SCHNEEFLOCKENZAUBER
Rosalie kniete vor einer großen Holztruhe und durchwühlte unschlüssig deren Inhalt. Sie brauchte ein schönes Kleid, aber irgendwie schien ihr keines so richtig passend. Viele ihrer schönen Gewänder waren zerfetzt, weil sie nicht gut genug darauf aufpasste und sogar damit auf Bäume kletterte. In Momenten wie diesen tat ihr das leid.
Schließlich entschied sie sich für ein bodenlanges, immergrünes Kleid mit weiten Ärmeln. Eigentlich spielte es keine Rolle, worauf ihre Wahl fiel, denn ihre Mutter würde sie sowieso ändern. Rosalie musste sich fast jeden Tag zwei Mal anziehen, denn immer wenn ihre Mutter sie morgens sah, sagte sie, so könne man unmöglich aus dem Haus gehen. Das war ein bisschen seltsam, denn immerhin war es ja ihre Mutter, die für sie Kleider nähte oder kaufte und das hieß ja eigentlich auch, dass sie ihr irgendwann einmal gefallen haben mussten … .
Mittlerweile hatte Rosalie sich aber längst an diesen Umstand gewöhnt und dachte nicht mehr viel darüber nach.
Es war der erste Wintertag und es würde ein langer Tag werden, denn der erste Wintertag war gleichzeitig auch der erste Schultag. Er begann aber nicht wie gewöhnlich um acht Uhr morgens sondern um Mitternacht.
Ein mitternächtlicher Start in das neue Schuljahr war allerdings nicht das einzig Ungewöhnliche in Rosalies Leben. Äußerlich unterschied sich die Elfjährige nicht wesentlich von anderen Mädchen ihres Alters. Sie war ein Einzelkind und ein bisschen verwöhnt, aber das waren andere Kinder auch. Im Gegensatz zu anderen Kindern war es Rosalie jedoch immer schwer gefallen, Freundschaften zu schließen und jedes Mal wenn sie knapp davor gewesen war, eine Freundin oder einen Freund zu finden, war etwas Merkwürdiges passiert, das ihr Vorhaben zerstörte.
Es war nicht Rosalies Schuld gewesen, denn damals wusste sie noch nicht, dass sie eine Hexe war. Ihre Eltern wussten es schon, aber aus irgendeinem Grund ließen sie Rosalie ohne dieses Wissen aufwachsen. Jedenfalls so lange, bis es sich nicht mehr verheimlichen ließ.
Bis zu ihrem achten Geburtstag lebte Rosalie mit ihren Eltern und ihrem Großvater in einem großen Stadthaus, in dem auch viele, viele andere Familien wohnten. Möglicherweise hatten ihre Eltern gedacht, sie könnten hier unauffällig leben, aber es funktionierte nicht richtig. Rosalie hörte die anderen Leute im Flur über ihre Familie reden und schnappte dabei Theorien auf wie „Sie rühren nachts in Töpfen, die sie über dem Feuer erwärmen – sie gehören bestimmt zu einer Sekte!“ oder „Ich wette, dass sie den Alten verstecken, damit er nicht in eine Irrenanstalt kommt. Er verlässt so gut wie nie das Haus und wenn, dann spricht er nur mit sich selbst und blättert in diesem vergilbten, jahrhundertealten Buch!“
Niemand wollte seine Kinder mit Rosalie spielen lassen, aber diese Zeit lag nun lange hinter ihnen, seit sie die Stadt verlassen und in das Dorf am Waldrand gezogen waren. Dort lebten sie unter ihresgleichen. Dort gehörten sie hin.
Der erste und der letzte Schultag waren Rosalie die liebsten im ganzen Jahr. Die Eröffnungsfeier war immer ein richtiges Ereignis, sie freute sich seit Tagen darauf und wusste nicht, was sie mit den vielen Stunden bis Mitternacht anstellen sollte.
Ihre Eltern waren schon zur Arbeit gegangen, nur ihr Großvater saß in einem stillen Winkel in der Küche und schrieb mit einer Feder in ein großes, dickes Buch. Er war früher Zauberspruchschreiber gewesen und er hatte diesen Beruf sehr geliebt. Mittlerweile war er jedoch schon etliche Jahre pensioniert, aber Rosalie war sich nicht ganz sicher, ob er das wusste.
