DAS VERMÄCHTNIS DES GESCHICHTENERZÄHLERS
Lina lebte in einem ganz kleinen Ort indem so gut wie nie etwas Außergewöhnliches oder gar Interessantes passierte. Die Leute beschwerten sich oft über die Langeweile im Dorf und redeten von längst vergangenen Zeiten. Lina konnte sich zwar nicht vorstellen, dass es früher hier ganz anders gewesen war, aber sie mochte es, wenn die Menschen davon erzählten. Besonders mochte sie die Geschichten eines Mannes, der schneeweiße Haare hatte und einen langen, dazu passenden Bart. Er ging – wenn er überhaupt ging – mühsam am Stock und niemand wusste seinen Namen. Er war so steinalt, dass Lina jedes Mal wenn sie ihn besuchte Angst hatte, er könnte gestorben sein.
Ihre Mutter sah es nicht so gerne, wenn sie sich mit dem Alten unterhielt und das betonte sie auch immer wieder, aber sonst konnte sie nicht viel dagegen machen. Der Mann saß nämlich immer auf einer Bank im öffentlichen Park und man konnte niemandem verbieten dort zu sitzen. Linas Mutter arbeitete zwar im Park, aber das gab ihr auch nicht das Recht, Leute zu verscheuchen. Es sei denn, sie benahmen sich daneben. Aber das tat der Mann nicht. Er erzählte nur Geschichten.
Lina war nicht das einzige Kind, das ihm gerne zuhörte. Oft saß eine ganze Ansammlung Kinder vor ihm auf dem Boden und lauschte gespannt. Allen, selbst seinen noch so kleinen Zuhörern, musste klar sein, dass alles, was er erzählte, erfunden war, denn es ging sehr phantastisch und wild zu in den Geschichten des alten Mannes. Da kamen Ungeheuer mit mehreren Köpfen vor und allerlei Zauberwesen aus märchenhaften Welten. Das Besondere aber war, dass der alte Mann immer einen Bezug zu ihrer unmittelbaren Umgebung, ja, meist sogar zu dem Ort, indem sie alle wohnten, herstellte und das machte seine Geschichten für die Kinder so spannend und für die Erwachsenen so gefährlich.
Lina hatte auch vorher schon Geschichten von Hexen, Feen, Elfen oder Wasserwesen gehört, aber wenn ihre Mutter ihr die Abenteuer dieser magischen Figuren vorgelesen oder erzählt hatte, dann war das immer irgendwo passiert, in einem fernen, fernen Land, das kein Mensch je betreten hatte und wahrscheinlich gar nicht mehr existierte – aber die Hauptsache war immer gewesen, dass es weit, weit weg war. Unerreichbar weit weg. Damit Lina nicht auf dumme Gedanken kam.
Mittlerweile war Lina dem Märchenalter fast entwachsen, jedenfalls hatte das ihre Mutter gedacht, aber dann war dieser Alte gekommen und hatte sie wieder mitten hineingezogen.
Tatsächlich lebte Lina so sehr in einer Märchenwelt wie nie zuvor. Sie glaubte die Geschichten des alten Mannes. Laut seinen Erzählungen hatten sich viele wunderbare Dinge hier ereignet. Auch wenn sie vorbei waren, waren sie nah. Sie hatten sich hier in diesem Dorf ereignet, indem sie lebte. Das war die Wahrheit des alten Mannes. Und Lina hatte nicht die geringste Lust, diese in Frage zu stellen.
Heute waren alle Kinder ganz begeistert von einer Geschichte rund um einen geheimnisvollen Tümpel, der sich zwischen der hügeligen Landschaft hinter dem Dorf befand. Früher, so erzählte der weißhaarige Mann, hätten die Feen und Blumenelfen hier große Feste gefeiert und die eintönige Landschaft ganz bunt gemacht.
Lina liebte Geschichten über Feen und Elfen, diese waren ihr von allen Märchengestalten die liebsten, aber gerade an diesem Tag war sie ein bisschen abgelenkt und konnte der Erzählung nicht ganz folgen. Sie hatte eine dringende Frage an den alten Mann und wartete auf eine passende Gelegenheit, sie ihm zu stellen. Es war nämlich so, dass sie nun schon den dritten Morgen in Folge die gleiche, doch eher ungewöhnliche Entdeckung vor ihrem Fenster gemacht hatte. Sonderbar, nicht direkt beunruhigend zwar, aber auch nicht so, dass man es unbedingt jedem erzählte.
