Namen und Orte sind zum Schutz aller Beteiligten geändert.
Alle Täter haben eine Mutter. Die Mütter können ebenso traumatisiert sein wie die Opfer.
Es fällt mir schwer, zu glauben, dass mein Sohn seiner Tochter DAS angetan hat. Ich frage mich, was ich in der Erziehung verkehrt gemacht habe.
In Teil 1 werden die Gefühle von Anna, dem Opfer, dargestellt.
Teil 2 schildert meine Gefühle als Mutter, in gewisser Weise ebenfalls Opfer, gegenüber meinem Sohn, dem Täter.
Die Ausdrucksweise – Schreibstil – ist so gewollt und hat einen Sinn. Wenn Sie das Buch lesen, werden Sie verstehen.
Anna war verwahrlost. Allein das ist schon schlimm für ein Kind. Dann die Trennung von der Mutter. Hinzu kommt der spätere Missbrauch vom eigenen Vater.
Leider ist Anna kein Einzelfall. Die Dunkelziffer verwahrloster, misshandelter und/oder missbrauchter Kinder ist hoch.
Ich bin eine Tätermutter.
Keine Täterin.
Ich verstehe, wenn sich Tätermütter nicht zu Wort melden.
Aus Scham.
Aus Angst, versagt zu haben.
Teil 1
Anna und Oma
Dicke Kullertränchen rannen über Annas Gesicht. Anna stülpte ihre Unterlippe vor und schaute mit großen traurigen Augen.
Ganz lieb und vorsichtig nahm die Oma Anna auf den Schoß. Anna kuschelte sich ganz eng an sie.
Auch der Oma kullerten dicke Tränen übers Gesicht. So weinten beide eine Weile stumm und eng aneinandergekuschelt.
»Oma, warum weinst du? «, flüsterte Anna.
»Weil ich deinen Schmerz fühle, mein Kind. «
»Meinen Herzschmerz?«
»Ja.«
»Oma, darf ich nie mehr zu meiner Mama? «
»Doch, natürlich. Wenn du willst, rufe ich deine Mama an, und dann kannst du sie am Wochenende besuchen. «
»Aber Mama will mich nicht behalten. «
Oma seufzte schwer. Wie sollte sie Anna erklären, warum sie nicht mehr bei ihrer Mama wohnen kann.
»Weißt du Anna, deine Mama hat dich sehr lieb. Und weil sie dich so lieb hat, sich aber nicht so gut um dich kümmern kann, hat sie mich gefragt, ob ich mich um dich kümmern kann. Weil ich dich ganz doll lieb habe, hab ich – Ja – gesagt. «
Anna kuschelte sich noch enger an sie, seufzte ein paarmal schwer und schlief ein.
Während Anna schlief, kamen Oma viele Gedanken.
Annas Mama war nicht immer gut zu Anna.
Oft hatte Anna nichts zu essen bekommen. Mal einen Joghurt oder eine Milchschnitte. Wenn sie Glück hatte, kochte die Mama Nudel. Dazu gab es Ketchup.
Wenn Annas Mama nicht kochte, ging Anna auf Essenssuche.
Aß vergammelte Nudeln. Oder altes hartes Brot. Oder trank die sauren Milchreste aus den Nuckelflaschen ihrer Geschwister.
Und wenn sie ganz viel Hunger hatte, trank sie ganz viel Wasser aus dem Wasserhahn. Davon bekam Anna einen dicken, runden Bauch.
Anna hatte oft Bauchschmerzen.
Und Hunger.
Und einen wunden Popo. Weil Anna nur einmal am Tag eine neue Windel bekam.
Anna roch auch nicht so gut, als sie noch bei Mama wohnte. Selten wurde Anna gebadet. Ihre Sachen waren schmutzig und kaputt.
Die Badewanne konnte nicht benutzt werden, weil sie bis obenhin voll war, mit alten vollen Windeln.
Aber trotzdem hatte Anna ihre Mama lieb. Und jetzt hatte Anna Heimweh.
Ein kleines Herz mit ganz großem Schmerz.
Anna wohnt seit einiger Zeit bei Oma.
Die Eltern waren nicht nett zu Anna. Besonders der Vater.
Anna hat seitdem Albträume.
Oma versucht, Anna zu helfen, damit sie glücklich ist. Sie freut sich, wenn Anna lacht und einen schönen Tag hatte.
Anna fühlt sich bei Oma wohl und macht ihr hin und wieder eine ganz besondere Freude. Und manchmal macht die Oma Anna eine Freude.
Oma freut sich, wenn Anna sich freut, und Anna freut sich, wenn die Oma sich freut. Auch wenn nicht immer alles Freude ist. Besonders dann wenn Anna wieder Albträume hat.
