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Kapitel 1 • Liv

Eingequetscht zwischen einer Hochschwangeren mit Blähungen und einem adrett gekleideten Herren, der sich gerade die letzten Reste des Mittagessens aus den Zähnen puhlt, warte ich sehnsüchtig auf das Ende dieses Horrortrips, der sich Busfahrt nennt.
Da diese aber noch der angenehmere Teil des heutigen Tages sein wird, lehne ich mich zurück und schließe die Augen, bevor das nächste Desaster beginnen kann.
Wenn die überkorrekte Klassenlehrerin deines kleinen Bruders wutschnaubend anruft und verlangt den Lausbub sofort abzuholen, gelten anscheinend keine Ausreden.
Und so mache ich mich ohne Auto, bei brennender Hitze und mit genau fünf Dollar in der Tasche auf den Weg ins 60 Kilometer entfernte Biobauernhofparadies.
Wahrscheinlich nur um dann zu hören, dass ich noch nicht 21 sei und somit quasi gar keine Rechte im Umgang mit meinem Bruder hätte. Als ob ich das nicht wüsste nachdem es mir so ungefähr 12 Mal allein in den letzten paar Monaten erzählt wurde.
So gesehen ist dieser miefende überfüllte Bus doch eher ein Segen als ein Fluch und selbst ein sehr intensiver Verdauungsvorgang meiner Nachbarin ändert an diesem neuen Gedanken nichts.
Als sich der Bus dann nach geschlagenen 78 Minuten quietschend meiner Haltestelle nähert, schlängle ich mich durch die Menschenmenge hindurch, nehme einen tiefen Zug strenge Landluft und muss direkt Husten.
Stumm verfluche ich die kleine Stadtgöre in mir und steige endgültig aus dem Bus.
Alles was ich ausmachen kann sind Felder voller Mais und Weizen und einen kleinen grauen Bauernhof.
Er sieht klobig aus, eher praktisch als gemütlich.
Ich seufze, egal was Oliver verbrochen haben mag, er wird mir wohl dankbar sein ihn wieder mitnehmen zu müssen. Langsam nähere ich mich dem Bioparadies, indem mein Bruder eigentlich noch zwei Tage seiner Klassenreise verbringen soll. Ich straffe die Schultern und versuche eine selbstbewusste Miene aufzusetzen. Jetzt irgendwie eingeschüchtert rüber zu kommen, könnte die Fassade die wir uns seit Jahren aufbauen mit einem Schlag zerstören. Ich trete durch die Eingangspforte, über der in bunten Buchstaben „Biobauernhofparadies“ geschrieben steht, allerdings ist das auch schon alles was hier kindgerecht und farbenfroh ist. Das Hauptgebäude und die Scheune waren wohl mal rot lackiert sind mittlerweile aber so verwittert, dass es nur noch grau und trist wirkt. Auch Gras ist weit und breit keines zu sehen, überall gibt es nur Schotter und Kies. Vereinzelt stehen ein paar Bäume rum, von denen einer sogar schon abgestorben ist. In dem kleinen Hühnerstall vor der Scheune picken drei Hühner lustlos nach Korn und auf dem Spielplatz stehen insgesamt eine Schaukel, zwei Wippen und eine Sandkiste, bei der das Holz schon so vermodert ist, dass diese halb zusammen fällt. Welch ein schöner Ort für Kinder. Es beginnt zu Nieseln und ich erschauere einmal und verfluche mich keine Gummistiefel mitgenommen zu haben. Besonders als ich auch noch in einen Kuhfladen trete, der sich dem Matsch der Umgebung angepasst hatte.
„Verdammt."
„Du bist ja vielleicht Blöd.", begrüßt mich Oliver lachend. Mein kleiner Bruder sieht mich mit seinen großen braunen Augen an und hebt beschwichtigend die Hände als er den finsteren Blick bemerkt den ich ihm zuwerfe „Ich hab nichts schlimmes gemacht, Indianerehrenwort, Liv!".
Es gibt so ziemlich gar nichts was ich Oliver je böse nehmen würde, er gehört wohl zu der Art Menschen die man Glückskinder nennt, obwohl er in seinem Leben bisher alles andere als Glück hatte. Manchmal beneide ich ihn für seine kindliche Zufriedenheit und sein gutes und freies Herz.
Er reicht mir den kleinen Finger und ich will ihn gerade lächelnd ergreifen, da lässt eine schrille Stimme mich in der Bewegung inne halten: „Und Sie sind?".
Mit einem Schlag bin ich hellwach, aufgerichtet und mein Herzschlag verlangsamt sich. Ich musste sowas schon so oft machen, dass es in Routine übergegangen ist.
Ich drehe mich um und nehme eine kleine, korpulente Frau wahr. Olivers Lehrerin Mrs. Harper. Missgünstig mustert sie mich durch ihre Dicke mit einem Band befestigte Brille und wartet scheinbar auf eine Antwort.
Zielstrebig gehe ich auf sie zu und reiche ihr die Hand.