Ihrer Mutter wollte sie es zum Beispiel nicht erzählen, denn diese hätte sie nicht ernst genommen und ihre Beobachtung als Erfindung abgetan. Und diese Erfindung hätte sie dann dem Alten und seinen Geschichten zugeschrieben. Nein, es war besser, wenn sie nichts davon wusste. Besser für beide.
Lina spähte zu ihrer Mutter hinüber, die ihrer Arbeit nachging. Mit einem riesigen Rechen schuf sie einen schnell größer werdenden Berg aus goldenem Herbstlaub. Manchmal blieben Kinder stehen, die von ihren Eltern nur mit Mühe davon abgehalten werden konnten, in den verlockenden Haufen zu springen.
Ihre Mutter konnte sicher nicht verstehen, was ihnen der Mann gerade erzählte. Dazu war sie zu weit weg. Zum ersten Mal wünschte Lina sich, die Geschichte möge schnell zu Ende sein und die anderen Kinder würden gehen. Es fühlte sich falsch an, in einer größeren Runde von ihrer Entdeckung zu berichten. Einige der Kinder würden sie bestimmt auslachen oder – noch schlimmer – sie als Lügnerin bezeichnen.
Eine Stunde später waren außer Lina immer noch drei Kinder da. Die Sonne ging unter und am Boden wurde es schon etwas kalt. Doch Lina wollte nicht nachgeben. Sie würde ausharren. Heute musste sie unbedingt die Letzte sein. Der alte Mann war mitten in einer neuen Geschichte und wieder ging es um Feen, aber diesmal war die Hauptperson eine unheimliche, rußschwarze Gestalt, die den Tod brachte. Solche Geschichten mochte Lina nicht.
Auch die anderen Kinder waren nicht begeistert. Ein wohl erst fünfjähriger Junge sah aus, als würde er jeden Moment anfangen zu weinen. Vielleicht merkte der Erzähler dies oder vielleicht hatte er auf einmal selbst keine Lust mehr auf seine gruselige Geschichte, denn plötzlich war sie abrupt zu Ende. Allgemeine Erleichterung machte sich breit und endlich – die anderen Kinder gingen.
Lina starrte lange in die eisblauen Augen des Mannes und verlor fast den Mut. Seine Augen wirkten freundlich, aber auch durchdringend, so, als würden sie schon alles wissen.
„Möchtest du mir vielleicht etwas sagen, Lina?“ fragte er auffordernd. Er umklammerte mit beiden Händen seinen Stock als würde er sonst von der Bank fallen.
„Genauer gesagt wollte ich Sie etwas fragen und zwar … ob Sie eine Geschichte kennen, in der … na ja … ein goldener Vogel vorkommt?“ Lina wich seinem Blick aus, während sie sprach und sagte den letzten Satz so leise, dass sie sich im Nachhinein nicht einmal mehr sicher war, ob sie ihn überhaupt ausgesprochen hatte.
Doch der Alte hatte sie sehr genau verstanden.
„Hattest du etwa das Glück einen goldenen Vogel zu sehen, Lina?“ fragte er überrascht, aber sehr interessiert.
Machte er sich über sie lustig? Nein, wenn er etwas witzig fand, bekam er tausend kleine Fältchen um die Augen und das war nicht der Fall.
„Ja, ich habe ihn schon drei Mal gesehen, immer am Morgen, auf meinem Fensterbrett!“ sagte sie und versuchte ihre Stimme dabei so fest wie möglich klingen zu lassen.
Ihr Gegenüber bezweifelte ihre Aussage jedoch ohnehin nicht im Geringsten. „Der Vogel will dir nur etwas zeigen. Du musst ihm folgen.“
Lina mochte den alten Mann plötzlich unglaublich gern.
„Wissen Sie, was er mir zeigen will?“ fragte sie gespannt.
„Ich habe da so eine Idee … aber ich möchte dir dieses Erlebnis nicht verderben, deshalb kann ich dir nichts Konkretes sagen“, antwortete der alte Mann vage.
Lina war ein bisschen enttäuscht, aber während sie noch überlegte, wie sie dies am besten überspielen könnte, kam ihre Mutter auf sie zu und damit war das Gespräch beendet.
