Immer noch starrte Jo auf den Brief, der, in einer schwungvollen Handschrift verfasst, an ihn adressiert war. Der Absender war eindeutig. Woher wusste sie seine Adresse? Weshalb hatte sie ihm geschrieben? Gänsehaut überzog seinen Körper. Seit damals hatte er sie nicht mehr gesehen.
Noch immer starrte er auf den Umschlag. Dunkle, längst vergessene Erinnerungen krochen in ihm hoch. Zumindest hatte er geglaubt, dass er sie vergessen hatte. Jetzt kamen sie ungebeten, unerwünscht. Die Geister der Vergangenheit trübten seinen Blick für die Dinge, die um ihn herum waren, und trieben seine Gedanken wirbelsturmartig in alle Richtungen. Mit fahrigen Bewegungen riss er den Umschlag auf und zerrte den Brief heraus.
Mein lieber Hannes,
mir ist bewusst, dass Du diesen Namen nicht besonders leiden magst, doch ich kann nicht anders, in meinen Erinnerungen wirst Du immer Hannes sein. Wir haben in Deiner Nähe etwas zu erledigen und kommen Euch beide am 6. Januar besuchen, vorausgesetzt, dass Du, mein lieber Junge, damit einverstanden bist.
Ich hoffe sehr, dass es Dir und Deinem Freund gut geht und wir uns näher kennenlernen dürfen.
Wir freuen uns sehr darauf, Dich wiederzusehen.
Mit Liebe
Tante Ruth und Onkel Tom
Nur wenige Zeilen reichten aus, um Jo in Panik zu versetzen. Seine Tante hatte sich zum Besuch angemeldet. Nicht, dass sie besonders nervig wäre, ganz im Gegenteil. Er hatte sie nur Ewigkeiten nicht gesehen oder mit ihr gesprochen, mit dem angenehmen Effekt, dass er die Vergangenheit erfolgreich verdrängen konnte.
Das Klappern eines Schlüssels holte Jo aus seiner gedanklichen Dauerschleife und brachte die Bilder in seinem Kopf zum Stillstand. Julius kam zur Tür herein, wie immer ein Lied vor sich hin summend. Nichts konnte ihm die Laune ernsthaft verhageln, außer Jo krümelte, wenn er im Truck naschte, Sitz und Teppich voll.
Julius streifte die Schuhe von den Füßen und bewegte sich auf Jo zu, um ihn zur Begrüßung in eine Umarmung zu ziehen. Je näher er auf Jo zukam, desto mehr verwandelte sich sein freundliches Gesicht in eine sorgenvolle Miene.
„Was ist los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“
Langsam löste sich Jo aus der Starre, schlang die Arme um Julius’ Nacken und verbarg sein Gesicht an dessen Hals. Tief atmete er Julius’ Duft ein und fühlte sich geborgen. Julius war sein Fels in der Brandung, nichts schien seinen Bären erschüttern zu können.
Als wollte er die Düsternis in Jo mit Zärtlichkeiten vertreiben, hauchte er ihm vorsichtig leichte Küsse auf die Wange. Tatsächlich schien es, als würde Jos Seele die Liebkosungen als Anker in der Dunkelheit ergreifen und sich daran festklammern. Eine magische Geste, die ihn daran hinderte, verloren zu gehen. Mit jedem Streicheln und jedem Kuss kam Jo mehr und mehr zurück – zurück nach Hause, heim zu Julius. Julius’ zärtliche Gesten, das sanfte Streicheln seines Rückens, gaben Jo wieder mehr Sicherheit.
So standen sie eine Weile dicht an dicht, eng an eng im Flur, bis sich Jo langsam aus der Umarmung löste. Er räusperte sich und suchte nach Worten, um seinem Liebsten zu erzählen, was ihn aus der Fassung gebracht hatte. Immer wieder atmete er ein, um zu sprechen, aber erst nach dem vierten oder fünften Anlauf konnte er flüstern: „Sie kommt.“
Krampfhaft klammerten sich seine Finger um den kurzen Brief, als könnte er die Worte damit vernichten, als könnte er damit die aufblitzenden Bilder in seinem Kopf einfach löschen.
„Wer kommt?“
„Ruth.“
***
Als würde das alles erklären.
Julius sah Jo abwartend an. Sein Wölfchen war noch nie besonders gesprächig gewesen, aber das war doch etwas sehr dürftig. Jos Reaktion auf den Brief fiel anders aus als gedacht. Julius beschlich das mulmige Gefühl, dass die Idee, die er vor ein paar Monaten gehabt hatte, vielleicht doch nicht so genial gewesen war.
Er rubbelte über Jos Arme, als könnte er damit mehr Leben in seinen Körper bringen. „Komm, setzt dich auf die Couch, ich koch uns Kaffee.“
Stumm nickend bewegte sich Jo Richtung Wohnzimmer, und Julius marschierte in die Küche, um sich an der Kaffeemaschine zu vergehen. Angespannt kaute er auf seiner Unterlippe. Während der Automat seine Tätigkeit lautstark in Angriff nahm, legte er ein Plunderteilchen von gestern auf einen Teller und stellte ihn in die Mikrowelle. Dann richtete er ein Tablett mit Milch, Zucker und Tassen her und faltete sorgfältig Küchenkrepp zu Servietten. Alles nur, um Zeit zu schinden. Ach du heilige Scheiße, was hab ich angerichtet? Fahrig fuhr sich Julius mit den Händen über das Gesicht. Es half alles nichts. Er hatte die Lawine ins Rollen gebracht, da musste er jetzt durch.
Die Kaffeemaschine kündigte geräuschvoll das Ende ihrer Tätigkeit an. Julius seufzte und fasste Mut für die Dinge, die da kommen sollten. Er nahm die Kanne aus dem Automaten, stellte sie auf das Tablett und begab sich wieder zu Jo.
In Gedanken versunken saß dieser auf dem Sofa und knetete die Hände. Er schien nicht zu bemerken, dass Julius den Raum betrat. Erst, als die Tassen beim Absetzen des Tabletts klirrend aneinanderstießen, blickte er hoch.