„Guten Tag Mrs. Harper, mein Name ist Liv Caulder, ich bin Olivers Schwester.", beginne ich, „Mein Vater ist heute leider verhindert und hat mich an seiner Stelle geschickt, wir hatten telefoniert." Ich bedenke sie mit einem kleinen lächeln, das ihr die Härte nehmen sollte, doch ihre Lippen bleiben geringschätzig verzogen. Was für ein Biest.
„Tja, das geht nicht, Sie sind minderjährig und nicht erziehungsberechtigt und haben keinerlei Rechte auch nur irgendetwas über Olivers schulischen Stand zu erfahren.", giftet sie.
Ich versuch es noch einmal mit einem Lächeln: „Ja, das stimmt, ich habe eine von ihm unterschriebene Vollmacht über sämtliche Oliver betreffende Informationen mit, falls das hilft?"
„Zeigen Sie mal her.", mit diesen Worten reißt sie mir das gefaltete Stück Papier förmlich aus der Hand und inspiziert es.
Dass G. Caulder in diesem Fall allerdings für Greyson Caulder, meinem älteren Bruder, und nicht für Gerald Caulder, meinem Vater, steht, kann sie so natürlich nicht erkennen. Unser Generalschlüssel scheint auch dieses Mal Wirkung zu zeigen.
„Ich muss dann trotzdem noch innerhalb der nächsten Woche mit ihrem Vater sprechen. Manche Dinge gehen Geschwister einfach nichts an."
Dass circa sieben 9-jährige neben uns stehen und aufmerksam lauschen, scheint sie überhaupt nicht zu stören, sie fährt einfach fort.
„Das wird leider nicht möglich sein, er befindet sich momentan auf einer Geschäftsreise in China und wird wohl erst in einigen Monaten wieder hier sein.", lüge ich gekonnt.
Sie schnaubt: „Das bedeutet dann wohl, dass Sie als minderjährige nicht erziehungsberechtigte Person alleine mit Oliver zusammen wohnen?"
„Nein. Das bedeutet, dass unser 21-jähriger Bruder mit uns zusammen wohnt. Und bevor Sie fragen", fahre ich schnell fort, „er ist heute leider ebenfalls nicht verfügbar und hat genau dieselben Rechte wie ich, etwas über Olivers Wohlbefinden und schulische Situation zu erfahren."
Ich sehe in ihr von roten Fransen umrahmtes absolut unergründliches Gesicht und muss Schlucken. Langsam werde ich nervös, was wenn sie herumschnüffelt und herausfindet, dass quasi alles was ich ihr erzählt habe eine einzige Lüge ist?
„Nun gut", sagt Sie, glücklicherweise, „aber richten Sie ihrem Vater aus, dass ich sein Verhalten missbillige, wenn ich ihn fordere hat auch er zu kommen." Innerlich verdrehe ich die Augen, nicke jedoch. Diese Frau wird schwer in Schach zu halten sein.
„Hier entlang", mit ihren langen Fingernägeln, die genau wie ihre Lippen und ihre Haare kirschrot sind, schiebt sie mich bestimmend weg. Die Kinder bewegen sich nicht, anscheinend wissen sie, dass sie bei diesem Gespräch nicht erwünscht sind. Leise tuschelnd laufen sie in Richtung Spielplatz, während wir die Scheune anpeilen. Ich bemühe mich langsam und ausgeglichen zu Atmen, egal was Oliver gemacht haben könnte, ich kann ihn absolut verstehen.
„Nehmen Sie bitte unverzüglich dort Platz", sagt sie auf einen Picknicktisch zeigend.
Selbst hier drin, kann man nichts Schönes entdecken.
Im hinteren Teil der Scheune steht eine Bar, von der noch eine Tür zur Küche abgeht, im vorderen Bereich stehen fünf Picknicktische, aber weder Servietten noch sonst irgendeine Dekoration steht auf dem Tisch, die Wände sind bis auf ein Schweinefoto kahl und auch Pflanzen kann man hier weit und breit keine entdecken. Ich war zwar noch nie im Gefängnis aber ungefähr so würde ich mir den Speisesaal vorstellen.
Ich nehme am Tisch ganz links Platz und warte, dass sie sich mir gegenüber hinsetzt, als das nicht passiert, werfe ich einen Blick zurück und sehe wie sie tatsächlich lächelt und jemanden zu sich heran winkt. Wer auch immer das ist, er muss ein heiliger sein, diese Frau zu knacken. Staunend warte ich auf die Ankunft meines Mithäftlings.
Kurze Zeit später setzen sie sich hin, eine lächelnde Mrs. Harper mir gegenüber und ein junger Mann neben mich. Sofort verändert sich die Atmosphäre. Mein Nacken beginnt zu jucken, ich bin angespannt und verkrampft, egal wer sich da grad neben mich gesetzt hat, ich kenne ihn.

Kapitel 2 • Vince

Schon als ich die Scheune betrete, weiß ich wer da sitzt. Ach Quatsch, seit ich diesen verfluchten Bauernhof betreten habe, weiß ich, dass sie es ist.
Ihre braunen Locken sind etwas länger geworden, aber ansonsten hat sie sich überhaupt nicht verändert.