Sie nahm sich Kräutertee und frisches Brot, alles so leise wie möglich, um ihren Großvater nicht bei seiner vermeintlichen Arbeit zu stören. Nach dem Frühstück ging sie hinaus in den Garten und stellte fest, dass der Tag golden und warm war. Dank des schönen Wetters war der Garten bunt und blühend und entlockte vorbeigehenden Hexen und Zauberern neidvolle Äußerungen. Wenn es der Kalender nicht angezeigt hätte, dann wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, dass heute der 21. Dezember war!
Rosalie mochte den Garten, aber heute hatte sie keine richtige Freude daran. Gemächlich stapfte sie durch das raschelnde Laub und zauberte ein bisschen herum. Mit Hilfe ihres Zauberstabs ließ sie ein paar Blätter schweben, gab dem geflochtenen Strohdach ihres Hauses kurzzeitig eine andere Farbe und ließ einen Baumstamm knarren. Viel mehr konnte sie nicht machen, denn für die wirklich interessanten Sachen war ihr Zauberstab immer noch gesperrt. Sie durfte zum Beispiel keine Tiere verwandeln und kein Feuer erzeugen. Aber jedes Schuljahr wurde der Zauberstab für etwas Neues freigegeben und dann wuchs er ein Stück. Rosalie war schon sehr gespannt was dieses Jahr neu dazukommen würde, denn die älteren Schüler machten immer ein großes Geheimnis darum.
Als sie ihren Zauberstab gerade gegen einen besonders dicken Baumstamm richtete um die Rinde abzuschälen, hörte sie plötzlich jemanden ihren Namen rufen.
„Rosalie! Komm näher!“ rief eine krächzende Stimme, die sehr angestrengt und unfreundlich klang. Wenn man diese Art zu sprechen noch nie gehört hatte, musste sie unheimlich und abstoßend wirken, aber Rosalie konnte sie sofort zuordnen. Diese Stimme musste einem der Wurzelkinder gehören und obwohl sie sich langweilte, war sie über diesen Umstand nicht gerade erfreut.
Die Wurzelkinder waren hässliche, zwergenhafte Wesen, die an alles und jedem etwas auszusetzen hatten. Sie wohnten unter dicken Baumwurzeln, wo sie sich tief in die Erde eingruben. Obwohl Rosalie die Wesen seit Jahren kannte, zuckte sie jedes Mal wieder zusammen, wenn sie eines davon sah.
So auch heute. Ein besonders schauderhaftes Exemplar streckte ihr aus dem Ahornbaum, den sie gerade hatte verzaubern wollen, seinen dunkelbraunen, ledrig faltigen Kopf entgegen.
Widerwillig ging Rosalie auf das Wurzelkind zu. „Was ist?“ fragte sie und ließ ihren Zauberstab unter ihrem Ärmel verschwinden, weil sie wusste, dass die Wurzelkinder dafür nur wüste Beschimpfungen übrig hatten. Sie wurden nicht müde zu betonen, dass sie Zauberkunst zutiefst verurteilten, aber insgeheim wusste jeder, dass es nur grenzenloser Neid war, der diese Abscheu hervorrief.
„Ein etwas höflicherer Ton wäre angebracht, junge Dame! Da will man euch helfen und dann wird man behandelt wie der letzte Abschaum!“ empörte sich das Wesen, das mittlerweile seinen halben Körper aus dem Wurzelgeflecht gehievt hatte.
In den Augen der Hexen und Zauberer waren die Wurzelkinder durchaus so etwas wie der letzte Abschaum, aber Rosalie hielt es für besser, diese Anmerkung in diesem Augenblick lieber für sich zu behalten.
„Was hast du denn heute schon geleistet, du kleine verwöhnte Hexe? Ach, spar dir die Antwort – im Vergleich zu mir kannst du nicht mithalten! Ich bin bereits seit fünf Uhr auf den Beinen und schufte wie ein Ackergaul. Meine Höhle ist nun komplett fertig ausgebaut – ganze drei Stockwerke gibt es!“ prahlte das Wurzelkind.