An diesem Abend ging Lina freiwillig früh zu Bett, denn sie wollte mit ihren Gedanken allein sein. Allerdings war sie so aufgeregt, dass sie die ganze Nacht über kaum Schlaf finden konnte. Unruhig wälzte sie sich im Bett hin und her, nickte kurz ein, schreckte aber Minuten später wieder auf, weil sie geträumt hatte, sie hätte verschlafen und den goldenen Vogel verpasst.
Natürlich verschlief sie nicht, sie stand sogar viel früher auf als gewöhnlich. Es war Sonntagmorgen und sie war die einzige wache Person im Haus, wahrscheinlich sogar im ganzen Dorf.
Lina wartete am offenen Fenster. Diesmal würde sie dem Vogel folgen. Sie hatte ja nicht verstanden, warum er so heftig mit seinen kleinen, goldglänzenden Flügeln geschlagen und den Kopf hin und her geworfen hatte. Wie denn auch? So etwas war ihr bisher noch nie passiert.
Aber heute würde sie den Vogel nicht enttäuschen. Erwartungsvoll saß sie am Fensterbrett und starrte in den langsam anbrechenden Tag. Sie hörte ihre Mutter in der Küche Frühstück machen. Lina hatte Hunger, aber sie wollte ihren Beobachtungsplatz nicht verlassen. Sie wartete. Und wartete.
Erst eine Stunde später gestand sie sich ein, dass der goldene Vogel nicht kommen würde. In den letzten drei Tagen war er immer um die gleiche Uhrzeit gekommen. Immer um sieben. Immer pünktlich.
Lina war nicht nur maßlos enttäuscht sondern auch wütend. Verärgert schlang sie ihr Frühstück hinunter und rannte dann direkt in den Park. Sie fand den alten Mann alleine auf einer Bank sitzend, aber heute hätte sie es auch nicht gekümmert, wenn andere dabei gewesen wären. Außer Atem und völlig aufgelöst kam Lina bei dem Geschichtenerzähler an. Sie hatte eigentlich geplant, ihre Wut an ihm auszulassen, aber als sie ihn nun dort sitzen sah, einsam und leicht nach vorne gebückt, brachte sie es nicht übers Herz. Ihre Wut verflog augenblicklich. Wieso wollte sie ihm überhaupt Vorwürfe machen? Schließlich hatte er ihr bestimmt nur helfen wollen. Und er konnte ja nichts dafür, dass der Vogel nicht aufgetaucht war. Aber erzählen musste sie ihm davon.
Als der alte Mann Linas Neuigkeiten hörte, verfinsterte sich sein Gesicht. Er schien sich seine Worte genau zu überlegen, ehe er sie äußerte: „Hör zu, Lina, ich kann dir noch einen anderen Vorschlag machen, er wird dir vielleicht sonderbar erscheinen und es liegt an dir, ob du ihn annehmen willst oder nicht.“
Lina nickte ihm zu und wartete gespannt. Der Alte atmete tief durch und fuhr fort: „Geh zur hügeligen Gegend am Rande des Dorfes. Die Hügel mögen dir auf den ersten Blick alle gleich erscheinen, aber einer ist ganz besonders. Diesen besonderen Hügel musst du finden, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass der goldene Vogel von dort aus zu dir gekommen ist.“
Lina kannte die hügelige Gegend gut. Es war ein schöner stiller Ort und wenn sie ihn aufsuchte, war sie immer der einzige Mensch weit und breit. Sie mochte die Hügel, aber wie der Mann sagte – sie waren einander ziemlich ähnlich.
„Was ist denn das Besondere an einem der Hügel?“ erkundigte sie sich vorsichtig. Der Mann beugte sich ganz dicht zu Lina herab und obwohl keine anderen Leute unterwegs waren hauchte er flüsternd: „Einer der Hügel ist ein Feenhügel.“
Diese Antwort musste Lina erst einmal verdauen. Ein ganz kurzer Zweifel durchfuhr sie und sie hörte warnende Worte ihrer Mutter im Ohr.
Doch dann fasste sie sich und verdrängte diese Gedanken. Der goldene Vogel war keine Einbildung gewesen. Und wieso sollte es sich mit dem Feenhügel anders verhalten?
Trotzdem war sich Lina in einer Sache immer noch nicht ganz sicher. „Aber wie erkenne ich diesen Feenhügel?“ fragte sie und der alte Mann zuckte zusammen, weil sie das Wort Feenhügel so laut gesagt hatte.