In mir drin breitet sich ein Wirbelsturm der Gefühle aus, ich könnte in die Luft gehen. Aus zweierlei Gründen.
Alle Erinnerung an jedes ihrer Details ist sofort wieder da.
Die Erleichterung die ich verspüre, ist als ob Felsen oder sogar Berge von meinen Schultern abfallen.
Andererseits könnte ich mich selbst gegen die Wand klatschen hier her gekommen zu sein. Ich hätte meiner Mutter einfach sagen sollen ich hätte keine Zeit zu dem Gespräch mit seiner Lehrerin zu gehen oder ich sei Krank oder einfach irgendwas.
Stattdessen bin ich jetzt hier, neben ihr.
Und ja, ich hätte es nicht wissen können, das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe ist schon über zwei Jahre her.
Aber ich hätte diesen schrecklichen Bauernhof in dem Moment verlassen müssen, als ich gemerkt habe, dass sie hier ist. Ich hätte einfach umkehren müssen.
Doch natürlich bin ich es nicht, das gehört zu den Dingen, die ich noch nie konnte.
„Mr. McCain, Ms. Caulder", beginnt Mrs. Harper und lächelt. Boshaft. „Ihre Geschwister haben sich absolut unangemessen mir gegenüber verhalten und werden mit sofortiger Gültigkeit von der Klassenreise ausgeschlossen."
Für einen Moment herrscht Stille. Anscheinend warten Liv und ich beide darauf, dass Mrs. Harper fortfährt, doch das passiert augenscheinlich nicht.
„Und... ähm... wieso?", beginne ich und fühle mich leicht dümmlich.
Mrs. Harpers gequältes Lächeln verwandelt sich in einen hochnäsigen Ausdruck und sie trommelt mit ihren langen roten Fingernägeln auf dem Holztisch herum, was mich rasend macht.
„Timothy und Oliver haben sich gegen mich aufgelehnt und das wird diese Schule nicht tolerieren.", fährt sie endlich fort, was mich aber ehrlich gesagt auch nicht schlauer macht.
Ich höre Liv neben mir aufseufzen, es ist das erste Mal, dass sie sich regt, seit ich in die Scheune gekommen bin. Trotzdem bin ich mir absolut sicher, dass sie nicht weiß wer ich bin.
„Könnten wir eventuell die Ursache dieses Zerwürfnisses erfahren, damit wir unsere Brüder einer angemessenen Strafe unterziehen können?", fragt Liv. Ich bin kurz davor laut loszulachen, ob sie wohl weiß, dass ihr Versuch gehoben zu wirken, absolut aufgeflogen ist? Zumindest bei mir?
„Nun", fängt Mrs. Harper an, „Dieses Zerwürfnis hatte keine grundlegende Ursache, ich unterrichtete sie über die Verhältnisse in denen Bienen leben und Timothy und Oliver wurden aufmüpfig und warfen mir unangemessene Dinge an den Kopf."
Ich runzle die Stirn und versuche Mrs. Harper zu beschwichtigen: „Sind sie sicher, dass im Vorfeld nichts passiert ist? Jemanden einfach so anzugehen ist überhaupt nicht Timothys Art."
„Und Olivers auch nicht", fügt Liv hinzu, „Was genau haben die beiden Ihnen denn an den Kopf geworfen?"
Mrs. Harper wirft die Hände über den Kopf und gibt einen undefinierbaren wütenden Laut von sich, sie sieht mir direkt in die Augen als sie „Sie sagten ich sei..." sagt.
Doch sie wird von knarrenden Dielen unterbrochen. Drei Sekunden später stehen Timothy und ein anderer Schüler neben unserem Tisch.
„Wir haben nur das gemacht, was du auch gemacht hättest, Liv.", sagt der ebenso braun gelockte, kleine Kerl, den ich als Oliver identifiziere.
Bevor Liv darauf jedoch irgendwas erwidern kann, fängt Mrs. Harper an zu brüllen:
„Timothy, Oliver, das ist ein Gespräch zwischen Erwachsenen, ihr geht jetzt sofort zurück zu euren Klassenkameraden."
„Ich würde allerdings gerne ihren Standpunkt der Geschichte hören", werfe ich tiefenentspannt ein.
Auf Mrs. Harpers Stirn bildet sich eine kleine blaue Ader, die sich von ihrer linken Augenbraue bis in ihren Haaransatz zieht.
„Timothy und Oliver haben kein Recht hier auch nur irgendetwas zu erzählen, sie sind ihre Lehrerin verbal angegangen und können absolut, absolut froh darüber sein, dass ich sie noch nicht von der Schule geschmissen habe, was ich", sie hebt einen Finger zur Untermalung ihrer Worte „als stellvertretende Schulleiterin durchaus könnte."
Ich sehe wie Timothy sie drei Sekunden lang nachdenklich mustert und danach in meinem Gesicht nach irgendeiner Warnung sucht. Als er diese nicht findet legt er einfach los. Und ich war noch nie stolzer auf ihn: „Wir waren hinter der Scheune, da ist so ein Haus für Bienen. Mrs. Harper hat erzählt, dass das bei Bienen so ist, dass die Männer die Königin befruchten und dass die Frauen die Arbeiterinnen sind und nie auf die Idee kommen würden die Königin... ähm... anzubaggern und dass das System deswegen viel besser als bei Bienen. Und dann hat hat Oliver sich ganz normal gemeldet und gefragt ob es denn bei Bienen keine Schwulen und Lesben gibt und dann hat Mrs. Ha..."