Omas altes Auto klapperte hier und klapperte dort.
»Wir brauchen ein neues Auto«, sagte Oma zu Anna.
»O nein«, jammerte Anna, »nicht mein schönes Auto«, und umklammerte das alte, kleine Auto. »Mein liebes, liebes Auto«, seufzte Anna.
Oma erklärte Anna, dass das Auto schon ganz alt sei und bald auch ganz kaputt.
»Aber du bist doch auch schon ganz alt und noch nicht kaputt«, rief Anna.
Oma musste lächeln. »Schau mal, ich kann nicht mehr so schnell laufen wie du und nicht so weit springen und hüpfen. Das kannst du viel besser als ich, weil du viel jünger bist. Dieses Auto kann nicht mehr so viel fahren und nicht mehr so schnell und nicht mehr so weit. Wir beide fahren aber viel und weit mit dem Auto. Zum Beispiel in die große Stadt, wenn du deine Mama besuchst. Das schafft unser kleines Auto nicht mehr. Wir werden uns morgen ein anderes anschauen, ja?«
»Hm … na gut », maulte Anna.
Die Frau vom Autohaus war sehr nett. Sie erklärte Anna, dass Omas altes Auto eine lange Reise machen würde. Bis nach Afrika. Anna fand das toll und gab sich mit der Erklärung zufrieden, denn Oma hatte sich ein neues kleines Auto ausgesucht, das viel größer war als das alte.
Anna hatte sich auf jeden Sitz gesetzt und hatte auch das Lenkrad ausprobiert und die Spiegel verstellt. Ganz besonders gut gefielen ihr die elektrischen Fensterheber.
Stolz sind Oma und Anna mit dem neuen Auto nach Hause gefahren.
Unterwegs musste Oma tanken. An der Tankstelle stellte Oma fest, dass der Tankdeckel auf der anderen Seite war, und musste deshalb das Auto umparken.
Am nächsten Morgen war Anna schon ganz aufgeregt und zappelte am Frühstückstisch.
»Oma, wann fährst du mich endlich in den Kindergarten. Die anderen Kinder sollen doch auch unser schönes Auto sehen«, rief sie ungeduldig.
»Was ist das? «, rief Oma mit Entsetzen, als sie losfahren wollten.
Zwei dicke, fette Kratzer waren auf dem schönen neuen Auto. Direkt auf dem Tankdeckel.
»Das war ich«, meinte Anna fröhlich. »Ich habe dir mit einem Stein ein Kreuz aufgemalt, damit du nicht vergisst, wo du tanken musst! «
Oma wusste, dass es von Anna nur lieb gemeint war, und konnte deshalb nicht mit ihr schimpfen.
Das Kreuz ist auch heute noch auf dem Tankdeckel.
Anna hatte an ihrem vierten Geburtstag ein Fahrrad von Papa bekommen.
Damals war der Papa noch lieb und Anna war stolz auf ihren Papa. Er hatte kein Auto und fuhr immer mit dem Bus. Alle vier Wochen holte der Papa Anna übers Wochenende von der Oma ab.
Bei Mama konnte Anna nicht bleiben.
Annas Mama bekam ein Baby und noch eins und noch eins. Aber nicht von Papa. Nur Anna war von Papa. Mama konnte sich nicht mehr so gut um Anna kümmern.
Der Mann vom Jugendamt hatte die Oma angerufen und gefragt, ob Anna bei ihr wohnen könnte.
Seitdem wohnt Anna bei Oma.
Anna fuhr gerne mit Papa. Er hatte eine Fahrkarte.
»Wenn ich groß bin, möchte ich auch einen Schnurrbart und eine Fahrkarte«, sagte Anna.
Zum Geburtstag hatte Anna auch eine Fahnenstange mit einer rosa Fahne bekommen und natürlich einen Fahrradhelm. Anna lernte schnell ohne Stützräder fahren.
Flitz … wie der Blitz.
Eines Tages kam Anna ganz verstört von Papa wieder.
Zum Glück hatte Anna der Oma erzählt, was passiert war und Oma war ganz böse auf Papa geworden. Er durfte jetzt nicht mehr kommen.
Anna ist seitdem in Therapie.
An einem Sonntag ging die Oma mit Anna spazieren. Anna fuhr mit ihrem Fahrrad, und Oma ging zu Fuß.
Es war ein schöner Sommertag.
Anna durfte nur auf dem Bürgersteig fahren. Plötzlich radelte sie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Anja Hubel
Bildmaterialien: Anja Hubel
Lektorat: BuCHreif Lektorat und Korrektorat Christine Hochberger www.buchreif.de
Tag der Veröffentlichung: 04.04.2016
ISBN: 978-3-7396-4691-6
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