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Prolog

Die Äste klatschen vom Wind aufgepeitscht wieder an die bleiernen Fenster, als suchen sie Zuflucht im Herrenhaus. Äste und Regen, gefolgt von Donner. Der Wind schreit durch die Wälder und lässt vereinzelte Fensterläden klappern und die Bäume knarzen. Angsteinflößende Geräusche für eine siebenjährige, allein im Zimmer. Einer der Gründe, warum sie sich ihren Weg runter in das warme Kaminzimmer suchte. Sie suche Schutz in der Wärme vor dem kalten, anhaltenden Sturm.
Vielleicht ist es auch die Unruhe des Hauses, welches sie in Nächten wie diese umso mehr spürt. Die Unruhe, die in diesem Herrenhaus schon seit zwei Wochen herrscht, vom ersten Tag an, als ihre Mutter das Bett nicht mehr verlassen konnte. Sie spürt die Unruhe, doch kann sie nicht nachvollziehen. Wie den auch: Sie hatte vorher noch keine Berührungspunkte mit Gevatter Tod. Doch sie spürte den Schmerz, ihre Mutter nicht sehen zu können. Man hatte ihr erklärt, ein Kind solle seine Mutter nicht so sehen. Auch wenn die Dienerschaft vor ihr lächelte und ihr gut zuredete, kann Vala spüren, dass die Erwachsenen es nicht so meinen. Doch so sehr man um die Gräfin bangte, umso mehr bangte man auch um das Wohl der Familie.
Denn es gab niemanden, welcher dieses kleine aufgeweckte Mädchen mit den strahlenden Augen in den Farben eines tiefen Ozeans nicht gerne mochte. Jeder war bemüht, sich vor dem Kind die Sorgen um ihre Mutter, die Herrin des Hauses, die Frau und geliebte Ehefrau des Grafen, nicht anmerken zu lassen. Doch sie sind groß.

Graf Richard Batiste stiefelt unruhig vor dem Kamin hin und her, lässt bei jedem zweiten Schritt die Holzdiele des rustikal eingerichteten Raumes knarzen. Seitdem der Bote losgeritten war, drohte diese Unruhe mehr denn je, sein Herz zu verschlingen.
Vor ein paar Tagen half er seiner Frau, das Schriftstück zu verfassen. Sie war bereits zu geschwächt, ihre Hand zitterte und verschmierte einige Buchstaben auf dem Pergament, doch es war leserlich genug, um den Inhalt zu verstehen. Er wusste nicht genau, an wen sich der Inhalt richtete. Es waren zwar Bezeichnungen drin wie „mein König“, jedoch bezweifelte er stark, dass die Worte an ihren echten König gerichtet waren.
Es gab ein paar Dinge, die sie ihm nicht erzählte. Sie hatte ihn anfangs, als sie sich näher kennengelernt hatten, darum gebeten, ihr keine Fragen über die Vergangenheit zu stellen. Es störte ihn bis dato auch nie. Doch jetzt, da sie beinahe mit beiden Füßen über die Schwelle des Todes tritt, wollte er wissen, wer da um Hilfe gebeten wurde. Er wollte wissen, ob sie überleben konnte und ob diese Hoffnung nicht trügerisch ist.
Der Medicus ist bereits ein Dauergast und unterstützte sie mit Arzneien. Anfangs lächelte er noch und scherzte, dass er sich nicht sicher ist, wer hier der eigentliche Medicus ist, da Sarah ihn um Kräuter bat und andere wiederum ablehnte. Doch mit den Tagen verschwand auch das Lächeln aus dem Gesicht des betagten Mannes. Aus einem anfänglichen Fieber wurde eine sich langsam ausbreitende Lähmung, die einen sich stetig verlangsamenden Herzschlag mit sich brachte. Richard erschauderte noch immer, wenn er an die Nacht zurückdachte, in welcher er vom Schrei seiner Gattin geweckt wurde. Ein Schrei, den er noch nie aus ihrem Munde gehört hatte. Als würde sie gefoltert werden. Egal wie er sie in die Arme nahm, er konnte sie anfänglich nicht beruhigen.

Richard lehnte sich mit beiden Händen an den Kaminsims, die Stirn durchfurcht von Sorgenfalten, die Augen geschlossen. Dunkle Schatten ziehen sich über seine geschlossenen Augenlieder, vom Flackern der Flammen. Seine Augen brennen bereits vor Müdigkeit, doch er weiß, dass er keinen erholsamen Schlaf finden würde.
Erst als er ein Ziehen an seiner Hose spürt, öffnete er die Augen wieder und schaute in die fragenden Augen seiner Tochter, die zu ihm hochschaut und fordernd die Arme nach ihm austreckt. Er hebt sie hoch. Sie bettet ihr Gesicht in seine Halsbeuge. „Konntest du nicht schlafen?“
Statt einer Antwort fühlt er, wie sie in seiner Halsbeuge nickt. Er lächelt und drückt seine einzige Tochter fest an sich wie ein Rettungsring auf dem stürmischen Ozean. Er wiegt sie in seinen Armen, summt dabei vor sich hin, während er langsam, diesmal vorsichtiger, wieder vor dem Kamin auf und abgeht. Dabei schaut er immer wieder hoch zum Familienportrait, das über dem Kamin hängt. Sarah in ihrem grünen, schulterfreien Kleid, Ava als Baby in ihrem Arm und er in seiner Bankettuniform hinter ihr. Seine Hand stolz auf ihre Schultern. Beide lächeln glücklich.
Traurig wendet er den Blick ab. Er spürte den immer ruhiger werdenden Atem des Mädchens. Er legte seinen Kopf auf ihren. Spürte die Wärme, bis ein lautes Klopfen ihre Zweisamkeit unterbricht. Alarmiert schreckte sein Kopf hoch. Er wagte es nicht, auf den Boten zu hoffen.

Der treue, haarlos betagte Diener klopft vorsichtig an der Tür und tritt nach einem kurzen zustimmenden Rufen seines Herren ein.
„Monsieur, ein junger Mann wartet vor der Tür, er bittet um Einlass.“ „Er hat mir dies übergeben“, der Diener tritt an den Grafen heran und überreicht ihm die Schriftrolle, welche Richard natürlich auf Anhieb erkennt. Das Zeichen, auf das er gehofft hatte.
„Lasst ihn sofort rein!“
Von der scharfen Stimme ihres Vaters aufgeschreckt, bewegt sie das Mädchen unruhig in seinen Armen und schaut neugierig zu ihm hoch.
Der Diener eilt hastig aus dem Raum und bittet den Fremden herein. Die durchnässte Robe hinterlässt dunkle, nasse Spuren auf dem Boden. Die Kapuze verhüllt einen Teil des Gesichts des Fremden in einem mysteriösen Schatten. Mit einer Eleganz, die angesichts der Umstände fast arrogant wirken könnte, betritt er den rustikalen Raum. Vor dem Grafen kniet er kurz nieder, steht dann wieder auf und streift die Kapuze in einer fließenden Bewegung ab. Sowohl der Diener als auch der Graf betrachten den Fremden skeptisch, da sie dieses Verhalten als seltsam empfinden. 
Vala wiederum betrachtet den Fremden mit der offenen Neugier eines Kindes.
„Was führt euch zu dieser späten Stunde in mein Haus, Fremder.“
"Graf Batiste. „Ich bin hier, um ihrer werten Gattin die Medizin zu bringen.“

Darf ich wieder zu hoffen wagen? „Sagt Fremder, ist das auch ganz sicher, dass die Medizin ihr helfen wird?“

Während er spricht, setzt er seine Tochter ab. Diese versteckt sich sogleich schüchtern hinter ihrem Vater, wendet aber den Blick nicht vom Fremden ab. Von ihren Augen angezogen, kreuzen sich ihre Blicke. Sein Schmunzeln verleiht seinen sonst energischen Gesichtszügen gleich einen liebevollen Ausdruck, doch weicht kurz darauf einer Art Überraschung, als er ihr in die Augen blickt. Diese Augen erinnern ihn an den Ozean, umrahmt von hellen Wimpern. Sie kann ihrerseits ihren Blick von seinen seltsam wunderschönen Augen abwenden.
Richard bemerkt den Blick der beiden und räuspert sich sogleich: “Verzeiht, Fremder, das ist meine Tochter, Vala.” 
Andrej kniet sich nun hin und reicht ihr die Hand: ”Hallo Vala, ich bin Andrej Sàrkàn.” 
Bevor sie ihm ebenfalls die Hand reicht, schaut sie fragend hoch zu ihrem Vater, der ihr aufmunternd zulächelt. Langsam gibt sie dem Fremden die Hand und antwortet in ihrer kindlichen Stimme: “Ich bin Vala.”
Er hebt beide Augenbrauen, wobei seine Mundwinkel noch weiter hoch wandern: “Es freut mich dich kennen zu lernen.” Sie lächelt ebenfalls, doch kaum hat er ihre Hand losgelassen, versteckt sie sich wieder hinter ihren Vater. Andrej, den Blick immer noch ihr zugewandt, steht langsam auf, ehe er sich dem Grafen zuwendet. Im Gesicht des Mannes vor sich, erkennt Andrej die Anzeichen der Erschöpfung, die auch ihn selbst vor zwei Wochen gequält haben. Er sieht die Augenringe unter den schmalen, blauen Augen und die kränkliche Blässe. Er hatte Richard kurz vor Jahren von weitem gesehen doch fand er keine Ähnlichkeit mehr zum blonden Schönling von damals. Vor ihm steht ein Mann, dessen Verlust seiner Gattin ihn brechen würde.
“Sie haben eine wunderschöne Tochter, Graf Batiste.” 
“Das hat sie von ihrer Mutter”, bei diesen Worten verdüstert sich das Gesicht des Grafen: “Wo ist mein Bote, den wir vor 4 Tagen entsandten? Wieso bringt nicht er die Medizin?” 
“Ich konnte ihn in seiner Verfassung nicht zurückreiten lassen. Meine Familie fürchtete das ansonsten jede Hilfe zu spät käme. Aus diesem Grunde wurde ich entsandt. Doch seid unbesorgt, der Bote ist sicher bei uns und wird in wenigen Tagen wohl behalten zurückkehren.”
“Und die Medizin, wer versichert mir, dass sie wirken wird?”
“Niemand weiß das. Aber wenn ihr etwas helfen kann, dann ist es dies” - aus der Tiefe seiner schwarzen Robe holt er eine rubinrot schimmernde Phiole heraus. Andrej hält sie ins Licht der flackernden Flammen und Richard erkennt eine kupferrot schimmernde Flüssigkeit, die je nach Schattenspiel die Farbe in ein tiefes Blutrot verwandelt.
“Graf Batiste”, unterbricht Andrej den Grafen, während dieser die Phiole kritisch mustert, “heute Abend ist nicht die Zeit, zu hinterfragen, sondern eine Zeit des Handelns. Ich bitte sie, ihre Gemahlin lies nach mir rufen und das aus gutem Grund.”
Misstrauisch betrachtet der Graf den jungen Mann. Das kantig schmale Gesicht, die nach hinten gebundenen, dunklen Haaren. Die hohen Wangenknochen, vom Bartschatten bedeckt. Die vollen Lippen. Ein ernstes Gesicht. Wie ein Bildnis, über das er sich noch keine abschließende Meinung gebildet hat. Als würde er eine düstere Apoll Staute betrachten. Er schüttelt müde den Kopf und winkt ab, als würde er sich geschlagen geben: “Ich weiß nicht, wer ihr seid und woher ihr kommt, noch warum Sarah euch rufen ließ. Meine Gattin vertraut euch offensichtlich ihr Leben an, so muss auch ich euch vertrauen.”
Er winkt rüber zum Diener, der während des ganzen Gespräches geduldig neben der Tür stehen blieb, um auf weitere Anweisungen seines Herren zu warten: “Raphael, bring ihn bitte hoch zu Sarah.”

 

Keine fünf Minuten später und Andrej befand sich im Zimmer der Totkranken. Auf dem Weg dahin, erbittet er um einen Kelch mit Wein, golden soll er sein.
Im Krankenzimmer wurden die junge Pflegerin und der Medicus sogleich rausgeschickt. Deren anfängliche Proteste wurde sogleich durch den düsteren Blick des Fremden unterbrochen. Ein gnadenloser Blick, der die beiden vor Schreck verstummen lässt. 

 

Kaum hatten die Bediensteten das Zimmer verlassen, setzte sich Andrej vertraut an den Bettrand der Kranken. Das kleine Zimmer riecht nach Kräutern und eine ihm vertraut süßliche Nuance schwebte darin. Der widerlich, süßliche Geruch des Todes, den er ohnehin erwartet hatte. Sachte legt er seine warme Hand auf ihren kalten Handrücken.
Sein Blick wandert von ihrer Hand zu ihrem abgemagerten, von Leichenblässe gezeichnetes Gesicht. Ihre Hohen Wangenknochen sind durch ihr leiden eingefallen. Die sonst einst sinnlichen Lippen sind blutleer und spröde. Die Kastanienbraunen, schulterlange Haare kleben ihr teilweise auf der nassen Stirn. Man hatte die Kissen hochgelagert, so das sie zumindest aufrecht sitze konnte, um den Gast begrüßen zu können. Große Augen schauen ihn an, sie versucht zu Lächeln.
“Wie geht es dir?”
Trotz der Schmerzen, Fieberschübe und der Lähmung, die bereits von den Füssen bis hoch zu ihren unteren Extremitäten gekrochen war, hebt sie spöttisch ihre linke Augenbraue und antwortete mit zittriger Stimme: “Lass die Scherze, alter Freund.”
Er lächelt traurig, senkt kurz den Blick auf seine Hand, die auf ihrer liegt. Erst als sie sich mühselig räuspert, schaute er sie wieder an. Die matten dunkelgrünen Augen, ähnlich wie die seines Vaters, betrachten ihn nachdenklich. Er sieht, das da fast kein Leben mehr drin ist. Doch sieht er diesen einen Funken, ein Funke des Willens. Ihren Überlebenswillen.
“Hast du es dabei?”
Er nickt und stellt die schmucklose Phiole auf den Nachttisch.
“Wie ist sie...?”, sie vermochte den Satz vor Schmerzen nicht auszusprechen.
“Schmerzhaft. Aber tapfer, ihre letzten Gedanken galten dir.”
Eine einsame Träne bahnt sich den Weg aus ihrem Augenwinkel, während ihre Lippen sich vor innerem Schmerz verzerren. 

 

"Ich habe", ein kehliges Husten unterbricht sie, "ich habe sie immer gespürt. Immer. Aber jetzt spüre ich sie nicht mehr. Sie ist einfach...", wieder unterbricht sie sich. Ihre Lippen zittern vor unterdrückter Trauer. Ein Verlangen, vor Schmerz zu schreien, durchdringt sie erneut wie ein Sperstoss. So wie in jener Nacht, als sie es zum ersten Mal spürte. Als der Schmerz sie mitten in der Nacht weckte. Ihr Schrei war so laut, dass ihre Stimmbänder schmerzten. Sie krümmte sich vor Schmerzen und spürte nicht einmal ihren Gatten, der sie beruhigend umarmte. In diesem Moment war sie nicht mehr im ehelichen Schlafzimmer, sondern befand sich in einer düsteren Höhle. Sie schrie. Genau wie ihre Kameradin im Kampf gefallen war. Eine weitere Träne löste sich. 

 Sie atmet tief ein: "Ich hätte..."

"Du hättest nichts tun können. Du wärst mit ihr gestorben." Beschämt wendet Sarah den Blick ab. Andrej drückt sanft ihre Hand: "Deine Tochter..." 

 

 Ein leises Klopfen an der Tür unterbricht seinen Satz. Andrej nimmt dem Diener den Kelch dankend ab und schließt dann wieder die Tür zu. Den Kelch stellt er neben die Phiole ab. Sie hustet kurz, ehe sie antworte: “Vala, sie zeigt keine Anzeichen, wenn du das Wissen möchtest.”
Wortlos nickt er, ohne durchblicken zu lassen, was er wirklich fragen wollte. Seine Miene wird ausdruckslos, es ist an der Zeit.
Als er den Verschluss der Phiole abnimmt, erfüllt ein metallener Geruch den Raum. In einer geübten Bewegung kippt er den gesamten Inhalt in den Wein und reicht der Kranken den Kelch.

Doch bevor sie das Geschenk annimmt, stellt sie eine entscheidende Frage: “Nichts ist geschenkt. Was ist der Preis. Phiolas Leben hatte auch einen Preis.”

Sie sprach von der alten Legende. Die Preisfrage, die sie rezitiert.
„Ich glaube du hast deinen Preis bereits bezahlt“, erwidert er ruhig.
Sie schüttelt den Kopf und ihr Körper wird von einem weiteren Hustenanfall durchgeschüttelt. Sie bedeckte ihren Mund mit einem Taschentuch. Als sie ihn wieder runternahm sah er eine Mischung aus Blut und schwarzen Schleim.
„Alter Freund“, flüstert sie leise „Ich bin keine Kriegerin des Königs mehr. Nenne mir den Preis.“
Seine Gedanken wandern weiter und er denkt an das kleine Mädchen, das sich schutzsuchend hinter dem Vater versteckte. Er schließt kurz die Augen und stellt den Kelch widerwillig zurück. Sarah beobachtet seine gequälte Miene. Sie möchte sich aufrichten, besorgt zu ihm lehnen doch die Schmerzen halten sie zeitgleich von diesem Versuch ab. “Was ist los?”
“Wir haben innert der Familie ein Problem.” Verständnislos schaut sie ihn an. Mit düsterer Miene fährt er fort. Die Iris um seine Augen scheint nun feuerrot zu leuchten. Andere würden es für eine Einbildung halten, sie jedoch kennt Andrej. Zu lange hat sie an seiner Seite gestanden.
“Wir haben nur eine in unserer Reihe, die passen würde. Aber auch nicht gänzlich, und ich bräuchte jemand, der passt.”
Sarah beißt sich auf die Unterlippe, kneift die Augen fest zusammen. Als wolle sie nicht sehen, was sie doch längst begriffen hat. Tonlos bringt sie die zwei Wort hervor: “Meine Tochter.” 

der Platz der Liebenden

Still, kein Knarren oder Flüstern durchdringt die Holztür, als das fünfzehnjährige Mädchen ihr Ohr dran presst, bevor sie diese leise öffnet. Im Haus herrscht Totenstille. Der lange Flur vor ihr ist in nächtlicher Dunkelheit gehüllt. Die paar Türen, welche den Gang links und rechts vor ihr säumen, sind alle zu. Vorsichtig schließt sie die ihrige hinter sich. Jeder ihre Bewegung ist langsam und von Vorsicht geprägt. Die Wandlampen im Gang spenden nur spärlich Licht. Dennoch hüllt sich das Ende des schmalen Ganges in ein Geflecht aus Dunkelheit, das sich wie ein Netz erst mehr und mehr bei ihrem näher kommen lichtet. Mit weiten Schritten durchquert sie den Gang, ist dankbar um den dicken Teppich, der jedes Geräusch verschluckt. Besonders jetzt, wo sie befürchtet, dass selbst ihr Herzschlag sie verraten könnte – er schlägt vor Aufregung bis in ihre Kehle hoch. 

Die Dienerschaft würde sie sicherlich verpfeifen und danach höhnisch über die Fünfzehnjährige schmonzen. Das wollte sie auf alle Fälle vermeiden. Ganz zu schweige von der Auseinandersetzung mit ihrem Vater. Alleine die Erinnerung an seinen zornigen Blick, wenn sie sich zu wütenden Schlitzen verformen. Das Aufblitzen seiner hellen Augen, wie eines zum Angriff gezücktem Schwert und dieses lange Schweigen, bevor sie deutlich seine Enttäuschung in seiner Stimme hört. Ihn so zu sehen, schmerzt sie mir mehr, als es eine Ohrfeige getan hätte. Diese Art der Zurechtweisungen alleine ist es, welche sie normalerweise von kleinen Dummheiten abhalten - sofern sie diese als sinnlos klassifiziert. Diese nächtlichen Spaziergänge fielen nicht in diese Gewichtung. 

 
Vorsichtig schleicht sie sich die gefächerte Treppe herunter, bis sie im Foyer ankommt. Jeder Schritt ist von Vorsicht gezeichnet, um nur ja die Treppe nicht zum Knarzen zu bringen. auf Zehenspitzen – wobei sie sich in diesem Augenblick wünschte eine Ballerina zu sein - durchquert sie den großen, üppig geschmückten Eingangsbereich weiter, wobei sich das Mondlicht in den kleinen Glaskristallen der Deckenkrone reflektieren und splitterhafte Muster in den Raum werfen. Endlich kommt sie beim Boteneingang an. Doch erst als sie die schlichte, kleine Holztür passiert hatte, nimmt sie ihre Beine in die Hand und rennt so schnell sie kann über die Wiese, den dünnen Mantel eng um ihren zarten Körper geschlungen, schlägt sie hastig einen spitzen Bogen zum nächsten Gebüsch, wie ein Hase, der vor den Jägern flieht. Ihre Brust fühlt sich an, als würden ihre Lungen gleich platzen. Sie hört die Herzschläge laut in ihren Ohren, wie einen dröhnenden Bass. Verdrängt es und rennt weiter, bis zum Wald. Als sie endlich, nach einer für sie gefühlten Ewigkeit am Waldrand ankommt, wagt sie es erst im Schutz einer hohen Fichte, sich umzudrehen und die Rückseite des weitläufigen Herrenhauses zu betrachten. Lediglich zwei Fenster sind schwach erleuchtet. Das eine ist das Fenster ihres tauben Bruders, der ohne eine Kerze auf dem Fenstersims nicht einschlafen kann und das große, über zwei Stockwerke hinreichende bunte Rundfenster gehörte zur Bibliothek. Das Lieblingszimmer ihrer Mutter. Doch sie war grade auf Reisen. Der unstetige Schein dieses Fensters, deutet darauf hin, dass nur noch das Kaminfeuer brannte, das wohl vergessen wurde abzulöschen. Das Kaminfeuer, von dem nur noch Glut übrig sein würde, wenn sie retour kommt, weit nach Mitternacht. Der Schein des zunehmenden Mondes reflektiert sich auf den feuchten Dachziegeln und verleiht dem Herrenhaus ein gespenstisches Glühen.
Doch nur die Rückseite, die Vorderseite hätte heute Nacht eine romantische Anziehung. Ein wunderschön großer Innenhof. Auf beiden Seiten erstrecken sie die Zwillingskolonaden mit verschiedenen römisch und griechischen Statuen den langen Mauern entlang, welche den Vorgarten des Herrenhauses umgeben. Dieser wurde bereits schon von ihrer Urgroßmutter davor angelegt und von ihrem Vater weitergeführt wurde. Bereits als Kind betrachtete sie gerne die aufgereihten Götterstatuen gerne. Sie war fasziniert von den makellosen Marmor Gesichtern. Ebenso schlenderte sie gerne um den Teich vor dem Haus.

 

Sie wendet sich vom Haus ab und sucht ihren Weg über den engen Trampelpfad durch den Mischwald. Der würzige Duft des Waldes beruhigt ihren Herzschlag langsam wieder. Die Dunkelheit schwebt über den Boden, wie dichter Nebel. Auch wenn sich ihre hellen Augen nach und nach an die Nacht gewöhnen, fällt es ihr doch schwer, jede Wurzel zu erkennen. Sie kennt den Weg, und teilweise weichen ihre Beine wie von selbst den Wurzeln aus, als würde sie die einzelnen Erhebungen, die Beschaffung der Erde wieder erkennen. Dennoch knickt sie einmal um und stolpert immer wieder, doch findet schnell ihr Gleichgewicht wieder, wie eine Seiltänzerin. Ab und zu scheint das Mondlicht durch die immer dichter werdenden Zweige der sich bereits braun verfärbenden Blätter. Sie wittert den Duft des Wechsels der Jahreszeit. Bald würden sich die Baumkronen entblößen und ihre knorrigen Äste schmucklos gen Himmel strecken. Wie knorrige lange Finger würde sie nach den Wolken greifen wollen. Je tiefer sie in den Wald kommt, umso mehr spürt sie die Kälte an ihren Beinen hochkommen. Ihr weißes Kleid war auch nicht für solch einen herbstlichen Abendspaziergang angedacht. Sie ignoriert die Kälte und lauft weiter, bis sie der schmale Pfad endlich aus der Dunkelheit auf, die vom Mond beschiene, Lichtung führt. Dort, gleich neben der dicken Eiche, kann sie sich ausruhen. Vertraut lehnt sie sich an die dicke Ballonförmige Auswülstung, seitlich des Baumes. Sie mag diese Lichtung. Eine mystische Aura umgibt dieser Ort. Eine Stimmung die aber nicht nur vom Lichte des weißen Mondscheines heraufbeschworen wird. Es sind die Bäume, die um diese Lichtung stehen. Sie sehen aus, als wären sie vor Jahren zeitgleich von dem Blitz getroffen worden. Vielleicht in dieser bestimmten Nacht, damals vor 8 Jahren und trotzdem haben sie sich allesamt wieder erholt. Nur dass sie nun in abstrakten Formen wuchsen. Teilweise einen Spalt beinhaltend, der dann doch wieder zusammengewachsen ist, wie etwa bei einem Knochenbruch. Teilweise wachsen die Äste nun spiralförmig. Bei einem dünnen Baum könnte Esche oder Buche sein, wächst ein Ast Bogen förmig, und sieht aus wie eine Schaukel, auf der jemand sitzt.
Am Baum gelehnt, genießt sie die frische der Nachtluft und richtet ihre Sinne allmählich auf die Dunkelheit, welche sie vor ihr nach der Lichtung ausbreitet, wie ein dichter werdender Nebel. Dorthin, wo sie nicht hinsehen konnte, da wo das abendliche Mondlicht nicht hell genug durch die Äste hindurch scheinen konnte. Sie schließt ihre Augen und breitete ihre Sinne aus. Als erstes hört sie das Knacken von Unterholz, das die nächtliche Stille durchbricht. Sofort stellen sich warnend ihre Nackenhaare auf. Automatisch richtet sie sich grade hin, ihre Muskeln spannen sich an. Sie hört das Rascheln der Laubblätter, sobald jemand drauftritt. Ein Körper schiebt sich bedacht durch das Geäst. Sie hört das schleifende Geräusch des Geästs auf Stoff. Die Geräusche werden zunehmend lauter. Der Jäger ist bereits ganz nahe. Das warme, kribbelnde Gefühl der Vorfreude überkommt sie, ein Lächeln stiehlt sich über ihre breiten Lippen. Auch wenn sie ganz genau weiß, woher die Geräusche kommen, wagt sie es nicht, sich umzudrehen.
Sie öffnet wieder die Augen und schaut zur Lichtung, als sich eine rußschwarze Wolke über den Mond schiebt und alles um sie herum in ein zwielichtiges Licht taucht. Das grüne Gras wird zu dunklen Umrissen, die Bäume erscheinen wie große, dunkle Gestalten – Riesen, die in ihren seltsamen Formen wie schweigende Wächter dastehen und beobachten. Sie sehen, wie das Mädchen sich an einem von ihnen anlehnt, die Augen nur halb geöffnet.
Sie sehen, wie sich ein junger Mann in dunklem Mantel sich dem Mädchen nähert. Kaum war er hinter sie getreten, verdeckt er ihr die Augen und küsst sie zärtlich auf den Hals, bis sie sanft seine Hände nimmt und sich zu ihm umdreht. Beide lachen leise. Sie schmiegt ihr schmales Gesicht an seine Brust. Sanft drückt er sie an sich, als wolle er sie nie wieder loslassen. Die Wächter haben schon viel gesehen. Dieses Schauspiel ist nichts neues für sie, denn es wiederholt sich in unregelmäßigen Abständen. Die Liebe erfüllt und nährt die Lichtung, tut den einst zugefügten Wunden der Wächter gut.