„Untersteh dich Timothy, ich warne dich!"
Ich will gerade den Mund öffnen und Timothy bitten weiter zu reden und sehe wie Liv dasselbe macht, da beendet Oliver einfach Timothys Satz und fährt fort: „Mrs. Harper meinte irgendwie sowas wie: 'zum Glück nicht' oder so. Und dann hat Claire gesagt, dass das ja Schade ist, weil dann ja vielleicht gar nicht alle glücklich sind. Weil ihre Väter sind ja auch beide Schwul."
Mrs. Harpers Ader wird immer größer und sie streckt ihren Finger bedrohlich in Olivers Richtung, doch der lässt sich davon überhaupt nicht beirren.
„Dann hat Mrs. Harper gesagt, dass Claires Eltern ja auch nicht glücklich sind, weil Schwule in die Hölle kommen und verbrannt werden und dann war Claire natürlich ganz traurig. Und dann hat sie auch geweint."
„Und dann haben wir, vielleeeeicht gesagt, dass sie Scheiße ist und selber in die Hölle kommt und wir uns dann freuen. Aber nur vielleicht.", murmelt Timothy, den Blick auf seine blauen Turnschuhe gerichtet.
„Aber das war wirklich so! Wirklich!", sagt Oliver ängstlich an Liv gewandt und Timothy nickt energisch.
In solchen Momenten merkt man, dass man alles richtig gemacht hat. Ich würde nicht behaupten Timothy selbst erzogen zu haben, doch ich war schon zu großen Stücken daran beteiligt und es macht mich stolz zu sehen, dass er in den richtigen Momenten richtig handelt. Obwohl er glaubt das falsche zu tun.
Auch Liv sieht lächelnd zu Oliver und hält ihm ihren kleinen Finger hin, den dieser erleichtert ergreift.
Nicht ganz so glücklich sieht allerdings Mrs. Harper aus.
„Sie glauben diesen Rotzbengeln doch wohl nicht, ich bin eine gestandene Lehrerin und durchaus in der Lage dieses UNMÖGLICHE Verhalten ausgesprochen hart zu bestrafen, vor allem wenn ihre Geschwister nicht kooperationsbereit sind."
Ich sehe sie an und muss mir ein Lachen verkneifen, merkt sie eigentlich wie lächerlich sie sich gerade macht?
„Sie. Können. ALLE. Gehen. SOFORT! Das wird schwerwiegende Konsequenzen haben, machen sie sich darauf gefasst.", kommt es gepresst aus ihr hervor.
„Gerne", Liv steht auf und nimmt Oliver an die Hand, „Aber Claire nehmen wir mit. Sie muss ihre Visage nicht länger ertragen müssen", sagt sie zuckersüß.
Zum ersten Mal sehe ich ihr komplettes Gesicht und bin überwältigt, wie immer. Gleichermaßen setzt es mich auf den Boden der Tatsachen. Diese Begegnung wird einmalig bleiben.
Das hier hätte nicht sein dürfen und muss eine einmalige Sachen bleibe, zu ihrer und zu meiner Sicherheit. Auch wenn es mir bei dem Gedanken sie wieder gehen zu lassen, heiß und kalt zugleich wird.
Ich wende mich zum gehen, aber blicke noch einmal zurück: „Oh und, falls uns noch irgendwas zu Ohren kommt, müssen wir wohl die Direktorin von ihrer Homophobie in Kenntnis setzen. Ich glaube 24 Grundschüler würden die Geschichte unserer Brüder bestätigen. Schönen Tag noch."
Mit diesen Worten gebe ich ihr den Rest und das letzte was wir von ihr hören ist ein lauter wütender Laut, der klingt als würde mindestens eine Seekuh sterben.

Kapitel 3 • Liv

Als wir wieder den Hof betreten, drehe ich mich triumphierend zu dem geheimnisvollen Fremden um und grinse, „ich würde sagen, der haben wir es gezeigt.“
Seine Miene ist wie versteinert, seit wir die Scheune verlassen haben, auch jetzt regt sich nichts. Erst jetzt bemerke ich, wie groß er ist und wie nah er eigentlich bei mir steht, ich müsste nur eine Hand ausstrecken und würde seinen Brustkorb berühren. Die Vorstellung löst ein eigenartiges Gefühl in mir aus, dass ich in keine meiner Gefühlsschubladen einordnen kann. Es ist wie eine Mischung aus Angst, Ehrfurcht und Verlangen.
Er sieht mich nur etwa eine Sekunde lang an, doch seine Augen sagen alles was sein Gesicht verschweigt.
Sie sind auf eine so merkwürdige Art blau und grau, dass es fast wirkt als würden das Meer und der Himmel einen Kampf in ihnen austragen. In ihm tobt es. Das Meer gewinnt.