Julius goss ihnen beiden Kaffee ein. Der angewärmte Plunder verströmte einen angenehmen Duft und verlieh dem sonst so kargen Raum etwas Heimeliges. Die Wohnung gehörte Julius und diente nur als Meldeadresse., dementsprechend spartanisch war sie eingerichtet. Ihre eigentliches Zuhause war der Truck. Das kleine Separee hinter dem Führerstand wies mehr Gemütlichkeit auf als diese vier Wände. Mit dem Truck waren sie auch den größten Teil des Jahres auf Achse, quer durch Europa. Überall dort, wo der Sattelschlepper eine Ladung anhängen konnte.
Umständlich setzte sich Julius zu Jo und schlang einen Arm um ihn. Mit der anderen Hand griff er nach seinem Kaffee und nahm einige Schlucke. Dabei zog er mit dem Daumen sachte kleine Kreise auf Jos Taille.
„Ruth. Das ist die Frau, an die du die Karten schickst, oder?“
Jo nickte.
„Deine Tante?“
Wieder kam nur ein Nicken.
„Ich dachte, du magst sie, wenn du ihr Karten schreibst.“
Erneut kam ein Nicken.
„Ist es so arg, dass sie dich besuchen kommt?“
„Ja. Nein. Ich weiß nicht …“
„Mann, Jo. Was ist so schlimm daran? Will sie dich mit Spinat füttern?“
Ein schiefes Grinsen erschien in Jos Gesicht. „Nein, das nicht, es ist …, ich will nicht darüber reden.“
Mit einem frustrierten Laut blies Julius Luft aus seinen Lungen, stellte die Tasse auf den kleinen Tisch und zog Jo in die Arme. „Wenn du nicht darüber reden möchtest, ist das eine Sache. Aber ich kann dir nicht helfen, wenn du vor dich hin schweigst. Dein Schweigen stört mich nicht, aber dein Verhalten macht mir Sorgen. Ich würde gerne verstehen, warum du deine Tante nicht sehen willst.“
„Wer sagt, dass ich sie nicht sehen will?“
„Na, Ruth.“
„Woher kennst du Ruth?“
Julius bekam ein flaues Gefühl in der Magengegend. Er hatte sich verraten. Jetzt musste er Farbe bekennen. „Ich kenne sie nicht, nicht so wirklich.“
„Was bedeutet das? Nicht so wirklich?“
„Du hast nie etwas von früher erzählt. Na ja, aus deiner Kindheit, oder so … Da dachte ich, wenn du deiner Tante immer Karten schreibst, ist sie dir wichtig. … Herrgott, ist das schwer! … Sieh mich nicht so böse an.“
„Was dachtest du? Himmel. Julius! Was hast du angestellt?“
„Ich habe angenommen, dass du dich über ein Treffen mit ihr freuen würdest und du sie nur mir zuliebe nie besuchst, damit ich nicht alleine unterwegs sein muss. Und ich hatte angenommen, bevor wir uns getroffen haben …, dass du dafür eventuell …, na ja, du hattest kaum Geld. Ich dachte, dass es daran liegt …, dass du sie deshalb nie besuchst …“ Nervös scharrte Julius mit den Füßen über den Boden.
Erstaunt sah Jo ihn an.
„Wie kommst du darauf? Ich … ich bin … ich … du hast Ruth geschrieben? Jetzt wird mir auch klar, warum Ruth von meinem Freund geschrieben hat! Woher hätte sie das wissen sollen?“ Aufgebracht stand Jo auf und warf die Arme in die Luft, setzte sich wieder, stand erneut auf und drehte sich empört zu Julius um.
Unglücklich sah Julius ihn an und wünschte sich auf den Bock seines Trucks, wo er sich in jeder Situation Herr der Lage fühlte. Seinen Geliebten so aufgelöst zu sehen, traf ihn tief in seinem Innersten. Er wollte doch bloß, dass Jo glücklich war, nicht aufgewühlt.
Beschwichtigend ergriff er seinen Freund am Handgelenk und versuchte ihn zurück aufs Sofa zu ziehen. „Jo … bitte … was ist denn geschehen, dass du … Erzähl’s mir doch.“
***
Resigniert fuhr sich Jo durch die Haare und rupfte an einigen Strähnen. Einen Augenblick lang überlegte er. „Okay, gut.“
Er setzte sich wieder, wischte sich mit der Hand übers Gesicht und kratzte mit dem Daumennagel an seiner Augenbraue. Nachdem er sich mit einem Schluck Kaffee den trockenen Mund befeuchtet hatte, fing er zögerlich an, seine Erinnerungen aus den dunklen Ecken hervorzuholen.
Um den Anfang der Geschichte für sich selbst zu bekräftigen, nickte er einmal. Stockend begann er, von jenem Tag zu erzählen, an dem er von der Schule nach Hause gekommen war, und Rettungswagen und Feuerwehr vor dem Haus gestanden hatten. Schaulustige hatten sich auf der Straße und dem Bordstein versammelt oder starrten aus den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses. Gewaltsam bahnten sich die Bilder der Vergangenheit ihren Weg durch Jos Seele. Bilder, die er gesehen hatte, als er das Haus betrat. Seine Mutter, die – ein zerknülltes Taschentuch in der Hand – auf einem Stuhl saß und herzzerreißend schluchzte. Seine Tante, die tröstend einen Arm um sie geschlungen hatte. Als sie ihn erblickte, zog sie ihn in den anderen Arm und streichelte ihm über den Kopf.
„Mein armer Hannes“, klangen ihre Worte wie ein Echo der Trostlosigkeit in seinen Ohren wider.
Aus seiner Mutter brach ein klagender Laut. Jo fürchtete sich. Es herrschte eine unheimliche, ja, gespenstische Stimmung. Tante Ruth zog ihn von seiner Mutter weg und führte ihn aus dem Wohnzimmer. In der gemütlichen Küche, die sonst immer das Leben spiegelte, roch es fremd. Es roch kalt. Jo fröstelte.
Ihm war, als würden unsichtbare, klamme Finger alle Wärme aus dem Haus ziehen. Nackt und kühl krochen sie über den Boden, kratzten über die Wände und in jeden Winkel.
Seine Tante setze sich mit ihm auf die Küchenbank, schlang die Hand um seine und überkreuzte mit ihm die Finger. „Hannes …, Bub …, du musst jetzt tapfer sein.“
Sie benötigte eine Weile, bis sie ihm erklären konnte, dass sein Papa nicht mehr da war. Dass etwas Schreckliches geschehen war und er seinen Vater nie mehr sehen würde, nicht in dieser Welt.