Der junge Mann lockert seinen Griff, entfernt sich ein wenige von ihr. Sanft nimmt er ihr schmales, zartes Gesicht in seine Hände und schaut ihr tief in die Augen. So blau wie das stürmische Meer. Ganz im Gegensatz zu seinen, etwas weiter auseinander liegenden, dessen Farbe an ein dunkles Türkis erinnert. Beide lächeln breit. 
“Lass uns zum Brunnen gehen”, raunt er ihr ins Ohr. Als Antwort löst sie sich von ihm, nimmt seine Hand und zieht ihn sanft mit sich in die Dunkelheit. Der Weg ist nicht weit und der Ort gut geschützt. Verdeckt von Gebüschen und kleinen Bäumen, das man selbst tagsüber nicht auf die Idee kommen würde, dorthin zu spazieren. Vala hatte den Ort als Kind vor Jahren einst entdeckt. Ein runder, hüfthoher Brunnen aus grobem Stein, dass bereits von Mos überwuchert wurde. Darum herum sind große Steine verteilt, und weiter vorne stand noch eine verwitterte und verfallene Mauer. Sie vermuten, dass hier mal ein kleines Haus gestanden haben muss.
Leise plätschert Wasser aus einem aus der Erde ragendem Kupferrohr, welches Netzartig von Grünspan überzogen war. Sie weiß nicht, was hier mal war, oder wer dies gebaut hatte. Doch für sie beide war der Platz perfekt. Sie setzt sich auf den schmalen Rand des s Brunnen und schaut ins trübe Wasser, dabei lässt sie ihre Finger über der Wasseroberfläche kreisen. Björn setzt sich daneben und betrachtet sie dabei. Ihre melancholischen, weichen Gesichtszüge. Ihre weiße Haut, der kleine Leberfleck auf der rechten Wange. Er rutsch näher, nimmt ihre Hand, dessen spitz zulaufenden Finger eben noch auf der Wasseroberfläche gespielt hat, in die seinigen. Zaghaft zieht er sie zu sich heran und küsst sie. Ein langer Kuss. Sie lächelt an seinen Lippen, ihre Hände fahren durch seine hellen Haare und öffnen dabei das Haarband. Seine Haare fallen auf seine Schultern und umrahmen sein ovales Gesicht, verdecken den kantigen Unterkiefer ein wenig. Mit der Fingerspitze fährt sie über die Narbe. Beginnend bei der Nasenwurzel, verläuft sie schräg runter über sein breites Nasenbein. Sanft führt sie ihre Finger weiter über seine schmalen Lippen, die sich zu einem Strich verziehen, wen er sich konzentriert. Sanft streicht sie ihm die hellen Haare hinter seinen enganliegenden perfekten Ohrmuscheln. Sein Haar scheint golden im spärlichen Licht des Mondes. Er lehnt seine hohe Stirn an die ihrige, ehe er seine Lippen zu ihrem Ohr führt und bebend flüstert: “Ich liebe dich Vala.” Sie atmet seinen erdigen Duft ein, dass sie an eine feuchte Wiese im Sommer erinnert. Dieser vertraute Geruch löst jedes Mal, seit sie sich das erste Mal sahen, ein warmes Gefühl in ihr aus. 
“Und ich dich.”
Ihre Stimme zittert ein wenig, doch nicht vor Kälte, den in seiner Nähe fühlt sie keine.
Sie schauen sich in die Augen, er hebt sie auf ihren Schoss, seine Hände wandern an ihrem Körper entlang. Lächelnd lässt sie ihn gewähren, küsst ihn dabei immer wieder.
“Irgendwann werde ich dich in Weiß in der Kirche sehen”, entfährt es ihm zwischen ihren Küssen.
Abrupt hält sie inne, steht auf und entfernt sich ein paar Schritte von ihm. Die Augen auf den Boden gerichtet, die Arme um den Oberkörper geschlungen: “Sag sowas nicht.” 
“Was denn?” 
“Bitte lass das. Diese leeren Versprechen.” Er steht vom Brunnen auf und ist mit einem weiten Schritt bei ihr. Schnell greift er nach ihrer Hand und zieht sie sanft zu sich heran, während der spricht: “Ich werde mit meinem Vater sprechen. Vielleicht hebt deiner dann den Bund auf.” 
“Nein, wird er nicht.” Ein trauriges Lächeln huscht über ihr Gesicht. Behutsam legt er seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und lenkt sanft ihr Profil zu sich hoch. Sie meidet jedoch den Augenkontakt.
“Sieh mich an”, flüstert er sanft. Sie richtet ihre schönen Augen auf ihn. Einen Augenblick später halten sich die liebenden wieder im Arm.
“Ich hätte nie auf den Ball gehen sollen”, murmelt sie an seiner Brust. Sie spürt seinen warmen Atem auf ihrem Haar, als er kurz auflacht, in Erinnerung an den Debütantinnen-Ball im Mai dieses Jahres. Er kam nur mit, um ein Auge auf seine 2 Jahre jüngere Schwester zu haben. Beziehungsweise, um auf sie aufzupassen, stattdessen hatte er schon recht früh nur noch Augen für das Mädchen mit den Ozeangleichen Augen.
“Sag sowas nicht. Ich weiß noch ganz genau, wie du an mir vorüber getanzt bist. Dieses blaue Kleid, das du anhattest.”
Sie lächelt an seiner breiten Brust und korrigiert ihn: “Mitternachtsblau.” 
Er lächelt und nimmt ihr Hand, während er einen Ausfallschritt macht. Sie lacht überrascht auf und lässt sich von ihm führen. Auch im Dunkeln erkennt er, wie sich ihre Wangen zart verfärben, während er weiterspricht: “Du hast grade mit Graf Pierre de Rue getanzt.” 
“Meinst du den rothaarigen mit den zwei linken Füssen.” 
Er lacht auf: “Genau der. Und statt es über dich ergehen zu lassen und brav zu lächeln, warst du ganz du selbst und hast Grimassen gezogen.” 
“Dafür wurde ich danach von meiner Mutter gescholten.” Er schnalzt mit der Zunge: “Das unnahbare Mädchen, das ohnehin niemand aus unseren Reihen zur Frau bekommen wird.” 
“So sah auch meine Tanzkarte aus”, kommentiert sie seine Aussage keck. Schmunzelnd dreht er sie an einer Hand um ihre eigene Achse um sie gleich darauf in seinen Armen zu empfangen, wobei er ihr grade noch rechtzeitig halt gibt, bevor sie über den Waldboden stolpert.
“Na ja, du hast dich auch nicht sonderlich bemüht. Am liebsten warst du doch ohnehin draußen.” 
“Bist du gekommen bist. Mein Retter in der Not”, spöttelt sie und ergänzt die Erzählung: “Du warst plötzlich neben mir. In deinem schwarzen Anzug und diesen blitzenden Augen, weißt du noch, was du mich gefragt hast?” 
Sie sieht die Belustigung in seinen Augen aufblitzen. Ein silberner Mondstrahl fällt genau jetzt durch das Geäst und lässt sein Gesicht in ein helles Licht erscheinen, was wiederum seine Augen heller scheinen lässt. Die kleinen Augen, die gold-blonden, in einem sanften Bogen geschwungenen Augenbrauen verleihen seinem männlichen Gesicht eine sinnliche Sanftheit. 

 

Als er auf der Terrasse neben sie trat, ah sie ihm sein Alter gleich an. Sie wollte ihn gewohnterweise forsch abweisen, aber als sie in seinen Augen diese Sanftmut sieht, das Wohlwollen in jeder Bewegung wahrnimmt, kann sie nicht.  

“Mademoiselle Batiste, soll ich ihre Füße bandagieren?”, das habe ich dich gefragt, und du hast mich fassungslos angestarrt, bevor du ein empörtes “wie bitte” rausgepresst hast.

Sie räuspert sich etwas verlegen wegen dieser Erinnerung. Spöttisch imitiert sie seine Stimme: “Anders, Mademoiselle, kann ich mir nicht vorstellen, warum sie sich nicht lachend auf der Tanzfläche amüsieren.” 

 “Also ich finde schon, dass ich eine tiefere Stimme habe!”

Liebevoll kneift er sie bei diesen Worten in die Seite, so dass ihr helles Auflachen an seine Ohren dringt. Er erstickt es sogleich mit einem langen Kuss.

Eine innige Stille umgibt sie. Sie küssen sich, immer wieder, verzweifelt, sie presst ihren schmalen Körper an den seinen, ihre Stimme flüstert heiser: “Bitte.” 

 Er versteht und folgt ihrem Wunsch. 

Wiedersehen

Zu gleichem Zeitpunkt in einem Schloss, fernab vom Herrenhaus und den Brunnen der Liebenden. In der Bibliothek des Königs. Der dicke Teppich schluckt die Schritte der Eintretenden. Ein Soldat und eine schlanke Gestalt in engen Reiterhosen und dunklem, weiten Hemd betreten den Raum. Der König sitzt am Feuer, das spitze Kinn dabei auf seinen gefalteten Händen gestützt, starte er ins Feuer. Die Flammen glühen in seinen Augen, lodernde Spiegelbilder des Kaminfeuers.
Die breite Stirn entspannt, der Blick nachdenklich. Beinahe so saß auch Sarahs Mann vor über acht Jahren da und wartete auf die Errettung seiner Frau. Sie seufzte und schaute zu dem Mann, vor dem sie sich achtzehn Jahre zuvor verabschiedet hatte. Er sieht immer noch gleich aus, wie damals. Hie und da stahl sich ein weißes Haar mehr dazu. Doch die einzigen der beiden, die sichtlich gealtert ist, ist sie. Sein Gehör funktionierte ebenfalls noch bestens, denn er steht abrupt und dreht sich zu ihr um, kaum hat er ihr Seufzen gehört und lächelt gequält, wobei er den Soldaten mit einer wegwischenden Handbewegung das Zeichen gibt, sie alleine zu lassen. Er deutet einladend auf den purpurnen Ohrensessel neben sich, vor dem Kamin. Sie nickt mehr zu sich selbst als zur Bestätigung. Was hatte sie den auch erwartet. Eine begrüßende Umarmung?
 

Beide schauen nachdenklich ins Feuer. Nur das Knacksen der Holzscheite durchbricht die Ruhe. Der Geruch von Feuer und alten Büchern erinnerte sie an ihre eigene Bibliothek, welche dieser hier nicht unähnlich ist. Unruhig setzt sie sich an die äußere Kante des Sessels und betrachtet sein Seitenprofil. Die Ohrmuscheln laufen am oberen Ende spitzer zu als bei normalen Menschen. Er hat sich nicht rasiert, die Bartstoppeln glänzen hell im Licht des Feuers. Lachfalten zieren seine nach etwas unten zeigende Augenwinkeln. Sie wendet ihren Blick ab. Er kann ihre Anspannung förmlich greifen, so sehr füllte es den Raum aus. Sie füllt den Raum immer mehr, je länger das Schweigen anhält.

Seine Stimme ist sanft, als er in ihrer Muttersprache fragt: “Wie geht’s deinem Mahl?” 

Sie verzieht ihre Lippen zu einem gequälten Lächeln und tastet automatisch auf die linke untere Hälfte ihres Rückens: “Manchmal verblasst es und dann pulsiert es wieder”, sie stockt kurz und fügt leise hinzu, “wie ihr Herz damals.” Bedächtig lehnt er sich in seinem Sessel zurück und schaut sie seit der Begrüssung wieder direkt an: “Was ist der Grund deines Besuchs?” 
“Hatte Heimweh.” 
Mit gespielter Skepsis hebt er beide Augenbrauen und senkt sein Kopf ein wenig, so als würde er sie von unten her anschauen. Seine Augen sind fragend. Wieder seufzt sie und wendet den Blick vor Scham ab. Scham über die Bitte, weswegen sie hergekommen ist.
“Es geht um meine Tochter.” 
“Du willst den Vertrag auflösen”, stellt er nüchtern fest und macht ihren ganzen Vortrag zunichte, den auf dem Weg hier her vorbereitet hatte.
Sie errötete. In diesem Augenblick wird ihr bewusst, dass es nicht geht. Vielleicht irgendwie, aber sie machte das nicht. Ihr Stolz kann es nicht zulassen. Ein Versprechen wird nicht gebrochen. Alles hat einen Preis. Also schüttelt sie den Kopf: “Nein, das ist es nicht, auch wenn ich mir für meine Tochter ein anderes Leben gewünscht habe. Es geht darum, dass ich es ihr erzählen muss.” 
“Was willst du ihr erzählen?”

Sie ärgerte sich über diese Art der Konversation. So war er schon immer, wenn ihm was nicht passte, zog er die Diskussionen überflüssigerweise in die Länge, in dem er die andere Person dazu trieb, alles auszusprechen was er doch längst schon ahnte. Vielleicht hatte er das von seiner Frau.
“Du weißt genau was!” Ärger lässt ihre Stimme lauter und höher werden, die seit der Krankheit eigentlich an tiefe gewonnen hat.
Er steht langsam auf, wobei seine Augen die ihrigen ernst fixieren. Hartherzig, aber kein Funken von Zorn liegt in seinen Augen. Die flackernden Flammen lassen seine Augen intensiv glühen.
“Sarah, sprich es aus, was willst du?” Sie nimmt all ihren Mut zusammen und steht ebenfalls auf. Solch eine auflehnende Haltung gegenüber ihrem König hat sie sich das letzte Mal getraut, als sie das erste Mal ausgerissen ist, entgegen den Weisungen des Generals. Doch das dürfte nun auch schon über dreißig Jahre her sein. Ja, da hatte sie es gewagt, hochmütig zu sein. Eine Nebenerscheinung der Jugend und eine Eigenschaft die der Weise nach und nach ablegt. Einst war sie eine seiner besten Kriegerinnen, hatte selbst Schulter an und Schulter mit Andrej in Reih und Glied gestanden. Und dann, ja dann ist sie gegangen. Hat ihr Volk und ihre Gefährtin in Stich gelassen.
“Ich muss es ihr erzählen! Sie wird es sonst nicht verstehen und bis zur Heirat und vielleicht auch darüber hinaus, unglücklich sein. Sie hat sich grade das erste Mal verliebt, und-” 
“Gut! Sehr gut!”, unterbricht er sie und seine harten Züge zerschmolzen zu einem Lächeln, “So soll es auch sein!” Sie hebt ihr dichten Augenbraue. Perplex schaut sie ihren König an. Ihr bleibt die Spucke weg. Wieso strahlt er den grade so? Amüsiert lacht er über ihren Gesichtsausdruck. Seine Stimme ist nun die eines Freundes während er fortfährt: “Oh je Sarah, das ist doch nicht schlimm. Warst du den noch nie verliebt?” 
“Aber-” er unterbricht sie mit einer fahrigen Handbewegung. 
“Du wirst ihr nichts erzählen. Liebe kann nicht erzwungen werden. Und es muss so lange ein Geheimnis sein, bis sie hier ist. Je weniger davon wissen, umso besser. Und bis dahin, lass sie doch verliebt sein und ihre Jugend genießen. Sie hat ja noch Zeit. Wir alle haben die Erfahrungen unserer Jugend gebraucht. Nicht wahr?” Der letzte Satz war rhetorisch. Sie schüttelte ungläubig den Kopf, ehe sie ihre Lippen zu einem ungläubigen Grinsen verzieht: “Ist das dein Ernst.” 
Er runzelte die Stirn, faltete die Hände hinter dem Rücken zusammen und beugte sich leicht zu ihr vor: “Sofern ich mich erinnern kann, saß hier vor zwei Jahrzenten eine junge Frau, die mir sagte, man könne nur durch eigene Erfahrungen lernen.” Sie presst ihre Kiefer zusammen und senkte beschämt den Blick. Er zwinkert ihr aufmunternd zu, wobei er ergänzt: “Wenn wir eines haben, dann ist es Zeit.” 
“Also bleibt alles beim Alten?” 
Er nickt entschlossen und wechselt kurzerhand das Thema: “Ich glaube, deine Mutter hat dich vermisst. Ich hörte, sie hat dir ein Zimmer herrichten lassen. Du kennst doch den Weg?” Bei diesen Worten wendet er sich wieder dem Kamin zu.
Sie versteht seine Bemerkung sofort und deutet ergeben einen Knicks an, auch wenn er ihn nur noch aus den Augenwinkeln sieht. Doch als sie sich grade umdrehen will, da fragt sie der König noch: “Wie geht es ihr? Vala, wie macht sie sich?” Bei der Erwähnung ihre Tochter, gleitet ein verträumtes Lächeln über ihre Lippen: “Sehr gut. Ein intelligenter Dickschädel.” 
Sie hört das aufrichtige Lächeln in seiner Stimme: “Der Apfel fällt wohl nicht weit vom Baum. Und was ist mit ihrem Erbe? Zeigt sie schon irgendwelche Anzeichen?” 
“Keine Anzeichen.” 
“Bei einem Mischling kann es auch nie kommen. Obwohl ihr Blut ungewöhnlich stark ist.” 
“Hoffen wir es.” 

Der Spiegel

Unruhig wälzt sich Andrej im Bett hin und her. Das Bettlacken ist bereits nass geschwitzt. Seine Wunde am Rücken schmerzt bestialisch, trotz der Salbe seiner Mutter. Als sie ihn unsanft verarztete, knurrte er heute die ganze Zeit vor sich. Seine Mutter wies ihn mit Sätzen zurecht wie „du bist kein Tier“, „hörst du wohl auf zu zappeln“, „das wird eine Narbe, wenn du so weiter machst“, und „du bist selbst schuld!“. Nein, seine Mutter ist alles andere als zimperlich. Manchmal erscheint sie ihm Hartherzig und ungeduldig, doch dieser Charakterzug drückte sich mehrheitlich nur aus, wenn sie unter sich sind. Er ärgert sich über sich selbst, dass er so unvorsichtig war. Vielleicht auch über Ares, der nicht weiter auf ihn geachtet hatte, als er ungeduldig mit dem Schwanz auf und ab gewippt war, als Jelena in der Höhle erschienen war. Einmal mehr wagte sie Annäherungsversuche, in dem sie für was gänzlich anderes das Interesse vortäuschte. Mit einem Kopfschütteln versuchte er die Erinnerung an sie aus seinem Kopf zu verbannen und richtet sich stöhnend auf und reibt sich das Gesicht. Erschöpft vor Schmerzen schaut er sich in seinem Zimmer um. Ein schlichtes spartanisch eingerichtetes Zimmer. Die Wände aus grobem Stein, das Doppelbett steht gegenüber der Tür aus schlichtem Holz. An der Wand ein Kamin, die einzige Wärmequelle in diesem Zimmer. Daneben Feuerholz aufgetürmt in einem Behälter aus schlichtem Silber geschmiedet, deren Kante und Ecken abgerundet wurden um mit verschieden ziselierten Ornamenten geschmückt wurde. Gleich gegenüber dem Vorhanglosem Rundbogenfenster. Eine Tür, paar Schritte neben dem steinernen Kamin führten in sein Ankleidezimmer. Nichts schmuckvolles. Sieben lange Schritte, vom Bettende zur Tür maß das Zimmer sowohl in der Länge wie auch in der Breite. Die Bettpfosten wurden kunstvoll geschnitzt. Endlose, ineinander verschlungene Knoten. Eichenholz, seit jeher sein Lieblingsbaum. Wohl das Kunstvollste in diesem Raum. Noch ein Punkt, was seiner Mutter nicht gefiel. Er solle doch in ein Schlafgemach im Palast selbst ziehen, welche eines Nachfolgers auch würdig sei. Stattdessen schläft er bei den Soldaten an der Felswand entlang, nahe den Drachenhöhlen. Sie hoffe doch sehr, dass diese Phase bald ein Ende haben würde. 
Lauter Kommentare, bei der er sich verkniff, die Augen vor ihr zu verdrehen oder einfach wortkarg, wie er meist in solchen Fällen war, den Raum zu verlassen. Es ist nicht so, dass er nicht auch schon in solch großen Zimmern gewohnt hätte, wie etwa das kunstvoll dekorierte des königlichen Ehepaares. Alleine die hohe Decke ihres Schlafgemachs sah aus wie ein Sternenhimmel, und im Bett hätten sicherlich fünf oder sechs Personen Platz gehabt. Doch seit der Nacht, in welcher Sarahs Gefährtin starb, zog er sich in dieses spartanische Gemach zurück. Sie war nicht das einzige Opfer und er fühlte sich eines Prinzen nicht würdig. Er, wie auch viele andere machten sich Vorwürfe, dass sie besser hätten schauen müssen.
Er blickt runter auf den Holzboden, wo seine runtergestrampelte Bettdecke liegt, sein Blick wandert weiter hoch und bleibt auf seinem Mahl haften. Eine Silhouette in der Form eines Drachens, dessen Schwanz sich in einer S-Form neben und um seinen schmalen Bauchnabel schlängelt. Es brennte ein wenig. Behände schwingt er seine langen Beine über die Bettkannte.
Die Hose hatte er sich nach der Behandlung gar nicht erst ausgezogen, sondern sich erschöpft mit ausgestreckten Armen aufs Bett fallen lassen. Jetzt spritzt er sich kaltes Wasser ins Gesicht und betrachtet sich kurz im Spiegel. Mandelförmige Augen, schmale dunkle Augenbrauen, eine Schmales Gesicht mit kantigen Gesichtszügen schauen ihn aus dem Spiegelbild entgegen. Die untere Gesichtshälfte bettdeckt mit einem 3 Tage-Bart. Der gold-rote Ring um seine Iris strahlt im Schein des flackernden Kaminfeuers heller, verleiht im etwas düsteres. Wieder spritzte er sich Wasser ins Gesicht, bis er endlich das Gefühl hat, wieder komplett wach zu sein. Der Schein des Mondes fällt durch das Fenster, doch er achtet nicht drauf, sondern schnappte sich ein grob gestricktes Oberhemd und verlässt das Zimmer. 