Er lächelt nicht, seine Lippen sind zusammengepresst und bilden eine harte Linie und seine Augenbrauen, die genauso kastanienbraun wie seine welligen Haare sind, hat er zusammen gezogen.
Alles an ihm kenne ich.
Die kleine Narbe in seiner linken Augenbraue, die die Symmetrie seines Gesichtes auf gute Art zerstört, das Grübchen an seinem Kinn, dass ihn jünger wirken lässt und diesen Blick, vermeintlich ausdruckslos, doch im inneren alles andere als das.
Will er mich etwa einschüchtern? Und wenn ja, wieso?
Er wendet sich von mir ab und sieht zu seinem Bruder, der gerade wie Oliver zu einem kleinen Mädchen läuft, das in der Ecke auf einem Stuhl sitzt und traurig die Beine baumeln lässt. Claire vermutlich.
Ich schüttel den Kopf und sage mir, dass es mir egal ist, dass ich gerade so vor den Kopf gestoßen wurde. Schließlich bin ich gerade auch ziemlich unwichtig. Da vorne sitzt ein Mädchen, das meine Hilfe braucht.
Ich gehe auf sie zu und schüttle den Ärger ab.
„Hey Claire.“, sage ich vorsichtig, als ich schließlich vor ihr stehe und sie schaut schüchtern zu mir auf. Ihre blonden Haare sind zu einer komplizierten Flechtfrisur gebunden und ihr grünes Kleid wirkt mit all seinen liebevollen Details wie selbstgenäht.
„Hi.“, erwidert sie leise. Ohne lächeln.
Ich knie mich vor sie hin, sodass wir uns auf Augenhöhe begegnen, „ich bin Liv, Olivers Schwester, weißt du?“ Sie nickt schüchtern. „Und ich möchte dir sagen, dass Mrs. Harper wirklich eine ganz besonders blöde Kuh ist und du auf gar keinen Fall auf sie hören darfst, okay?“
Ihre Mundwinkel zucken, doch sie nickt nur abermals.
Erst als ich sie frage ob wir ihre Eltern anrufen sollen, damit sie sie abholen können stiehlt sich das lächeln, dass ich mir die ganze Zeit erhofft habe auf ihr Gesicht und sie springt auf und holt einen eingeschweißten Zettel mit der Anschrift und Telefonnummer ihrer Eltern aus ihrem Ausflugsrucksack.
Meine Gedanken wandern immer wieder zu dem geheimnisvollen Fremden neben mir und ich gehe in Gedanken alle Gründe durch aus denen ich ihn kennen könnte.
Er war nicht auf meiner Schule, so viel steht fest. Das wäre mir aufgefallen. Ich habe ihn auch noch nie in Verbindung mit Timothy gesehen. Schließlich habe ich Timothy auch noch nie gesehen. Was kann es sein? Ist er mir möglicherweise nur auf der Straße begegnet und hat sich unterbewusst in mein Gedächtnis gebrannt?
Immer mal wieder sehe ich zu ihm herüber, doch sein Blick ist stets stur geradeaus gerichtet, während ich betreten mit meinem zerschlissenen schwarzen Chuck kleine Kuhlen in den Boden haue und immer mal wieder einen Blick zu unseren spielenden Geschwistern werfe. Normalerweise bin ich nicht so schweigsam, wenn mir etwas nicht passt und es macht mich rasend nichts gegen diese angespannte Stimmung tun zu können. Irgendwas in mir blockiert mich.
Vierzig schweigsame Minuten verbringen wir gerade einmal zwei Meter entfernt voneinander. Die Klasse ist schon kurz nach unserem Gespräch zurück zu ihrer Jugendherberge gefahren.
Mrs. Harper ist wutschnaubend an mir vorbei getrottet und hat gar nicht erst versucht Claire mitzunehmen, anscheinend ist die Frau doch schlauer als ich dachte.
Als endlich ein hellgrüner Transporter das Gelände erreicht, atme ich einmal geräuschvoll aus und hoffe, dass er das nicht gehört hat. Dass er nicht weiß, wie schrecklich nervös ich innerlich gerade bin. Seinetwegen. Doch er beachtet mich abermals nicht im geringsten und so tue ich ihm nach und gehe auf den Wagen zu.
„Hey Mr. Lincoln“, sage ich und zwinge mich zu einem lächeln als ein großer schlaksiger Mann Ende Dreißig die Fahrertür öffnet. Er ist groß und muskulös und sein Bart ist feuerrot. Anders als sein Kopfhaar, das nicht mehr vorhanden ist.
Ein Gewicht, dass ich vorher gar nicht bemerkt habe, fällt von meinen Schultern und meine Stimmung hebt sich augenblicklich.
Der Mann kommt auf mich zu und der freundliche Ausdruck in seinem Gesicht, lässt ihn förmlich strahlen.
Er nimmt meine Hand und schüttelt sie sanft aber bestimmt.
„Ich bin Liv Caulder, wir hatten telefoniert.“, spreche ich ihn an, er nickt mir einmal zu und geht an mir vorbei zu Claire, die sich ihm in die Arme wirft.