„Das soll deine geringste Sorge sein, Lina. Du hast den goldenen Vogel gesehen und glaube mir, das passiert nicht jedem! Du wirst keine Probleme haben den Eingang in das, ich meine … den Feenhügel zu finden“, erklärte er und wirkte plötzlich leicht verlegen.
Lina lächelte ihm zu, in der Hoffnung, sein Unbehagen möge verschwinden und er würde noch mehr erzählen. Doch das tat er nicht. Stattdessen warf er sorgenvolle Blicke auf einige Spaziergänger, die mindestens einen halben Kilometer von ihnen entfernt waren und deshalb nicht das Geringste verstanden haben konnten.
Dem Alten schienen diese Parkbesucher gar nicht zu behagen. „Was machen all diese Leute hier? Es ist Sonntagmorgen, verdammt, die sollten noch im Bett liegen!“ erzürnte er sich und seine Augen funkelten zornig.
Lina fand den Ausdruck „all diese Leute“ ziemlich übertrieben, denn soweit sie aus der – doch beträchtlichen – Entfernung feststellen konnte, waren es höchstens drei. Merkwürdig war auch die Tatsache, dass der Mann ja ansonsten gerne Gesellschaft hatte, deshalb verstand sie nicht, warum er sich so aufregte. Wenn man allein sein wollte, dann durfte man eben nicht in einem öffentlichen Park herumsitzen.
Lina suchte verzweifelt nach einem Ansatz, mit dem sie das Gespräch wieder auf den Feenhügel zurücklenken konnte, aber der Mann sah sie nun nicht einmal mehr an. Zu ihrem Entsetzen stand er sogar auf und schleppte sich, auf seinen Stock gestützt, mühsam ein paar Schritte vorwärts. Seine volle Aufmerksamkeit galt nach wie vor den Frühaufstehern, die nun näher kamen. Erstaunt stellte Lina fest, dass dies keine gewöhnlichen Spaziergänger sein konnten, denn so sahen sie überhaupt nicht aus. Es waren drei genau gleich große, leicht gebückte Gestalten, die dunkle, schleierartige Gewänder trugen, die ihre gesamten Körper verhüllten. Auch ihre Gesichter.
Unschlüssig stand Lina da und starrte die eigenartigen Gestalten an. Sie hörte den Mann neben sich etwas murmeln, das wie „schon wieder“ klang, ehe er sich zurück zur Bank schleppte und sich geräuschvoll setzte.
Lina blieb wie angewurzelt stehen. Sie wollte diese dunklen, gesichtslosen Leute eigentlich nicht weiterhin anstarren, aber aus irgendeinem Grund gelang ihr das Wegschauen auch nicht. Mit schaudernder Anziehungskraft zogen die Gestalten sie in ihren Bann. Ihr Blick war an sie gefesselt. Sie kamen näher und näher, aber ihr Ziel war nicht Lina, das spürte sie, sie visierten die Bank an, auf der der alte Mann saß.
Nun wartete er recht gelassen, mit starrem, ausdruckslosem Blick, der sogar so etwas wie Gleichgültigkeit – oder zumindest Gelassenheit – ausstrahlte. Lina hatte den Eindruck, er erlebe diese Situation nicht zum ersten Mal. Als die drei Gestalten an ihr vorbeizogen spürte sie kalte Schauer, die ihr bis in die Knochen krochen, als wäre sie von einer Böe Eiswind erfasst worden. Obwohl dies zweifellos die unheimlichsten Figuren waren, die ihr je in ihrem Leben untergekommen waren, hatten sie etwas von einer seltsam geisterhaften Eleganz. Ihre Bewegungen waren graziös und schleichend, fast schwebend schienen sie dahinzugleiten.
Wortlos umkreisten die Unbekannten die Bank des alten Mannes. Als jeder oder jede – denn ob es Männer oder Frauen waren konnte man beim besten Willen nicht sagen – sie dreimal umrundet hatte, verschwanden sie. Sie gingen nicht irgendwohin, nein, spurlos und auf der Stelle verschwanden sie und lösten sich auf ins Nichts. Lina stolperte vor Schreck und schlug sich das Knie auf, dass es blutete. Der plötzliche Schmerz jagte ihr keine Angst ein sondern vermittelte ihr Erleichterung, denn er gab ihr das beruhigende Gefühl, dass sie selbst noch da war und sich nicht mit diesen furchteinflößenden Figuren aufgelöst hatte.