Vielleicht würde das Herumlaufen im Gebäude ihn endlich schläfriger machen, auch wenn er dies bezweifelt. Vielleicht täte es ein Buch oder die Wärme der Bibliothek. 
Als er im oberen Gang ankommt, steht die Flügeltür zur Bibliothek einen Spalt weit offen, ein Soldat hält wache neben der Tür. Durch den Spalt dringt unstetiges Licht, welches sich in der Form eines Fächers auf der silberpolierten Rüstung reflektiert. Es verlässt der Rüstung einen flammenden Schein. Besonders das ziselierte Wappen auf der Rüstung kommt gut zur Geltung. Diese zeigt eine blühende Rose aus der Vogelperspektive umschlungen von einem Drachen, der hier zwar silbern funkelt, aber auf dem Wappen golden dargestellt wird.
Andrej runzelt beunruhigt die Stirn und verbirgt sich im Schatten hinter einem der Wandpfeiler vor dem Soldaten. Um die Uhrzeit ein Soldat. Er reibt sich am Bauch. Sein Mahl pocht warnend.
“Ist schon gut, alter Freund”, murmelt er leise vor sich hin.
Jetzt hört er Stimmen und spitzt die Ohren. Sein Vater und eine andere, rauchigere Stimme. Er schließt die Augen, blendet geübt alles um sich herum aus und fokussiert sich nur auf die Stimmen. Eine ihm fremde Frauenstimme. Von der Tonalität dürfte sie bereits etwas älter sein. Er spürt, wie seine Nägel sich fast zu Krallen wandeln. Er ballt die Hand zur Faust und konzentriert sich weiter. Er hört, dass sich irgendjemand verliebt hat und als er seinen Vater die Fremde auffordert, ihre Mutter zu besuchen, ist er endgültig verwirrt. Eigentlich kennt er doch alle Einwohner des Dorfes hier im Gebirge. Und Fremde verirren sich nicht einfach so mal hier her. Entweder sie wurden erwartet oder gehöre zu ihrem Volk. Ein Schatten in engen Hosen und dunklem Oberhemd tritt aus der Tür. Die Haltung, oder was die Art wie sie läuft? Irgendwas an der Gestalt kommt ihm bekannt vor. Erst als die Fremde und der Soldat im Schattengeflecht des langen Ganges verschwunden ist, tritt er aus seinem Versteck hervor und betritt die Bibliothek.
Sein Vater steht vor dem lodernden Feuer und schaut nachdenklich hinein, als sein Sohn ihn unterbricht. Erschrocken dreht er sich zum Teil ernstem, teils besorgtem Gesicht seines Sohnes um. Die Augenpartie gleich wie die seiner Gattin. “Wer war das?” 
Sein Vater versucht gar nicht erst ein Geheimnis draus zu machen, in seiner Stimme schwang gar Erheiterung mit: “Deine künftige Schwiegermutter.” Andrej Augen weiten sich schlagartig und für einen Herzschlag verlor er die Beherrschung: “Ist Vala hier?” 
Schmunzelnd schüttelt der König den Kopf: “Nein, noch nicht. Aber das wird doch schwieriger als gedacht, als du es dir vielleicht vorgestellt hast.”
Mit diesen Worten wendet er seinen Blick wieder den Flammen zu und reibt sich dabei nachdenklich die Stirn: “Sie ist hergekommen um mich um die Erlaubnis zu bitten, Vala alles zu erzählen zu dürfen. Wenn ich sie richtig verstanden habe, sträubt sich das Kind vor ihrem Schicksal. Vielleicht hatte deine Mutter doch recht mit ihr, und diese Abmachung war ein Fehler. Vielleicht hast du unüberlegt gehandelt.” Er verschweigt seinem Sohn, dass Sarah insgeheim gehofft hatte, er würde sie von ihrem Eid lösen.
Mit zwei flinken Schritten, auf dem Fußballen abrollend, wie ein pirschender Jäger, steht der dunkelhaarige neben dem König und bleibt so dicht vor ihm stehen, dass der König in seine Augen schauen muss. Ernste dunkle Augen fixieren die Augen des Vaters: “Nein Vater und du weißt das genauso gut wie ich.” 
Geschlagen schüttelt der Ältere den Kopf: “Nein, ich weiß es nicht. Deine Mutter sieht nicht so weit und das war vorher noch nicht. Irgendwas stimmt da nicht. Sie sieht auch nicht mehr so weit zurück.”
“Vertrau mir, die Entscheidung war richtig.” 
Der König wendet sich stirnrunzelnd ab. Er setzt sich wieder in seinen Stuhl, faltet seine Hände vor dem Gesicht und deutet mit dem Kinn auf den Bauch seines Sohnes, dort wo das Mahl grade eben pulsiert, hat: “Du oder er?” 
“Wir waren dabei, als Sarahs Gefährtin gestorben ist. Wir haben-”
“Was ihr getan habt, weiß ich sehr genau Andrej! Es ist, als sei es erst grade gestern gewesen und ich kann mich auch gut daran erinnern, was du mir erzählt hast, nachdem du Sarah gerettet hast!”, donnert nun die Stimme seines Vaters geduldfrei durch die Halle. Die Halle der Bücher.
Andrej zieht genervt die Augenbrauen zusammen und setzt sich neben seinem Vater in den Ohrensessel: “Ach ja, was habe ich den erzählt.” 
Diese Art, jemand anderen erzählen zu lassen, kennt der König doch nur zu gut. Das Feuer flackert in seinen Augen, glühte mystisch, während er mit der Narration beginnt: “Bevor du zu mir ins Arbeitszimmer kamst für die Berichterstattung, hat mich deine Mutter bereits gewarnt, dass du eine Dummheit begehen würdest. Sie hat es in ihrem Spiegel gesehen. Schon bevor der kam, sah sie Bildfetzen und dann in der Nacht wieder. Die Nacht, bevor du zurückkehren solltest. Sie konnte nicht schlafen, schon seit dem Angriff wälzte sie sich nur noch unruhig hin und her. Sie wollte mich nicht stören, obwohl sie es eigentlich besser wissen sollte. Die eine Nacht folgte ich ihr, um sie nicht alleine zu lassen. Wir gingen also die lange Wendeltreppe runter zur Quelle. Zu ihrem Spiegel...” 
“Ich sah dich bei Sarah auf dem Bett sitzen”, unterbricht die melodische Stimme der Königin die Erzählung ihres Mannes, während sie in ihrem grünen, wallenden Gewand vom Schatten der Tür ins Licht des Feuers tritt. Sie hatte Sarah gesehen und wusste bereits, was sie hier wollte, aus diesem Grund wollte sie mit ihrem Mann sprechen. Ihren verwundeten Jungen in der Bibliothek vorzufinden, hatte sie nicht erwartet. Besonders, da sie ihn doch heute zur Ruhe ermahnt hatte. Überrascht schaut Andrej zu ihr hoch. Ihn makelloses Gesicht, kaum von der Zeit gezeichnet. Sie lächelt ihm wohlwollend zu und tritt hinter ihren Mann. Liebevoll legt sie eine Hand auf seine linke Schulter, die er sogleich vertraut ergreift. Seine Hände sehen aus wie Pranken, verglichen zu ihren zartgliedrigen Fingern.
Andrej denkt an seine Wunde und hoffte inständig, dass sie wirklich nur bei ihm so grob ist. Ihr Herzförmiges Gesicht umrahmt von ihrem Dunkeln Haar, von der gleichen Farbe, wie das ihres Sohnes. Gräuliche Augen schauen über ihren Mann hinweg ins Feuer, das ihren altklugen Augen die Farbe von glühendem Stahl verleiht. Sie lächelt nicht, ihr Gesicht wirkt völlig entspannt. Eine unnahbare Aura umgibt sie, als sie mit der Erzählung fortfährt: „Ich sah das Bündnis, oder soll ich es Handel nennen, den ihr eingegangen seid. Und ich sah das Mädchen.“ Eine kurze Pause, sie schaut nun ihren Sohn an. Eine Hälfte des Gesichts liegt nun im Schatten, das andere wird vom Licht beschienen. Es verleiht ihr ein respekteinflößendes Aussehen, wie die der nordische Göttin Hel.
„Und danach erblindete mein Spiegel. Als würde das Mädchen einen Schutz umgeben.“
Andrej stützt seine Ellbogen auf den Knien ab: „Mutter, wenn du gesehen hättest, was ich in ihren Augen sah. Du kennst den Grund des Bundes.“
Sie schnalzte mit der Zunge: „Ja, aber ich sehe noch mehr. Das Blut des Mädchens ist vermischt.“ Barsch unterbricht er, getrieben von seiner hitzigen Leidenschaft.: „Und deines etwa nicht! Mach ihr nicht zum Vorwurf, für was sie nichts kann.“ 
„Du und Sarah versteht nicht, dass diese Unwissenheit für sie kein Schutz ist. Wenn du sie hier her mitnimmst, wirst du ihr eine Welt zeigen, die sie nicht kennt.“ 
Ihre Stimme zittert vor Erregung. Er steht auf, wobei er sie um einen Kopf überragt. Seine Lippen zu einem weißen Strich zumaßen gepresst. Bevor er noch was sagen kann, dröhnt sein Vater dazwischen: „Hört auf! Es ist genug. Vielleicht hat einer von euch beiden recht, vielleicht niemand. Sarah war heute bei mir, genau aus diesem Grund. Das Kind zeigt keine Anzeichen und vielleicht wird es das auch nie. Wir wissen es nicht und wenn es doch so weit kommen sollte. Dann besser hier unter der schweigenden Rose!“ 
Während der König entschieden spricht blickte er weiterhin in das runterbrennende Feuer, seine Hand noch immer auf ihrer. „Cristobal, willst du Andrej nicht gleich alles sagen?“ 
„Was denn noch.“ Seine Stimme klingt durch seine Gereiztheit schärfer als beabsichtigt. 
Die Königin blickt wieder zu ihm: „Sie war hier in der Hoffnung, den Bund auflösen zu können.“ Betretenes Schweigen füllt den Raum, nur noch das Knistern ist noch zu hören. Ungläubig starrte der junge Mann seine Eltern an. „Wieso?“ 
Der König seufzt: „Vala hat sich verliebt.“ 
„In ihres gleichen“, ergänz seine Gattin. Andrej würde am liebsten die Achseln zucken, es als belanglos abtun doch aus irgendeinem Grund störte es ihn, obwohl es ihn nicht stören sollte. Die Wahrheit ist bekannt dafür, dass es den Verstand erhellt aber nicht immer das Herz erfüllt. Er wendet sein Gesicht vom Feuer ab. Sein Mahl pocht, Hitze durchströmt ihn unangenehm. Er ballt die Hände zu Fäusten, seine Fingernägel graben sich in seinen Handballen. Er atmet tief ein. „Drei Jahre noch.“
Seine Mutter würde ihn gerne beruhigend, ihn in den Arm nehmen doch entscheidet sich dann doch dagegen. Ihr tut es leid, dass sie ihren Mann gezwungen hat, es auszusprechen. Sie sieht den Schmerz in Andrej Gesicht, auch wenn er es zu verbergen versucht.
„Gute Nacht“, presste er heraus und will den Raum verlassen, da spürt er die Hand seines Vaters am Oberarm: „Warte mein Sohn.“ 
Widerwillig dreht er sich zu ihm um.
„Auch wenn deine Mutter nicht begeistert ist, so ist Vala doch ein Teil von uns. Du hast auf dein Herz gehört. Lass ihr die Zeit. Drei Jahre können lang sein.“ 
„Sie wird mich hassen“, entgegnet er matt. 
„Nein, wird sie nicht. Im Gegenteil. Auch wenn der Spiegel erblindet sein mag, schau doch nochmal rein.“ Andrej blickt zu seiner Mutter, die nun einer dunklen Marienstatue gleich, hinter seinem Vater steht. Die Hände abwartend vor dem Bauch zusammengenommen. Widerwillig stimmt sie durch ein angedeutetes Nicken zu.

 

Die Wendeltreppe führt lange hinab, bis sie unter der Erde angekommen sind. Ein grobgehauener Gang führt sie in eine feuchte Hölle. In der Mitte der Hölle steht eine große Schüssel in einer runden Fassung aus verziertem Marmor eingefasst. De einzige Lichtquelle dieser Grotte sind die beiden Fackeln, welche der Vater und der Sohn an zwei der fünf Pfeilern anmachte, welche das Becken umgaben und so auch das Gewölbe vor einem möglichen Einsturz stütze.
Weiterhinten in der Grotte befindet sich eine Quelle, mit diesem wurde das Becken gefüllt. Auf einem Felsen neben der Quelle steht ein silberner Kelch. 

Zeremoniell füllt die Königin das Becken mit diesem schmucklos silbernen Kelch. Danach winkt sie ihren Sohn herbei, der sich sogleich dicht neben sie stellt. Er kennt das Ritual. Sie taucht ihren linken Zeigefinger in das Wasser und lässt diesen siebenmal in einer achter Bewegung Kreisen: „Siehe mein Sohn.“ Bei diesen Worten zieht sie in Sanft näher an die Wasseroberfläche.
Zuerst erkannte er nur das Spiegel Bild seines Gesichtes auf der sich glättenden Wasseroberfläche und hinter ihm das dunkle, steinerne Gewölbe. Je mehr sich die Wasseroberfläche sich beruhigt, desto besser erkennt er ein Bild.
Er sieht sich an Sarah Krankenbett sitzen. Er sieht das kleine Mädchen von damals, ihr Puppengesicht. So eben, glatt und unschuldig. Es hatte noch kein Leid erfahren. Dann sieht er sie ein paar Jahre später, mit 11 auf dem Schoss ihrer Mutter. Er erschrak, als er Sarah so sah. Alternd. Er hört Valas kindliche Stimme: „Wird mein Mann schön sein?“ 
Sarahs sanft lächelnd erwidert: „Ja, er wird dir ganz bestimmt gefallen. Er ist ein toller Mann.“ 
„Liebt er mich, so wie du?“ 
Sie küsst ihre Tochter auf das helle Haar, das bereits dunkler geworden war: „Ja, das tut er. Ganz fest.“ Andrej lächelt bei dem Bild und wieder wechselt es. Diesmal schaut Vala ihm direkt in die Augen, als würde er sie direkt in den Spiegel schauen. Sie schaute aber durch ihn hindurch. Er wollte die Hand nach ihrem unschuldigen blassen Gesicht austrecken. Über ihre Wange und den kleinen Leberfleck streicheln. Doch er zieht sogleich seine Hand zurück, als er schon fast das Wasser berührt hatte. Wieder wechselt das Bild und er sieht sie mit Richard streiten. Ihm wüste Worte zurufen. Das Bild wechselt abermals, er sieht sie von hinten in einem weißen Kleid vor einer Kirche stehen, die Schultern mutlos herabhängend. Er sieht sie schluchzen. Er wendet den Blick ab. Sie so zu sehen, tut seinem Herz weh.
Ohne weitere Worte des Abschieds wendet er sich vom Stein ab und lässt seine Mutter stehen, die weiter angestrengt in den Spiegel hineinschaut. Sie ist überrascht über die letzten Bilder. Sie schaut auf, doch da ist ihr Sohn bereits verschwunden. Sucht sich seinen Weg zu den Höhlen. Sie rennt ihn nicht nach, sondern setzt sich neben der Quelle hin, taucht ihre blasse Hand ein. Wie konnte es sein, dass sie die letzten Bilder nicht gesehen hatte? Was war geschehen? 
Hätte Andrej weiter reingeschaut, so hätte auch er Vala im Kreis gesehen, umgeben von unnatürlichen türkisen Nebel und Sand.

 

Das Verbot

“Vala ist bereits versprochen.” 
Der blonde Hüne macht eine Handbewegung, als wolle er Fliegen verscheuchen, ehe er seine Arme wie üblich wieder hinter seinem Rücken zusammennimmt. 
“Unsere Kinder lieben sich. Verzichte doch auf die andere Verlobung. Es wird wohl bereits ein alter Mann sein.” Richard funkelt seinen Gesprächspartner an: “Lass das meine Sorge sein. Ich kann dieses Bündnis nicht brechen.” 
“Was hindert dich daran? Männer haben wir genug, sollte es zu Streitigkeiten kommen.” 
Seufzend setzt sich Richard hinter seinem Schreibtisch und faltet die Hände zusammen, wobei er sein unrasiertes Kinn auf seinen beiden Zeigefingern abstützt, und nachdenklich auf die Tischablage starrt, ehe er anfängt zu sprechen: “Es bereitet mir kein Vergnügen, das Herz meiner Tochter zu brechen. Doch diese Abmachung, die damals getroffen wurde, diente dazu, das Leben meiner Frau zu retten. Ich halte meine Abmachung immer.” Mit diesen Worten richtet er seinen stählernen Blick wieder auf Leonardo und wieder ist da dieser harte Glanz in seinen Augen: “Besonders du weißt das. Was verlangst du für eine schnelle Vermählung?” 
Leonardo lässt sich auf den gegenüberliegenden Stuhl vor Richards Schreibtisch sinken und schaut ihm ernst in die Augen: “Deine Tochter wird dich hassen. Ich hoffe das war es dir wert.” 
“Was verlangst du?” 
Leonardo schüttelt ungläubig den Kopf: “Nichts. Ich habe dir meine Männer angeboten, für die Liebe unserer Kinder. Richard, das ist nicht der richtige Moment für deine Sturheit.”
Richard steht auf, sich auf der Tischplatte abstützend, die Miene verhärtet. Der Baron kennt den Grafen schon lange und gut. Einst ein lebensfroher Mann, bekannt für seinen Umgang mit dem Schwert und für seine Charme. Doch nun sieht er einen verbohrten sturen Bock vor sich. Zwar lachte er noch über Witze, doch die Mundwinkel erreichen seine Augen nur noch selten. Wo andere ihre ersten Krähenfüße bekommen, Mitten vierzig, durchstreift des Grafen Gesichts jetzt schon die ersten Linien der Sorgenfalten. Durch die Stirnwulst des Grafen erscheinen die schmalen Augen tiefliegender. Sturheit blitzt aus den Augen, die Lippen zu schmalen Strichen verzogen.
Leonardo steht auf und schaut runter zu Richard: “Ich heiße es nicht gut aber werde dafür Sorge tragen, dass sich diese... Liaison auflöst. Aber Richard, für die Konsequenzen wirst du alleine dich der Verantwortung fügen.” Der Graf sagt nichts, doch sein ausdrucksloses Gesicht sagt ihm alles. Er kennt die Konsequenzen und trägt sie auf seinen Schultern, wie er seine Tochter immer aus der Schlacht tragen würde. Der Baron dreht sich um und verlässt das Arbeitszimmer grußlos. Auf dem Vorplatz wartet sein Sohn bereits auf ihn, betrachtet die Skulpturen aus alter Zeit. Unruhig schaut er immer wieder hoch zu Valas Fenster, bis er endlich seinen Vater aus der großen Tür kommen seht. Hastig geht Leonardo die Treppen runter. Seine finstere Miene verrät nichts Gutes. Er winkt den Diener heran, er solle den Kutscher rufen und ruft seinem Sohn bestimmt zu: “Wir gehen.” 
Mit weiten Schritten überquert dieser den Kiesweg und verlangt ungeduldig zu wissen, was der Graf sagte. Der Baron winkt mit zusammen gekniffener Miene die Antwort ab.

In der Kutsche starrt Björn sein Vater an: “Er hat nicht eingewilligt?” 
Leonardo schüttelt den Kopf und lehnt sich rüber zu seinem Sohn: “Es ist an der Zeit, dass du auf Reisen gehst.” “Was?”, ruft dieser bestürzt aus, “wohin den?” 

Der blonde, hochgewachsene Mann betrachtet sein eigenes Fleisch und Blut. Als er im Zimmer erkannte, das er nicht gegen Richards Ablehnung ankommen wird, fasste er einen anderen Plan. Die Anzeichen waren ohnehin schon da. Schon im Arbeitszimmer, als er Richard erkannte, fasste er ihn. Er würde nicht den gleichen Fehler machen, wie Richards leiblicher Vater. Es gibt Einzelheiten über Richards Herkunft, die vermutlich nur Leonardo kennt. Leonardos Mutter und Richards Mutter waren vor ihrem Tod, sehr gute Freundinnen, und sie hat ihm vieles anvertraut, was er aber bis zum geeigneten Zeitpunkt für sich behalten sollte. Doch der Zeitpunkt ist gekommen. Auch der Zeitpunkt, seinen Sohn einzuweisen.
“Björn, du weißt doch warum deine Mutter dir den Namen gegeben hat?” 
Sein Sprössling nickt kurz, seine Miene verwirrt über den abrupten Themenwechsel. 

“Es ist ein Andenken an deine Ahnen aus dem Norden.” 
“Die Legende kennst du auch?” 
“Meinst du die Legende der Zwillinge? Das ist doch nur eine Abkupferung aus der Bibel. Fast jedes Volk hat solch eine Geschichte, Herr Vater.” 
Leonardo würde gerne über die Klugheit seines Jungen schmunzeln, doch heute war nicht der Tag dafür. Er schüttelt den Kopf: “Du magst recht haben, aber ganz so ist es nicht. Aber das wirst du bald am eigenen Leib erfahren.” 
Björns sanfte Züge verhärteten sich: “Vater, wohin schickst du mich?” 
Leonardo hebt seine Hand, um ihm Einhalt zu gebieten: “Ich werde es mit deiner Mutter besprechen müssen. Doch du wirst Vala nicht mehr wieder sehen! Hast du mich verstanden?” Björns Augen weiten sich.
“Das kannst du uns nicht verbieten. Was hat ihr Vater dir gezahlt?” 
“Nichts. Es ist ohnehin an der Zeit, diese Reise ist schon längst überfällig. Diesmal wird es deine Mutter nicht schaffen, mich davon abzubringen. “ 
Björns Nasenflügel weiten sich, seine Lippen verzeihen sich zu einem schmalen Strich. Wie ein nordischer Krieger, bereit zum Kampf. Die Miene seines Sohns beeindruckt Leonardo nicht, da konnten seine türkisenen Augen noch so gefährlich glänzen. Mit einer raschen Handbewegung klopfte Björn an die Decke der Kutsche und verlangt um Halt. Wütend steigt er aus und lauft den Rest. Sein Vater würde ihn für diese Frechheit am liebsten Ohrfeigen, doch lässt er ihn gewähren. Der Junge würde sich schon beruhigen und heute - oder morgen - nach Hause gekommen. Natürlich weiß er, dass Björn nach einer Möglichkeit sucht, Vala zu sehen. Soll er doch. Es wird das letzte Mal sein. Er hätte die Verbindung sogar begrüßt, doch wie vor über hundert Jahren waren seines gleichen auch dieses Mal zu spät gekommen.

 

Sie rennt aus dem Gebäude, die Sicht vor Tränen verschleiert. Sie spürt ihre Füße nicht, spürt die Kälte nicht, spürt die Gebüsche nicht, denen sie mehr schlecht als recht ausweicht. Sie rennt und rennt, über die Wiese, gewohnt schlägt sich den immer gleichen Bogen. Spürt nicht, wie Dornen an ihrem Kleid zerren und der Stoff reißt. Sie rennt und rennt weiter. Der einzige Grund, warum sie nicht ständig über diverse Wurzeln stolpert, ist die Gewohnheit. Selbst im Schmerz, in ihrer Blindheit erkennt ihr Körper die Stolperstellen. Gebüsche und Äste reißen an ihrem Kleid, peitschen über ihre kalte Haut. Hie und da oberflächliche Kratzer an den Fußgelenken und Unterarmen. Sie spürt die Wärme der Sonne nicht. Spürt keinen körperlichen Schmerz. Nur den einen unsagbaren Schmerz des Verlustes. Sie rennt weiter, ihre Lungen brennen. Sie rennt über die mystische Lichtung getränkt in goldener Farbe des Herbstsommers. Rennt weiter bis zum Brunnen und lässt sich am Rand dessen auf den Waldboden sinken. Schlingt ihre Arme um die Knie und verbirgt ihr Tränenüberströmtes Gesicht in ihr Kleid, den Rücken an den kalten Stein gelehnt. Schluchzen lässt ihren Körper immer wieder zittern. Ihre langen Haare sind zerzaust doch das interessiert sie nicht. Auch nicht, dass sie sich ihr langes Kleid ruiniert hat. Sie schluchzt, ringt immer wieder nach Atem, als würde sie gleich an ihren Tränen ersticken. Sie nimmt den erdigen Geruch um sich nicht wahr, lässt die warmen Sonnenstrahlen nicht bis in ihr Herz. Das Farbenspiel der Natur ignoriert sie mit Absicht. 

 
Kurz nach dem Björn mit seinem Vater verschwunden ist, kam ihr Vater ins Zimmer. Er verkündete ihr, dass Björn bald heiraten würde und sie sich nie wieder sehen würden. Sobald ihre Mutter zurück ist, wird sie und ihr Bruder hochgebracht werden ins Landhaus der Familie. Er erwähnte zwar nicht, dass er von ihr und ihm wisse, aber das hörte sie bereits raus. Er redete mit ihr, als wäre des beides Wissensstand ohnehin der gleiche. Sie hatte sich an ihm vorbei geduckt und ist rausgerannt. Vorbei an dem Dienern, die es sicherlich gehört hatten und vorbei an dem alten Buttler, der ihr noch was zu rufen wollte. Doch sie stürmte, getrieben von ihrem Schmerz und Leid, aus dem Haus heraus. Schaute nicht zurück, achtete nicht auf die Rufe. Wäre Richard etwas jünger gewesen, wäre er ihr sofort hinterhergerannt, um sie einzufangen, aber dafür fehlte es ihm an Kraft. Sollte sie vor der Dämmerung nicht zurückkehren, würde er nach ihr suchen lassen. Weit würde sie nicht kommen.