„Das stimmt so nicht ganz.“, vernehme ich einer Stimme, die vom Heck des Transporters stammt. Kurze Zeit später steht ein weiterer Mann vor mir. Beziehungsweise sitzt. „Wir hatten telefoniert.“, sagt er freundlich „Mein Mann ist dazu leider nicht in der Lage. Ich bin Hank.“
Claires anderer Vater hat dunkles Haar, dass an den Spitzen schon grau zu werden scheint und sitzt im Rollstuhl. Was für eine interessante Familie.
Ich fange mich schnell wieder: „Liv, schön Sie kennenzulernen.“
Sein Blick wandert zu Timothys Bruder, den ich schon ganz vergessen hatte, und verfinstert sich kaum merklich, anscheinend hat er nicht nur auf mich eine schlechte Ausstrahlung.
„Und Sie sind?“, fragt Hank ihn, was mich allerdings auch interessiert.
„Vince.“, antwortet er knapp, „Timothys Bruder“
Nicht der Anflug eines Lächelns schleicht sich auf sein Gesicht, gar nichts. Er scheint sich kein bisschen für die beiden Neuankömmlinge zu interessieren, also warum ist er überhaupt noch hier?
Ich durchforste mein Gehirn abermals nach ihm. Vince. Doch da ist nichts.
„Danke, dass sie beide unserer Tochter geholfen haben.“ Hank spricht mehr zu mir als zu Vince, was diesen allerdings auch nicht zu stören scheint.
Nun kommen auch unsere Geschwister, Claire sowie Hanks Mann, der uns als Peter vorgestellt wird.
Peter nickt mir wiedereinmal lächelnd zu, was ich ebenfalls als Danke deute. Unbeholfen nicke ich ihm ebenfalls zu und mache irgendwelche ausladenden Gesten vor meiner Brust, die ihm signalisieren sollen, dass es kein Problem ist. Erst als ich Hank neben ihm laut lachen höre und sich auch auf Peters Gesicht ein Grinsen schleicht, bemerke ich, dass ich mich gerade wahrscheinlich ziemlich lächerlich gemacht habe. Ich sehe zu Vince hätte fast das schiefe Grinsen, dass sich um seine Lippen gebildet hatte übersehen. Sofort legt sich wieder der feindselige Ausdruck über sein Gesicht. Er wird mir immer suspekter.
„Peter kann dich hören, er ist nur durch ein Trauma nicht mehr in der Lage zu sprechen.“, höre ich Hank sagen. „Es tut mir leid, das hätten wir vielleicht vorher ansprechen müssen.“
Ich blicke beiden Vätern von Claire ins Gesicht und der Ausdruck in ihren Gesichtern, gibt mir gar nicht erst die Chance in irgendeiner Form wütend auf sie zu sein. Es ist als würde man in die Gesichter von alten Freunden sehen, die man lange nicht mehr zu Gesicht bekommen hat.
Als auf einmal ein schrilles Piepen an meine Ohren dringt, geht alles ganz schnell. Uns wird erklärt, dass Hank Arzt ist und er einen dringenden Notfall im Krankenhaus hat. Dann wird mir eine Visitenkarte in die Hand gedrückt mit den Worten„Ruf immer an, falls irgendwas ist, wir helfen euch.“ und ich glaube der ehrlichen eindrücklichen Stimme.
Und nur gefühlte Sekunden später braust der hellgrüne Transporter wieder vom Hof und lässt Oliver, Timothy, Vince und mich zurück.
Sobald sie weg sind ist das Gefühl wie beflügelt zu sein augenblicklich verschwunden. Diese Familie werde ich nicht vergessen, so viel steht fest. So viel Wärme zueinander habe ich lange nicht mehr erlebt. Ich vermisse es einfach jemanden zu haben der einen so liebt und akzeptiert wie man ist. Ich vermisse es eine Familie zu haben.
Wie findet man als querschnittsgelähmter Arzt und Traumastummer Mann zueinander?
„Ähm“, ich drehe mich widerwillig zu Vince um, der seine Arme vor der Brust verschränkt hat. „Ich habe gesehen, dass du ein Auto hast“ Ich zeige auf einen rostigen schwarzen Pick-Up der bei meiner Ankunft noch nicht da gewesen ist, „Könntest du uns...“
„Nein.“, kommt es kalt zurück, ehe ich meine Frage beenden kann.
Er nimmt Timothy an die Hand und zieht ihn förmlich zu seinem Wagen, ohne sich nochmal umzudrehen.
„Arschloch!“, brülle ich ihm hinterher, was meine Wut auf ihn allerdings auch nicht mildert.
Was ein Arsch!

Kapitel 4 • Vince

„Fuck“, brülle ich und schlage gegen den Schrank, dessen Türen gefährlich klappern. „Fuck, fuck, fuck!“
Wie kann es sein, dass sie es nach all den Jahren noch immer schafft, mich aus der Bahn zu bringen? Natürlich weiß ich die Antwort auf diese Frage, auch wenn ich es nicht wahr haben will.
Die ganze Wut, die sich über Monate angestaut hat, lässt meine Hand zittern und ich schlage noch einmal mit all meiner Kraft auf den Schrank ein.
