehe ich mich kurz um und umarme flüchtig ein paar bekannte. Robin stakst schüchtern neben mir her und begrüßt jeden den ich kenne. Dann gehen wir schnell in die Turnhalle und suchen uns einen Platz für den Eröffnungstanz.
„Hallo Oskar Reime Gymnasium!“, begrüßt der Rektor uns, „ich freue mich wirklich, dass wieder so viele Schüler zum Jahresabschlussball hier am Oskar Reime Gymnasium gekommen sind. Doch ich will nicht lange reden, sondern den ersten Tanz freigeben. Los DJ, einmal langsamer Walzer bitte!“
Nach einem kurzen Applaus ist sofort die Musik zu hören und die ersten Paare setzen ein. Robin umschlingt meine Hüfte, nimmt meine Hand und beginnt zu tanzen. Er tanzt gut. Richtig gut. Eigentlich tanzt er besser als ich. Aber das ist auch kein Wunder, wenn man selbst nur den Grundkurs an der Tanzschule gemacht hat.
„Du tanzt gut“, sage ich und beuge mich an sein Ohr. „Tanzschule?“, frage ich.
„Ja“, antwortet er verlegen, „Bronze Kurs, habe nächste Woche Abschlussball.“
„Wow“, sage ich nur, während er weiter führt.
Erst jetzt komme ich dazu, mir Robin etwas genauer anzusehen. Er hat blonde, mittellange Haare, dunkelblaue Augen und einen kleinen Schmollmund. Er kann bestimmt gut küssen aber er ist nicht wirklich mein Typ.
Dem langsamen Walzer folgt ein Disco Fox und dann ein Cha Cha Cha. Dann machen Robin und ich eine Pause. Doch lange halten wir es nicht am Rand aus, bis wir wieder die Tanzfläche stürmen. Robin tanzt total gerne und ich genieße es einfach. Ich hatte damals mit dem B-Kurs weitermachen wollen, aber das war wegen meinen Profiturnerplänen nicht gegangen. Doch bevor ich anfangen kann, das zu bereuen, höre ich eine mir nur all zu bekannte Stimme an meinem Ohr.
„Darf ich übernehmen?“, fragt Connor.
„Ja, gerne“, antwortet Robin kleinlaut. In diesem Moment verfluche ich Robins Schüchternheit. Heiße Wut lodert in mir auf als Connor mich an sich zieht und einfach weiter tanzt. Ich erhasche einen Blick in Annas ängstliches Gesicht und sehe, dass sie unauffällig in meine Richtung tanzt.
„Das du dich hier überhaupt noch her traust...“, zische ich wütend und gleichzeitig enttäuscht. Ich merke, wie mir Tränen in die Augen schießen und blicke trotzig nach unten.
„Nicht hier“, lächelt Connor hämisch und tanzt langsam auf einen Notausgang zu. Schnell reißt er die Tür auf, stößt mich hinein und drückt mich gegen die Wand. Es ist dunkel hier und es riecht total muffig. Connor schwitzt und ich halte angewidert die Luft an.
„Was soll das?“, frage ich gepresst.
„Sch...“, macht Connor nur und legt mir einen Finger auf die Lippen. Als ich merke, wie zärtlich er ist, wird mir richtig warm. Es ärgert mich, denn eigentlich will ich nichts mehr mit ihm zu tun haben.
Doch bevor ich mich darüber aufregen kann, legt Connor richtig los. Er nimmt mein Gesicht in seine Hände, zieht mich am Nacken zu sich.
„Connor, nein“, flüstere ich doch es ist zu spät. Er küsst mich und ich spüre die Verzweiflung in diesem Kuss. Er wandert mit seinen Lippen meinen Hals hinunter, stöhnt leise, macht weiter.
„Connor bitte...“, sage ich leise in sein Ohr. Doch ich merke, dass ich mit Worten nicht ändern kann.