 

Das Schluchzen war so laut in ihren Ohren, dass sie das Knacken der Äste nicht hörte. Erst als die Schritte anfingen zu rennen. Er hatte sie gehört. Das war die erste Beschleunigung. Und dann, wie er sie am Boden sieht, eilt er zu ihr heran, wie andere wohl nur eilen würden, wenn sie einen klumpen Gold erblicken, wenn sie es den sehen. Sie verbirgt ihr Gesicht in sein Jackett. Sie spürte, wie die Muskeln an seinem Oberarm spielen. Es ist ihr zwar peinlich, dass er sie so verheult und vertrotzt sieht, aber sie kann nicht innehalten. Ihre Tränen fließen unaufhörlich. Er schaukelte sie in den Armen beruhigend hin und her. Er wollte ebenso weinen wie sie, doch jetzt wo er sie in den Armen hält, kann er nicht mehr. Er streicht ihr über ihr Haar, immer wieder. Eine gefühlte kleine Ewigkeit sitzen sie so am Boden. Irgendwann hebt sie ihr Gesicht, das Sonnenlicht streift ihre sanften Züge. Traurig schaut sie ihn aus großen Augen an. Er beugt sich zu runter und küsst ihr beide Wangen. Das goldene Licht der Herbstsonne lässt ihr Gesicht weiß strahlen.
“Wieso bist du hier?”, fragt sie ihn leise schluchzend. Er lächelt sie traurig an. Sie erinnert ihn an die Feen aus den nordischen Legenden. So zart und verlässlich.
“Ich wollte dich sehen, bevor ich gehen muss.” Ein Schluchzen lässt ihren schlanken Körper erbeben. Sofort nimmt er sie schützen in seine Arme. “Ich will nicht das du gehst.” 
“Ich auch nicht! Mein Vater schickt mich weg. Er war so seltsam. Ich verstehe das Ganze nicht”, gesteht er ihr flüsternd. “Wieso können sie uns nicht einfach glücklich sein lassen.” 
Vala schüttelt den Kopf an seiner Brust, was ihr Haar umso mehr zerzaust. Tief im Inneren wusste sie, dass es so kommen musste. Doch sie wollte es nicht wahrhaben, beide wollten es nicht. Er küsst sie wieder. Sie schmeckt an seinen Lippen den salzigen Geschmack der Tränen.
“Er schickt mich und meinen Bruder hoch ins Landhaus...”
Wieder fängt sie an zu weinen.
Er konnte sie so nicht mehr sehen. Konnte nicht mehr zu sehen, wie ihr Herz blutete. Er nimmt ihr Kinn hoch, so dass sie ihm in die Augen schauen muss. Doch sie erkennt ihm kaum durch ihren Tränenschleier.
“Vala, es wird alles gut, du wirst schon sehen. Ganz bestimmt.” 
Sie schaut ihn nur an, bewegt sich nicht. Er zieht sein Jackett aus und legt es ihr um die Schultern. Auch wenn es kühl ist, hat er Warm, da sie bei ihm ist. Er nimmt sie zwischen seine Beine in die Arme und legte sein Kinn auf ihren Scheitel. Der Wind rausch stärker. Wie eines Orkanes gleich, stürmt es die Baumwipfel und lässt sie erschaudern. 
“Mein Vater hat sich so seltsam benommen in der Kutsche. Er hat mich gefragt, ob mir bewusst sei, woher mein Name kommt.”
“Das fand ich auch so komisch an dir, deinen Namen. Er klingt so hart, gar nicht wie die anderen”, bemerkte sie am Rand. Er lächelt sei von der Seite an: “Ist das nicht einer der Gründe, warum ich für dich interessant bin?” 
Nun schafft sie es doch zu lächeln und dreht sie vollends zu ihm um. Sie hören beide, wie das Kleid noch einen Riss bekommt, doch auf den Einen mehr kommt es auch nicht mehr an. Auch die Nadeln auf dem Waldboden, die den beiden immer wieder in die Beine stechen, achten sie nicht.
“Björn, es ist alles an dir. Dein Geruch, dieses Lächeln, deine Stimme. Diese Nächte mit dir. All dass“, ein Schluchzen unterbricht sie: “Du hast mir doch gezeigt, wie man tanzt. Ich meine, ich wusste nicht mal das ich aufrichtig lachen kann. Ich will nicht das du gehst.” 
Der letzte Satz sticht sie beide. Er streicht über ihre Tränen nassen Wangen. Zärtlich, als bestände sie aus Porzellan. Das Licht lässt ihr Haar heller strahlen. Die Strahlen der Sonne tanzen über ihre Gesichter, und schaffieren jede Kontur. Seinen breiten Unterkiefer, die Haare und Augenbrauen lässt die Sonne immer wieder golden aufleuchten. Und auch wenn er dachte, die Narbe verunstalte seine Nase, so findet sie es passend, ein Merkmal, das nur er hat. Sanft küsste sie seine Narbe und betrachtet ihn wie ein Gemälde, das sie nie mehr vergessen möchte. Seine Finger gleiten zart über ihre Gesichtskonturen. Unwillkürlich muss er an ihre letzte und erste Nacht denken. Als würde sie seine Gedanken lesen, gleitet ein Lächeln über ihr Gesicht, und sie nimmt seine Hand von ihrem Gesicht. Führt es seitlich an ihre Seite herab, rückt näher an ihn heran. Verdutzt, beinahe fragend hebt er die Augenbrauen und sie nickt - traurig lächelnd.

 

Die Hochzeit

Drei Jahre sind seit diesen unglücklichen Tagen vergangen. Drei lange Jahre, die Vala und ihr Bruder oben, weg von der Stadt an der Küste der Provence verbracht haben. Lediglich Fynn wurde hin und wieder in die Stadt gebracht. Durch seine Taubheit bekam er eine Sonderbehandlung und Vala erlernte die Zeichensprache. Die Wochen und Monate nach der Trennung von ihr und Björn, hatte zur Folge, dass sie sich immer mehr zurückzog. Sie vergrub ihre Nase in Bücher und vermied es mit ihrem Vater zu sprechen. Die angespannte Stimmung zwischen ihnen wurde irgendwann normal, als wäre es schon immer so gewesen. Doch sowohl Sarah wie einige Diener konnten sich noch an andere Zeiten erinnern. Anfänglich versuchte Sarah den Streit zu schlichten und sprach ihrer Tochter gut zu, die ohnehin ihrem Gatten so ähnlich sieht. Als Vala im Frühjahr, 16 Jahre alt wurde, versuchte sie es wieder mit einem Gespräch. Vala saß grade am Tisch mit einem dicken Buch über nordische Mythen. 
“Mein Schatz, wann wirst du wieder mit deinem Vater sprechen?” 
Valas Miene war ausdruckslos, als sie das Gesicht hob. Sie sagte nichts.
“Weißt du, ihr seid euch ähnlicher als du glaubst.” Ihre Tochter hebt spöttisch die Augenbrauen und möchte sich wieder ihrem Buch zu wenden, doch Sarah unterbricht sie: “Ich bitte dich, das kann doch nicht ewig so weiter gehen.” 
“Doch, kann es. Dürfte ich mich nun wieder meiner Bildung widmen? Deswegen wurde ich doch hierhergebracht.” 
Sarah schüttelte den Kopf, ihre Stimme verhärtet sich: “Hörst du wohl endlich auf! Dieses Verhalten geht alle... dein Verhalten ist äußerst despektierlich.” 
“Ach, und die Hand einer sieben Jährige eines Mit-zwanziger zu versprechen etwa nicht!” 
Sarah biss sich auf die Zunge und musste sich beherrschen, nicht härter zu werden, kann dann doch nicht an sich halten: “Geh sofort auf dein Zimmer!”
Ein spöttisches Lächeln kräuselt sich auf den breiten, vollen Lippen ihrer Tochter, doch ihre Stimme zittert vor Zorn: “Sehr gerne, Frau Mama.” 
 

Kurz nach diesem Streit wurde Vala eine neue Zofe zugewiesen. Anna - ein Mädchen in Valas Alter - aus Österreich mit schlechten französisch Kenntnissen. Valas Eltern dachten sich wohl, dass ihre Tochter so besser deutsch lernt und die Zoffe Französisch. Wobei sie hier richtig lagen. Den die beiden Mädchen freundeten sich schnell an. Und obwohl Anna mit ihren roten Haaren wilder aussieht wie Vala, so ist sie der ruhigere und besonnenere Pol, was mit den Jahren auch auf Vala im Guten abfärbte. Im Gegenzug wurde Anna nicht wie eine Bedienstete behandelt, sondern eher wie ein Familienmitglied, auch wenn natürlich nicht ebenbürtig.

 

Die paar Jahre streichen also ins Land. Valas Gesicht veränderte sich, nimmt immer mehr Formen einer eleganten jungen Frau an, die mehr in der Natur als im Landhaus lebte. Sie nahm ihren Bruder mit in den Wald und an den Strand. Sie und Anna haben bereits viele Nächte am Strand verbracht. Sie kennt jegliche Göttersagen, spricht nebst Französisch und Deutsch noch ein wenig russisch. Latein kann sie lediglich lesen. Doch auf die Sprache legt ihre Mutter ohnehin keinen Wert, da sie weder an Christus glaubt noch Bibelfest ist.
An sternenklaren Nächten sitzt die junge Grafentochter im Garten und fragte sich manches mal, was Björn wohl macht und ob er auch an sie dachte. Und dann wandern ihre Gedanken wieder zu dieser Heirat. Drei Jahre ist für das Universum wohl nicht mal ein Augenschlag, doch für ein Mädchen ihres Alters kann es die Hölle bedeuten. Tage, die sich anfänglich wie ein Jahr anfühlten. An solchen Tagen hofft sie auf Nachricht von Björn, doch jeder Brief wurde vorher abgepasst und sie war sich ganz sicher, dass da einige drunter waren von dem Mann mit der Narbe auf dem Nasenrücken. Doch sie irrt. An dem Ort, an welchem Björn sein Studium absolviert, wurde er genauso streng überwacht wie sie. Eine kleine Kammer darf er sein Eigen nennen, dass jedoch nur zum Schlafen und seinem Studium diente. Nebst seiner Narbe auf der Nase, ziert mittlerweile eine eingebrannte Lilie seinen Unterarm.
Er denkt immer wieder an Vala, doch die Briefe, die er ihr anfänglich schrieb, verließen nie die Mauern der Gilde. Das wusste er jedoch nicht. Nachdem er nie eine Antwort auf seine Zeilen bekam, schwand die Hoffnung. Pierre, sein Mentor, bestärkte ihn auch noch darin, die Finger von der Liebe zu lassen. Die Damen wollen doch alle nur das Eine. Es nützte nichts, nur einer nachzuhängen, wenn er doch so viele beglücken könne. Obwohl Björn diese Haltung per se ablehnt, hilft sie ihm doch, über die Enttäuschung hinwegzukommen. Sein Mentor erinnert ihn auch stets daran, dass er die Finger von solch einer Liebe lassen sollte, auch wenn er die junge Dame nicht kennt. Mit den Jahren verblassen die Erinnerungen, nur in den Nächten nie ganz. 

 

Und jetzt?
Jetzt sitzt sie vor einem großen Wandspiegel in einem ihr fremden Zimmer. Es ist der siebte Tag nach ihrem Geburtstag. Vor zwei Tagen kam Vala und ihre Familie hier an. Hier irgendwo Osten Europas, in welcher sie die melodische Sprache nicht versteht. Hier sehen die Menschen wesentlich unheimlicher aus. Die Blicke sind starrer die Augenfarben dunkler. Eigentlich mag sie die Melodie dieser fremden Sprache, sie kommt ihr vertraut vor doch weiß sie nicht woher.
Die Reise hier her ging über Land und Schiff, bis sie ihr in der Villa angekommen sind. Ein Haus direkt an der Donau. Das Haus ist kleiner als das Landahaus, in dem sie aufgewachsen ist, doch für die eine paar Tage würde es reichen. 

Auf dem Weg hier her wurde sie von ihrer Mutter genaustens über den Ablauf instruiert. Sie würde nach der Hochzeit keine Zeit mehr haben, sondern direkt mit ihm gehen. Sie würden sich für eine unbestimmte Zeit nicht mehr sehen. Dabei zitterte die Stimme der Mutter immer wieder. Sobald sie unter sich waren, umarmte sie ihre Tochter immer wieder.
„Aber Mama, ihr kommt mich doch sicher besuchen?“ 
Sarahs Tränen raubten ihr die Stimme, als nickte sie nur, während sie versuchte zu lächeln. Das Gesicht gerötet.

 

Heute ist es also so weit. Die junge Frau sitzt vor dem Spiegel, während hinter ihr zwei flinke Hände an ihren Haaren rumzupfen, ziehen und Bürsten. Ihre Zoffe Anna steckt das hellbraune Haar mit geübten Handgriffen hoch. 
“Ich wünschte ich hätte deine Haare“, kommentiert Anna liebevoll das Haar ihrer Freundin. Vala seufzt und stützt ihr Gesicht auf beiden Händen: “Schönheit ist leider nicht alles, was zählt.” 
“Ach Vala, heute ist deine Hochzeit. Du könntest ruhig etwas freudiger sein, anstatt so altkluge Sätze von dir zugeben”, scherzt Anna. Vala mustert Anna durch den Spiegel hinweg. Ihr flaches Gesicht und die kleinen Augen, die liebevoll aufblitzen, während sie spricht und ihre Hände weiterhin flink ein paar Klammern in ihr Haar setzten. Das braune Haar, das einst in der Kindheit so blond war wie das ihres Vaters und mit den Jahren die Haarfarbe ihrer Mutter angenommen hatte 

“Anna, ich habe verdammt guten Grund, schlechte Laune zu haben. Und du weißt genau wieso. Ich kenne den Mann nicht, den ich heute heirate. Er ist vermutlich über 20 Jahre älter als ich und für das ganze Drama mit verantwortlich! Wegen ihm und dieser dummen Medizin habe ich...” sie unterbricht sich selbst. Vala schaut durch den Spiegel hindurch ihre Zofe an, deren kleine Augen belustigt aufblitzen. Irgendwie hatte sie ein katzenähnliches Gesicht, mit der kleinen Stupsnase und eng stehende Augen. Rote Haarsträhnen lugen unter ihrer Haube hervor. Den österreichischen Akzent hat sie nie aus ihrer französischen Sprache weggebracht, und es verleiht ihr der Sprache einen herzhaften Akzent: “Sei heute nicht so ernst. Denk dran, je älter er ist, umso schneller bist du ihn los und kannst dir einen jüngeren schnappen. Mit diesen Augen, deiner Haut und den Lippen verzauberst du auch mit Dreißig noch jeden Mann.” 
Die Grafentochter lässt ein ehrliches Lächeln zeigen: “Vielleicht hast du recht.” 
Ihre Zofe zwinkert ihr aufmunternd zu und gibt ihr einen sanften Klaps auf den Rücken: “Na komm, steh auf und überzeug dich selbst. Es ist so weit.” 
Gesagt getan. Mal wieder bewundert Vala die Kunstfertigkeit ihrer Zofe. Das Spiegelbild zeigte eine junge Frau, etwas grösser als der Durchschnitt. Hohe Wangenknochen, ein kleiner Leberfleck an der linken Wange, welches aber überschminkt wurde. Die Augen strahlten durch die Schminke noch blauer. Der schlanke Körper in ein weißes Kleid gehüllt, mit weit bestickten Ärmeln. Das Kleid ist vom Saum aufwärts bestickt, welche immer mehr verblaste und bei der Hüfte gar nicht mehr zu sehen ist. Anna steckte den Schleier an und lässt es dann über Valas Gesicht Fallen. Vala lächelte ihre Freundin durch den Spiegel an und fragt dann schon beinahe etwas schüchtern: „Begleitest du mich zur Kutsche?” 
Wohlwollen lächelt die Zoffe, hebt aber den Zeigefinger und wirft einen hastigen Blick aus dem Fenster ein leiser fluch entfährt ihr dabei. Galant wie ein edler Herr richtete sie sich mit durchgestreckten Rücken auf und reicht Vala den Arm, wobei sie mit gekünstelter tiefer Stimme fragt: “Mademoiselle, wen ich bitten darf?” Grinsend hackt sich Vala unter und spaziert mit ihr aus dem Zimmer, raus zur Kutschte. Ein Diener beugte sie erst überrascht dann misstrauisch doch das interessierte die beiden Frauen nicht. Vor der Haustür umarmen sie sich und Vala hauchte ihr ein Danke ins Ohr, bevor sie Anna durch den Schleier hindurch, sanft auf die Wange küsste. Vermutlich würden sie sich nicht wieder sehen.

 

Bei der Kutsche reichte ihr Vater ihr den Arm, um sie zu stützen, doch sie lehnte wortlos ab. Auch wenn die Fronten sich zwischen ihnen minim gelichtet haben, so war das Verhältnis nie ganz geflickt.

Auf dem Weg zur kleinen Kapelle am Fluss, füllt betretenes Schweigen den Raum. Vala hörte das Rauschen eines Baches in der Nähe. Sieht wie eine sanfte Briese die Bäume zum Rascheln bringt. Die morgendliche Sonne erhellt bereits die Wiesen und Felder. Immer wieder holperte das Gefährt über die unebenen Straßen, durch eine helle Allee hindurch... Ihr Vater räuspert sich. Zögernd wendet sie sich ihm zu.
“Vala, was in den letzten Jahren passiert ist, tut mir leid.” 
Er kann ihr Gesicht durch den Schleier hindurch nur spärlich erkennen, doch sie hebt überrascht ihre Augenbraune. “Dafür ist es zu spät.” 
Traurig lächelt er sie an: “Ich weiß, aber du sollst es dennoch hören. Ich meine, bevor du... bevor du diesen Bund eingehen wirst.” 
Tonlose erwidert sie: “Ich habe mein Schicksal akzeptiert.” Er wollte grade etwas erwidern, wurde aber durch den ruckhaltigen Stopp der Kutsche unterbrochen, welche seinen Oberkörper nach vorne schaukeln lässt. Die kleine Tür wird geöffnet. Sie steigt aus und steht jetzt vor dem Eingangsbogen, von welchem her ein breitgepflasterter Weg zur Kapelle führt. Ein paar Schritte über die breiten Steine hinweg, durch die schlichte, geflügelte bogenförmige Holztür hindurch und sie würde sich im Innern der kalkweißen Kapelle befinden. Zwei großgewachsene, schlanke Männer flankieren die schlichte Flügeltür. Sie kann ihre Gesichter durch den Schleier und wegen der Entfernung kaum erkennen, doch ihre Hautfarbe ist von edler Bläse und ihre Haltung von natürlicher Eleganz. Ihr Oberkörper werden von einer Art ledernen Rüstung bedeckt, welches auf der linken Brustseite mit einer silbernen Rose geschmückt ist. Darüber tragen sie marineblaue Mäntel. Die Aufregung erfasst sie wie eine Welle, welche direkt über sie zusammenbrechen droht. Sie fühlt sich nicht wohl. Fragt sich, was sie hier verloren hat, in diesem fremden Land. Ihr Herz pocht schmerzhaft. Ihr Körper fühlt sich zum Bersten gespannt an. Ihre Atmung ist flach. Vala sucht Augenkontakt zu ihrem Vater. Trotz des Schleiers sieht er es. Er spürt ihren lautlosen Hilferuf und nickt ihr aufmunternd zu, wobei er ihr, wie Anna zuvor den Arm reicht und ihr zeitgleich zu flüstert: “Du schaffst das ma coeur.” 
Den Kosename hatte er schon lange nicht mehr benutzt. Sie spürt, wie ihre Augen feucht werden deswegen. Sie verbindet den Kosenamen mit Heimat, Wärme und Verbundenheit.

Sie spürt all das genau jetzt zwischen ihnen beiden, wie schon lange nicht mehr und sie weiß genau in dem Moment, das er sie immer nur schützen wollte und dass auch bis zum Schluss machen würde. Wie das liebende Väter immer tun werden. Instinktiv weiß sie, dass er alles drangesetzt hatte, ihr solch eine Zukunft zu ersparen. Egal wie sie ihn behandelte und wie sehr sie ihn hasste, sie würde für ihn immer das Teuerste sein. Das kleine Baby, das er Nächtelang in den Armen hin und her getragen hatte, wenn sie weinte. Das ihr nachts vorlas, mit ihr die Monster in ihrem Schrank jagte und mit ihr im Wald spazieren ging. Er brachte ihr das Reiten bei und die Liebe zur Kunst. All diese schönen Erinnerungen und die damit verbundene Liebe strömten auf sie ein.

Sie wollte weinen. Alles wurde ihr zu viel. Durch den Tränenschleier sieht sie nichts mehr. Ihre Umgebung wurde unsagbar laut. Das Rauschen des Flusses wurde lauter, wie nach einem Regentag und der Fluss trägt mit einem mal so viel Wasser, das es in hohen Wellen herunter strömt wie eine Horde lauter Reiter auf der Hertzjagd. Ein heftiger Wind weht von den Gipfeln runter und bauscht ihr Kleid auf, lüftet sogar kurz den Schleier, so dass die Soldaten ihr Gesicht zum ersten mal sehen können. Wie eine weinende Marmorstatue. Das Pfeifen des Windes schmerzt in ihren Ohren, es übertönte das Zwitschern der Vögel, dessen Gesang plötzlich verstummt. Sie hört das Rauschen der Bäume, die von der Böe mitgerissen werden, sich hin und her bewegen im Takt ihres viel zu schnell schlagendem Herzens. Sie sieht die alarmierenden Blicke nicht, die sich die zwei Soldaten zuwerfen. Die Haltung der großgewachsenen, eleganten Männer verändert sich, ihre Schultern versteifen sich, bereit einzugreifen. Spürt ihren Vater nicht mehr, sieht die Kapelle nicht. Ihre Hände werden warm, unangenehm heiß. Da hört sie die vertraute Stimme, spürt seine Nähe, die warme Hand, die sich auf ihre legt. Besänftigend lächelt der Graf seine Tochter an, streichelt ihre Hand. Wieder flüstert er ihr zu: „Du schaffst das.“ Sie klammert sich an ihn.
„Ma coeur.“Bei der zweiten Erwähnung des Kosenamens, atmet sie tief ein. Plötzlich wird alles um sie still. Sie ist wieder im hier und jetzt. Die Bäume beruhigen sich und kommen zum Stillstand. Ruhig plätschert das Wasser wieder vor sich hin und fern ab kann sie Vögel zwitschern hören. Ihr fröstelt es. Sie öffnet die Augen und blickt in die ihres Vaters. Tapfer nickt sie, wobei er sich einbildet hinter dem weißen Schleier ihr tapferes Lächeln zu sehen. Die Orgeln erklingen aus dem Innern der Kirche. Das Zeichen. Es ist so weit. Sanft macht ihr Vater den ersten Schritt und sie folgt ihm. Die Männer öffnen unisono die Flügeltür zum Innern.

 
Während die Braut ihres Prinzen an den Soldaten vorbei geht, folgen die Blicke ihr. Wäre Valas Sicht durch die Aufregung nicht getrübt gewesen, hätte sie gesehen, dass sich die Augen der beiden verändert hat. Das freundliche Graugrün wandelte sich in ein Orange, wie die Lichter der Morgensonne. 

 

Der Innenraum erstrahlt in festlichem Schmuck. Jede Bankreihe, selbst wenn sie bis auf die beiden vordersten leer sind, wurde an jedem Pfosten mit einer großen blauen Lilie geschmückt. Etwas, das sie zuvor noch nie gesehen hatte. Unter anderen Umständen wäre sie stehen geblieben, hätte die Blumen bewundert und sich an ihrer ungewöhnlichen Farbe erfreut. Unter anderen Umständen hätte sie die herrliche Dekoration dieser kargen Wände wahrgenommen und ihrer Familie ein Lächeln geschenkt. Doch stattdessen zittert ihre Unterlippe, das Pochen ihres Herzens will nicht aufhören, während sie mit jedem Schritt der Gestalt vor dem Altar näherkommt. Hochgewachsen und schlank, so viel kann sie erkennen. Die dunklen Haare sind im Nacken zusammengebunden. 
Ihre Nägel krallten sich vor Aufregung unbemerkt in den Unterarm ihres Vaters, der deswegen kurz zusammenzuckt, sich aber sonst nichts anmerken lässt. Ein marineblauer Anzug, so viel kann sie mittlerweile schon sehen. Weihrauch schlägt ihr in die Nase und der Duft von Wachs. Sie gehen vorbei an die kaum besetzten Kirchenbänke. Sonnenstrahlen tanzt durch die farbigen Bogenfenster und deren Dreischneußen. Die Farben der Fenster colorieren den Gang bis zur Mensa der Kapelle in diversen Farben, wobei grün und ein helles blaue die vorherrschenden Akzente sind. Am Altar steht ein alter gebückter Mann, der sie über seine kleine Brille hinweg anschaut und ihm zugewandt steht ein breitbeiniger hochgewachsener Mann mit dunklen Haaren. Er hat ihr den Rücken zugekehrt. Die gleiche Farbe, wie die Soldaten vor der Tür. Sie japst nach Luft, spürt den festen Griff ihres Vaters. 11 Jahre, all das für diesen Augenblick? Erst als sie kurz vor dem Altar vor der Mensa zu stehen kommt, dreht sich der Bräutigam zu ihr um. Sein Blick scheint ihren Schleier zu durchdringen.

Hellbraune Augen, umrandet von einem dunklen Kupfer, das zu glühen scheint, es lässt seine Augen beinahe schon golden erschienen. Sie wendet sofort den Blick ab, schluckte mehrmals, konzentrierte sich auf die große Kerze vor ihnen auf dem Tisch, hinter welcher der Priester in einer für sie fremden Sprache zu sprechen beginnt. Sie achtete nicht drauf, denn ihre Mutter hat sie bereits darauf vorbereitet. Vielmehr hört sie ihn wie aus weiter Ferne. Sie blickte gebannt in die Flamme, beißt fest ihre Zähne zusammen, so dass ihre Kiefermuskeln hervortreten. Das alles nur, um sich vom Strudel der Erinnerung nicht mitreißen zu lassen. Natürlich hatte sie die Augen gleich wieder erkannt. Der Mann mit den komischen Augen. Andrej kann sich ebenfalls erinnern. Er erkennt ihr Gesicht trotz des Schleiers. Er bringt nur schwerlich Geduld auf für das Geplapper des Priesters. Während der Priester weiter seinen Monolog vor sich hinschwadroniert, nimmt er seinen Mut zusammen und tastet zaghaft nach ihrer Hand. Er sieht, wie sie für einen Sekundenbruchteil zusammenzuckt ihn aber gewähren lässt. Er seufzt innerlich erleichtert auf. Auch wenn er ihr eigentlich fremd ist, fühlt sich seine Nähe seltsam vertraut an, kaum hat er ihre Hand genommen. Wärme durchdringt sie, wo er sie sie berührt, bis zu dem Augenblick, bei welche sie sich zueinander umdrehen müssen. Ein Mann, von gleicher Statur und Größe. Ein dichter blonder Bart versteckt seine untere Gesichtshälfte.