Während seine Tante ihm dies erzählte, bewegten sich fremde Menschen durch das Haus. Durch die offene Tür sah er nebenan seine Mutter, die mit einer Hand krampfhaft die Lehne des Stuhles umklammerte, sodass an ihren Fingern die Knöchel weiß hervortraten, und mit der anderen das zerknüllte Taschentuch an die Lippen presste, um ihre Verzweiflung nicht lauthals in die Welt zu schreien.
Er sah den Doktor, der beruhigend auf sie einredete, um sie dazu zu bewegen, Medikamente zu nehmen. Tränen sammelten sich in Jos Augen, ein Übermaß an Zuviel. Zu viel Angst. Zu viel Verzweiflung. Zu viel Kälte. Zu viel Trauer. All das – er konnte das Geschehen nicht begreifen – schnürte ihm die Kehle zu.
Nur die Stimme seiner Tante Ruth, ihr sanftes Tätscheln seiner Hand, hielt ihn in der Welt. Er sah, wie Sanitäter seine Mutter aus dem Haus führten und zwei Männer, die eine Bahre mit einem abgedeckten Körper trugen. Er bemerkte die mitleidigen Blicke, vernahm die geflüsterten Unterhaltungen, ohne etwas zu verstehen. Wie das Wispern eines Klageliedes, das von den Mauern des Hauses aufgesogen wurde.
Während Julius dem Bericht lauschte, zog er Jo aus einem Impuls heraus auf seinen Schoß. Er griff nach der Decke, die neben ihm auf dem Sofa lag, und zog sie über sie beide. Dabei hielt er Jo in seinen Armen wie ein Kind, das den Kopf an seine Schulter lehnte.
Jo redete weiter. Über einen Mann, der mit Tante Ruth diskutierte, wo Jo bleiben sollte. An diesem Tag war er das letzte Mal in seinem Elternhaus gewesen.
Tante Ruth packte zwei große Reisetaschen und nahm ihn mit zu sich nach Hause. Onkel Tom holte zu einem späteren Zeitpunkt noch ein paar Kleinigkeiten, die er für Jo aufbewahren wollte. Jo erzählte von der Beerdigung seines Vaters, und dem sehr, sehr langen Klinikaufenthalt seiner Mutter. Davon, wie verlassen er sich gefühlt hatte, obwohl Tante Ruth alles Mögliche mit ihm unternommen und ihn mit Zuneigung nur so überschüttet hatte.
Je mehr sich Jo an Julius kuschelte, desto leichter schien es ihm zu fallen, darüber zu sprechen.
Da saßen sie nun, zwei riesige Kerle auf dem Sofa, mit dem man fast Mitleid kriegen konnte, ob des Gewichts, das es zu tragen hatte. Der eine nur ein bisschen schmaler als der andere, eng verschlungen, in eine viel zu klein wirkende Decke gehüllt.
Irgendwann an diesem Nachmittag hatte Jo aufgehört zu reden. Der Tränenstrom war versiegt, aber Julius wollte ihn dennoch nicht freigeben. Sie blieben auf dem Sofa sitzen, hielten sich fest. Nichts störte ihre Zweisamkeit. Stille umgab sie wie ein Mantel, nur ihr ruhiges Atmen war zu hören.
Julius wollte seinen Schatz nicht so niedergeschlagen sehen. Bar jeder Worte über so viel Traurigkeit, konnte er nichts sagen. Ihm fiel nichts ein, womit er seinem Liebsten Trost zu spenden vermochte Die Situation war für ihn kaum auszuhalten. Alles, was ihm einfiel, war, seinen Freund noch fester in seinen Armen zu halten, und sein Gesicht mit Küssen zu bedecken. Unablässig strich er über Jos Kopf, seinen Rücken, seine Arme. Als könnte er damit alles Ungemach wegstreicheln und einen Schutzwall aufbauen. Dabei hatte er es mit seiner Idee, den Kontakt zu Jos Familie herzustellen, nur gut gemeint.
Julius’ Eltern lebten auch nicht mehr. Doch dies war nicht mit Jos Verlust vergleichbar. Julius versuchte sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn er seine Eltern bereits als Kind verloren hätte. Das Gefühl der Einsamkeit quetschte sich mit eiserner Faust um sein Herz. Die Beklemmung hatte ihn fest im Griff.
Erschöpft von den Gefühlen, die in seiner Brust tobten, eingelullt von der Stille, und geborgen unter der Wärme der Decke, schlief er ein, Jo immer noch fest an sich gedrückt.
***
Es war bereits dunkel, als Julius die Augen aufschlug. Im ersten Augenblick konnte er sich nicht entsinnen, wo er sich befand. Alle Gliedmaßen schmerzten. Jos Gewicht verhinderte, dass er sich auch nur ein Stück bewegen konnte. Er holte tief Luft. Das leise Atmen seines Freundes verriet ihm, dass auch Jo eingeschlafen war.
Er hatte Durst, wollte sich aber nicht bewegen. Zu schön war das Gefühl, den schlafenden Jo in seinen Armen zu halten. Julius schmunzelte über seine widersprüchlichen Bedürfnisse. Vorsichtig versuchte er, sich unter Jo hervor zu schieben und seine schmerzenden Glieder zu ignorieren. Mühsam erhob er sich und bettete Jos Kopf auf einem Kissen. Dann breitete er liebevoll die Decke über ihn.
Nachdem er es geschafft hatte, seinen schlafenden Geliebten auf dem Sofa abzulegen, ohne ihn zu wecken, begab er sich ins Bad, dehnte und streckte seine Glieder, erleichterte sich und wusch sich die Hände.
In der Küche holte er eine kleine Wasserflasche aus dem Kühlschrank und nahm einen kräftigen Schluck, dabei prüfte er, was sie vorrätig hatten. Eier, Speck, Tomaten und Gurken. Nicht berauschend, aber ein leckeres Abendessen ließ sich auf jeden Fall daraus zaubern.
Als er die Flasche ausgetrunken hatte, fing er an Salat, zu schnippeln. Sobald er damit fertig war, wollte er Jo wecken.
Als er so vor sich hin werkelte, erklang hinter ihm ein: „Hei“.
Julius drehte sich um.
Jo stand in der Küche. Sein Gesicht war vom Schlafen und Weinen verquollen.