„Merde!“, fluche ich und haue Connor meinen Absatz in den Fuß.
„Oh scheiße!“, schreit Connor. Nicht einmal die französische Übersetzung fällt ihm ein.
„Connor Mayer. Lass mich endlich in Ruhe! Bitte!! Ich will dich nicht mehr sehen!“
Mit diesem Worte öffne ich die Tür und stürme zurück in die völlig überfüllte Turnhalle. Als ich seine Schritte hinter mir zu hören glaube, beginne ich zu rennen.
„Fina, warte! Ich liebe dich!“
Endlich habe ich die Tanzfläche erreicht und Robin entdeckt.
„Tanz einfach Robin, und ignorier jeden der kommt“, murmele ich in sein Ohr. Irritiert sieht Robin mich an, doch er sagt nichts und ich bin froh darüber. Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass die Blicke der ganzen Halle auf mir lasten und schließe kurz die Augen, um mich zu konzentrieren.
Als ich sie wieder öffne, tanzt Anna an mir vorbei.
>Gehen?<, formt sie lautlos mit ihren Lippen. Ich nicke und erkläre Robin kurz, dass wir jetzt gehen und er mich wahrscheinlich nicht mehr wieder sehen wird.
„Warum?“, fragt er und ein Ausdruck tiefer Traurigkeit huscht über sein blasses Gesicht.
>Und so etwas schon nach einem AbendLiebe Anna,

die erste Woche hier war echt einfach nur krass. Wie du weißt, sind wir Samstag hier angereist. Ich bin mit Valerie auf einem Zimmer, das etwas kräftigere Mädchen von dem ich dir schon erzählt habe. Sie ist total nett, und ich glaube mit ihr habe ich einen guten Fang gemacht. Außerdem ist sie für jeden Spaß zu haben. Aber keine Angst, ich besuche dich trotzdem weiterhin!!
Es gab dann abends Essen und wir hatten Zeit, unsere Taschen auszupacken und es uns ein bisschen gemütlich zu machen.
Sonntag gab es dann das große Treffen für alle Internatsschüler zum Klären aller Fragen. Der übliche Mist eben: Keine Zigaretten, kein Alkohol, keine Drogen. Logisch.
Bei dem Treffen habe ich ihn dann zum ersten Mal gesehen. Wow Anna, so einen Typen hast du noch nie gesehen! Und stell dir vor, er hat einfach die ganze Zeit zu mir geschaut...
Es war toll. Die ganze Woche habe ich ihn dann immer wieder 'zufällig' auf dem Gang gesehen.
Vom Aussehen her ist er das komplette Gegenteil von Connor, und trotzdem fand ich ihn sofort gutaussehend. Er hat ganz blasse Haut, schwarzes, widerspenstiges Haar und stahlblaue Augen. Er sah so brav aus in seinen Klamotten, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, mit ihm kann man Pferde stehlen. Mittwoch hat er mich dann nach Sport abgefangen und ganz frech ein Gespräch mit mir angefangen.
Er war einfach so locker, als ob er das schon tausendmal gemacht hätte. Und trotzdem kommt er nicht wie ein Aufreißer rüber. Er hat sich ganz cool gegeben und trotzdem war er total unsicher. Beides. Gleichzeitig!
Ich weiß, das ist total unlogisch, aber du solltest ihn sehen, ehrlich! Er hat etwas total geheimnisvolles, er ist unsicher und sicher zugleich und er hat dieses Lächeln, dass mich jedes Mal zum Schmelzen bringt … Als ob die Sonne nicht schon heiß genug wäre!
Apropos, wie warm ist es bei euch? Kommst du oft zum Schwimmen? Bei uns sind es so oft über 33°C – ich bin wirklich froh, dass die Turnhalle eine Klimaanlage hat! Denn bei sechs Stunden Sport die Woche rinnt der Schweiß wirklich durch alle Ritzen.