Wohlwollend lächelnd hält er ihr ein Holzbrett hin, das geschnitzt wurde, wie eine geöffnete Rose und in dessen Innern sich zwei schlichte Trauringe befinden.

Sie entnimmt den Größeren, ohne ihn weiter zu betrachten und nimmt seine Hand in die ihrige. Eine schlanke, große Hand mit eleganten Fingern. Ein paar Kratzer verlaufen über den Handrücken, als hätte er grade noch auf dem Feld gearbeitet. Sie ertastet einige Schwielen an der Hand Innenseite. Ihre Stimme zittert, während sie dem Priester nachspricht.

Gut, sind die hintersten Bänke leer, den man hätte Vala bestimmt nicht gehört. Meint sie zumindest im Nachhinein. Stattdessen spitzen beide Wächter, hinter der Tür der Kapelle, die Ohren und hören jedes Wort. Sie hören erst ihre und dann sein Versprechen, gefolgt vom Klatschen der wenigen Anwesenden. Sie werfen sich einen langen vielsagenden Blick zu.
“Denkst du, er weiß.” 
Der andere nickt: “Muss er.” 
"Was denkst du, woher hat sie es?” 
Der zweite zuckt die Achseln und beide spitzen die Ohren wieder, um zu hören, wie weit die Hochzeitsgesellschaft ist.

 

Behutsam lüftet er ihren Schleier und so sehen sie sich nach 11 Jahren wieder. Einen Augenblick der gebannten Stille umgibt sich, während sie sich reglos anschauen. Seine Lippen, geschwungen wie der Bogen eines Amors, verziehen sich zu einem jähen Lächeln. Teils amüsiert über ihren ungläubigen Gesichtsausdruck, teils erfreut, sie endlich nach der langen Zeit als junge Frau wieder zu sehen. Sie hingegen ist wie erstarrt, fehlt nur noch, dass ihr die Kinnlade nach unten kracht. Sie fühlt sich in die Vergangenheit zurückversetzt und mustert wie damals schon sein markant kantiges Gesicht. Es ist schlank und blank rasiert. Die Augen groß und von dunklen Wimpern umrahmt. Seine Augen sind von einem hellen braun, das in der Sonne beinahe schon bernsteinfarben wirkt, umrahmt von einem kupfernen Kreis, der ihr schon damals aufgefallen ist. Der Mann mit den seltsamen Augen. Die Ohren liegen dicht an und weisen an der Spitze einen leichten knick auf, so dass sie spitzer und schlanker aussehen. Seine Nase ist schlank und Grade wie die Kante eines Schwertes und verleiht ihm einen zusätzlich energischen Zug. Und da ist noch etwas. Etwas vertrautes, als würde sie keinen Fremden in die Augen schauen, sondern einem alten Freund. Seine ebenen Züge sind wunderschön und gleichzeitig von einer harten Ernsthaftigkeit. Erst seine warme Hand, seine Kreisenden Bewegungen auf ihrem Handrücken holen sie aus der Trance zurück. Da fällt ihr auf, dass sie kurz vergessen hat zu atmen. Verschämt wendet sie den Blick ab. Mit dem Zeigefinger hebt er ihr Kinn leicht an. Fragend hebt er schwach seine dunklen Augenbrauen. So verharren beide, bis sie zustimmend nickt. Sein Gesicht nähert sich langsam dem ihren. Er riecht harzig und ein bisschen nach Feuer. Atemlos lässt sie zu, dass seine weichen Lippen die ihrigen berühren. Zaghaft und sanft. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich wünschte der Kuss hätte länger angehalten. Sie spürt diese Anziehungskraft deutlich. Wieder nimmt er ihre Hand und sie verlassen durch den Mittelgang das Gotteshaus, wobei Vala kurz vor der Schwelle innehält und einen Blick zurückwirft.
Dort stehen sie, ihr Vater der einen Arm um ihre die Mutter gelegt hat und sie wieder den Arm um ihren tauben Bruder. Vala presst die Lippen fest zusammen, schluckt die Tränen runter und wendet sich ab. Die Soldaten stehen nun nicht mehr wache vor der Tür, sondern je einer vor einer runden Kutsche. Beide sehen gleich aus. Dunkles Holz mit Silber beschlagen, große Räder und zwei große dunkelbraune Pferde, deren Fell rötlich im Sonnenlicht schimmern. Die Tür ist verziert mit einer silbernen schimmernden, auf Hochglanz polierten Platte mit dem ziselierten Wappen des fremden Königreichs. Eine offene Rosenblüte, umschlungen vom Schwanz eines Drachens. An den Fensterrändern der Kutsche ranken sich Lilien hoch. Andrej nickt dem einen Soldaten neben der Kutschentür zu, ein stummer Befehl. Dieser tritt beiseite, um dem Prinz Platz zu machen. Andrej reicht seiner frisch Angetrauten galant die Hand, um ihr in das Innere der Kutsche zu helfen, doch diese nimmt nicht an. Stattdessen rauft sie ihren Rock hoch und betritt das, mit rotem Samt ausgestattete Innere. Andrej spannt irritiert seine Unterkiefer an, ehe er sich aus seiner respektvollen Haltung eines galanten Gentlemans löst, dem Soldaten ein Handzeichen zur Abfahrt mach und ebenfalls einsteigt. Aus dem Fenster sieht er noch, wie sein engster Freund und Ringträger zusammen mit den anderen aus der Kirche tritt und mit Sarah spricht.

Vala winkt ihren Angehörigen zu. Kaum sind sie und die Kapelle aus der Sichtweite, lässt sie die aufgeknüpften Vorhänge zufallen und lehnt sich seufzend zurück. Beide schauen sich betreten an, sagen kein Wort. Seufzend schließt sie kurz die Augen, unangenehme Stille liegt in der Luft und hüllt sie ein wie ein undurchsichtiger Nebel.
Andrej, normalerweise nicht temperaturempfindlich, bildet sich ein, Kälte zu spüren. 

“Wie machst du das?” 

Überrascht hebt er beide Augenrauen, legt dabei seine Stirn in Falten: “Wie mache ich was?” 
Unruhig dreht sie an ihrem neuen Ring herum. In der Mitte einen Streifen aus Gold, eingefasst im Silber. Der goldenen Linie Entlang sind drei Steine eingefasst, die bläulich im Tageslicht schimmern. Ohne die Augen von dem Schmuck zu nehmen, fährt sie fort, als würde ihr Mut vor dieser Frage schwanken. 

“Du bist so”- sie unter bricht sich und korrigiert - “Ihr seid so...” - Wieder unterbricht sie sich, zögert, bis sie ihre Stimme wieder findet und spricht fester - “Ihr seht noch immer aus wie damals. So als seid ihr unsterblich geworden. Habt ihr etwa den Jungbrunnen gefunden? Oder gar den roten Löwen?” 
Er lächelte amüsiert: “Ich wurde bereits gewarnt vor eurem lockeren Umgang mit dem Zeremoniell.” Sie schaut sich in der Kutsche um, als würde sich nach einer anderen Person suchen.
“Wir sind doch unter uns und die Frage ist für wahr berechtigt. Ich kenne keine anderen Frauen, deren Hand einem älteren Mann versprochen wurde und glücklich wurden.” Dieser Satz ist ihr rausgerutscht, sie wollte es eigentlich diplomatischer ausformulieren. Doch zu spät und sie erforscht sein Gesicht, ob er nun beleidigt sein würde. Doch seine Miene ist unverändert.
“Nun ja, die Gründe solcherlei Verbindungen ist wohl auch von einer anderen Natur als die unsrige. Meint ihr nicht auch?” 
Sie verengt ungeduldig die Augen. “Wieso erzählt ihr es mir nicht einfach und wieso hat in der Kirche niemand was gesagt? Seid ihr ein Hexer?” 
Nun lacht er, ein dröhnendes Lachen. Beleidigt schaut sie wieder auf ihren Ring runter. Er beugt sich beschwichtigend nach vorne und legt seine Hand auf die ihre, wobei er den Blickkontakt sucht. Dabei nimmt sie wieder diesen harzigen Duft wahr. Er lächelt schelmisch: “Wer weiß.” 
Misstrauisch beäugt sie ihn, lässt seine Hand auf der ihren liegen, ruhend in ihrem Schoss. Sie mag seine Wärme seiner Hände. 
“Erzählt mir was von Euch”, fordert sie ihn auf. Er lehnt sich wieder zurück, fixiert sie dabei weiterhin . “Was wollt ihr denn wissen?” 
“Wohin gehen wir? woher kommt ihr? Wieso seid ihr kaum gealtert?” 

Er zögert kurz, als wüsste er nicht wo anzufangen. 
“Was haltet ihr davon, wenn ich euch alle Fragen im Laufe der Woche beantworten werde, und stattdessen werde ich euch eine Sage erzählen? Mir wurde von eurer Mutter gesagt, ihr findet euch bestens in dieser Welt zurecht.” 

“Wann soll sie das gesagt haben?” 
“In der Kirche.” Sie nickt skeptisch und schaut aus dem Fenster, ihre Gedanken kehren zu ihrer Familie zurück. Ihr wird bewusst, dass sie noch gar nicht versteht was es heißt, sie für lange Zeit nicht mehr wieder zu sehen, aber sie stellt es sich ähnlich vor wie vor drei Jahren damals. Doch das Gefühl ist noch gar nicht bei ihr angekommen. Es kommt ihr alles grade so unwirklich vor, hier in dieser Kutsche zu sitzen auf dem Weg in ein Königreich, das sie weder kennt noch davon gehört hat. Sie wendet sich nachdenklich wieder Andrej zu.
“Meine Mutter, woher kannte sie euch?” 
“Sie hat euch wirklich gar nichts erzählt?” 
Vala schüttelt den Kopf. Sie kam sich grade vor wie ein dummes Schulmädchen, dass keine Ahnung hatte, was hier mit ihr passierte. Er seufzt, was in ihren Ohren wie das Seufzen ihres Lehrers anhörte, wenn sie die Worte in Russisch schon wieder zum – sie weiß nicht wie vielten male – falsch aussprach und er es aufgab es ihr schon wieder vorzusagen. Doch sie deutete es falsch. Der Gedanke, das man ihr gar nichts erzählt hatte und sie nun alles erst lernen müsse, brachte ihn zum Seufzen.
“Eure Mutter und ich kenne uns schon sehr lange. Mein Vater war ihr König.” 
“Sowas in der Art habe ich mir bereits gedacht.” 

“Sie hat euch die Sagenbücher gegeben?” 
Die junge Frau nickt stumm.
“Was haltet ihr von meinem vorherigen Vorschlag?” 
Fragend schaut sie ihn an, doch dann kehr die Erinnerung in ihren Augen zurück: “Gut, unter einer Bedingung.” Er nickt ihr zu, als Zeichen sie solle fortfahren. “Ich versprecht mich in alles einzuweihen?” 
Er schmunzelt und beugt sich vor: “Dann habe ich auch eine Bitte.” Nun schaut sie ihn aus großen Augen an. “Eigentlich zwei”- korrigiert er sich - “können wir mit dem Siezen aufhören? Bei uns ist das unüblich.” Bevor er fortfahren kann, streckt sie ihm in einer kindlich stürmischen Gestik, ihre Hand entgegen. Diese abrupte Bewegung lässt ihn kurz auf seinem Sitz zurückzucken. Was auch gut war, ansonsten hätten ihre ausgestreckten sein Gesicht beinahe geschlagen. Mit einem verlegenen Lächeln zuckt sie entschuldigend kurz die Schultern.
“Hallo, ich bin Vala Batiste, es freut mich dich kennen zu lernen.” Ein kurzer Ausdruck von Überraschung huscht über sein Gesicht, eher auflacht und ihre Hand annimmt: “Die Dame. Es ist mir eine Ehre, dich endlich kennen zu lernen. Ich bin Prinz Sàrkàn. Nenn mich bitte Andrej.”
“Und was ist die andere Bitte?” 
Nun wird sein Gesicht wieder ernst und unnahbar. Er gehörte zu den Sorten Mann auf dem Ball, die man sie wegen dieser unnahbaren Aura nicht getraut anzusprechen. Sie stehen meistens in einer schattigen Ecke, ruhig und zurückhaltend, während sie alles genau beobachten.

“Ich weiss, wie

viele Kulturen, welche diese, um es höflich auszudrücken, Fabelwesen verehren. Beinahe jede Kultur hat gar einen Schlangengott. Wieso?” 

die Legende

“Stellt dir mal vor, all diese Legenden sind wahr.” Sie kann sich ein Prusten nicht verkneifen. Tadelnd hebt er eine Augenbraue, fährt aber fort: “Ich sag ja nur, stellt es euch mal vor Ich bin mir sehr sicher, dass du diese Legende noch nicht kennst.” 

 

Sie schmunzelt amüsiert und streckt etwas hochmütig ihr Kinn vor. Ihr Blick scheint zusagen: “Eine Legende, die ich noch nicht kenne, das will ich hören.” 
“Wie du richtig gesagt hast, Drachen gibt es beinahe in jeder Kultur. Diese Geschichte spielt sich hoch im Norden ab. Zu einer Zeit, in welcher die großen Fenster von Palästen aus purem Bernstein bestanden und die Häuser der Bauern nicht nur aus schlichtem Material, sondern ebenfalls aus massivem Stein bestanden. Eine Zeit, zu welcher die Götter noch unter uns wandelten. Es heißt, Poseidon selbst habe die Stadt dieses Volk hoch im Norden gegründet. Man munkelt, das Blut der Götter fließe durch jene Adern, welche sich der Magie bemächtigen könne. Eines Tages wütete ein Krieg zwischen ihnen und einem Reitervolk, dass ihre Lande stark verwüsteten.” 
“Wer hat gewonnen?” 
“Krieg kennt nur Verlust”- erwidert Andrej düster - “Die Verwüstung hatte eine Hungersnot zur Folge, welche Jäger und Krieger zwang, immer weiter auszureiten. Einer von ihnen, Apex wurde er genannt, fand eine Höhle vor, in der er mehrere Eier fand. Wie du dir sicher denken kannst, nahm er diese schnell mit, in Gedanken an seine hungernde Familie und Volk. Doch was er nicht wusste, dass diese Eier Schlangeneier waren.” 
“Igitt! Das kann man doch nicht essen!” 
Er seufzt theatralisch, fast schon ungeduldig: “Wenn du Hunger hast, isst du alles!” 
Sie presste die Lippen zusammen, verlegen über ihren unüberlegten Ausruf, und senkte den Blick. Sie hatte Hunger nie als Mangel kennengelernt. Sie stellte sich das Volk vor, doch da fällt ihr eine Ungereimtheit auf. 
“Wenn sich das Volk angeblich der Magie bediente, wieso haben sie sich nicht einfach Essen hingezaubert?” 
Sein schallendes Lachen lässt sie unwillkürlich erschrocken zusammenzucken. “Weil das so nicht ganz funktioniert, Vala. Du kannst Pflanzen schneller wachsen lassen, aber wenn die Erde nicht gut ist, wird sie trotzdem keine prallen Früchte tragen. Und wenn du hungerst, wie willst du Kraft finden, deine Energie umzuwandeln? Aber dazu später mehr. Auf jeden Fall waren diese Eier nicht nur Schlangeneiner, sondern die Brut von Drachen, die sich in den Felsen im Norden zurückgezogen haben und dachten, vor den Menschen sicher zu sein. Doch das waren sie nicht und so begann ein Kampf zwischen Drachen und Magier. Denn so wie die Menschen ihre Eier geklaut haben, raubten die Drachen nun wahllos ihre Kinder. Und wieder wurde das Land mit Blut und Hass getränkt. Man sagt, die Erde habe so viel davon getrunken, dass dort oben anfingen, blaue Lilien zu wachsen. Die Zahl der Lebenden sank auf beiden Seiten, so dass sich eine junge Frau namens Phiola an einem Herbsttag dazu entschloss, auszureiten, um zu verhandeln. Sie pflückte die letzte blühende Lilie im Dorf und steckte sie nebst ihrem Proviant ein. Ihr Schwester Lote, mächtiger an Kraft als Phiola, wollte sie aufhalten. Doch jedes Zureden war vergebens. Sie bot ihre Schwester an, sie solle sie doch begleiten, doch das lehnte sie wiederum ab. 

 Phiola machte sich also auf und ging auf die Suche. Nur ein Schwert, Proviant und die Blume, mehr hatte sie nicht. Doch je länger sie ritt, desto müder wurde sowohl sie wie auch ihr Pferd, und es endete damit, dass ihr müdes Pferd auf den Felsen ausrutschte, umkippte und ein Bein unter sich begrub. Die Kriegerin konnte sich unter diesen Umständen nicht mehr fortbewegen und sah sich bereits dem Tod geweiht. Ihr Herz schlug zwar, doch immer langsamer und sanfter wurden die Töne. Sie vermochte es nicht mehr, die Augen offen zu halten. Da wurde sie entdeckt, von einem weißen Drachen. Weiss wie der Schnee und die Wolken. Ein Eisdrache mit bläulicher Mähne und Zacken auf dem Rücken. Philoa sah ihn und streckte ihm furchtlos die Blume entgegen, mit letzter Kraft flüsterte sie “Frieden”.
Was sie nicht wissen konnte, der Drache war nicht erbost wie die anderen. Im Gegenteil, ihre Trauer zerfraß sie mehr und mehr von innen heraus, und sie wusste, selbst wenn sie ihre Kinder rächen würde, so würde es nichts ändern. Sie war genauso schwach wie Phiola. Geschwächt von der Trauer. Der Drache flog also näher. Noch nie hatte es einen Menschen von so nahem gesehen. Faszinierend und hässlich zu gleich, diese Menschen. Und noch nie war sie so nahe, dass sie ihre Gedanken hören konnte. Die letzten Bilder, die gute Absicht der jungen Kriegerin und deren Mut. Die letzte Lilie als Geschenk als Zeichen des Friedens lag neben dem Körper, der nach und nach kälter wurde. Der Drache hörte ihren Herzschlag, der bald verstummen würde. Und er legte sich zu ihr aus einem unerklärlichen Instinkt heraus. Der Drache umschlang sie und das tote Pferd mit dem warmen, schuppigen, glänzenden Körper. Als der Morgen dämmerte, erwachte Phiola. Ihr Herz schlug wieder, doch sie fühlte sich anders. Sie wollte erschrecken. Als sie verstand, wo sie sich befand, hütete sie sich davor, sich zu bewegen. Doch der Drache hatte ihr Erwachen schon längst bemerkt. Sie hörte ihre Stimme im Kopf. Widerhallende fremde Gedanken durchliefen sie, zeigten ihr Bilder der Nacht und ein Wort erklang in ihren Gedanken: “Frieden.” So entstand die erste Verbindung zwischen Drachen und Menschen.” 
Vala stellte sich eine hübsche hellhaarige Frau vor. Und so bildlich wie Andrej erzählt, konnte sie die Bilder vor Augen sehen. Die junge, mutige Kriegerin, begraben unter ihrem Pferd.
“Und wie kann es sein, dass der Drache sie gerettet hat?” 
“Die Magie des Drachen verfloss mit ihrer. So wie die Magie sich einte, so einten auch ihre Herzen und retteten der Kriegerin das Leben. Der Preis für sein Herz war ihre Magie. Sie gab sie hin und erhielt dafür andere Gaben. Von da an konnte sie zwar keine Elemente mehr bändigen, denn als ihr kleines Herz erlosch, und das des Drachens in ihr erwachte, starb diese Magie, die sie von ihrem Volk kannte und in welcher sie unterrichtet wurde.” 
“Gibt es dafür keine Erklärung?”, unterbricht Vala ihn neugierig.
Andrej schüttelt den Kopf: “Nicht das ich wüsste. Ich erklär es mir damit, dass sich die Magie lediglich transformierte und insofern nicht verschwand. Willst du den Rest hören?” 
Sie nickt, wobei sie ihre Lippen einsaugt, mit der Hand nahe am Mund eine Bewegung macht, als würde sie ein Schloss schließen und den Schlüssel aus dem Kutschenfenster werfen.
Er nickt zufrieden und fährt fort: “Phiola ging als Botschafterin und kehrte als Drachenreiterin zurück. Sie kommt also zurück, doch erst ohne den Drachen. Herzlichst wird sie von ihrer Sippe empfangen. Ihre Schwester, die sich zwar Sorgen gemacht hat und sie liebte, freute sich irgendwie auch, dass sie keinen Erfolg gehabt hatte. Doch dies würde sich noch als Irrtum herausstellen.
Während der Versammlung veränderte sich Phiolas Gestalt als Beweis ihres Erfolges, den ihr vorher niemand glauben wollte. Ihre Haut wurde von weißen Schuppen bedeckt. Ihre Augen verengten sich und wurden schmal. Sie hatte zwar schon blaue Augen, doch die Farbe wurde viel intensiver, fast schon leuchtend – die gleiche Farbe wie das ihres Drachens. Ihr Gesicht wurde länglicher und ihre Nasenwurzel brach in sich zusammen, bis sie beinahe flacht war. Ihre Ohren wurden spitz zulaufend, so dass sie besser hören konnte. Ihre Lippen dünn, so dass sie aussah wie eine skurrile menschliche Schlange. Da es ein Volk von Magiern war, waren sie nicht sonderlich überrascht. Phiola verkündete das Bündnis zwischen den Drachen und ihnen. Und sie nannte auch den Preis.” 
“Es gab keine Wiederworte?” 
Er lehnte sich ein wenig zu ihr vor, um ihr besser in die Augen schauen zu können. “Eigentlich nicht, denn im Allgemeinen waren sie froh um den Frieden und ein friedliches Leben begann. Sie fingen an, gemeinsam zu jagen. Die Drachen lehrten sie das Reiten und nannten sie Dregos. Quasi eine Verniedlichung auf ihrer Sprache.” 
Er spürte ihre kühlen Finger auf seinem Handrücken und wendete den Blick dahin. Kaum hatte sie seinen Blick bemerkt, zog sie sie gleich zurück, fast etwas erschrocken über ihren vertrauten Umgang miteinander, und schließt den Mund wieder. “Hast nicht du mich grade vorher auf unsere Heirat aufmerksam gemacht?”, neckt er sie. Sie verzieht das Gesicht: “Ja, ich war dabei.” Es kam ihr jetzt schon lange vor, obwohl das Ganze erst gerade heute stattgefunden hat. Manchmal fließt die Zeit anders. Er greift unwirsch nach der Hand, die sie zurückgezogen hatte, und umschließt sie mit seinen. Wie gerne würde er ihr sagen, wie sehr er auf diesen Tag gewartet hatte, auf sie gewartet hatte. Er hält kurz inne, abwartend, ob sie ihre Hand wieder zurückziehen würde. Doch ähnlich wie schon bei der Trauung tat sie das nicht. Es fühlte sich seltsam vertraut an zwischen ihnen. Dieses Gefühl, als würden sie sich schon ewig kennen, ist seitdem er ihre Hand in der Kapelle ergriffen hatte, nicht mehr vergangen. Oder war es, seit sie ihm das erste Mal in die Augen geblickt hat.

 
Vielleicht liegt es auch daran, dass Andrej ihr von Anfang an nicht das Gefühl gab, dass dies lediglich eine Zwangsehe war. Eher so, als wären sie Freunde auf einem Abenteuer, nur dass sie ihr weißes Kleid noch trug. Wie gerne hätte sie Anna ihre hier gehabt. Ganz gewiss wäre sie hin und weg von Andrej. Auch er spürte es, diese Wärme. Sie nickt ihm zu, wobei sie ihn flüsternd auffordert, weiter zu erzählen.

“Wo bin ich stehen geblieben" - innehaltend such er den Faden - “Ach ja, es kam also die Zeit, in welcher sie alle friedlich zusammenlebten und anderen Völkern halfen. So wie sie schon früher als Magier halfen. Schon damals fürchtete man sie teilweise doch nun. Da sie auf Drachen ritten und ihre Gestalt mehr der eines Tieres als der eines Menschen glichen, schürten sie umso mehr Furcht. So zogen sie sich immer weiter in die Berge zurück und ließen die Menschen mehr und mehr in Ruhe. Durch Frieden kam ihr Bündnis zustande, und um diesen Frieden erhalten zu können, war es besser, sich zurückzuziehen. Im Laufe der Zeit auf spaltete sich das Volk. Denn nicht alle waren bereit, ihre Magie für dieses Bündnis herzugeben. Sie sahen das Geschenk nicht, das ihnen zu Teil wurde. Und sie wollten nicht einsehen, dass es kein Verlust war, ihre bekannte Magie herzugeben, sondern lediglich eine Transformation.” 
“Vieleicht wollten sie nur die Kontrolle nicht aufgeben.” 
“Oder so. Die Gründe sind vielseitig. Doch einer der Hauptgründe war unter anderem der Zwist zwischen Lote und Phiola. Lote entfernte sich immer mehr von ihrer Schwester, und spätestens als sie herausfanden, was passiert, wenn ein Drache oder sein Reiter stirbt.” Er legt eine Kunstpause ein.
“Wenn einer der beiden Gefährten stirbt, stirbt der andere mit. Entweder an Herzversagen oder wird vor Trauer innerlich gelähmt. Ein Drache und sein Reiter sind eine Einheit und aneinandergebunden. So kam es also, dass ein Reiter in Folge eines Unfalls starb und sein Drache mit ihm. Phiola flehte die Magier an, irgendwie zu helfen. Doch sie weigerten sich solch einem Ungetüm, das ihre Kinder gefressen hatte, zu helfen. Ein junger Magier jedoch versuchte sein Glück doch leider vergebens. Er bestätigte Phiola, dass eine Verbindung zweier Herzen viel zu stark sei und dass da Elementmagie nicht ausreichen würde. Man müsse die Verbindung vorher irgendwie trennen, doch wie dafür hatte er wenig Kenntnis.” 