Auch der alte Mann, dem der Besuch ja allem Anschein nach gegolten hatte, war noch da. Und er brachte sogar ein Lächeln zustande. „Mach dir keine Sorgen wegen dieser komischen Leute, Lina. Die kommen in letzter Zeit andauernd“, er seufzte und machte eine wegwerfende Handbewegung. Noch immer geschockt rappelte Lina sich auf. Ihr Kopf war voller Fragen und sie wusste nicht, welche sie zuerst stellen sollte. Doch der alte Mann gab ihr keine Gelegenheit, überhaupt auf das außergewöhnliche Ereignis zu reagieren. Er tat es ab, als sei nichts gewesen. Jedenfalls gab es für ihn momentan wichtigere Dinge zu erledigen. „Du solltest gehen, Lina. Du willst den goldenen Vogel doch nicht ein weiteres Mal verpassen, oder?“ fragte er herausfordernd.
Lina ging nicht, sie rannte. Noch immer waren kaum Leute unterwegs und die wenigen, die ihr entgegen kamen, rannte sie fast um. Erst als sie das Dorf hinter sich gelassen hatte, hörte sie auf zu laufen. Die vielen Hügel zwangen sie unweigerlich zu einem langsameren Schritt und es ging ihr augenblicklich besser. Das Gras war noch taufrisch, aber es versprach ein sonniger Tag zu werden. Lina versuchte die dunklen Gestalten aus ihren Gedanken zu vertreiben und wider Erwarten fiel es ihr nicht schwer. Das hügelige Land strahlte Ruhe aus. Still und verlassen glänzten die kleinen Erhebungen im Licht der aufgehenden Sonne. Viele waren von wildwachsendem Unkraut überwuchert, was zeigte, dass sich nie jemand um diese Gegend kümmerte. Nach kurzer Zeit war Lina bei den zwei Trauerweiden angekommen, ihrem Lieblingsplatz. Die beiden Bäume standen so nah beieinander, dass man sogar eine Hängematte von einem Stamm zum anderen spannen konnte. Lina setzte sich, schloss die Augen und atmete den Duft der Rinde ein. Lange konnte sie sich jedoch nicht entspannen, denn schon nach wenigen Sekunden der Stille hörte sie eine glockenhelle Stimme.
„Du hast noch nie die dritte Trauerweide besucht, Lina“, sagte die Stimme und ein leichter Vorwurf schwang in ihrem Tonfall mit.
Lina warf ihren Kopf in die Richtung, aus der sie die Worte vernommen hatte und für einen kurzen Moment war ihr, als hätte sie aus den Augenwinkeln einen hellblauen Schatten gesehen, aber als sie gezielt danach suchte, konnte sie nichts entdecken. „Ich … habe nicht gewusst, dass es drei Trauerweiden gibt“, antwortete sie trotzdem.
„Folge mir“, hauchte die wunderschöne Stimme. Das war leichter gesagt als getan. „Ich kann aber niemanden sehen!“ protestierte Lina.
„Natürlich nicht! Ich bin eine Luftfee und deshalb fällt es mir naturgemäß schwer, mich sichtbar zu machen!“ erklärte die Stimme und kurz sah Lina wieder einen glitzernden blauen Schatten.
„Aber ihn kannst du doch sehen, oder?“ fragte die Stimme und deutete dabei wahrscheinlich in eine bestimmte Richtung.
Aber ehe Lina noch einmal auf das Problem der Unsichtbarkeit hinweisen konnte, kam der vertraute goldene Vogel auf sie zu geflattert und wies ihr den Weg. Vermutlich wurde sie auch von der Luftfee begleitet, aber diese hüllte sich in Schweigen, bis der goldene Vogel vor einem weiteren Hügel zum Stillstand kam und sich auf Linas Arm niederließ. Allerdings war der Hügel sehr klein und alleine wäre Lina wohl achtlos daran vorbeigelaufen. Als sie jetzt genauer hinschaute, fiel ihr auf, dass der Hügel nicht von gewöhnlichem Unkraut überwuchert war, sondern von den Ästen einer Trauerweide bedeckt wurde. Den dahinterliegenden Stamm konnte man jedoch nicht erkennen, weshalb leicht zu übersehen war, dass hier ein Baum stand. Das musste die dritte Trauerweide sein, die die Luftfee vorher erwähnt hatte. Der goldene Vogel blickte Lina treuherzig aus seinen winzigen Augen an, flatterte los und verschwand dann im Geäst der Trauerweide.