Julius zog die Pfanne mit dem Speck-Ei-Gemisch von der Herdplatte, drehte sich zu Jo herum und schloss ihn in die Arme. „Hei. Essen ist gleich fertig.“
„Danke.“
Während sich Jo setzte und Julius den Tisch für sie deckte, entstand eine Pause. Jeder hing seinen Gedanken nach und versuchte, das Erzählte und das Gehörte noch einmal Revue passieren zulassen.
Julius brannte eine Frage auf der Zunge. Er musste sich mehrmals räuspern, ehe er sie stellen konnte. „Wann ist aus Jo-Hannes Jo geworden? – ’tschuldigung, du musst es mir nicht erzählen“, schob er schnell hinterher.
Jo blickte eine Weile auf seinen Teller vor sich, die Gabel in der Hand. „Ja, wann wurde aus Hannes Jo? … Das war vermutlich, als Gerüchte in der kleinen Stadt die Runde gemacht haben, und die Eltern meiner Kumpels ihnen verboten haben, mit mir zu spielen. Dass der Tod meines Vaters Selbstmord war, habe ich erst viel später erfahren. Die Leute waren wohl der Ansicht, dass alle aus unserer Familie geisteskrank seinen und dass das ansteckend wäre. Ich habe mich daraufhin immer mehr verschlossen. Also wurde ich zu Jo. Größer, stärker … nicht so verletzlich wie Hannes, der mit allen Menschen Gutfreund war. Hannes wollte alles wissen. Ihn interessierte, wie die Welt funktionierte. Fasziniert beobachtete er die Handwerker in ihren Werkstätten. Beobachtete in der Schreinerei wie Schubkästen repariert wurden, oder ein Tisch neu entstand. In den Autowerkstätten war es kaum anders. Da Hannes nie im Weg stand und mit seinen Fragen die Leute zum Lachen brachte, war er gerne gesehen. Ich konnte stundenlang Ameisen auf ihren Straßen beobachten, die meinen Weg kreuzten. Was für ein Gewusel. Oder, wie sich Blätter im Wind bewegten. In den Pfützen ließ ich Boote schippern, nur um herauszufinden, welches Papier am besten dafür geeignet war. Einmal hatte ich ein Stiefmütterchen entdeckt, das sein Köpfchen durch die asphaltierte Straßendecke streckte. Welch enorme Kraft in der Natur steckt. Hannes freute sich über jedes Detail, das er neu entdeckte, und erzählte allen davon. Ich wollte nie mehr so verletzt werden. Aber das ging mit Hannes nicht. Jo dagegen war unantastbar.“
„Und … und deine Mom …?“
Jo presste die Lippen zusammen, wich Julius’ Blick aus und schüttelte den Kopf.
In Julius brannte das schlechte Gewissen. „Ich hätte dich fragen sollen, bevor ich Ruth schreibe. Es tut mir leid, all das wieder hervorgeholt zu haben.“
Jo blickte ihm in die Augen. Ein leichtes Lächeln trat in sein Gesicht. „Schon gut. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich die ganze Zeit davor gedrückt, Tante Ruth und Onkel Tom gegenüberzutreten.“
Julius langte mit der Hand über den Tisch, griff nach Jos Finger und streichelte mit dem Daumen sanft über den Handrücken. „Du hast also nichts gegen ihren Besuch?“
„Nein, es ist okay.“
Gemeinsam beendeten sie ihre Mahlzeit. Während Julius die Küche säuberte, holte Jo den traurigen Nachmittagsrest, bestehend aus kaltem Kaffee und staubtrockenem Plunder, aus dem Wohnzimmer. Das gemeinsame Aufräumen hatte auf beide eine beruhigende Wirkung. Die angespannte Stimmung verflüchtigte sich, und als sie später zu Bett gingen, schliefen sie eng aneinandergeschmiegt ein.
***
Jo stand am Fenster und blickte gedankenverloren in den erwachenden Tag. Es war noch ruhig draußen, der Zeitungsmann das einzig Lebendige, das er auf der Straße entdeckte.
Julius schlief noch. Sie wollten die wenige Zeit, in welcher der Truck zur Wartung in der Werkstatt stand, nutzen, um Urlaub zu machen und sich zu erholen. Entspannte Tage, frei von Termindruck. Wie hatte er sich gestern nur so hängen lassen können, einen kostbaren Tag dieser seltenen Ruhephase zu vergeuden? Nicht einen Gedanken hatte er an Julius verschwendet. Wie es ihm mit all dem gehen musste. Hätte er bloß früher darüber gesprochen, wäre es gestern nicht so ausgeufert.
Julius. Wenn Jo an ihn dachte, ging ihm wie immer das Herz auf und eine Woge intensiver Wärme durchströmte ihn. Seit er damals in seinen Truck gestiegen war, hatten sie jeden Tag zusammen verbracht. Niemals wäre ihm eingefallen, dass seine Vergangenheit ihre Beziehung noch inniger werden lassen könnte. Julius hatte ihm gezeigt, dass Jo wirklich in allen Lebenslagen mit ihm rechnen konnte.
Jo ging in die Küche, um Frühstück für sie beide zuzubereiten, und warf einen Blick auf den Zettel mit den Notizen für die Tageserledigungen. Die Pause, die ihnen die Wartung des Trucks bescherte, nutzten sie für verschiedene Behördengänge, oder auch mal nur, um entspannt Essen zu gehen. Eben all das, was unterwegs kaum möglich war.
Jo war so in Gedanken, dass er nicht bemerkte, wie Julius auftauchte. Erst als sich Arme von hinten um ihn schlossen und ein raues „Morgen“ warm in sein Ohr tönte, bemerkte er, dass er nicht mehr alleine auf war. Sofort fühlte sich Jo geborgen und lehnte sich gegen den Körper hinter. Er ließ den Kopf in den Nacken fallen, legte ihn auf Julius’ Schulter. Genießerisch schloss er die Augen.
„Was steht an, Wölfchen?“, brummte Julius ihm ins Ohr.
Jo seufzte. „Eigentlich Einkauf, aber da du Ruth hierhergebeten hast, weiß ich es nicht so genau.“
Julius hob den Kopf, um sich umzusehen. Dann schob er Jo von sich, was dieser mit einem Laut der Empörung quittierte.