“Vielleicht wollten die anderen ja nicht helfen, weil sie sich genau das nicht eingestehen wollten, dass sie eben keine Ahnung hatten”, wirft Vala ein und wie bei einem Kind blitz eine kindliche Antipathie gegenüber den Magiern auf. Er ging nicht weiter auf ihren Kommentar ein: “Dieser Umstand entfachte einen hässlichen Streit zwischen den Zwillingen, was darin mündete, dass die Drachenreiter davonflogen. Lote drohte ihr, wenn sie und ihre Sympathisanten weiterhin ihre Magie, ja ihr Geburtsrecht den Drachen schenken würde, würde sie sie eines Tages finden und ihr zeigen, wie sehr Phiola  sich in diesem Bündnis täuscht, wenn sie sterbenden neben ihrem toten Drachen liegen würde. Sie wird ihr schon zeigen, dass die Herrschaft über den Elementen immer stärker sein würde. Phiola  war sich bis zum Schluss sicher, dass sie diese Worte nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Und so versteckte sie Phiola und die ihren in einer Gebirgskette weit ab vom Norden, während Lote im Schatten der steilen Eisberge die Gilde der Magier gründete. unter dem Zeichen der blauen Lilie, damit nie vergessen werden würde, wie viel Blut geflossen ist. Wo immer die Magier hingingen, wurde die Angst vor den Drachen und ähnliche Lebewesen geschürt. Und so kam es, dass die Fabeltiere aus unserem Blickfeld verschwanden und heute nur noch in unseren Märchen und Legendenbücher existieren.”

“Gibt es das Volk noch?” Statt einer Antwort wirft er einen träumerischen Blick aus dem Fenster und murmelt mehr zu sich selbst als zu ihr: “Wir sind bald da.” 

Ein neues Zuhause

 

Die Kutsche holpert über den unebenen Waldboden. Sie spürt ein unruhiges Kribbeln in ihren Gedärmen. Bald sind Sie da. Sie mustert ihn unverhohlen, wobei er ihren Blick standhält. Im Gegensatz zu ihr wirkt er völlig gelassen. Nun ja, er kennt sein Zuhause bereits schon, denkt sie sich. Doch sie weiß gar nicht, was sie erwarten würde und sie musste an Phiola, die mutige Drachenreiterin denken. Sie würde genauso mutig sein wie sie. Dennoch war Vala immer noch überrascht darüber, dass sie die Legende nicht kannte. Doch in einer Zeit, in der die Kirche solcherlei Legenden verbot und als Frefel betrachtete, war sie überhaupt froh darüber, dass ihr der Zugang zu solchen Büchern immer erlaubt worden ist. es sogar von ihrer Mutter gefördert wurde. Nur vor dem Mönch, der sie unterrichtete, sollte sie stets Stillschweigen bewahren.
Aufmunternd lächelte ihr Andrej zu. Obwohl sie sich nicht kannten und sie sich so gegen diese Hochzeit gesträubt hatte, spürte sie diese seltsame Vertrautheit, als würden sie sich schon lange kennen. Sie wendet den Blick ab von ihm und seinen seltsamen Augen und schaut aus dem Fenster. Konzentriert, knabbert an ihren Unterlippen.

Noch umgibt sie die schattige Dunkelheit der Wälder. Immer mehr Licht durchdringen das Dach von in sich verzweigten Baumkronen. Die Abstände zwischen den Bäumen verringern sich. Der Waldboden wandelt sich zu einer weitläufigen Wiese. Die Grashalme erstrahlen in sattem Grün.
Neugierig streckt sie den Kopf aus dem Fenster, obwohl dies ihrem Stand nicht angemessen ist. Doch das ist ihr egal. Sie will ihn auch spüren lassen, dass sie sich nicht allzu viel Mühe geben wird – eine Haltung, die er bereits seit ihrem Einstieg erkannt hat. Je weiter sie über den unstetigen Weg Querfeldein fuhren, umso besser erkannte sie einen Hügel, der sich immer mehr und mehr zu einem Berg auftürmt, je näher sie ihm kommen.
Sie hat noch nicht viel Berge in ihrem Leben gesehen, da sie nah an der Küste und dem Wald aufgewachsen ist. Umso mehr erfüllt sie der Anblick dieses Riesen aus Stein mit Ehrfurcht. Faszinierend betrachtet sie den Berg, mit all seinen unsteten Ebenen und Furchen. Die Sonne steht hoch über den Gipfeln und der Bergkämme, die sie von hier aus noch nicht sehen kann. Der Berg wirft einen Schatten auf die Wiese, und genau auf den fahren sie zu. Die Kutsche macht einen leichten Bogen, als wolle sie um den Berg herumfahren.

Steile Hänge erstrecken sich, wohin sie blickt, und kommen immer näher. Sie hört das Rauschen von Wasserfällen. Vala erschaudert kurz. “Wir klettern da aber nicht hoch?”, fragt sie den Prinzen und deutet dabei aus dem Fenster raus. Verwundert hebt er eine Augenbraue, doch bevor er den Mund öffnen kann, fährt sie hastig fort: “Also ich meine, da ist ein großer Fels und ich bin keine gute Kletterin”, dabei blickt sie an sich runter und zupft verlegen an ihrem Kleid, um auf ihre unpassende Kleidung hinzuweisen. Ein erheiterndes Schmunzeln gleitet über seine sinnlichen Lippen. Er beugt sich vor und nimmt sanft ihre Hand. Durch die reinscheinenden Sonnenstrahlen blitz seine Ehering golden auf: “Nein, wir werden nicht klettern. aber ein paar Treppenstufen wirst du schon laufen müssen.” 
Den lustlosen Schnaufer konnte sie sich nicht verklemmen.
“Wieso hat man mir das nicht früher gesagt. Ich meine das Ganze hier, dieser ganze Tag, diese unzähligen Überraschungen ”- sie ringt ungläubig mit den Händen, als wolle sie einen Erdgeist heraufbeschwören - “was genau bezweckt ihr damit?” 
Er kaut unsicher auf der Innenseite der Wange: “Vala, ich, ich, wie soll ich sagen. Wir haben uns darauf geeinigt, je weniger du...” 
“Ja ja, ist schon gut. Hab verstanden.” Trotzig winkt sie ab und schaut aus dem Fenster, das Kinn auf die Faust gestützt, wie ein trotziges Kind. Sein Blick verharrt weiterhin auf ihr. Trauer mischt sich in seine Gesichtszüge. Wie gerne hätte er ihr alles gesagt. Hatte seine Mutter ihn nicht genau davor gewarnt und ihm von der Auflösung der Verlobung abgeraten. Bei dieser Erinnerung keimt Wut in ihm auf. Er beruhigt sich mit dem Gedanken, dass es so vielleicht genau richtig ist.

So schwiegen sie sich das letzte Stück an, jeder für sich in Gedanken. Das Innern der Kutsche verdunkelte sich zunehmend, als die Tiere durch einen Torbogen in das Innere des Berges geführte wurden, bis sie weder ihn noch die eigene Hand in der Dunkelheit nicht mehr erkennen konnte. Sie nimmt an, dass die Pferde den Weg bereits kennen mussten, da das Tempo des Gefährts trotz der Finsternis nicht gedrosselt wurde. Der Geruch von feuchtem Stein und Mos dringt in die Kutsche ein. Die wiederhallenden Geräusche der eisenbeschlagenen Räder und der Hufeisen auf dem glatten Stein lassen ohnehin keine gepflegte Konversation mehr zu, außer man wolle sich anschreien. Vala begrüßte die kühle Luft des Tunnels. Die umgebende Hitze während der Fahrt setzte er ihr doch ein wenig zu und ihr Hintern brannte bereits von der Fahrt. Diese paar wenigen Stunden fühlten sich wie eine Woche an. Und dieser schöne Mann vor ihr, der ihr so seltsam vertraut scheint, verwirrt sie. Sie muss sich eingestehen, dass sein Aussehen und diese galante Art es ihr nicht einfach macht, ihn nicht zu mögen. Und diese Stimme und der Geruch. Sie seufzt innerlich auf. Sie entschließt sich, offen zu sein für all das hier, das Neue und seine Bitte erfüllen.

Vala schätze, dass die Fahrt durch den Tunnel gut zwanzig oder dreißig Minuten gedauert hat. Doch heute vertraut sie nicht auf ihr Zeitgefühl. Langsam hellt es sich auf und sie erkennt immer mehr wieder sein Gesicht, das vollkommen gelassen wirkt. So im Halbschatten des Berges wirkt es durch seine Gesichtszüge gar etwas Bedrohliches. Seine Schultern spannen sich an, als sich das Geräusch verändert. Der Widerhall ist noch da, doch nicht mehr so laut. Die Pferde werden langsamer und schließlich hält die Kutsche ganz. Die Kutsche ruckelt erneut, als der Kutschführer sich von seinem Sitz runterschwingt und dem Prinzen die Tür öffnet. Sie hört hinter sich die zweite Kutsche ankommen und ebenfalls anhalten. Andrej steigt aus und reicht ihr die Hand. Diesmal lehnt sie nicht mehr ab. Zum einen, weil sie sich allmählich eingesteht, dass dieses störrische Verhalten wohl keinen Sinn macht, und zum anderen fühlen sich ihre Beine an wie Gummi nach dieser Fahrt. Als sie den Kopf herausstreckt und vor ihr die riesigen Felsen erblickt, stockt sie in ihrer Bewegung und schaut sich um. Sie befinden sich auf einem runden Plateau umgeben von fünf gigantischen Säulen. Es erinnert sie an eine römische Arena oder einen kreisrunden Tempel der Antike, nur ohne Dach. Sie sieht oben das Licht der Sonne, doch vermögen die Strahlen nicht ganz zu ihr vorzudringen. Die verzierten Säulen werfen Schatten auf die ungeschliffenen Felswände hinter ihr. Zwischen zweien dieser Säulen sind sie reingekommen und zwei andere schmückte den Eingang zu einer weiteren Öffnung, das in den Felsen reingehauen schien. Oder wurde es aus dem Berg rausgehauen? 

 Sie ist überwältigt und ängstigt sich doch zu gleich. Noch nie hat sie solch eine Schlucht gesehen. Sie lässt ihren Blick runterwandern und erkennt ein Muster auf dem Boden. Nun richtet sie sich vollends auf der obersten Treppe der Kutsche auf. Unter ihnen erstreckt sich ein Mosaik aus Grautönen. Als hätte man die einzelnen Stücke rausgehauen, statt reingesetzt. Es zeigt eine geöffnete Rose in der Mitte, umschlungen von einem dünnen gezackten Drachenleib. Es musste das gleiche Bild sein wie auf den Kutschen.
Andrej räuspern reißt sie aus der Betrachtung. Erst jetzt merkt sie, dass sie für die Anwesenden wie erstarrt scheinen musste. Verlegen steigt sie aus. Wie schon im Tunnel, riecht es auch hier nach nassem Stein und Moos. Dieser Geruch vermischt sich mit dem Schweiß der Pferde.
“Was ist das hier?” 
“Eine Abkürzung zu der Burg, es war Daniels Idee..., weil...”, Schritte hinter ihr lassen ihn innehalten und seine Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Sie folgt jäh seinem Blick. Hinter ihr steht der Ringträger. Als er vor Vala zu stehen kommt, verbeugt er sich tief. Als er sich wieder aufrichtet, teilt ein erheitertes Grinsen seinen Bart: “Daniel Jàlis mein Name. Es freut mich, euch endlich kennen zu lernen, Prinzessin!” 
Seine Stimme hat die ähnlich fremde Melodie wie Andrejs. Nur ist sie viel tiefer und kippt beinahe schon ins Dröhnende. Sanfte Lachfalten zeichnen sich an seinen unteren Augenliedern ab. Seine freundliche, fast schon einnehmende Art beruhigt sie irgendwie.
Fast schon etwas spöttelnd fährt er fort: “Andrej konnte die letzten Tage vor Aufregung fast den Mund nicht mehr aufmachen. Ich meine, unser Prinz ist ja schon etwas...” 
“Ist gut Daniel”, zischt Andrej hinter ihr gespielt wütend, wobei er damit lediglich versuchte seine Verlegenheit zu verbregen. Daniel nimmt räuspernd seine Hände hinter den Rücken zusammen. Auch wenn seine Miene ernster wird, so funkelt seine Belustigung noch immer in seinen blauen, tief liegenden Augen.
“Wie dem auch sei. Wann immer ihr ein Anliegen habt oder ein Problem, wofür sich euer Gatte vielleicht nicht eignet, wie zum Beispiel das Satteln der Pferde oder Kochen, wendet euch ungeniert an mich.“ Bei seinen letzten Worten funkelt er rüber zu Andrej, der gespielt sein Gesicht verzieht, es aber nicht mehr kommentiert. Solch eine offene, direkte Art ist sie sich gar nicht mehr gewohnt und ganz bestimmt noch weniger nach solch einem Tag. Er lässt ein dröhnendes Lachen erklingen und entschuldigt sich kurz danach mit der Erklärung, dass er sie keineswegs auslache, sondern über die Gesichter der beiden lache: “Verzeiht, aber ihr gebt ein herrliches Paar!” Unsicher dreht sie sich zu Andrej, der sich wieder zu fassen schien. 
“Bist du fertig?” 
Daniel klopft ihm freundschaftlich auf die Schultern: “Ach komm schon Die ganze Angelegenheit ist doch ernst genug!” Bei diesen Worten zwinkert er Vala von der Seite zu. Sie quittiert sein Verhalten mit einem dankbaren Lächeln. Abermals schaut sie sich in diesem aus Stein geschaffenen Amphitheater um. Verwundert bemerkt sie, dass die Soldaten wieder auf dem Kutschbock sitzen und das Ganze ausdruckslos beobachtet haben. Sie hatte sie gar nicht gehört.
Andrej tritt nah an sie heran. “Prinzessin, wenn ich bitten darf?” Sie schaut von ihm zu Daniel, der bereits zwischen den Säulen neben dem Eingang wartet. Er hantiert grade am Felsen herum, doch sie sehen nicht, was er tut. Angestrengt klemmt er sich die Zunge zwischen die Lippen und murmelt Fluche vor sich hin, bis er endlich findet, wonach er gesucht hat. Eine Fackel, welche er kurz darauf mit zwei Feuersteinen entzündet. Andrej schüttelt dabei den Kopf.
Endlich hat sie Feuer gefangen und taucht den Eingang nun in oranges Licht. Zufrieden nickt Daniel dem Paar zu und deutet zum Eingang: “Kommt ihr?”
Als die drei im Gewölbe verschwinden, wendet der erste Soldat die Kutsche und kommt neben seinen Kollegen zu stehen. “Ich glaube, sie wissen es nicht.” Der andere zuckt die Schultern. “Spätestens nach unserem Bericht wird es die Krone wissen.”

Das Innere des Gebäudes ist anfänglich dunkel und lediglich das Licht der Fackel spendet ihnen Licht. Doch nur genug, um nicht über die Stufen der steinernen Stufen zu stolpern und die Wände zu sehen. Diese von Menschenhand erschaffene Höhle besitzt mehrere Ebenen, welche alle durch eine breite Wendeltreppe miteinander verbunden sind. Jeder ihrer Schritte hallt gespenstisch vom Gestein wider. Immer wieder überkommt sie das beklemmende Gefühl, als würden sie verfolgt werden. Doch es ist nur der Hall der Schritte. Mit jeder Ebene nimmt der Druck auf ihrem Ohre zu. Doch das ist nicht die einzige Veränderung. Auch die Wand neben der Treppe verändert sich. Anfangs sind sie einfach nackt und widerspenstig, doch je höher sie steigen, desto geschliffener wird es: Die Struktur und Muster beginnen sich ebenfalls mit jedem Schritt anders herauszukristallisieren an. So auch die Mittlersäule, um die sich die Treppe schlingt. Blanker grober Stein wandelt sich zu einer geschliffenen Oberfläche. Aus der geschliffenen Oberfläche kristallisieren sich kunstvolle Ranken heraus, die sich um die mittlere Säule der Wendeltreppe ranken. An den Wänden erkennt sie eingemeißelte Bilder. Vala konnte nicht jedes Bild oder die Figur erkennen. Teilweise waren es naturgetreue große Menschen, die einen Speer in der Hand hielten oder Tiere. Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie fühlt sich erschlagen. Sie war auf alles vorbereitet, nur nicht hierauf. Sachte legt Andrej den Arm um sie und sie flüstert fragend: “Wieso ist es hier so still? Wo sind deine Diener?” Der Mann vor ihr hüstelt und Andrej erklärt ihr: “ Hier gibt es keine Diener. Es ist quasi eine Abkürzung. Hätte Daniel mich vorher nicht mit seinen Späßen unterbrochen” - wobei er letzteres gespielt vorwurfsvoll und laut in die Richtung seines Freundes betonte - “hätte ich dir sagen können, dass dieser Weg schneller geht. Der andere ist der offizielle, aber da wären wir erst viel später angekommen, wir waren uns nicht sicher, ob es das ist, was du wolltest.” Am liebsten hätte sie erwidert, dass man sie ja auch nicht gefragt hatte, ob sie diese Heirat wollte, doch sie beißt sich auf die Zunge.
„Was wird mich heute noch erwarten?“ 
„Was denkst du was passieren wird?“ Sie zuckt die Achseln und erwidert trockener als beabsichtigt: “Du hast mir versprochen, das es keinen Trommelwirbel geben wird.”. Daniel markante Stimme ertönt: „Du wirst in den Thronsaal gebracht und von seinen Eltern gefressen.“ Andrejs strafende Blicken durchbohren den Rücken seines Freundes. Daniel muss nicht hinsehen, um es zu merken und lacht dabei vor sich hin. Andrej korrigiert die Aussage lakonisch:“ Du wirst dem Königspaar vorgestellt. „Also hat Daniel gar nicht so Unrecht“, murmelt sie. Andrej wirft ihr einen langen Blick zu.
„Du weißt dass ihr nochmals heiratet?“ 
Sie bleibt kurz stehen und zwingt Andrej ebenfalls zum Stillstand, da sie immer noch die Hände ineinander haben. „Mutter hat“ - sie stockt kurz bei der Erwähnung, schüttelt aber den Schmerz gleich wieder ab - „Sie hat sowas erwähnt. Aber was genau bedeutet das? Du hast nur vom Bankett erzählt!“ Das ist der Moment, in welchem sie Daniel ihr Vertrauen schenkt. Nach all der Zeit der Geheimnistuerei erwähnt endlich mal jemand die für sie relevanten Informationen und lässt sie nicht ständig im Dunklen tappen. Daniel lacht amüsiert auf, doch sie kann sein Gesicht nicht sehen, da er die Treppen weiter hochsteigt und den beiden weiterhin den Rücken zugekehrt hat. „Na eure Verbindung wird diesmal vor dem ganzen Volk bezeugt und unmissverständlich klargemacht, dass du zur Königsfamilie gehörst. Wir sind gleich da.“ Die Flamme flackert ganz unruhig, während er seine Schritte beschleunigt, um die letzten paar Stufen zu erklimmen. Sie kann kaum mehr die Wände erkennen durch das sich entfernende Licht. Lediglich Andrejs Hand bietet ihr Führung und Halt zugleich. Hier oben riecht es nicht mehr nach Moos oder Nässe. Sie hört nichts mehr, nur noch das Knarzen des Holzes und ihre Schritte. Als sie oben bei Daniel ankommen, lichtet sich die Dunkelheit endlich wieder. Nun stehen sie vor einer großen, eisenbeschlagenen Tür. Die Fackel erhellt nur die eine Hälfte von Daniels Gesicht, als er den beiden zulächelt.
„Prinzessin, seid ihr bereit für euer neues Leben?“ Sie schluckt hörbar und will eigentlich etwas Spöttisches erwidern, um ihre Unsicherheit zu überspielen, doch versagt ihr die Stimme. Das nervöse Kribbeln hat sich zu einem Kloss in ihrem Hals zusammengezogen, jetzt, wo sie so nahe vor dem Ziel stehen. Sie nickt als Antwort, sieht aber nicht in seine Augen. Ihr Blick ist starr auf die Tür gerichtet. Andrej drückt ihr sanft die Hand, während Daniel die Tür für sie öffnet, wobei er seinen Körper in einer leicht verbeugenden Haltung hält. Erst dringt das Nachmittagslicht ganz sanft durch die immer grösser werdende Schneise und vertreibt die Schatten, vertreibt den Geruch der Steine und ein süßlicher Geruch von Heu dringt ihr in die Nase. Sanft führt Andrej sie vor sich her und lässt sie zuerst in das wärmende Licht eintreten. Das Licht wirkt auf sie gleisend, da sie nun doch eine Weile diese Wendeltreppen hochgestiegen sind. Erst nach und nach erkennt sie Gestalten und Bauten. Und was sie sieht, lässt sie wieder staunen. Eine Burg, dass sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können.
Vor ihr erstreckte sich ein großer Torbogen, dessen Mitte ein gewaltiger Drachenkopf zierte. Riesige Flügel wurden auf den Seiten eins mit dem Bogen wurden. Teile des Flügels erstrecken sich noch bis zu den schmalen Tortürmen, die für eine Burg doch eher schmal gehalten wurden und aussahen, als hätte man sie lediglich als Zierde dahin gebaut. Wie ein Wächter betrachteten die schlitzförmigen Augen misstrauisch jeden, der davorstand und durchtreten wollte. Ein paar Menschen in einfacher Kleidung gingen beim Tor ein und aus. Vala vermutet, dass es sich hierbei um Mädge, Knappen und andere Angestellten des Hofes handelt.

Zwei Soldaten bewachen je eine Seite des Eingangs. Ähnlich gekleidet sind die Wächter unten bei der Kapelle, nur dass ihre Brustpanzer in der Sonne silbern glänzen, während die anderen lediglich Leder getragen hatten. Vom hochgezogenen Fallgitter kann sie nur ein paar Spitzen noch erkennen. Hinter dem Torbogen erkennt sie die Burg, die aus grauem und weisem Gestein gebaut wurde. Der hintere Teil verschmolz immer weiter mit dem Bergkamm. Je nach Betrachtung scheint es, als sei die Burg aus dem Berg herausgehauen worden.
„Also langsam hör ich mir auf über irgendwas zu wundern“, entfährt es Vala leise. 