Aber ich schweife ab, eigentlich wollte ich noch mehr von diesem Jungen erzählen. Darian heißt er, das weiß ich mittlerweile. Er hat mich also mittwochs abgefangen und sich mit mir unterhalten. Er heißt Darian, fährt Kanu und kann Gitarre spielen.
Oh Gott Süße er hat mich beim Essen IMMER angesehen, das war so faszinierend! Er hat einfach etwas total geheimnisvolles an sich … Aber ich sollte wirklich aufhören zu schwärmen, oder? Lieber erzählen, was noch passiert ist. Gestern Abend hat es an unserer Tür geklopft.
Lia (Valerie) hat geöffnet, doch vor der Tür lag nur ein Brief. Er war an mich adressiert. Auf einem kleinen Zettel stand in schwungvoller Schrift: „Treffe dich morgen um 15:00 Uhr am Schachfeld. Sei pünktlich. Darian.“
Und jetzt ist es 14:12 Uhr !!! Ich bin total aufgeregt! Ich werde mich jetzt fertig machen und dann gehe ich dort hin. Was soll ich anziehen? Ich glaube ich ziehe das dunkelblaue Print-Shirt und den schwarzen Ballonrock an, den wir im SSV ergattert haben. „Kiss me or die“ Denkst du das ist zu extrem? Hält er mich dann für schlampig? Hm, naja, wird schon gehen. Irgendwie. :D
Er ist so süß!!!
Okay ich höre auf. Ich mach mich jetzt fertig und geh dort hin. Hab Schiss aber das geht schon. Irgendwie halt. Kennst mich ja.

Liebste Grüße
Dein Finchen :-*




Ich liebe dieses Outfit. Das Tanktop ist total hübsch – dunkelblau mit einer pinken Rose und der Aufschrift „Kiss me or die“. Es ist herausfordernd, aber ich glaube, so schätzt Darian mich auch ein. Darian. Der Name klingt so wunderschön. Aber ich schweife ab. Zu dem Top den schwarzen Ballonrock. Ich liebe dieses Teil. Luftige Kombi, aber bei 32°C im Schatten auch nötig. Dann stehe ich vor meinem und Lias Schuhregal und überlege. Schwarze Ballerinas? Pumps? Nein, zu warm. Ich nehme die Ballerinas und beginne mich zu schminken. Puder, Mascara, Labello. Mehr brauche ich nicht. Ich mag meine Schminke lieber dezent. Jetzt ist es 14:48. Eigentlich habe ich noch Zeit, aber ich bin total aufgeregt und mache mich auf den Weg. Zwischen ein paar Gebäuden gibt es hier auf dem Boden ein kleines, gefliestes Schachfeld. Die Figuren dazu kann man sich im Aufenthaltsraum holen, so viel habe ich in den paar Tagen schon herausgefunden. Schnellen Schrittes gehe ich in Richtung Schachfeld. Als ich dort ankomme, bin ich erstaunt. Es kann höchstens zehn vor drei sein und trotzdem steht Darian schon da. Ein ganz Pünktlicher also. Oha.
„Hey“, sage ich schüchtern. Dann gehen mir die Worte aus. Darian steht da, die schwarzen Haare total niedlich verwuschelt, und schaut mich mit großen Augen an. Er hat ein weißes T-Shirt mit Aufdruck an und eine karierte ¾ Hose. Er sieht umwerfend aus. Dann entdecke ich die Rote Rose in seiner Hand.
„Die ist für dich“, sagt er nur.
Ach, ehrlich. Hätte ich jetzt nicht vermutet. Doch ich verkneife mir den unnötigen Kommentar. Er ist aufgeregt und er hat es gut gemeint.
Die Rose duftet wundervoll. Ich weiß gar nicht mehr was ich sagen soll. Und ich habe das Gefühl, er weiß es auch nicht. Schweigend setzen wir uns auf die warmen Platten.