„Stimmt, die Bude ist nicht besonders glamourös. Du solltest Ruth übrigens antworten. Ich denke, dass sie nicht kommen werden, wenn du ihnen nicht noch einmal sagst, dass du sie gerne sehen würdest.“
„Du hast recht. Ich schreib’ ihr gleich.“
„Warum schreiben? Ruf sie an.“ Damit verschwand Julius ins Badezimmer. Sekunden später ertönte das Rauschen der Dusche.
Das Smartphone in den Händen scrollte Jo immer wieder die Kontaktliste rauf und runter, als wäre es ein Flipperspiel. Er fürchtete sich davor, nach all den Jahren seine Tante anzurufen. Vom Badezimmer hörte er, wie die Dusche abgestellt und kurz darauf der Wasserhahn am Waschbecken betätigt wurde.
Frisch rasiert betrat Julius kurz darauf die Küche und blickte auf das Handy in Jos Fingern. „Du hast noch nicht angerufen?“
Nervös kaute Jo auf der Unterlippe herum.
„Ach Wölfchen.“ Julius ging auf ihn zu und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Nur Mut, sie lieben dich. Sie freuen sich bestimmt, von dir zu hören.“
Jo presste die Lippen zusammen und sah Julius unsicher an, dann nickte er entschlossen und wählte die Telefonnummer seiner Tante. Mit nervösem Bauchweh lauschte er dem Freizeichen. Kurz war er versucht, aufzulegen und noch eine Gnadenfrist herauszuschinden. Warum jetzt im Januar? Warum nicht im Sommer?
„Ja. Bitte?“, meldete sich plötzlich eine Stimme aus dem Smartphone. Jos Hände begannen zu schwitzen. „Ähm … Hi, ich bin’s …“
Ein ohrenbetäubendes Kreischen und Juchzen drang aus dem Telefon. Jo hielt das Handy vom Ohr weg. Das heulende Gejubel war so laut, dass es sogar Julius hören konnte. Er musste sich das Lachen verkneifen.
„Haaaannnneees … Juuunnnge, oh Gott, oh Gott, oh Gott, Liebling, ich freu mich so, dass du anrufst … Tooooooommmm, es ist Hannes, Tom, Tom, komm schnell. … Oh mein Schatz, wie geht es dir?“
Gerührt über die Freude seiner Tante, kämpfte Jo darum, seiner Stimme einen festen Klang zu verleihen. „Gut …, sehr gut … Danke. Ich wollte … es ist … wir würden uns freuen, wenn ihr zu uns kommt.“
Plötzlich klang die Stimme seines Onkels durch den Hörer. „Johannes, ist es für dich wirklich in Ordnung? Ich meine, dass auch ich mitkomme?“
Einen Augenblick lang wusste Jo nicht, wie er reagieren sollte. „Natürlich, Onkel Tom, komm mit.“
***
Mit einem Schmunzeln im Gesicht beobachte Jo Julius’ Bemühungen, ihrer spartanisch eingerichteten Wohnung etwas mehr Glanz zu verleihen.
Bis auf ein paar persönliche Dinge, die Julius nicht in der Fahrerhaus unterbringen konnte oder wollte, schmückten diesen Raum nur zwei gerahmte Bilder. Das eine zeigte Julius vor dem nigelnagelneuen Truck. Rot, mit aufwendiger Airbrush-Lackierung, blitzte und funkelte er in der Mittagssonne, und Julius stand mit vor Stolz geschwellter Brust und verschränkten Armen davor, ein Grinsen im Gesicht, das die Freude über die Erfüllung seines größten Traums widerspiegelte.
Später war das Bild von Jo hinzugekommen. Darauf saß er hinter dem Lenkrad des Trucks. Im Vordergrund zeigte Julius die Daumen hoch. An diesem Tag war Julius übermütig gewesen wie ein Teenager.
Julius’ geschäftiges Treiben riss Jo aus seinen Überlegungen. Emsig wuselte er zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her. Wie konnten zwei Männer in wenigen Tagen so viel Schmutz machen? Um aus der Unruhe zu flüchten und seinen Gedanken besser nachhängen zu können, kümmerte sich Jo um den Glanz der Armaturen im Badezimmer. Im Truck war der Platz viel knapper, da achteten sie beide sehr darauf, alles penibel sauber zu halten. In der Wohnung hielten sie es eigentlich kaum anders, wenn auch offensichtlich weniger streng.
Zum Abschluss trugen sie den kleinen Tisch und die beiden Stühle aus der Küche ins Wohnzimmer und borgten sich vom Nachbarn noch zwei weitere Sitzgelegenheiten aus. Julius kaufte extra Geschirr, damit sie alle von Tellern der gleichen Garnitur speisen konnten, ebenso eine Tischdecke, Servietten und einen Kerzenständer samt Kerze. Ein kleines Blumengesteck vom Floristen zwei Straßen weiter vollendete ihre Bemühungen.
Im Gasthaus um die Ecke bestellten sie ein Menü für vier Personen. Das Essen würde zum vereinbarten Zeitpunkt geliefert werden. Zuerst wollte Jo, dass sie auswärts essen gingen, aber Julius meinte, da sie sich schon so lange nicht mehr gesehen hätten, wäre es besser, die Themen, die angesprochen werden mussten, in privater Atmosphäre zu klären.
Ein Blick auf sein Handy verriet Jo, dass seine Verwandten bald ankommen würden. Es schien, als wäre Julius genauso nervös wie er selbst. Seine Geschäftigkeit trieb seltsame Blüten. Zum x-ten Mal öffnete er die Kühlschranktür und prüfte mit der Hand die Temperatur der Getränke, als ob sich daran in den letzten fünf Minuten etwas geändert hätte. Er stellte die Gläser mit dem Nachtisch wieder ein Fach höher, schloss die Tür, wischte mit den Händen über seine Jeans und pfriemelte am Kragen seines neuen Hemdes herum.
Als Julius vor zwei Tagen mit dem edlen Teil angekommen war, hatte sich Jo ein Grinsen nicht verkneifen können. Dieses Stück Stoff war so gar nicht das, was Julius üblicherweise trug. Zu seiner Überraschung hatte Julius ihm ebenfalls ein Hemd mitgebracht, das er vor einer Stunde angezogen hatte. Jedoch nur, weil Julius ihn mit einem skeptischen Blick gemustert hatte, als er Anstalten machte, sich in alten Jeans und Sweatshirt zu präsentieren.