„Na, wie gefällt dir der Eingang“, grinst Daniel, der neben sie getreten war. Und schaut ebenfalls hoch zum gewaltigen Gebäude. Die Sonnenstrahlen reflektierten sich im hellen Gestein und ließen alles heller leuchten und strahlen. Sie kann ihre Augen nicht davon ösen: Viel zu sehr durchdringt sie die Faszination. Es ist nicht so, als hätte sie nicht bereits einige Palais zu Gesicht bekommen. Doch hatte sie noch nie eines so hoch oben in den Bergen erblickt und war darum umso überwältigter von dem Anblick.
„Vielleicht hätte wir doch nicht die Abkürzung nehmen sollen“, raunt Andrej seinem Freund über ihren Kopf hinweg zu. „Du warst es doch, der das vorgeschlagen hat“, erwidert dieser Trocken und fügt hinzu: „Und was hätte es geändert.“ 
„Ich hätte sie vielleicht besser darauf vorbereiten sollen.“ 
Der Ringträger zuckt lässig die Achseln und wendet sich an Vala:“ Hätte es was geändert Prinzessin.“ 
Diese schüttelt statt einer Antwort nur den Kopf, immer noch den Blick starr gerade aus. Endlich schafft sie es, ihr Gesicht abzuwenden und zu ihm zu schauen. Von dem hellen Licht sah sie erstmals mal nur lauter bunte Pünktchen, die sich nach und nach lichten. Er hatte die Lippen konzentriert zusammengepresst. Durch die helle Sonne hier oben scheint seine Haut noch blasser und die Augen glühender als vorhin, im Vergleich zu Daniel. War dieser Ring um seine Iris vorher nicht dunkler? 
Galant streckt er ihr seinen Arm hin, den sie zögerlich annimmt. Doch gerade, als sie durch das Tor treten wollen, zwinkert Daniel den beiden verschwörerisch zu und geht einige schnelle Schritte vor sie und bleibt beinahe fast genau unter dem Drachenkopf stehen.
Er nimmt eine gerade militärische Haltung ein und Vala bildet sich ein, dass sein Gesicht und ganz ernst sein müsse, als seine herrische Stimme erklingt, gerichtet an die beiden Solldaten: “Männer! Stillgestanden!“ Kurz erschrocken merkte sie gar nicht, da sie ihre Fingernägel in Andrejs Unterarm gekrallt hatte. Erst als er seinen Arm leicht schüttelt, löst sie mit entschuldigender Miene ihren Griff.
Sofort nehmen die Wachposten eine geradere Haltung ein, die Schultern angespannt. Ihre Miene ausdruckslos, die Augen weiter gerade ausgerichtet, so als würden sie sich nicht getrauen, ihrem Vorgesetzten direkt in seine nun streng funkelnd blaue Augen zu schauen. Zumindest bildete sich Vala dies ein. Was sie aber nicht sehen kann von ihrer Position aus, ist, dass seine Augen die Farbe geändert haben, nur für einen kurzen Augenblick.
„Begrüßt man etwa so unsere Prinzessin?“ 
Als wäre seine Frage eine Aufforderung verneigen sich beide Soldaten gleichzeitig und sprechen im lauten und festen Tone unisono: „Willkommen Prinzessin Sàrkàn!“ 
Sie lächelt gezwungen, obwohl ihr das Schauspiel unangenehm ist. Zum einen lag es daran, dass sie sich mit ihrem zerknitterten Kleid und dem vom Treppenaufstieg dreckigen Saum zum einen nicht wie eine Prinzessin erschien, zum anderen war sie seit gut drei Jahren nicht mehr auf einem Ball gewesen und war sich so viel Aufmerksamkeit nicht mehr gewohnt. Sie spürt nun noch mehr Blicke auf sich. Männer und Frauen, welche mitten in ihrer Tätigkeit innehielten und sich dem lauten Geschehen am Tor zuwandten. Zu den geneigten Köpfen der beiden Soldaten gesellten sich noch mehr. Wie erstarrt schaut sie auf diese Handvoll Menschen um sie herum. Selbst Daniel hatte sich den beiden wieder zu geneigt und seinen Kopf ehrerbietig geneigt. Andrej spürt ihre Unsicherheit und flucht innerlich über Daniel. Er hat ein wenig mehr Einfühlsamkeit von ihm erwartet. Irgendwie war er auch erleichtert. Nun würden seine Eltern binnen weniger Minuten erfahren, dass sie doch schon früher angekommen sind. Valas Status wurde durch so eine Begrüßung ebenfalls gefestigt. Er tritt nun schützend mit erhobenen Händen vor seiner Braut hin: „Vielen Dank in unseren Namen.“ Er wendet sich nun mit ernstem Blick an Daniel: „General, wenn ich bitten darf, uns bei dem König und der Königin anzumelden.“ Der General nickt seinem Prinzen zu, wobei er mit einer steifen Bewegung die Fersten kurz aneinander knallen lässt und abtritt. Mit zielgerichteten Schritten schreitet der General durch das Tor. Lediglich die Wachposten würden ihre Schultern erst wieder entspannen, wenn der Prinz und seine frischgebackene Gemahlin ebenfalls außer Sichtweite waren. Die Anwesenden setzten sich langsam tuschelnd ebenfalls in Bewegung. So lasse das Zeremoniell also eröffnen, denkt sich Vala im Stillen.

Andrej verweilt für einen kurzen Moment noch in seiner Position, ehe er sich wieder zu Vala umdreht Mit erhobenen Augen starrt sie ihn ungläubig an – oder vielmehr an ihm vorbei, als wäre sie eine Theaterbesucherin, die noch immer nicht fassen kann, was sich eben auf der Bühne abgespielt hat. Er beugt sein Gesicht näher, ein schelmisches Lächeln seine Lippen umspielend, sucht er den Blickkontakt zu ihr. Sie riecht leicht nach Vanille und einem anderen süßlichen Geruch, gemischt mit den Gerüchen aus den Höhlen.

Endlich erwidert sie seinen Blick.
„Alles gut?“ 
Sie presst kurz die Lippen zusammen, ehe sie beinahe schon stotternd erwidert: „Ich weiß nicht.“ Behutsam geht er nun vor ihr in die Knie: „Es tut mir leid, das Verhalten von Daniel, es war etwas…“ Sie unterbricht ihn, bevor er die richtigen Worte finden kann. Ihre Mimik verändert sich plötzlich wirkt energisch, was sich in ihrer Stimme widerspiegelt: „Alles gut!“ Es war gut. Lieber so, als wenn ich wie ein stummer Fisch vor dienen Eltern gestanden hätte.“ 
„Du meinst liegend.“ 
Verdutzt schaut sie ihn an und entschuldigend erwidert er: „Fische stehen nicht.“ 
Sie quittiert seinen Kommentar mit einem ungläubigen Lachen, das in ein weiteres übergeht, bis schließlich heiteres Gelächter die Luft erfüllt. In diesem Lachen mischen sich all ihre Gefühle des ganzen Tages. Tränen treten in ihre Augenwinkel. Anfangs starrt er sie an, als wäre sie verrückt geworden, doch dann lässt er sich von ihrer Fröhlichkeit anstecken und stimmt in das Gelächter ein. 

Langsam wird ihr Lachen leiser. Verhalten wischt sie sich eine Träne aus den Augenwinkeln. Das fröhliche Lachen hat ihnen beiden jegliche Anspannung genommen. Sie schaut an sich hinunter, betrachtet den dreckigen Saum und das zerknitterte Kleid, das für ihren Geschmack wohl gar nicht damenhaft aussieht. Ein paar Strähnen haben sich sicherlich auch aus der Frisur gelöst. Beim Gedanken daran lacht sie kurz auf. Doch eigentlich wollte sie ihm anfangs ohnehin nicht gefallen. Was spielt all das jetzt noch für eine Rolle? Heiter wendet sie sich ihm zu: „Na, wollen wir den Rest auch noch hinter uns bringen?"

Er hatte ihren Blick bemerkt: „Willst du dich vorher noch frisch machen?“ 
Sie winkt ab: „Was würde es jetzt noch bringen?“ 

Ein amüsiertes Schnauben entfährt ihm. Zwar kann er sich den Kommentar seiner Mutter bereits vorstellen, aber was soll's. Liebevoll und zugleich erstaunt schaut er sie an. Da ist noch etwas – Bewunderung. Es ist ihre Art, wie sie ihn in Staunen versetzt. Sie steht da, unberührt von der Hitze der Sonne, in ihrem wunderschönen Kleid, auch wenn es nicht mehr so perfekt ist, wie es sich wohl ziemen würde. Doch auch er sieht mittlerweile etwas zerknittert aus und freut sich schon darauf, sich in bequemere Kleidung zu werfen. Er hat sie mitgenommen, und von heute auf morgen wird sie in einem anderen Königreich, ja, für sie in einer ganz anderen Welt leben. Und er ist sich sicher, dass sie spürt, dass hier mehr ist als nur eine einfache Heirat, mehr als ein simples Versprechen. Und trotz dieser ganzen Unsicherheit hat sie ihre Gelassenheit schnell wieder gefunden. Er würde dem General dennoch schelten für diesen überraschenden Empfang. Doch für Vala war es genau das Richtige. Er bewundert ihren Mut und ihre Offenheit. Andere Damen hätten sich sicherlich ganz anders verhalten. Doch sie, sie ist etwas Besonderes. Er ist sich nun, wo er sie durch das Tor in ihr neues Heim führt, ganz sicher, dass er sich nicht in dem getäuscht hatte, was er vor elf Jahren in ihren Augen gesehen hatte, auch wenn er es noch immer nicht benennen kann.

Die Soldaten, welche stumm die Szenen beobachtet haben, schmunzeln erheitert in sich rein und können endlich ihre Schultern entspannen, als das Paar an ihnen vorbeischreitet.

Audienz

Auf dem Weg zum Thronsaal überqueren sie einen großen Vorhof. Der Duft von frisch gebackenem Brot weht ihnen entgegen. Geschäftig laufen Mädge und Bedienstete an ihnen vorbei und verschwinden an einer, weiter hinten gelegenen Treppe. Vala spricht ihn darauf an. Was denn da hinten vor sich geht, lächelt dieser süffisant: „Für jemand, der bis vor wenigen Stunden noch so ablehnend war, bist du grade außergewöhnlich neugierig.“ 
„Sei doch froh! Ich könnte es anders. Wäre es dir lieber, ich würde beißen und kratzten?“ Er schüttelt als Antwort leicht den Kopf. Zufrieden nickt sie und fügt etwas ernster hinzu: „Ich kann an dieser Situation doch eh nichts mehr ändern.“ 
„Ich hoffe, dieser Meinung bist du auch morgen Abend noch beim Bankett.“ Wie schon vorher im Gang, bleibt sie kurz stehen, findet ihre Fassung aber schnell wieder.
„Was dachtest du denn? Das dieser Empfang von vorhin schon alles war?“ 
„Sonst noch irgendwelche Überraschungen.“ Er sagt nichts, doch wenn sie nur wüsste, was alles noch auf sie zukommen würde.

Sie folgt ihm die breite Steinstufen hoch, welches sie zu der großen Flügeltür aus dunklem verziertem Holz führt. Die Wachen, welche die Tür flankieren, erkennen ihre Prinzessin sofort und öffnen für sie die Flügel. Hand in Hand betreten sie den prachtvollen Saal. Vala bemüht sich den Mund geschlossen zu halten. Dies war eines der prächtigsten Säle, die sie je zuvor gesehen hatte. Warmes Licht dringt durch die goldenen Bogenfenster, mit Stein ummauert, alle im gleichen Abstand. Zwischen den Abständen stehen hohe Säulen aus rotem Marmor, welche die Gewölbedecke stützen. Die Decke des Gewölbes ist mit Fresken verziert, welche Szenen darstellen, die Vala nicht bekannt vorkommen. Einige Symbole und Fabelwesen erkennt sie zwar aus Mythen und Legenden, aber das Gesamtbild kann sie nicht zuordnen. In der Mitte des Bodens ist das Wappen aus farbigem Mosaik eingebaut. Ihre Schritte durchbrechen die vorherrschende Stille des Saals. Vala richtet nun ihren Blick starr gerade aus.
Der hintere Teil des Saals ist dezent geschmückt und reserviert für das Königspaar, das auf ihren reichverzierten Stühlen auf einer erhöhten Ebene sitze. Noch kann sie das Paar nicht genau erkennen.

Das durch das goldene Fensterglas einfallende Licht verliert zwar an Helligkeit, um den Raum vollständig auszuleuchten, doch ist es noch hell genug, um die Kronleuchter noch nicht anzuzünden. Vala überkommt ein seltsames Gefühl als über das Wappen schritten. Ihr Blick streift kurz sein Gesicht, vielleicht geht es ihm gleich. Doch seine Mimik ist ausdruckslos. Im goldenen Licht, das durch diese seltsamen Fenster dringt, scheinen seine Augen heller und der Ring fast komplett golden zu sein. Sie wendet ihre Aufmerksam wieder nach vorne und kann das Paar nun immer besser erkennen. Der König hat sich von seinem Stuhl erhoben und blickt ihnen mit einem wohlwollenden Lächeln entgegen. Ganz im Gegensatz zu Königin Kiara, welche den beiden mit ernster Miene entgegenblickt. Ihre Haltung ist stolz und ein Gefühl der Ehrfrucht überkommt Vala. Hastig blickt sie wieder zu König Cristobal, der die Plattform verlässt und den Kindern entgegenkommt. Als sie vor ihm zu stehen kommen. Ganz nach der Etikette lässt Vala Andrejs Oberarm los und kniet sich respektvoll nieder.
"Aber aber”, erwidert er und zieht sie sanft a den Schultern hoch. Nun getraut sie sich, ihm in seine tiefgrünen Augen zu blicken. Seine Hände noch an ihren Schultern, schaut er sie lächelnd an.
“Sarahs Tochter muss sich nicht vor mir verbeugen.” 
Vala will was sagen, doch getraut sich nicht. Cristobal nickt wissend. Sarah hat ihr Versprechen also gehalten und ihrer Tochter nichts erzählt. Er tritt nun einen Schritt zurück: “Vala Batiste, Sarahs Tochter, seid herzlichst Willkommen in eurem neuen Heim.” Würdevoll erhebt sich nun auch die Königin, um ihre Schwiegertochter zu begrüßen. Leichten Schrittes tritt sie an ihren Mann heran. Ihr graublaues Kleid raschelt kaum. Ihre Haltung ist distanziert. Als sich die Blicke der Frauen kreuzen, scheinen Kiaras graue Augen die tiefblauen ihrer Schwiegertochter zu fixieren. Nachdenklich runzelt sie die Stirn, kurz bevor sie sich zu besinnen scheint und sich ihre Lippen zu einem freundlichen Lächeln verziehen. Das Lächeln reicht nicht bis zu ihren Augen, ganz im Gegensatz zu dem des Königs. Skepsis funkelt in den grauen Augen. Sanft nickt Kiara beiden zu und macht eine ausholende Bewegung, welche den ganzen Saal erfasst: “Verzeiht Vala, dass wir euch nicht fürstlicher empfangen haben. Ihr müsst wissen, unser Volk ist nicht groß und so auch nicht unser Hofstaat. Jede einzelne Person ist genau in diesem Moment mit den Vorbereitungen für das festliche Bankett beschäftigt.”
Vala schüttelt den Kopf und zwingt sich dann ein Lächeln ab. Die Königin ist die erste, die sich ihr gegenüber ganz dem höfischen Etikett verhält. Sie setzt also auch ihr manierlichstes Lächeln auf: “Natürlich nicht Majestät Ich danke euch für den Empfang.” 
“Daniel hat bereits für einen rigorosen Empfang gesorgt”, erwidert Andrej trocken.
“Das war also der Lärm, den wir draußen gehört haben”, schmunzelt der König. Vala bezweifelt, dass der Mann in diesen hohen Hallen irgendein Geräusch von draußen hätte hören können. Erhaben legt Kiara eine Hand auf die Schultern ihres Mannes: “Ich kann mir vorstellen, das die beiden sicherlich hungrig sind, Cristobal.” 
Jetzt, wo sie es erwähnt, merkt Vala, dass ihr Magen tatsächlich knurrt. Sie unterdrückt den Reflex, sich an den Bauch zu fassen. “Mama, es war ein harter Tag, wir wollen jetzt alleine sein.” Cristobal nickt verständnisvoll. “Natürlich. Dann werden wir uns sicherlich morgen sehen?” 
Vala nickt höflich lächelnd.
“Andrej, du weist was du morgen zu tun hast?” Es klang aus dem Mund der Königin wie eine Feststellung und nicht wie eine Frage.
Andrej seufzt resigniert. Wäre es eine andere Situation gewesen, hätte Vala spöttisch geschmunzelt. Stattdessen schaut sie ihn fragend an.
“Natürlich Mutter. Die ganze Woche.“ Sie nickt zufrieden und wendet sich wieder Vala zu. Sie wirft ihr einen langen, eindringlichen Blick zu, den Vala nicht deuten kann. Erst ihr Mann unterbricht sie, indem er in die Hände klatscht: “Nun sei es so.”
Bevor sie gehen, wendet sich Andrej nochmals an Kiara: “Mutter, wir haben den Nebeneingang genommen. Die Kutschen kommen erst später. Bitte lasst das Gebäck in mein altes Zimmer bringen. Und schicke Sophia morgen, damit sie Vala einkleidet.” Seine Mutter nickt und wirft ihrem Sohn einen letzten bedeutungsvollen Blick zu, ehe sie durch eine Nebentür aus dem Thronsaal verschwinden.

Zur gleichen Zeit will auch Kiara den Raum verlassen, doch Cristobal hält sie zurück. Sanft tadelnd: “Du hättest ruhig herzlicher zu ihr sein dürfen.” Kiara dreht sich blitzschnell zu ihrem Mann um: “Sie hat etwas. Sie stört meinen Spiegel. Oh Cristobal, dieses hübsche Gesicht verbirgt etwas.”
Er tritt mit einem langen Schritt auf sie zu, seine Miene ist besorgt. Seine Frau ist oft distanziert, aber er hat ihren nachdenklichen Blick gesehen.
“Was hast du gespürt, Liebste?” 
“Magie. Da ist etwas an ihr. Als hätte jemand einen Schutz über sie ausgebreitet.” 
“Bildest du dir das vielleicht ein?” 
Ihre Augen füllten sich für einen Bruchteil einer Sekunde mit Zorn: “Wag nicht an, meiner Intuition zu zweifeln.” Entschuldigend nimmt er sie in den Arm: “Tut mir leid. Ich meine nur, dass du immer weniger in deinem Spiegel siehst. Und da...” “Das liegt an ihr”, unterbricht sie ihn.
“Vielleicht liegt es daran, dass sie ein Halbblut ist”, erwidert er beruhigend.
“Da muss noch mehr sein. Alleine die Tatsache, dass sich ein Reiter und sogar sein Drache sich für sie entschieden haben. Erinnerst du dich noch, wie sehr Ares die Verlobung mit Jelena verabscheute? Bei Sarahs Tochter würde es bedeuten, dass sie … nein, das kann nicht sein.” 
“Das sie Magier Blut in sich trägt, so wie du.” 
“Das wüssten wir. Das hätte ich im Spiegel gesehen und von Sarah her kann es nicht möglich sein. Und Richard ist ein gewöhnlicher Mensch.” 
“Und wenn man es ihr gegeben hat?” 
Wieder schüttelt sie den Kopf: “Nein, dann wäre es in dem Moment ausgebrochen. Sie trägt auch ein Edelstein oder sonst ein Schmuckstück, das darauf hindeuten könnte.” 
“Ich denke, wir werden es rausfinden.” 
 

Neues Heim

 

Mit einem sanften lächeln, führt Andrej zum Schlafzimmer. Die mit Rosenranken verzierte Doppeltür öffnet sich geräuschlos. Vala verschlägt es den Atem über dieses schöne Zimmer. Abendsonne ergießt sich aus den Rundbogenfenstern. Die Fensterscheiben sind auch hier von einem warmen Gold. Sie deutet auf diese: “Was ist das für ein Glas.” Fasziniert tritt sie näher.  
“Bernstein.” 
“Was genau ist das. Hast du das nicht irgendwann heute schon mal erwähnt?” Er schmunzelt in sich hinein.  
“Bernstein ist ein Edelstein, der uns aus dem Norden angeliefert wird. Unsere Glaser Fügen die zusammen und schleifen sie entsprechend für gewisse Räumlichkeiten. Bernstein entsteht aus Harz, theoretisch könnte man s auch verbrennen.” 
Sie nickt fasziniert und umrundet bedächtig den Raum. Versucht den ganzen Raum zu erfassen.  

Im Mittelpunk des großen Schlafzimmers steht ein Himmelbett aus Eichenholz. Andrej hat sein altes Bett umwandeln lassen. Die dünnen Himmelstangen, welchen den Stoff des Bettes halten, sind kunstvoll gedeichselt mit filigranen Blumen und anderen Ornamenten verziert. Bedächtig lässt sie ihre Finger darüber gleiten und wendet sich dann um. In einer Ecke neben dem Kamin, in welches das Feuer aber noch nicht angemacht wurde, gleich gegenüber der Terassentür befindet sich eine niedrige Sitzecke mit bequemen Sesseln, wohl aus dem gleichen Brokatstoff wie die Vorhänge, sogar mit ähnlichen dunklen Mustern auf purpurnem Stoff. Neben dem Kamin steht eine kleinere offen. Fragend schaut sie Andrej an, der ihr mit einer Handbewegung und einem selbstverständlichen Blick die Erlaubnis gibt, auch diesen auszukundschaften. Das Ankleidezimmer ist genauso schön wie das Schlafzimmer. Ein Fenster würde das Zimmer tagsüber mit natürlichem Licht ausleuchten. Auf beiden Seiten erstreckt sich ein offener Kleiderschrank aus dunklem Holz. Während sich an dem eine Kleiderschrank vorbeiläuft, lässt sie ihre Hand über die Stoffe gleiten. An der Wand steht ein Wasch und Frisiertisch. Nebst verschiedenen Pflegeutensilien, wie etwa eine großen kam aus poliertem Silber, wurde ein Blumenbukett aus blauen Lilien hergerichtet, die ihren Duft im Zimmer versprühen. Sie runzelt kurz die Stirn, da es sich an die Geschichte erinnert, welche Andrej ihr in der Kutsche erzählt hatte. Als sie rauskommt, steht Andrej lässig im Türrahmen des Schlafzimmers. Den einen Flügel hat er mittlerweile wieder geschlossen. Liebevoll beobachtete er sie, während sie das Zimmer auskundschaftete wie ein neugieriges Kind. Das blau ihrer Augen gleicht nun dem Glitzern eines Sees. “Gefällt es dir?” 
Sie nickt stumm und lächelt dabei freudig. Mit einem Wink deutet er auf die Terassentür: “Schau dir mal die Aussicht an.” 
Sie tut wie ihm Geheißen und öffnet die Glastür, wobei sie abermals das Glas neugierig mustert. Eine leichte Brise von frischer Bergluft findet ihren Einzug in das Zimmer. Vor ihr erstrecken sich Bergkämme und weiter hinten sieht sie ein Dorf, im Tal eines Berges, kann aber abgesehen von wenigen Häusern nichts weiter erkennen. Sie winkt Andrej zu sich heran und deutet auf das Kesseltal: “Ist das euer Volk.” 
Er beugt sich mit zusammengekniffenen Augen über ihre Schultern, so nahe, dass er beinahe sein Kinn auf ihren Schultern hätte ablegen können. Sie spürt seinen warmen Atem an ihrer Wange und Wärme kribbelt in ihr auf, dass sie sogleich zu unterdrücken versucht.  
“Ja, genau und siehst du dort den Punkt in der Ferne?” 
Nun kneift auch sie die Augen zusammen: “Bin mir nicht sicher, was soll das sein?” 
“Das ist unsere Festung im Osten, beherrscht von der Familie Jalis. Ihre Anführerin ist Gabriela Jalis, die Schwester von Daniel. Einer der fünf einflussreichsten Familien.” 
Andrej sprach den Namen mit einem starken sch-Laut am Ende aus, wobei sich die Melodie in seiner Sprache verstärkte. Sie dreht ihr Gesicht zu ihm. Als er bemerkt, wie sie ihn anschaut, der Blick neugierig und musternd zu gleich, wendet er sich ihr zu, ihr Nasen nur noch eine Handbrite voneinander entfernt. Schnell entfernt er sich ein wenig von ihr und macht Anstalten, wieder ins Zimmer zu gehen. Sie folgt ihm, wobei sie ihn fragt, ob es das ist, was er ihr morgen beibringen sollte. Statt einer Antwort geht er weiter ins Umkleidezimmer. Sie folgt ihm und sieht ihm zu, wie er sich an einem der offenen Schränke zu schaffen macht.  
“Wie kommts, dass ihr mein Umkleidezimmer schon eingerichtet habt, ohne dass mein Hab und Gut schon angekommen ist?” “Nun ja, ich habe wohl einfach deine Größe geschätzt, zum Verdruss unserer Näherinnen. Sollte dir was nicht passen, werden wir es natürlich abbänden lassen. Vielleicht möchtest du dich nach solch einem Tag frisch machen. Soll ich dir Sophie kommen lassen?” 
“Wer ist Sophie und wieso sehe ich hier keine Diener und Wachen wie sonst üblich auf dem Hof.”  
Nun hat er wohl gefunden, nach was er gesucht hatte, und nahm ein weißes, dünnes Kleid Heraus. Sie konnte ein grobes Hemd und braune Reiterhosen erkennen.  
“Nun ja, wie Mutter schon sagte, sind alle mit den Festlichkeiten für morgen Abend beschäftigt. Und vielleicht ist es dir auch angenehmer, wenn erstmal nicht so viele Menschen hier sind.” 
Nun hebt er das weiße Kleid hoch, um es ihr zu zeigen. Sie kommt näher und nimmt den feinen Stoff in die Hand, der fein bestickt wurde. Sie staunt über die Kunstfertigkeit und nickt bestätigend. Er gibt es ihr in die Hand und schaut sie dann fragend an, bis sie versteht, was er meinte. Er wolle sich umziehen. Sie sieht sich nach einer Trennwand um findet aber keine. “Wir teilen ohne eine Trennwand den gleichen Ankleideraum?” 
Er hebt überrascht die Augenbrauen und dann macht Erkenntnis sich in seiner Mimik breit: “Ich vergaß. Bei euch schlaft man sogar getrennt, nicht wahr?” 
Sie scheint einen Moment zu überlegen: “Eigentlich schon. Aber meine Eltern haben die Nacht nie getrennt verbracht. Ich kenne das nur aus dem höfischen Unterricht. Aber ihre Ankleidezimmer waren getrennt.” 
“Möchtest du, dass auch so? Verzeih ich habe das nicht bedacht. Bei uns ist das üblich, das Mann und Frau die gleichen Wohnräume nutze, egal welchen Ranges.” 
“Wie ich bemerkte, ist der Umgang hier ohnehin anders als bei uns.” 
Er lächelt, nun etwas unsicher und hebt sein Hemd in der Hand leicht an, als Zeichen, das er sich umziehen will, fügt aber spöttisch hinzu: “Du darfst aber auch gerne hierbleiben und mir dabei zu sehen.” 
Hastig macht sie eine abwehrende Handbewegung, senkt den Blick und schließt die Tür. Diese fällt jedoch nicht ganz ins Schloss – sie war doch schwerer als gedacht. In dem Moment, als sie sie sie ins Schloss ziehen will, fällt ihr Blick durch den Türspalt. Wie fremd gesteuert, kann sie nicht anders, hält inne und beobachtet, wie er seinen Anzug abstreift. Er reckt sich, um sich das grobe Leinenhemd überzuziehen, wobei seine sehnigen Muskeln stärker zur Geltung kommen. Eine Narbe erstreckt sich quer über seinen Rücken und hätte sie genauer hingeschaut, wären ihr noch mehr dreierlei Narben aufgefallen. Er hat einen eleganten, sehnigen Körperbau, ähnlich wie Björn damals. Eine alte Erinnerung überkommt sie plötzlich, begleitet von Trauer. Vielleicht kommt sie erst jetzt, weil ihr Körper hier oben in ihrem Gemach zur Ruhe kommen kann. Sie erinnert sich an ihre Familie und Anna, die sie zurückgelassen hat. Sie wendet sich vom Türspalt ab, tritt hinaus auf Terrasse. Das Abendlich tauchte nun alles in ein warmes orange, das sich bald in ein dunkles rot wandeln würde, bevor die Sone ganz hinter dem Horizont verschwindet. Hinter sich hört sie seine leisen Schritte und zuckt weg, als er sachte ihre Schultern berührt. Sogleich nimmt er sie zurück, kaum hat er es bemerkt. Auch ihre distanzierte Haltung fällt ihm sogleich auf. Die Stimmung hat sich plötzlich verändert. “Vala, ist alles gut.” Sie schluchzt leise. Unbeholfen presst er kurz die Lippen zusammen und weiß nicht, was er tun soll.  
“Soll ich dich alleine lassen?”  
Keine Antwort, keine Bewegung. Lediglich ein hastiges Tränen abwischen. Sanft sieht er im Abendlicht ihren Körper zittern, doch nicht vor Kälte. Er geht einen Schritt auf sie zu und legt sanft seine Hände auf ihre Schultern. Dreht sie sanft zu sich um. Sie dreht ihr Gesicht weg zu ihm. Das zittern wird immer stärker. Behutsam nimmt er sie in die Arme, fühlt ihre Trauer.  