Rosalie war kurz davor, ihm einen gemeinen Fluch aufzuhalsen, aber sie hatte nicht genug Zeit sich einen geeigneten zu überlegen, denn der Vortrag war noch nicht zu Ende.
„Weißt du, wenn du hier nur nichtsnutzig in der Gegend herumlungern willst, dann kannst du auch gleich wieder gehen. Ich kann Faulheit nicht ausstehen!“ wütete das Wurzelkind und starrte Rosalie aus unfassbar bösen, schlammfarbigen Augen an.
Doch so einen Vorwurf ließ Rosalie sich nicht gefallen. „Du wolltest was von mir!“ erinnerte sie empört.
Etwa eine Sekunde lang wirkte das Wurzelkind zerknirscht. „Ja, … ja richtig“, gab es fast unhörbar zu.
Rosalie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wenn du mich nur ärgern willst, verschwinde ich“, meinte sie gleichgültig und drehte sich um.
„Nein! Warte!“ rief das Wurzelkind streng und klammerte sich an den Saum ihres Kleides. Es war ein ziemlich lächerlicher Versuch sie zurückzuhalten, denn das gesamte Wesen war etwa so hoch wie Rosalies Ellbogen lang war, aber sie blieb trotzdem stehen.
„Ich höre?“ fragte sie auffordernd.
Das Wurzelkind ließ von ihr ab und rieb sich die dürren Hände, bis die Knochen knackten. „Heute Abend während der Feier wird etwas Schreckliches passieren!“ prophezeite es und legte dabei einen Tonfall in seine krächzende Stimme, der wohl angsteinflößend sein sollte.
„Ach, bitte! Das sagst du doch jedes Jahr!“ wehrte Rosalie genervt ab.
Tatsächlich war es so, dass die Wurzelkinder sich jährlich aberwitzige Szenarien ausdachten, die sie für den ersten Schultag vorhersagten. Im Vorjahr hatten sie behauptet, ein roter dreiköpfiger Drache würde während der Feier vom Himmel stürzen und anschließend alle töten. Vor zwei Jahren hätte einer der Kessel, in denen die Getränke für die Hexen und Zauberer brodelten, Feuer fangen und explodieren sollen. Einmal hätte irgendein monströses Ungeheuer den Kuchen vergiftet (der Kuchen war damals tatsächlich übriggeblieben, aber bei einer späteren Untersuchung stellte sich heraus, dass er völlig in Ordnung war). Auch keine andere Unheilprophezeiung war je eingetreten. Wahrscheinlich waren die Wurzelkinder nur eifersüchtig auf das Fest und verbreiteten deshalb absurde Dinge, damit dieses nicht so schön wurde.
„Also gut, was ist es dieses Mal?“ erkundigte sich Rosalie, denn hören wollte sie es schon.
Das Wurzelkind straffte seinen hässlichen Buckel und erklärte: „Ein Schneesturm wird kommen, so stark, dass er euch alle mitreißen wird! Schnee, wohin das Auge reicht, eisiger Wind … oh, es wird ganz furchtbar! Jemand muss einen Zauber ausführen, damit der Schnee gemäßigt fällt, ansonsten wird es schlimm!“
Rosalie musste sich das Lachen verkneifen. Das war nicht einmal eine besonders kreative Prophezeiung, das war einfach nur lächerlich. Gut, offiziell begann heute der Winter, aber wo sollte an einem solch goldenen Tag ein Schneesturm herkommen? Man konnte ja fast noch barfuß gehen!
„Ich gebe ja zu, dass wir uns manchmal etwas ausgedacht haben – aber heute solltest du mich ernst nehmen! Eine Fee hat es mir in einer Glaskugel gezeigt und wenn dir dein Leben lieb ist, dann solltest du auch einmal einen Blick in eine von deinen werfen!“
Rosalie hatte mit diesen Glaskugeln immer ihre Probleme gehabt, denn sie konnte einfach nie irgendetwas Aussagekräftiges darin erkennen. Insgeheim glaubte sie, dass das Ganze ein Schwindel war, denn die Schwierigkeit lag ja nicht darin irgendetwas in einer Rauchschwade zu erkennen, das Problem war eher, dass, fragte man jemand anderen um seine Meinung, dieser nie das Gleiche erkannte sondern etwas völlig anderes sah. Aber darum ging es jetzt nicht, denn das Wurzelkind log ihr beinhart ins Gesicht! Die Feen zeigten sich selbst Hexen und Zauberern nur ganz selten und sie würden wohl kaum einem Wurzelkind eine so wichtige Botschaft übermitteln.