Julius gab ihm Rätsel auf. Sein sonst so souveräner Partner benahm sich, als käme die Queen zu Besuch. Dabei war es nur Jos Tante. Okay … Onkel Tom kam auch. Die Begegnung mit ihm fürchtete Jo mehr, als er es sich eingestehen wollte. Onkel Thomas oder auch Onkel Tom konnte jedoch nichts dafür.
Tom war der Zwillingsbruder von Jos Vater. Die Brüder waren sich in Aussehen, Stimme und Gestik so ähnlich, dass Jo bereit gewesen war, an die Auferstehung von den Toten zu glauben. Immer, wenn er seinen Onkel sah oder nur hörte, glaubte er, es wäre sein Vater. Sogar seine Schritte klangen ähnlich. Die Tatsache, dass die beiden ganz unterschiedlich im Charakter waren, hatte er damals nicht verarbeiten können. Diese Ähnlichkeit war es auch gewesen, die Jo veranlasst hatte, abzuhauen. Heimlich hatte er seinen Rucksack gepackt und lediglich einen Zettel hinterlassen, dass er weggehen müsse. Dass er dankbar dafür wäre, was sie für ihn getan hatten, er aber dennoch nicht bleiben könne. Freiwillig hätten sie ihn niemals gehen lassen.
Seit damals war er unterwegs gewesen, hatte regelmäßig Postkarten geschickt und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, bis er Julius getroffen hatte.
Als die Türklingel ertönte, wuselte Julius gerade in der Küche herum, um die gelieferten Speisen in Schüsseln und Terrinen zu füllen. Um sie warmzuhalten, stellte er sie in den vorgewärmten Backofen.
„Da sind sie“, rief Julius aufgeregt.
Als hätte Jo es nötig, darauf aufmerksam gemacht zu werden, dass seine Tante und sein Onkel vor der Tür standen. Seine Hände schwitzten. Bevor er den Öffner betätigte, rieb er seine Hände an der Jeans trocken.
Im Treppenhaus erklangen eilige Schritte. Es schien, als wollten seine Verwandten im Dauerlauf den zweiten Stock erreichen. Schon sah er am Treppenabsatz die strahlenden Gesichter seiner Tante und seines Onkels – und plötzlich wurde ihm bewusst, wie sehr er die beiden vermisst hatte.
Einer spontanen Eingebung folgend, lief er ihnen entgegen und umarmte sie gleichzeitig. Seine Tante herzte ihn immer wieder aufs Neue. Sein Onkel klopfte ihm beständig die Schulter.
Zwischenzeitlich war auch Julius an die Tür gekommen und betrachtete die zu Herzen gehende Familienzusammenführung. Er räusperte sich und sofort flogen die Blicke der kleinen Familie zu ihm.
„Wollt ihr nicht reinkommen?“, fragte Julius und trat einen Schritt beiseite.
Nun wurde sich auch Jo seiner Manieren bewusst und stellte Julius seine Tante und seinen Onkel vor. Als er Toms Vornamen – Thomas – vollständig aussprach, verbesserte ihn dieser. „Nenn mich einfach Tom.“
Ruth fasste sich ein Herz. „Also, Sie sind der junge Mann, dem wir es zu verdanken haben, dass wir Hannes wiedersehen dürfen.“
Etwas verlegen gab Julius ihr die Hand. „Julius. Sagen Sie einfach du, das reicht vollkommen.“
„Dann wollen wir das auch so haben, Ruth und Tom für dich.“ Ein Lächeln umspielte Ruths Lippen.
Nachdem sie ihre Mäntel abgelegt hatten und von Jo mit Getränken versorgt worden waren, ließen sie sich am Esstisch im Wohnzimmer nieder. Julius und Jo bewegten sich wie ein eingespieltes Team zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her, bis alles aufgetragen war. Unverfänglich unterhielten sie sich über das Wetter und lobten den Koch des Restaurants. Die eine oder andere Anekdote aus dem Alltag lockerte die Stimmung auf.
Als alle satt waren, räumte Julius den Tisch ab und verschwand in der Küche, um den Nachtisch aus dem Kühlschrank zu holen und die Kaffeemaschine in Gang zu setzen.
Tante Ruth kramte in der Zwischenzeit in ihrer Tasche und zog ein fein verschnürtes Bündel hervor, das sie auf dem Tisch platzierte. Als sie Jos Blick auffing, meinte sie: „Das sind deine Postkarten – und die Briefe, die Julius geschrieben hat.“
In diesem Augenblick trug Julius das Tablett mit dem Kaffeegeschirr und den Desserts ins herein. Jo sah, dass sich seine Wangen leicht röteten. Das Thema ‚heimliche Briefe’ war noch nicht ganz durch. Dabei war Jo für Julius’ Initiative inzwischen sehr dankbar. Wer wusste schon, wie lange er sich noch davor gedrückt hätte, den Kontakt wieder zu intensivieren.
„Bub, nun erzähl schon, wie ist es dir ergangen? Deine Postkarten haben uns nur verraten, wo du gerade steckst, aber nicht, ob es dir wirklich gut geht. Wir haben uns gewundert, dass wir plötzlich Karten aus Spanien und Portugal bekommen haben. Kurze Zeit später sind dann welche aus Ungarn und Rumänien gekommen. Wir haben schon geglaubt, dass du ein Motorrad besitzt, oder als Matrose angeheuert hast. Über jede Karte, die gekommen ist, haben wir uns riesig gefreut und überlegt, was du erlebt haben könntest. Erst Julius’ Briefe haben für etwas Klarheit gesorgt.“
Jo grinste. Matrose zu werden, wäre nicht einmal eine schlechte Idee gewesen, aber die war ihm nie gekommen. Um seine Verwandten nicht unnötig auf die Folter zu spannen, fing er an zu erzählen.