Der alte Mann hatte gesagt, sie solle dem goldenen Vogel folgen. War es möglich, dass dieser doch eher unscheinbare Hügel der Feenhügel war? Durch die Trauerweide unterschied er sich zwar von den anderen, aber spektakulär war er nicht. Allerdings hatte Lina aber auch noch nicht gesehen, was sich hinter den Zweigen verbarg. Und da musste etwas sein, denn der Vogel war nicht wieder aufgetaucht.
Vorsichtig schob sie die Zweige, die wie ein Vorhang herabhingen, zur Seite und musste zuerst einmal blinzeln. Eine Explosion aus Licht und Farben, bunt, verwoben und gleißend hell, tat sich vor ihr auf. Sie umklammerte eine Hand voll Zweige und hielt sich daran fest, weil sie vor Staunen wankend auf den Beinen war. Hier schien alles in Bewegung zu sein und sie dachte zuerst, das liege an ihr und komme vom Schwindel, aber als sie sich wieder etwas gefasst hatte wurde ihr klar, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Alles war ein farbenprächtiges, rotierendes Durcheinander, aber trotzdem schien alles irgendwie stimmig. Das Bild vor ihren Augen erinnerte sie an ein Kaleidoskop.
Lina wusste gar nicht wo sie zuerst hinschauen sollte. Die Bäume trugen gelb- und rotleuchtende Blätter, stärker und glühender als sie es jemals gesehen hatte. Das Gras zu ihren Füßen war von einem tiefen smaragdenen Grün und zwischen den Halmen gab es rosafarbene Astern und reinweiße Rosen, deren Blütenblätter sich sanft im Wind wiegten. Ein kleiner Wasserfall floss in einen tiefblauen Teich. Auf der Wasseroberfläche schwamm eine Entenfamilie zwischen Seerosen hindurch.
Allein schon diese Naturphänomene empfand Lina als großes Geschenk, die eigentlich zauberhafte Atmosphäre ging jedoch nicht von der Landschaft aus sondern von deren Bewohnern.
Lina musste zugeben, dass sie sich Feen anders vorgestellt hatte, aber sie war keineswegs enttäuscht. Weil es so vieles gab, was an den unterschiedlichsten Stellen ihre Aufmerksamkeit beanspruchte, dauerte es eine Zeit lang, bis sie sich die Wesen genauer anschaute. Zuerst blieb ihr Blick an jener Gestalt hängen, die ihr am nächsten war. Sie hatte schon eine feenhafte Ausstrahlung, fand Lina, lange Haare und Flügel zum Beispiel. Das Merkwürdige aber war, dass alles an ihr orangerot war, sie war körperlos und schien ausschließlich aus Feuer geformt zu sein. Die Flügel, die aus ihrem Rücken sprossen, erinnerten Lina an die lodernden Flammen eines Kaminfeuers.
„Willkommen Lina! Darf ich mich vorstellen? Ich bin eine Feuerfee!“ bestätigte das orangerote Wesen ihren Verdacht. „Entschuldige bitte, dass wir die Luftfee geschickt haben, dich abzuholen, aber das war eine Vorsichtsmaßnahme! Außer dir kommen zwar nicht oft Menschen in das Hügelland, aber wir konnten trotzdem nichts riskieren“, sagte die Feuerfee.
Lina nickte bestätigend, war aber bereits abgelenkt von einer anderen Fee, die sich nun neben die Feuergestalt gesellte. Sie war total konträr, denn sie schien nicht aus Feuer sondern aus Wasser zu bestehen. Lina bestaunte die wogenden Wellen, die in einem kräftigen Türkisblau schimmerten und zusammen die Konturen einer Feengestalt formten. „Du bist dann wohl eine Wasserfee?“ vermutete Lina.
„Erraten!“ kam es von etwas weiter entfernt. „Und wer bin ich?“
Aus der Entfernung konnte Lina nur etwas Bräunliches erkennen, erst als die Gestalt näher kam, sah sie, dass es sich dabei um Erde handelte.
Doch es gab keineswegs nur die vier Elemente, dazwischen tummelten sich auch alle anderen erdenklichen Arten – Feen aus Ahornblättern, aus Apfelblüten, aus Papageienfedern, aus Schmetterlingsflügeln oder Orchideen.
Ständig entdeckte Lina etwas Neues. Auch die Umgebung barg unendlich viele Details, die sie erst nach und nach wahrnehmen konnte. Da gab es einen Fichtenwald, zerklüftete Felsen aus denen sonderbare Pflanzen wuchsen, aus Stroh geflochtene Hütten und rauschende Bäche, die man durch hübsch verzierte Steinbrücken überqueren konnte.