„Vielen Dank, ich werde sehen, was ich tun kann!“ antwortete Rosalie so höflich wie möglich und verabschiedete sich. Das Wurzelkind warf ihr noch ein paar Drohungen hinterher, bevor es sich wieder in seiner Höhle verkroch.
Obwohl Rosalie den Schneesturm in keiner Weise ernst nahm, konnte sie nicht aufhören, darüber nachzudenken. Schnee zu verzaubern war eines der schwierigsten Dinge überhaupt und Wetterzauber allgemein war eine heikle Angelegenheit und nur gestattet, wenn man sich in großer Gefahr befand.
Sie warf einen Blick in den Himmel, bevor sie wieder ins Haus ging. Strahlender Sonnenschein blendete sie. In ihrem Zimmer betrachtete sie unschlüssig die Glaskugeln auf ihrem Fensterbrett. Sie hatte nur drei davon und bei keiner fiel ihr etwas Ungewöhnliches auf. Wenn sie sie in die Hand nahm, wechselten sie die Farbe, aber das taten sie sonst auch. Ihr Blick verlor sich in den violetten Rauchschwaden, die im Inneren ihrer größten Kugel umherschwebten, aber sie riss sich bald los und machte die Vorhänge zu, damit sie die merkwürdigen Glasgebilde nicht länger ansehen musste.
Nur für alle Fälle lieh sie sich von ihrem Großvater ein Buch über Wetterzauber. Das Buch enthielt lauter hochkomplizierte Zaubersprüche, von denen manche mehrere Seiten lang waren und war alles in allem keine große Hilfe. Rosalie überflog noch einmal das Inhaltsverzeichnis und blieb bei der Überschrift Schneeexperimente hängen. Sie blätterte auf die entsprechende Seite und hatte alle Mühe damit, die verschnörkelten Buchstaben zu entziffern. Schließlich fand sie einen kurzen Absatz, der ihr brauchbar erschien:
Schneeflockenzauber
Der Schneeflockenzauber gehört zur höheren Magie und empfiehlt sich daher nicht für Minderjährige.
An dieser Stelle hätte sie eigentlich wieder aufhören können zu lesen, aber so schnell ließ sie sich nicht einschüchtern.
Es ist möglich, Schnee gewissermaßen zu verwandeln, also ihn in eine gewisse Form zu bringen. So kann man einen tosenden Sturm mit einer schlichten Zauberstabumdrehung und wenigen einfachen Worten in ein sanftes Wintermärchen verwandeln.
Rosalie hielt inne. Das war genau das, was sie brauchte. Als sie weiterlas stellte sie jedoch fest, dass diese Zauberstabumdrehung alles andere als schlicht war sondern einige sehr komplexe Bewegungen beinhaltete. Man musste praktisch gedanklich seine Knochen steuern, um den Zauberstab zum Leuchten zu bringen, der daraufhin hellblaue Funken ausstieß. Nur wenn das passierte, wurde der Zauber ordnungsgemäß ausgeführt und der Schnee änderte sich.
Wirklich üben konnte sie nicht, weil es dazu hätte schneien müssen, aber bis zum Abend hatte sie sich die Worte des Spruches eingeprägt. Der Spruch war nicht lang, aber es dauerte eine Zeit lang, bis sie ihn durchschaute. Er lautete: NEKCOLF NEHCIEW NI LLAF DNU TFNAS EDREW – HCID EREDNÄ EENHCS.
Dass allein die Buchstaben so schwer zu lesen waren, war im Endeffekt eine Hilfe, denn Rosalie musste sie wirklich ganz genau anschauen, um sie zu entziffern und so kam sie auch drauf, dass der Zauberspruch von hinten nach vorne gelesen einen ganz anderen Sinn ergab: SCHNEE ÄNDERE DICH – WERDE SANFT UND FALL IN WEICHEN FLOCKEN.