„Du bist ein starkes Mädchen, oder Serafina?“, fragt er plötzlich.
„Ähm...was?“, antworte ich verdutzt. „Wie meinst du das? Ich … ähm … kann sein.“
Ich erinnere mich an Connor. Das mit seinem Schlag habe ich ganz gut verdaut. Es ist nicht einmal ein Schimmer zurückgeblieben, und ich bin froh darüber. Stellt euch mal vor, ihr rennt euer ganzes Leben lang mit einem blauen Streifen unter dem Auge herum? Das muss schrecklich sein. So kann ich wenigstens anfangen, diesen Mistkerl zu vergessen. Er hat mich seitdem nicht einmal in Ruhe gelassen. Gefühlte Tausend SMS und Anrufe kamen von ihm. Ich habe nicht einmal zurückgeschrieben. Nur einmal bin ich ans Handy gegangen.
„Lass mich jetzt endlich in Frieden Connor!!!“
Das war beim letzten Mal. Danach war ich so genervt, dass ich seine Nummer zuerst gelöscht und dann auf die Blacklist gesetzt habe. Seitdem ist Ruhe. Zum Glück.
„Serafina?“, reißt Darian mich aus meinen Gedanken. „Du musst mir nicht antworten wenn du nicht willst. Hast du gehört?“
„Ja, ja, tut mir leid. Ich … war in Gedanken. Aber ich denke, ja, ich bin wahrscheinlich schon ein starkes Mädchen. Je nachdem wie du das definierst. Aber ja, ich denke schon.“
Ich lehne mich an Darians Schulter an. Sie ist muskulös vom vielen Kanufahren aber trotzdem sehr bequem. Wobei wahrscheinlich jede Schulter bequem ist, wenn man die Person dazu mag.
„Du turnst schön“, murmelt Darian.
Ich habe das Gefühl, er ist nicht mehr wirklich bei der Sache.
„Serafina du bringst mich durcheinander“, antwortet er auf meine unausgesprochene Feststellung.
„Ich kann mich in deiner Anwesenheit einfach nicht konzentrieren. Das ist schlimm. Ich bin fast froh, dass ich nicht auch turne, sonst wäre es vorbei mit meiner Profikarriere.“
Bei diesen Worten sehe ich aus dem Augenwinkel ein Lächeln über sein Gesicht huschen. Seine Augen strahlen und um seinen Mund bilden sich kleine Lachfältchen.
„Weißt du was Serafina übersetzt bedeutet?“, fragt er.
„Ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht“, antworte ich zögerlich, „warum fragst du?“
„Im Hebräischen heißt es 'die Feurige'.“
„Aha“, sag ich nur. Ich weiß nicht was ich sagen soll. Bin total sprachlos.
„Bist du denn feurig?“, fragt er. Er wirkt total verunsichert und gleichzeitig so, als hätte er sich tausendmal überlegt, was er sagen will.
„Keine Ahnung...“
Ich schweige, doch es ist mir nicht unangenehm. Ich höre seinen Atem. Ein, aus, ein, aus. Ganz ruhig.
„Ich kann es ja mal ausprobieren“, flüstert Darian schließlich.
Dann küsst er mich.
In diesem Kuss liegt alles. Verzweiflung, Sehnsucht, Hoffnung. Und plötzlich bin ich glücklich. Ich erwidere den Kuss und schlinge meine Arme um seinen Hals. Das muss wahre Liebe sein. Denn wahre Liebe verändert sofort alles, was du vor einem Moment noch für wichtig gehalten hast.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.12.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für ... ... meine Eltern. Weil sie meine Schreiblust unterstützen. ... meine inoffizielle Lektorin. Weil sie mir so viel geholfen hat :-* ... die besten Freunde der Welt. Weil sie ohne Widerworte alles gegenlesen was mein Gehirn zu Stande bringt.

Nächste Seite
Seite 1 /