Kurz beschäftigte Lina die Frage, wie eine so großräumige Welt in einen so winzigen Hügel passen konnte, aber eine Fee, die sich als Waldfee vorstellte, lenkte sie schnell mit einem interessanteren Thema ab. „Wollen wir Lina nicht sagen, warum wir ihr den goldenen Vogel geschickt haben?“ fragte sie und machte dabei eine ausladende Bewegung mit ihren zweigenartigen Händen.
„Wir dachten schon, wir hätten uns für das falsche Mädchen entschieden – der Vogel ist drei Mal ohne dich zurückgekommen!“ sagte die Feuerfee nachdenklich.
„Das ist kein gutes Zeichen!“ ergänzte die Wasserfee.
Lina wollte auf keinen Fall das falsche Mädchen sein. Ehe sie protestieren konnte, kam ihr die Waldfee zu Hilfe. „Aber sie hat den Weg doch gefunden, oder?“ fragte sie provozierend. Lina warf ihr einen dankbaren Blick zu.
„Letztendlich, ja“, gab die Feuerfee zu, schränkte aber sogleich ein: „Mit Hilfe der Luftfee!“
„Die Luftfee ist unsichtbar“, gab die Waldfee zu bedenken.
„Fast unsichtbar!“ korrigierte die Betroffene und es klang ein bisschen beleidigt.
Für wenige Sekunden hing ein glänzend blauer Schatten in der Luft, was darauf hindeutete, dass die Luftfee nun wieder mit aller Kraft gegen die Unsichtbarkeit ankämpfte.
„Jedenfalls bin ich jetzt hier, also könntet ihr mir doch immerhin sagen, warum“, schaltete Lina sich in das Gespräch ein und griff somit den Vorschlag der Waldfee wieder auf. Es wäre ihr auch egal gewesen, wenn es keinen besonderen Grund für ihre Ankunft in diesem märchenhaften Wunderland gab, denn sie würde sich hier bestimmt nicht langweilen.
„Da hast du auch wieder Recht“, lenkte die Wasserfee ein. „Aber den Grund deines Hierseins soll dir deine persönliche gute Fee erzählen.“
Sobald sie diese Worte ausgesprochen hatte, schwebte etwas Lilafarbenes auf Lina zu. Lina fasste sofort Vertrauen und hatte das Gefühl, diese Fee schon ewig zu kennen, obwohl sie insgeheim natürlich wusste, dass sie sie noch nie zuvor gesehen hatte. Nicht einmal in einem Traum.
„Hallo Lina! Ich bin die Veilchenfee und für dich zugleich deine gute Fee!“ stellte die lilafarbene Gestalt sich vor.
Lina musste lächeln. Veilchen waren ihre Lieblingsblumen.
„Meine gute Fee?“ hakte sie nach, denn sie hatte bisher nicht gewusst, dass sie eine solche besaß.
„Ja, jeder Mensch hat eine gute Fee und ich bin die deine!“ belehrte die Veilchenfee sie sogleich. „Ich begleite dich in schwierigen Situationen und weise dir die Richtung, wenn du Probleme hast“, fuhr sie fort.
Lina ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen und runzelte die Stirn. „Aber … ich habe dich nie wahrgenommen, nie gesehen … nicht die geringste Spur“, stammelte sie.
Ihre gute Fee lachte glockenhell und als sie sich wieder gefangen hatte, sagte sie: „Natürlich begleite ich dich nicht in meiner wahren Gestalt! Wie würde das denn aussehen, wenn jeder mit einer Fee an seiner Seite durch die Gegend laufen würde! Spazieren gehen kann man mit einem Hund, aber nicht mit einer Glücksfee!“
Einige andere Feen stimmten in das Lachen mit ein.
„Würdest du bitte zum Thema kommen!“ drängte die Feuerfee gereizt und das Lachen verstummte.
„Entschuldige“, sagte die Veilchenfee kleinlaut und rückte näher an Lina heran.
„Alles was du hier siehst, liebe Lina, ist ein Vermächtnis. Man könnte sagen, es ist ein geheimes Vermächtnis, weil es immer nur einen einzigen Menschen gibt, der darüber Bescheid weiß“, erklärte die Veilchenfee.