Die Frage war nun nur, auf welche Art man ihn sich denken (denn laut sagen durfte man ihn nicht, das stand ausdrücklich dabei!) musste, damit er funktionierte. Rosalie hatte mit derart schwierigen Zaubern keine Erfahrung, sie wusste aber, dass manche in Büchern verschlüsselt wurden. Das war eine Vorsichtsmaßnahme, vor allem gegenüber Menschen, denn wenn ein Mensch diesen Spruch lesen würde, würde er nichts damit anfangen können und sich nicht weiter damit beschäftigen.
Doch – wenn es sich hierbei um eine Verschlüsselung handelte, dann war sie nicht besonders originell. Nein, das war unmöglich, das war viel zu einfach, für einen so mächtigen Zauber. Der Spruch musste wohl verkehrt herum gesagt werden. Sie musste einfach darauf achten, jeden Buchstaben zu denken. Vorausgesetzt natürlich, dass sie das Ganze überhaupt brauchte.
Als sich Rosalie auf den Weg zum Fest machte, nahm sie vorsichtshalber einen Winterumhang mit und tatsächlich kam es ihr jetzt ein bisschen kälter vor. Ihre Mutter gab ihr einen grünen Umhang – passend zu ihrem Kleid – gegen das sie erstaunlicherweise gar keine Einwände hatte. Ihre Eltern würden später nachkommen, sogar ihr Großvater, der seit Jahren bei allen gesellschaftlichen Ereignissen immer lieber zu Hause blieb, wollte dem Fest beiwohnen.
Die Feier fand in der Mitte eines dichten Fichtenwaldes statt. In großen Hexenkesseln brodelten süße Getränke und die Tafeln waren mit herrlichen Speisen reich gedeckt. Der ganze Platz wurde durch riesige Fackeln erleuchtet und so fiel es kaum auf, dass es bereits stockdunkel war.
Doch das Feuer war unruhig, es flackerte wie verrückt und die Flammenzungen stoben in alle Richtungen.
„Ganz schön kalt und windig heute“, bemerkte ein junger Zauberer aus Rosalies Klasse.
Es stimmte. Rosalie stand dicht neben einer Fackel und nicht weit von ihr brodelte ein Kessel – ihr hätte eigentlich brennend heiß sein müssen, aber sie fror.
„Es schneit!“ hörte sie hinter sich jemanden rufen.
Rosalies Blick schweifte nervös über die Versammlung, aber es waren weit und breit keine Erwachsenen zu sehen, von denen sie sich Hilfe erwarten konnte. Ein tosender Sturm kam schneller in die Gänge als sie denken konnte. Es war unglaublich, aber das Wurzelkind hatte Recht gehabt.
Ein eisiger Wind erlosch die Fackeln, Sturmböen fegten die Tische leer und brachten die Kessel zum Überlaufen. Kleine, vereiste Schneeflocken schossen mit enormer Geschwindigkeit aus allen Richtungen auf die Kinder zu und trafen sie mit ungeahnter Härte auf bloßen Hautstellen. Kleine Hexen und Zauberer schrien wild durcheinander und versuchten sich zu verstecken. Einige flogen bereits – nicht durch eigenes Zutun – durch die Luft.
Rosalie klammerte sich mit einer Hand an einem stabilen Baumstamm fest, mit der anderen tastete sie nach ihrem Zauberstab. Sie musste es versuchen, aber es war alles andere als einfach. Sie hatte den Spruch in ihrem Gedächtnis und konnte förmlich jeden Buchstaben sehen, aber ihr Zauberstab bog sich im Wind und sie konnte sich nicht konzentrieren.
Plötzlich spürte sie etwas gegen ihre Füße drücken, wodurch sie wieder leichter am Boden halten konnte.
„Du schaffst es!“ hörte sie eine krächzende Stimme.
Rosalie ließ den Baumstamm los und umfasste ihren Zauberstab mit beiden Händen. Langsam und deutlich dachte sie an die Buchstaben. So, wie sie im Buch gestanden waren. Aber vielleicht war das falsch? Vielleicht sollte man sie doch nicht verkehrt herum denken?