„Na ja, ich war auf der Straße unterwegs. Per Anhalter oder zu Fuß. Hab mal hier und mal da ausgeholfen, meist bei Bauern oder in Kneipen. Gerade so lange, bis es gereicht hat, um weiterzuziehen. Ich habe nicht vorgehabt, mein Leben dauerhaft auf der Straße zu verbringen, aber ich habe nichts mit mir anzufangen gewusst.“
Tom meldete sich zu Wort: „Ich bedaure immer noch, dass du nie mit mir klargekommen bist. Du hast immer mehr dichtgemacht. Ich habe hundertmal überlegt, was ich falsch mache. Ich konnte einfach nicht an dich herankommen. Im Nachhinein gesehen hätten wir wohl eine Therapie für dich suchen sollen, aber die Gerüchte haben so schon monströse Blüten getrieben, egal wie sehr deine Tante oder ich dagegengehalten haben. Wir wollten nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen. Du hast schon genug aushalten müssen. Wie lange hätte es wohl gedauert, bis raus gekommen wäre, dass wir dich zu einem Seelenklempner bringen? Es tut mir aufrichtig leid, dass wir diesen Schritt für dich nicht gewagt haben. Dass du verschwunden bist, hat uns hart getroffen, doch es ist meine Schuld.“
„Ja, vielleicht wäre eine Therapie wirklich hilfreich gewesen, vielleicht auch nicht. Dafür hab ich jetzt Julius. Hätte ich mich nicht auf den Weg gemacht, wären wir zwei uns vielleicht nie begegnet.“ Während er das sagte, blickte Jo seinem Liebsten in die Augen und griff über den Tisch nach seiner Hand.
Zärtlich umfasste Julius seine Finger. „Stimmt. Als ich dich aufgegabelt habe, war ich hin und weg.“
„Wir freuen uns sehr für dich, dass du einen tollen Mann als Partner gefunden hast.“ Ruth betrachtete die Bilder. „Du hast einen eigenen Lkw?“
„Truck, Lady, einen American-Truck. Ja, das ist meiner. Mit allem Schick, den man sich vorstellen kann. Am Montag geht es wieder los.“
„Hannes … entschuldige, natürlich Jo, ich muss mich erst daran gewöhnen. Was machst du, wenn Julius unterwegs ist?“ Sie sah sich in der kargen Wohnung um. „Bleibst du alleine hier zurück?“
Jo grinste. „Natürlich nicht. Ich fahre mit. Wir wechseln uns ab. Ich hab in dem Jahr, in dem wir uns kennengelernt haben, den Führerschein gemacht. Julius hat eine Weile gebraucht, bis er sich wirklich entspannen konnte, wenn ich am Steuer sitze. Das Bild an der Wand zeigt mich an dem Tag, an dem ich die Prüfung bestanden habe.“
Nicht ohne Stolz verkündete Julius: „Wir ergänzen uns hervorragend. Inzwischen kann ich sogar schlafen, wenn Jo unser Baby fährt. Ich muss nicht mehr mitbremsen und mitlenken, zumal Jo davon nur abgelenkt wird, wenn ich ohne Pedale und Lenker so tue, als würde ich fahren.“
Mit einem Lachen fügte Jo hinzu: „Julius ist ein miserabler Beifahrer. Einmal war ich drauf und dran, ihn aussteigen und laufen zu lassen.“
So verging der Nachmittag. Jo pickte aus den Postkarten diejenigen heraus, die er geschrieben hatte, seitdem er mit Julius unterwegs war, und las sie noch mal. Sie erzählten von den Städten, durch die sie gekommen waren, und hatten die eine oder andere Anekdote im Gepäck. Während sich Jo immer mehr entspannte und den Besuch sichtlich genoss, wurde Julius immer nervöser. Er hatte Hummeln im Hintern. Immer wieder stand er auf, um irgendetwas zu bewegen, fragte nach, ob noch jemand Kaffee oder etwas anderes zu trinken wünschte, nur um die Fragen nach zehn Minuten zu wiederholen. Unter dem Tisch ziepte er an seinen Fingernägeln und scharrte unruhig mit den Füßen.
„Was ist los?“, fragte Jo schließlich.
Julius zuckte ertappt zusammen.
Ein Lächeln umspielte die Mundwinkel seiner Tante.
„Tante Ruth, was habt ihr zwei ausgebrütet?“
„Nichts“, erwiderte sie schmunzelnd. „Geheimnisse, die nicht mein, werd ich nicht verraten.“
Jo blickte seinen Freund an und wartete auf eine Antwort.
Dieser kaute auf der Unterlippe und nuschelte nur: „Ich hab eine Überraschung für dich und weiß nicht, ob sie dir gefällt.“
„Oh, dann würde ich vorschlagen, dass du damit rausrückst, damit wir es herausfinden können.“
Inzwischen machte sich auch bei seinem Onkel ein breites Grinsen auf dem Gesicht bemerkbar. Es hatte den Anschein, als wäre auch er eingeweiht – in was auch immer diese Überraschung bereithielt.
Schließlich erhob sich Julius und verließ den Raum.
Als Jo hinterher wollte, hielt ihn seine Tante zurück. „Bleib, er kommt gleich wieder.“
Eine Schranktür klapperte, Gläser klirrten leise, dann erschien Julius in der Tür, eine Hand hinter dem Rücken verborgen. Er ging auf Jo zu und blieb vor ihm stehen. Verlegen zog er mit der Fußspitze Kreise über den Boden und hielt den Blick gesenkt.
Dann gab er sich einen Ruck, kniete sich vor Jo hin, hob den Kopf und sprach ein bisschen krächzend und ein bisschen schnell: „Johannes, mein Augenstern, mein Wölfchen, mein Begleiter, wir sind Partner auf der Straße, mit dem Truck und überhaupt. Ich kann mir ein Leben ohne dich an meiner Seite, nicht mehr vorstellen. Wenn es dir ebenso geht wie mir, dann … ich wollte … dass wir … willst du mein Mann werden? So richtig mit Trauschein und allem, was dazugehört?“
Während er die Frage stellte, zog er mit zitternder Hand eine Rose hervor, die er hinter seinem Rücken verborgen hatte, und hielt sie Jo entgegen. An einem weißen Bändchen, das um den Stiel gewickelt war, blitzte ein Ring, der durch Julius’ Nervosität tanzte, als wäre er ein Schmetterling. So harrte er der Antwort. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
Perplex, mit offenem Mund, blickte Jo Julius an und konnte nicht fassen, was er eben gefragt wurde.
„Und? Was sagst du …? Darf ich dich zu meinem König machen, am Dreikönigstag?“
„Ja.“ Jo fiel ihm um den Hals, küsste ihn wild und ungestüm.