„Na, wen hast du geschwängert?“ John liegt in seinem Bett, den Bleistift, als Zigarettenersatz, lässig in seinen rechten Mundwinkel geklemmt.
Ich funkle ihn finster an. John habe ich an meinem ersten Tag hier kennengelernt, er ist zwei Wochen vor mir “angekommen“. Er hat mich mit den Worten: „Hast du Angst vorm schwarzen Mann?“ als erstes angesprochen, nachdem ich mich drei Tage lang in Schweigen gehüllt habe. Ein schlaksiger vierzehnjähriger Schwarzer Junge, in viel zu große Klamotten gekleidet und eine Cap schief auf dem Kopf tragend. Bis heute hat sich das nicht großartig geändert. Er war der erste der mit mir gesprochen hat und bis heute der einzige mit dem ich überhaupt sprechen wollen würde. Nur jetzt gerade nicht. Jetzt gerade kann ich niemanden ertragen, nicht einmal mich selbst. In mir fliegt alles durcheinander: Angst, Erleichterung und Hass kämpfen um eine Daseinsberechtigung, doch ein Gefühl überschattet alles. Wut. Wut auf Hunter, Wut auf das Leben und vor allem Wut auf mich selbst.
„Ich wünschte es wäre nur das.“, knurre ich, woraufhin John laut auflacht. Er nimmt immer alles auf die leichte Schulter. Ein Talent, dass ich nicht besitze, nicht ansatzweise.
„Was ist es dann?“, fragt er neugierig, „Cora hat jetzt doch nen anderen und du bereust es jetzt sie nicht doch genagelt zu haben? Hunter hat dich degradiert und du musst jetzt unsere Klos putzen? Oder hast du dich etwa an meinem Schokoladenvorrat bedient ohne zu fragen und hast jetzt Angst vor mir?“ Er sieht mich interessiert an.
Ich reibe mir über meine geschwollen Fingerknöchel und schüttle als Antwort nur kurz den Kopf und lasse mich geräuschvoll auf mein Bett fallen, das gegenüber von Johns liegt.
Als ich ihn ansehe, grinst er nicht mehr „So schlimm?“.
„Schlimmer.“
„Willst du drüber reden?“
Will ich darüber reden? Einerseits hätte ich gerne jemanden dem ich meine Probleme anvertrauen könnte, allerdings glaube ich nicht, dass ich John dafür genug vertraue. So hart das auch klingt.
Ich seufze. „Geht schon.“, brumme ich.
Ich sehe mich in unserem Zimmer um. Neben dem riesigen eichen farbigen Schrank gibt es nur noch zwei Stühle und zwei Betten. Spartanisch eingerichtet lädt es niemanden ein fröhlich darin zu wohnen. Während Johns Stuhl sich vor Kleidung kaum halten kann und seine Wand über seinem Bett über und über mit Lionel Messi und nackten Frauen voll geklebt ist, ist meine Seite kahl und steril.
Lediglich ein kleiner Papierflieger der aus einem roten Post-it gemacht ist, schmückt meine Wand. Aber ich wüsste auch nicht was ich sonst noch aufhängen könnte, wenn ich wollte.
Ich hätte Bilder meiner Familie aufhängen können, doch damit hätte ich Hunter nur täglich gezeigt, was mir etwas bedeutet. Womit man mich verletzen kann und darauf kann ich gelinde gesagt verzichten.
Auch sonst gibt es momentan nichts wofür ich mich sonderlich interessiere, manchmal sehe ich mir ein paar Footballspiele an, aber da mir auf Anhieb nicht ein Name der Spieler einfällt, kann man wohl nicht mal das als Interesse verstehen.
„Wenn was ist, bin ich für dich da klar? Du bist in diesem Drecksloch nicht alleine.“
„Klar, Danke Mann.“, entgegne ich und wir wissen beide, dass ich dieses Angebot nicht annehmen werde.
Ich bin ein niemand der im Team arbeitet, ich bin ein Einzelgänger, seit ich hier bin. Auch wenn mich Tage wie diese daran zweifeln lassen, ob das wirklich das richtige ist.
John versucht noch ein oder zweimal ein Gespräch anzufangen, doch als ich immer nur lustlos brumme und anfange einen Tennisball immer und immer wieder in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen, hört er auf. Denke ich zumindest.
Als er mir den Ball aus der Luft wegschnappt, setze ich mich ruckartig an und stiere ihn finster an. Ich bin heute wirklich nicht in Stimmung für Scherze, das müsste er eigentlich gemerkt haben.
„Was soll das?“, mache ich ihn an, „Ich hab heute echt keinen Nerv für deine Späßchen.“
„Und ich habe echt keine Lust mehr auf deine schlechte Laune.“, entgegnet er, fast genauso genervt wie ich. Wieso kann ich nicht einmal in Ruhe gelassen werden?