Gerade als Rosalie anfangen wollte zu zweifeln, fing ihr Zauberstab an zu leuchten und hellblaue Funken sprühten raketenartig aus der Spitze hervor. Sie wusste, dass damit ein wichtiger Teil geschafft war, aber sie durfte nicht aufhören an das Wetter zu denken, das sie haben wollte. Sie musste den wild wirbelnden Schnee beruhigen. Den Wind zum Stillstand bringen. Das große Chaos vermeiden. Konzentriert und verbissen dachte sie an den Spruch und an Schneeflocken, die ohne eisigen Wirbelwind am Boden ankamen.
Und es gelang. Die kleine Hexe Rosalie änderte das Wetter! Der Sturm legte sich und dicke weiße Flocken fielen still zur Erde. Der Zauberstab glühte noch lange in ihrer Hand, so, als hätte auch ihn der Zauber angestrengt.
Irgendjemand entzündete die Fackeln von neuem. Die Tische wurden so gut es ging wieder gedeckt. Rosalie schaute auf ihre Füße. Mindestens zehn Wurzelkinder standen darauf und drückten sie auf den Boden. Stark waren sie, das konnte man nicht leugnen.
„Endlich Schnee! Wundervoll!“ meinte eines der Wurzelkinder ganz entzückt. Rosalie blickte hinunter in ein strahlendes Gesicht und fand es auf einmal gar nicht mehr so hässlich.
„Danke!“ murmelte sie erschöpft.
Einige der Wurzelkinder verbeugten sich demütig. „Das sind die schönsten Flocken, die ich je gesehen habe!“ meinte eines und ein anderes ergänzte: „Ja, und sie sind groß! Fast so groß wie mein Kopf!“
Rosalie lächelte. Sie streckte ihre Arme aus, fing ein paar Kristalle auf und ließ sie auf ihrer bloßen Haut zergehen. Sie hatte es gut hinbekommen. Alle freuten sich. Eigentlich könnte sie stolz auf sich sein, aber … .
„Was machst du für ein Gesicht? Wenn du deine Stirn in Falten legst, siehst du fast so runzelig aus wie ich!“ stellte das Wurzelkind, das sie am Vormittag noch schrecklich genervt hatte, fest.
„Denkst du, ich bekomme deswegen Probleme? Ich meine, eigentlich darf man das Wetter ja nur im äußersten Notfall ändern“, überlegte Rosalie. Sie hatte sich in der Schule schon öfter Strafen eingehandelt, aber am ersten Schultag war ihr das bisher noch nie passiert.
„Probleme? Bist du verrückt? Ja, vielleicht das Problem, dass dich ständig alle darauf ansprechen, aber ansonsten … . Du … du hast das ausgezeichnet gemacht!“ lobte das Wurzelkind.
Rosalie schaute halb belustigt, halb verlegen auf die winzige Gestalt zu ihren Füßen. Es war wohl das erste Mal überhaupt, dass ein Wurzelkind einer Hexe ein Kompliment machte.
„Na ja, du hast mich ja gewarnt. Ohne dich wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, mich mit diesem Schneeflockenzauber zu beschäftigen. Willst du mir keine Vorwürfe machen, weil ich dir nicht geglaubt habe?“ fragte Rosalie scherzhaft.
Für einen ganz kurzen Moment blitzten die Augen des Wurzelkindes gewohnt boshaft auf. Doch dann entgegnete es bloß: „Na ja, ich bin ja auch gewarnt worden. Es war ja nicht mein Verdienst. Außerdem bin ich nicht in der Stimmung für Vorwürfe – ich wollte so schrecklich gerne einmal an diesem wunderbaren Fest teilnehmen und jetzt bin ich hier! Es ist zauberhaft!“
Das Wurzelkind drehte sich um die eigene Achse und tanzte im Schnee.
In dieser Nacht feierten die Wurzelkinder gemeinsam mit den jungen Hexen und Zauberern und die Feier verlief ohne weitere Zwischenfälle.
Rosalie erhielt für ihren Schneeflockenzauber viel Lob und Anerkennung. Sie freundete sich mit den Wurzelkindern in ihrem Garten an und bis sie mit der Schule fertig war, lud sie sie jedes Jahr zum Eröffnungsfest ein.
Tag der Veröffentlichung: 25.02.2012
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