Eine ganze Weile stehen sie so da. Sie weine nicht laut, sie sagte nichts mehr, doch tränkte sein Hemd mit ihren Tränen. Auch er sagte nichts, hält sie nur fest im Arm, gibt ihr Wärme und Schutz. Irgendwann werden ihre Tränen weniger, und ihr Atem ruhiger. Ihr Körper war vollkommen erschöpft von de Reizüberflutungen. Sie wehrte sich nicht dagegen, als er sie hochhoben und zum Bett rüber trug. Sie wehrte sich nicht, als er sich zu ihr legte, beide noch angezogen und sie in den Arm nahm. Kurz darauf schlief sie ein. Als sie tief und fest schlief, lauschte Andrej ihr noch eine Vala, dann stand er auf, zündete die Kerzen und den Kamin an und machte es sich in einem der Ohrensessel in der Sitzecke bequem. Von dort aus beobachtete er sie noch eine Weile und döste dann ebenfalls weg.  
 

Hochzeitsnacht

 

“Ich bring sie gleich um”, hallt Ares’ Stimme zischend durch seine Gedanken. Sein Mahl am Bauch fängt an, schmerzhaft zu pochen und zu jucken. “Wer?”, fragt er in Gedanken, steht dabei aber schon auf. Seine Schritte sind leise, als er aus dem Zimmer eilt. Als er bereits in der offenen Tür steht, die Hand noch auf dem Knauf, wirft er einen Blick zurück. Die Kerzen auf dem Nachtisch erhellen ihr Gesicht. Sie atmet ruhig doch ihre Gesichtszüge sind angespannt. Vor schlechtem Gewissen beißt er sich auf die Lippen, er will sie hier nicht alleine lassen, doch wenn er jetzt nicht geht, wird das Jucken an seinem Bauchnabel nicht aufhören. Während er durch die die Gänge joggt, blitzt ein Bild vor seinem inneren Auge auf. Er erkennt die Person nur halb, da sie sich auf der Seite der Höhle in Sicherheit gebracht hat vor den Flammen. Auch wenn er nur die Hälfte des Gesichts sehen kann, weiß er, wer sich da versteckt.  
“Ich meine es ernst! Ich verbrenne sie.” 
“Lass das! Sie ist genauso immun.” 
“Nicht, wenn sie nicht verwandelt ist!”, zischt es durch seinen Kopf. Endlich gelangte er auf die dunkle Plattform. Gleich morgen will er Wachen vor den Höhlen der Drachen! Vielleicht war die Idee doch nicht so gut, das Personal für die paar Tage zu beurlauben, bis sich Vala eingewöhnt hat. 

Seine Augen werden zu schmalen Schlitzen, und seine Retina ändert die Farbe zu einem glänzenden Gelb, wie das seines Gefährten. Seine Schritte verlangsamen sich, da es auf der einen Seite direkt in die Tiefe führt. Vorsichtig schleicht er an der Höhle des roten Drachen seines besten Freundes vorbei. Der Drache schenkte ihm keine Beachtung, wie immer, dieses arrogante Biest. Die Höhle des grünen Drachens wurde mit einem Vorhang verdeckt, darüber glänzte das königliche Emblem.  

Trotz der Dunkelheit und seiner besseren Sehkraft, besonders wenn er in der Gestalt des Reiters unterwegs ist, hätte jeder Mensch Ares Höhle auf Anhieb gefunden, es brannte nämlich Lichterloh. Nur gut, dass sie hoch oben waren und diese Höhlen den anderen Bergkämmen und nicht dem Tal zugewandt ist. Andrej ist überzeugt, dass man das Feuer ansonsten von irgendeinem Dorf aus hätte erkennen können. Er erkennt die Gestalt sofort, die sich Schutzsuchend an die Steinmauer presste. Hochgewachsen, die blonde Mähne hochgesteckt und der Körper bedeckte ein sehr dünnes Kleid, das viel zu wenig Stoff dran hatte. Als er an ihr vorüber kommt, zischt er in der Mutter Sprache einen Fluch in ihre Richtung. Seine Haut wurde von schwarzen Schuppen bedeckt, die ähnlich aussehen wie jene von Are. Sein Gesicht verändert sich, wird etwas schmaler, die Ohren spitzer, die Augen zu gelbe Schlitzen. Seine Nasenwurzel bricht, der Rücken wird platter und breiter, seine Lippen schmale. Seine Fingernägel werden zu Krallen. In Gedanken warnt er Ares, dass er endlich mit dem Feuer aufhören soll. Es stinkt bestialisch nach Schwefel und Verwestem. Der Drache hörte kurz auf und ließ ihn eintreten. Mit hochgestreckten Armen, als wolle Andrej den Heiland anbeten, schaut er zu Ares hoch. Trotzig spuckte dieser ein wenig Feuer in seine Richtung, was das Leinenhemd ankokeln lies. Andrej fluchte lautstark und eine steile Zornesfalte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. 
Drohen richtete sich Ares in seiner Höhle auf und jeder andere Zuschauer würde nun davon ausgehen, dass Andrej gleich gefressen werden würde.  
“Schaff sie aus meiner Höhle”, zischt der Drache im Kopf seines Reiters.  
“Es reicht, sie ist es nicht Wert!” 
"Wert genug, dass du mich in deiner Hochzeitsnacht lieber rettest als mit deiner Liebsten das Bett zu teilen.” 
Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, richtete sich Ares – soweit es die Höhlendecke erlaubt - auf seine Hinterbeine auf und lässt einen Feuerstrahl an Andrej vorbeischnellen. Sofort suchte sich Jelena Schutz neben der Höhle. Wieder gebietet Andrej dem Drachen Einhalt. “Entbinde mich endlich von diesem Versprechen, aus dieser Höhle rauszukommen! Meine Flügel tun schon weh!”, zischt es in seinen Gedanken. Sie hatten allen Drachen das Versprechend abgerungen, solange in der Höhle zu weilen, bis Ava eingeweiht wurde. “Denk an Vala”, antwortet der Reiter in Gedanken. Statt einer Antwort zischt Ares und wendet sich ab wie ein störrisches Kind, dessen Wunsch nicht erfüllt wurde. Andrej seufzt und wandelt sich zurück in seine menschliche Gestalt. Das verkohlte Leinenhemd hängt in Fetzten, rußgeschwärzt an ihm runter. Vorsichtig nähert er sich dem Drachen, legt eine Hand an die warme Flanke, das sich noch immer stark auf und absenkt. Er konzentriert sich auf das Band der beiden und er fühlt die Verbitterung des Drachens ganz genau und er seine. Wie gerne würde er Vala gleich alles erzählen, doch er musste ihr Zeit geben. “Sie ist stärker als du denkst”, hallt es in seinem Innern.  
“Ich weiß es nicht.” “Ich weiß es.” Belustigt schmunzelt Andrej, und der lange schlanke, schwarz geschuppten Hals des Drachen schwingt zu ihm herüber, und sie schauen sich in die Augen. Die Augen seines Freundes glänzen gelb, die schlangenartigen Pupillen weiten sich. Zum stummen Eingeständnis klopft der Reiter dem Drachen liebevoll auf den Hals.  
“Ich reib dich morgen mit Rosmarinöl ein.”  
Statt einer Antwort schüttelt der angesprochene kurz freudig den breiten Kopf und schließt zufrieden die Augen.  

Lächelnd löst sich Andrej von seinem Freund und will zurück zu Vala ins Schlafzimmer. Inständig hofft er, dass sie während seiner Abwesenheit nicht aufgewacht ist. Doch Jelena hindert ihn, in dem sie ihn am Handgelenk zurückhält, als er an ihr vorbei gehen will. Unsanft reißt er sich los und will seinen Weg fortsetzen. Sie folgt ihm auf leisen Sohlen und spöttelt: “Interessant, bin ich dir doch noch wichtig. Wichtig genug, dass du deine Hochzeitsnacht für mich opferst.”  
Sein Gesicht verhärtete sich zu einer undurchdringlichen Maske. Er hört ihre leisen Schritte hinter sich, während sie ihn einholt und neben ihm geht: "Na komm, gib's doch endlich zu, du liebst mich noch immer." Sein Schweigen hält an, während sie aus dem Felsengang der Drachenhöhlen treten und auf der Ebene der Soldaten und der Bibliothek gelangen. Hier fungiert eine Art halboffene Arkade als Gang. Die aus der steilen Bergwand herausgearbeiteten Säulen sind durch hüfthohe Mauern verbunden, die als Balustrade dienen. Jede dieser vier Ebenen ist direkt mit den Wohntürmen der Festung verbunden. Auch wenn der Gang seitlich offen ist, sind die Gänge bei Leermond beinahe stockfinster. Fackeln anzubringen, lohnte sich nicht, da der Wind hier oben in den Bergen sie ohnehin gleich wieder auspusten würde. Lediglich das letzte Stockwerk wurde mit Fackeln ausgestattet. Zum einen, damit seine Mutter immer ihre Spiegel erreichen konnte, und zum anderen, weil sich dort einer der Behandlungsräume für die Kranken befindet. Thomàs, der Medicus, und seine Tochter, eine der wenigen Magier, die mit den Drachenreitern leben, haben diese entzündet – magische Flammen, die nie erlöschen. "Unnatürliches Feuer, das niemand wärmen kann", lautet stets Ares' bissiger Kommentar. 

 Auch Andrej hatte hier, genau auf dieser Ebene, sein Zimmer. So nah wie möglich an den Höhlen. Erst vor wenigen Wochen ist er in das neue Gemach eingezogen, das er nun mit Vala teilt. 

  

Andrej will sich eigentlich nicht mit dieser blonden Furie auseinandersetzen. Er will nur noch zu Vala zurück. "Hättest du mich doch nur rausgelassen", zischt Ares wieder in seinem Kopf. "Das nächste Mal", antwortet der Drachenprinz spöttisch. 

Mitten in diesem Säulengang hält sie erneut sein Handgelenk fest. Er dreht sich schnell um und verdreht seinen Arm, sodass er nun fest im Griff ihrer Hand ist. Mit unsanfter Kraft drückt er sie gegen eine der kalten Säulen und das hüfthohe Geländer, das jede Säule miteinander verbindet. Überrascht schnappt sie nach Luft und starrt ihn mit weit geöffneten Augen an, findet jedoch schnell ihre Fassung wieder und lächelt süffisant. Er ist mit diesem Lächeln vertraut und empfindet es als Ausdruck von Hochmut und falscher Selbstsicherheit. 

 "So mochtest du es doch immer. Weiß sie das auch?" Er zieht sie für einen Augenblick an sich heran, nur um sie dann noch energischer gegen den Stein zu stoßen. Ihr vorheriges Lächeln ist verschwunden, als er sie drohend anfunkelt: "Halt dich da endlich raus, Jelena. Niemand will dich hier haben! Nicht einmal die Drachen wollten dich." 

Wütend verengt sie ihre hellblauen Augen: "Und das alles nur, weil du dich für eine Siebenjährige entschieden hast. Das ist krank. Weiß sie eigentlich, wer du wirklich bist? Weiß sie, dass sie hier schneller sterben kann..." Er unterbricht sie: "Das nächste Mal werde ich Ares nicht aufhalten." Sie zischt ihn an, seitlich ihres Gesichts bilden sich Schuppen, und ihre Pupille wird zu einem Schlitz: “Das wagst du nicht!” 
“Lass es nicht darauf ankommen!” 
“Pass lieber auf das Mädchen auf, nicht das sie sich an unserem Feuer verbrennt.” 
“Sie ist die Tochter von Sarah.” 
“Ein Halbblut”, spuckt sie angewidert aus. Er starrt kurz auf ihre Lippen und mustert Jelena, wie sie ihm ihren Körper im Hohlkreuz entgegenstreckt. Er kann es kaum fassen, dass er mit dieser Schlange mal das gleiche Bett geteilt hatte.  
“Lass Vala in Ruhe”, zischte ihr drohend zu und lässt sie dann los. Er lässt sie an der Säule stehen spürt aber ihre hasserfüllten Augen in seinem Rücken. Zurückweisung und Hass haben ihre Seele vergiftet und sie zu einer gefährlichen Frau geformt. Aus diesem Grund will sich kein Drache mit ihr verbinden und dafür gab sie Vala alleine die Schuld. Und auch, dass sie ihr Andrej genommen hat und ihn gar nicht so schätzen oder gar lieben kann, wie sie es tut.  

Neuer Tag, neues Glück

 

Wie vom Blitz getroffen, richtet Vala sich in ihrem Bett auf und verharrt einen Moment im verwirrten Schweigen, während sie sich orientiert. Als sie sich suchend umsieht, blendet sie die Morgensonne, die ihre goldenen Strahlen in den Raum wirft. Sie schützt ihre Augen, indem sie dies mit ihrer Handfläche abschirmt. Langsam realisiert sie den Ort, an dem sie sich befindet, und ist im Begriff, sich wieder ins Bett fallen zu lassen, als ein sanftes Klopfen an der Tür erklingt. Eine angenehm hohe Frauenstimme auf der anderen Seite der Flügeltür bittet um Einlass und stellt sich als Sophie vor. Vala erinnert sich vage daran, den Namen schon einmal gehört zu haben. Kaum kommen ihr die Bilder von gestern Abend wieder ins Gedächtnis, wäre sie am liebsten im Erdboden versunken. Besonders als sie an sich herabsieht. Ihr Hochzeitskleid war nun endgültig ruiniert. Ein resigniertes Seufzen entfährt ihr, bevor sie Sophia hereinbittet. 

 Die Tür öffnet sich leise, und Sophia betritt das Zimmer, ihr Dienstkleid raschelt leise. Mit verschränkten Händen vor dem Bauch bleibt sie am Fußende des Bettes stehen und lächelt Vala an. Die junge Frau hat auffällig markante Gesichtszüge für eine Frau und ist äußerst schlank. Ihre braun-grauen Augen strahlen Freundlichkeit aus, doch in ihnen liegt auch eine gewisse Neugier. Trotz ihrer markanten Züge wirkt sie freundlich, wenn auch ein wenig distanziert. Vala, in einem zerknitterten Brautkleid zwischen roten Samtkissen und Decken, mit zerzaustem Haar, wird schmerzlich bewusst, dass sie ein ungewöhnliches Bild abgibt. Ein stummer Moment des Betrachtens entsteht, in dem Sophias Lächeln allmählich eine Spur Unsicherheit zeigt. 

„Prinzessin, wäre es Ihnen recht, wenn ich anordne, Ihnen ein Bad einzulassen, und das Zimmer lüfte?“, beginnt Sophia etwas unsicher und mit stark akzentuiertem Französisch die Unterhaltung. Vala nickt langsam, ehe sie fragt, wo sich Andrej befinde. 

 „Er ist bereits in der Bibliothek und richtet den Unterricht aus.“ 
„Was für einen Unterricht?“ 
Sophia schaut sie kurz verständnislos von der Seite an, während sie die Fenster öffnet: „Hat er Ihnen nichts gesagt, Madame?“ 
„Ach doch, stimmt. Über die Politik hier in der Gegend.“ Sophia nickt: „Ich werde Ihnen nun das Bad einlassen, Madame.“ 
„Danke“, Vala zögert kurz, „Danke, Sophia.“ Das Mädchen mit den ausdrucksstarken braun-grauen Augen nickt ihr zu. Kaum ist sie aus dem Raum gegangen, lässt sich Vala nun doch kurz ins Bett zurückfallen. „Na, das kann ja noch heiter werden“, spricht sie halblaut mit sich selbst und entschließt sich dann, aufzustehen und in das Ankleidezimmer zu gehen. Während sie ihre Hälfte der Kleider und Schuhe mustert, dabei immer wieder ein Kleid herauszieht und sich genauer anschaut, wünschte sie sich Anna herbei. Die hätte nur einen Handgriff gemacht und das perfekte Kleid ausgesucht. 

 „Madame, darf ich Ihnen vielleicht behilflich sein?“ Erschrocken springt sie auf, dreht sich dabei und starrt direkt in das kantig fragende Gesicht ihrer neuen Zofe. Diese, ebenso erschrocken von diesem Sprung, hat sich mit der Hand ans Herz gefasst. Vala hatte sie gar nicht eintreten sehen. 
„Verzeihen Sie“, will sich Sophia gerade entschuldigen, doch Vala winkt lachend ab: „Ich muss mich entschuldigen! Ich kenne mich mit der Sitte hier nicht so aus, und Anna musste ich“, sie unterbricht sich selbst bei der Erwähnung ihrer Freundin und schluckt den Kloß herunter. Sie wollte nicht wieder vor anderen weinen. Mit einer Handbewegung umfasst sie den ganzen Raum und erklärt Sophia dann, dass sie sich mit der Sitte hier nicht auskennt und nicht wisse, was für welchen Anlass hier angebracht wäre. Sophia lächelt verständnisvoll: „Aber natürlich, Madame. Wie wäre es, wenn ich Sie ins Bad führe, und während Sie sich waschen, suche ich Ihnen etwas für den Tag aus. Nur für den Abend hat Andrej, ich meine Ihr Gatte, bereits etwas für Sie herausgelegt.“ Vala willigt erleichtert ein. 

Das Badezimmer liegt nur wenige Schritte entfernt und erstrahlte natürlich ebenfalls in ähnlich prunkvoller Einrichtung wie die Räume, die sie gesehen hatte. Lediglich waren die Fensterscheiben hier nicht aus dem gleichen Glas wie im Thronsaal und im Schlafzimmer. Dafür stellten verschiedene Buntglasfenster diverse Motive aus dem Meer dar, was sie wiederum an die Küste Frankreichs erinnerte. Die Wanne war direkt am Fenster platziert, sodass der Badende eine atemberaubende Aussicht auf die Landschaft genießen konnte. Verschieden duftende Seifen standen zur Auswahl. Ein reichhaltiges Sortiment von Lavendel bis Zitrone und anderen Düften war bereitgestellt, von denen sie jedoch nicht alle identifizieren konnte. Schließlich entschied sie sich für die zarte Duftnote der Rose. 

 Nur mit einem Handtuch bekleidet huschte sie durch den Gang ins Schlafzimmer. Sie war froh, dass Sophia ihr nicht angeboten hatte, sie zu waschen. Diese wartete geduldig im Zimmer. Die Zofe hatte in der Zwischenzeit das Bett bereits gemacht und das Zimmer wieder hergerichtet und zwei Kleider auf dem gemachten Bett gerichtet. Als sie ihre neue Herrin so sah, konnte sie sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Welches der beiden Kleider ist für heute?“, hebt Sophia ein schlichtes blaues Kleid mit goldenen und silbernen Stickereien hoch und zeigt es ihr. „Es passt zu Ihren Augen.“ Dankbar lächelt sie ihre Zofe an und nimmt sich das Kleid. 

Im Ankleidezimmer versucht sie, es selbst zuzuschnüren, doch erfolglos und sie fühlt sich gezwungen, doch Sophia um Hilfe zu bitten. Diese schwirrt sofort rein und hilft ihr. „Wisst ihr, die letzten drei Jahre bin ich auf dem Landhaus aufgewachsen und bin mir all das nicht mehr gewohnt“, versucht Vala, ihr Verhalten zu erklären, um die Stille zu durchbrechen. „Madame, ich bitte Sie. Sie sind mir keine Rechenschaft schuldig.“ „Tut mir leid.“ „Und bitte entschuldigen Sie sich nicht.“ Vala beobachtet Sophia durch den Spiegel des Frisiertisches. Sie hat den ähnlichen Glanz in den Augen wie schon Anna, und auch wenn sie sich höflich distanziert ihr gegenüber verhält, spürt Vala, dass da mehr ist. „Mir ist aufgefallen, dass du meinen Gatten vorher beim Vornamen genannt hast, als seist du es gewöhnt.“ „Verzeihen Sie, wenn ich Sie dadurch beleidigt haben sollte. Darf ich Ihnen noch die Haare hochstecken?“ Vala nickt, und sie setzt sich an den Tisch, während Sophia in ihren Haaren wühlt. Mittendrin erzählt Vala weiter über die drei Jahre und bietet Sophia das DU an. Diese wirkt überhaupt nicht überrascht, sondern lächelt sie durch den Spiegel an, so dass kleine Grübchen entstehen, welche Vala überhaupt nicht aufgefallen sind vorhin. „Weißt du, auf dem Landsitz wurde ich zwar weiterhin unterrichtet, aber es wurde nicht mehr so ausgelebt wie auf der Grafschaft. Wie werden Kinder hier erzogen?“ „Wisst ihr, hier ist die Erziehung etwas anders. Das höfische Benehmen wird durchaus den Kindern der fünf Familien angeeignet, ebenso wie diverse Sprachen. Sie kennen das Hofzeremoniell des Wienerhofes und das von Spanien. Alle anderen leiten sie entsprechend von beiden ab, so wurde es mir zugetragen. Auch unsere Krieger kennen sie. Doch hier in den Bergen pflegen wir einen, nun ja, nennen wir es einen offeneren Umgang zueinander. Auch wenn die Dienerschaft den großen Herren dient, so werden sie nicht als minder betrachtet, und wenn es um medizinische Hilfe geht, werden sie gleichbehandelt wie ein Soldat oder jemand aus der Herrschaft.“ „Und euer Klerus?“ „Was ist ein Klerus?“ Überrascht dreht sich Vala zu ihr um, und sie sieht tatsächlich Unwissenheit in deren Augen. „Nun ähm, ich weiß nicht so genau. Also ihr seid doch christlich? Ich meine eure Glaubensrichtung.“ Sophia überlegt kurz, wobei sie mit ihrem Zeigefinger geistesabwesend an ihre Wange tippt. „Meint ihr diese Religion, die einen toten Mann verehrt.“ „Wie meinst du das?“ „Na dieses Kreuz, an dem ein toter Mann hängt.“ Verdutzt starrt Vala sie an, so hat sie das Bild auch noch nie betrachtet, findet aber schnell ihre Fassung wieder: „Dieses Kreuz ist lediglich ein Symbol, das Gottes Sohn für das Leid auf Erden, das er für uns Menschen auf den Schultern trägt. Das Kreuz steht für Opfer, Liebe und Erlösung. Es erinnert uns daran, dass selbst im größten Leid Hoffnung und Liebe existieren können. Und der Glaube an diesen Gott nennt man das Christentum. Der Klerus ist wiederum ein höherer Angehöriger dieses Glaubens. Sie leiten die Kirchen und Kapellen, sind dieser Angehörig. So wie König Cristobal euch führt, so leiten sie die Gläubigen und sorgen für das geistige Wohl der Gemeinschaft. Sie führen auch Zeremonien durch, wie z.B. eine Hochzeit. Zum Beispiel hat ein Priester meine Heirat mit Andrej durchgeführt. Und dieser Priester gehört ebenfalls zum Klerus. Es ist ein Oberbegriff.“ Sophias horcht ihr geduldig zu, und da überkommt sie ein Funke der Erkenntnis: „Es sind also so etwas wie Zeremonienmeister?“ Vala wippt mit dem Kopf von einer Seite zur anderen und wägt ab, ob das so zutrifft. „Ja, könnte man so beschreiben. Habt ihr so etwas?“ „Natürlich. Mein Vater und Tea führen solche durch. Sie begleiten die Heirat, die Einführung der Kinder und solches. Sie bitten um den Segen.“ „Na dann habt ihr so etwas ja auch. Dann gehören sie zu dem Klerus in diesem Fall.“ „Nein. Sie sind Heiler, so wie die Königin, und deswegen führen sie solche Zeremonien durch. Ihre Begleitung kann Menschen heilen oder dazu gehören.“ Vala schmunzelt: „Wie sagt man so schön, Glaube kann Berge versetzen.“ „Wie meinst du das?“ Vala winkt ab: „Nicht so wichtig.“ 

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Cover: alle Rechte liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2023

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