„Nur einen?“ fragte Lina erstaunt und wurde plötzlich traurig. Dies alles hier war doch viel zu schön, um es mit niemandem zu teilen.
„Na ja, momentan sind noch zwei in das Geheimnis eingeweiht, aber bald wirst du die Einzige sein“, fuhr die Fee zögernd fort.
Es dauerte eine Weile, bis Lina klar wurde, was damit gemeint war. Der alte Geschichtenerzähler aus dem Park wusste Bescheid. Er hatte ihr von dem Feenhügel erzählt und er hatte den goldenen Vogel gekannt. Er hatte Elemente von allem, was sie hier sah, in seine Geschichten einfließen lassen. Aber wenn sie bald die Einzige sein würde, die um das Vermächtnis wusste, bedeutete das dann, dass –
Sie ertrug es nicht, den Satz zu Ende zu denken.
„Du darfst nie verraten, wo unser Feenreich zu finden ist! Du darfst uns besuchen, aber du darfst nie jemanden mitbringen. Das Wichtigste aber ist, dass du anderen Menschen von uns erzählst!“ erklärte die Veilchenfee.
„Ich soll also von euch erzählen ohne euch zu verraten“, fasste Lina zusammen.
„Ja, ich denke du hattest dabei ein großartiges Vorbild“, erwiderte die gute Fee.
„Aron“, meinte die Feuerfee, die schon eine Weile kein Wort mehr gesagt hatte.
„Aber Aron wird es nicht mehr lange geben!“ sagten nun drei Stimmen gleichzeitig. Sie klangen düster und bedrohlich, ganz im Gegenteil zu den glasklaren Tönen der anderen Feen.
Lina konnte nur mühsam einen Schrei unterdrücken als ihr Blick auf drei rußschwarze Gestalten fiel, die sie sofort als jene aus dem Park erkannte. Sie waren nicht mehr in dunkle Gewänder gehüllt, aber sie waren es zweifellos. Lina erkannte es an demselben kalten Schauer, der sie auch jetzt durchfuhr.
Wenn die verhüllten Gestalten im Park auf Spaziergänger getroffen wären, wären sie mit Sicherheit aufgefallen, aber Lina vermutete, sie hatten sich diese Verkleidungen übergeworfen, um eben das zu vermeiden. Denn gegenüber ihrer natürlichen Erscheinung war ihr Auftritt im Park nahezu unscheinbar gewesen.
Rußfeen oder Aschefeen müssten sie eigentlich heißen, überlegte Lina. Und dann fiel ihr auf einmal ein, dass der alte Mann sie in Erzählungen erwähnt hatte – es waren Feen, die den Tod brachten.
„Lina, du musst jetzt ein Versprechen ablegen. Du musst versprechen, dass du bis an dein Lebensende von uns Feen erzählst. Du musst uns nicht beschreiben und du musst auch keine wahren Geschichten erzählen – nur solche, in die du feenhafte Elemente einwebst. Wir dürfen nicht vergessen werden und du musst uns weitertragen“, erklärte die Veilchenfee ernst.
„Ich verspreche es. Aber was ist, wenn mir niemand glaubt?“ warf Lina ein, während sie versuchte, die Todesfeen zu ignorieren.
„Es wird rechtzeitig jemand kommen, der dir glaubt. Rechtzeitig, bevor diese netten schwarzen Feen dich holen!“ sagte die Veilchenfee und deutete auf die rußigen Gestalten.
Lina begann allmählich zu verstehen und spürte Stolz in sich aufsteigen. Weil sie an die Feen geglaubt hatte, war sie zur Hüterin des Vermächtnisses erkoren worden. Und sie würde für sehr lange Zeit die Einzige sein, die das von sich behaupten konnte.
Den Kopf voller zauberhafter Eindrücke verließ Lina kurze Zeit später den Feenhügel. Sie ging zum Park zurück, wo der alte Mann auf sie wartete. „Sie sind Aron, nicht wahr?“ fragte sie und setzte sich zu ihm auf die Bank. Der Mann nickte.
Als an diesem sonnigen Sonntag die ersten Kinder kamen, forderte Aron Lina auf, eine Geschichte zu erzählen und sie kam dem gerne nach. Die Kinder waren begeistert, denn Lina erzählte gut und spannend.
Aron starb drei Tage später mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Er hatte ein langes glückliches Leben gehabt und das Vermächtnis war bei Lina gut aufgehoben.
Tag der Veröffentlichung: 20.10.2011
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