Julius hatte damit zu kämpfen, sie beide im Gleichgewicht zu halten. Eine ganze Weile hielten sie sich eng umschlungen, drückten sich so fest sie konnten.
Onkel Tom ließ ein lautes „Bravo!“ erklingen. Tante Ruth klatschte vor Freude in die Hände.
Jo und Julius nahmen die Glückwünsche der beiden gerne entgegen.
„Das ist also die Sache, die ihr in der Nähe zu erledigen hattet?“, fragte Jo.
Beide nickten. Tom antwortete: „Julius wollte ein wenig Familie dabei haben, wenn er seinem Schatz den Antrag macht. Es gehört sich so, hat er gemeint.“
„Ich wusste gar nicht, dass meinem Bären Familie so wichtig ist.“
Jo hatte eine für ihn noch unbekannte Seite an Julius entdeckt.
***
Wie vorab mit Julius heimlich besprochen, ging Tom in die Küche und holte das von Julius vorbereitete Tablett mit den Sektkelchen, damit sie zu Feier des Tages auf die Zukunft anstoßen konnten.
Julius war sich nicht sicher gewesen, ob er seinen Antrag heute stellen sollte. Sie waren damals erst ein knappes halbes Jahr zusammen unterwegs gewesen, als sie am 6. Januar in Barcelona wegen des Feiertags nicht weiter konnten. Die Atmosphäre der Stadt war angefüllt mit guter Laune und Festtagsstimmung gewesen: ein zweites Weihnachtsfest. In Spanien brachten die Heiligen Drei Könige die Geschenke. Ein Angestellter der Spedition, der ihre Ankunft zufällig mitbekam, hatte sie am Vorabend spontan eingeladen, den nächsten Tag mit ihm und seiner Familie zu verbringen. Sie hatten den Tag bei Juan mit feiern und gutem Essen verbracht und mit ihm Freundschaft geschlossen.
Es wurde ein ganz besonderer Tag für sie beide. In dieser Nacht hatten sie sich zum ersten Mal geliebt und einander immer wieder aufs Neue geschenkt.
Wegen des Antrags war Julius so nervös gewesen wie sonst was. Dabei hatte er sich alles supertoll ausgedacht und extra einen Königskuchen besorgt, in dem er den Ring für Jo verstecken wollte. Dann war ihm gekommen, dass seine Naschkatze den Ring vielleicht verschlucken könnte. In seinem Kopf hatte sich eine peinliche Tragödie abgespielt, in der Jo Abführmittel nehmen musste, um an den Ring zu gelangen. Stundenlange Sitzungen auf einer separaten Toilette, um hinterher im Ergebnis zu wühlen. Nein, das hatte Julius seinem Wölfchen nicht antun wollen.
Die Rose hatte er nach dem Einkauf schnell im Schrank versteckt. Nachts war er aus dem Schlaf hochgeschreckt und auf leisen Sohlen durch die Wohnung geschlichen, weil ihm siedend heiß eingefallen war, dass die Blume ohne Wasser am nächsten Tag nicht besonders edel aussehen würde. Also hatte er sie mitten in der Nacht mit einem Glas Wasser versorgt.
Er hatte einen Antrag wie aus einem Bilderbuch vorbereitet. Vergeblich. Aber dann hatten ihm die schön zurechtgelegten Worte vor Aufregung nicht mehr einfallen wollen. Im Vorfeld hatte er sich stundenlang das Hirn zermartert, wie und was er alles sagen wollte, sich jede Menge Inspiration im Internet geholt – und dann: alles weg. Es war zum Haare raufen.
Etwas scheu stellte ihm Jo dann auch die Frage, ob er für sich selbst denn keinen Ring besorgt hatte. Er würde gerne nach außen hin zeigen, dass sie ein Paar waren.
Da klatschte sich Julius an die Stirn. Ich Esel. Seinen eigenen Ring hatte er vergessen. Er rannte ins Schlafzimmer und durchwühlte seine Wäsche nach der Schachtel. Mit einem entschuldigenden Lächeln und verlegenem Schulterzucken übergab er Jo den Ring, damit er ihn ihm an den Finger stecken konnte.
Aus dem Nachmittag wurde Abend. Da Ruth und Tom eigentlich gar nicht so lange hatten bleiben wollen, organisierten sie das Abendessen über einen Lieferservice. Es wurde ein sehr fröhliches Beisammensein und es gab viel zu erzählen. Jeder bat an diesem besonderen Tag um Verzeihung und alles wurde vergeben. Man versprach sich, es nie mehr so weit kommen zu lassen, dass eine Entschuldigung nötig war. Julius und Jo sagten zu, auf einen Kaffee vorbeizukommen, wenn sie in Ruths und Toms Nähe waren.
Als sich Ruth und Tom auf den Heimweg machten und sich von ihnen verabschiedeten, umarmte Jo seinen Onkel sehr lange, um ihm zu zeigen, dass er nichts dafür konnte, dass die Dinge so waren, wie sie waren. Es war das stumme Versprechen, seinem Onkel eine Chance als eigenständige Person zu geben.
Zusammen räumten sie die Wohnung auf, wobei sie sich immer wieder verliebte Blicke zuwarfen. Sie strahlten um die Wette. Jo wollte platzen, so angefüllt war er mit Glückshormonen. Wie sehr hatte er sich vor der Begegnung mit seinen Verwandten gefürchtet, hatte sich alle möglichen Szenarien ausgemalt, wie dieser Tag hätte verlaufen können. Nichts davon war eingetroffen. Als Prophet taugte er wohl nicht.
Sie waren mit dem Aufräumen noch nicht fertig, da trat Julius zu ihm und nahm ihn bei der Hand. „Komm, lass stehen, Morgen ist auch noch Zeit dafür.“
Nur zu gerne folgte Jo ihm ins Schlafzimmer. Eine weitere von Julius’ Ideen, die mehr als nur Jos Zustimmung fand.
ENDE
Texte: Alles bei mir
Bildmaterialien: Alles bei mir
Cover: Alles bei mir
Lektorat: Kooky Rooster, AnBi Öz
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2018
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ein ganz herzliches Dankeschön an Anbi ÖZ für ihr Beta lesen ,
und ein dickes Dank an Kooky Rooster für den "Tirtt in den Hintern", den ich anscheind benötige :)