Während ich auf dem Bett sitze kann er auf mich heruntersehen und so stehe ich auf, sodass ich einen guten halben Kopf größer bin als er, er geht zwei Schritte nach hinten, sieht mir aber dennoch in die Augen, „Es ist okay, dass du mir nicht erzählen willst was passiert ist, ich erzähle dir auch nicht alles, ob dus glaubst oder nicht.“ Ich lache abschätzig, John erzählt einem alles, mindestens drei Mal und sehr ausführlich. „Aber ich hab keine Lust mehr dich so zu sehen. Du hast doch überhaupt gar keinen Spaß mehr am Leben, ich frage mich oft warum du dich noch nicht umgebracht hast.“ Um meine Familie weiterhin schützen zu können. Nur deswegen nicht. „Das ist doch kein Leben Vince, du bist nur noch schlecht gelaunt, das ist mit den Jahren immer schlimmer geworden. Ich hab dich schon seit Wochen nicht mehr lachen sehen.“ Ich mich auch nicht. Seit Monaten, aber ich habe auch keinen Grund dazu. „Ich weiß, du willst keine Hilfe und du willst vor allem nicht meine Hilfe, aber willst du wirklich, dass dein Leben so weitergeht? Denk an Timmy, denk an deine Mom. Du bist auf dem besten Weg in etwas reinzurutschen, aus dem du nicht mehr rauskommst. Auch wenn du das nicht glaubst, irgendwann wird das hier alles vorbei sein, aber wenn du so weiter machst, wird es dich dann nicht mehr geben.“
Ich denke über seine Worte nach. Warum bin ich unglücklich? Weil ich hier feststecke und nicht weiterkomme. Warum komme ich nicht weiter? Weil es keinen Ausweg gibt.
Dinge die sich nicht ändern lassen.
„Wie soll das gehen, wenn wir es nicht schaffen hier rauszukommen? Es gibt ja nicht mal die Chance.“, meine Stimme ist ruhig und ausdruckslos. Johns Bemühungen sind Zwecklos.
„Du versuchst es doch nicht mal. Seit Ewigkeiten gibst du dir die Schuld daran, was vor acht Jahren passiert ist, du bist unglücklich, weil du unglücklich sein willst.“
„Ich bin Schuld.“
John schüttelt nur resigniert den Kopf. Wie oft hatten wir diese Diskussion schon, er kann mich nicht überzeugen.
Seit Wochen schon ist mein Leben gefühlt auf dem Tiefpunkt. Der Tag heute hat alles nur noch schlimmer gemacht. Und besser.
Wenn ich so weitermache, weiß ich wirklich nicht wo das ganze hier enden wird. Ich habe keine Perspektiven und meine Hoffnungen habe ich schon lange vergraben. Wofür lebe ich?
Meine Tage verlaufen immer im gleichen Schema, keine Chance auf Ausbruch. Meine Mutter hat mir früher immer erklärt, dass der beste Tag um etwas zu ändern heute ist. Früher habe ich mir das zu Herzen genommen und nach diesem Grundsatz gelebt, aber spätestens seit sie selbst den Glauben an das Leben verloren hat, ist der Funke auch bei mir nicht mehr übergesprungen.
John dagegen, ist so gut gelaunt, dass es schon fast nervig ist und das immer. Obwohl er in ganz genau derselben Lage ist, wie ich. Wie genau er das hinbekommt weiß ich nicht.
Ich denke an Timothy, der in seinem Leben nur Menschen hat, die selbst nicht mehr daran glauben und ich muss ein lautes Aufstöhnen unterdrücken. Was mache ich hier eigentlich?
Was bin ich für ein Vorbild? Gar keins.
„Ich weiß nicht, wie ich das machen soll.“, gebe ich grimmig zu.
„Was?“
„Leben.“
Johns Mundwinkel heben sich ins Unermessliche und der diebische Ausdruck in seinen Augen, lässt mich hoffen, dass er nichts allzu schlimmes mit mir vorhat.
„Glaub mir, Vincent, dabei kann ich dir bestens helfen.“
Ich habe allerdings keine Chance zu erfahren, was John damit genau meinen könnte, denn schon im nächsten Moment hören wir einen äußerst aufgebrachten Hunter brüllen.

Kapitel 5 • Liv

Ich beglückwünsche mich innerlich, dass ich Oliver unten bei Tess gelassen habe, denn sobald die ich die Treppe zu unserer Dachgeschosswohnung betrete, weiß ich, dass etwas nicht stimmt. Es ist als würde jemand mich warnen wollen und mit einer Feder leicht meinen Nacken streifen.
Die Gänsehaut die ich durch dieses Gefühl bekomme, bedeutet, dass etwas passiert ist. Etwas negatives. Diese eigenartige „Fähigkeit“ habe ich schon seit Jahren und lässt regelmäßig mein Herz aussetzen.
Ich schiebe den Gedanken beiseite, dass Grey sich gerade oben befindet und vielleicht in Gefahr schwebt. Ich kann mir jetzt keine Fehler erlauben.
Langsam und mit zitternden Knien steige ich die verblichene Eichenholztreppe hinauf, meine Hände vor mir in Angriffshaltung.
Zähneknirschend versuche ich mich an das zu Erinnern, was Grey mir mal zur Selbstverteidigung beibringen wollte, während ich mir gleichzeitig die größte Mühe gebe, keinen Mucks von mir zu geben. Die Tür oben ist nur angelehnt und ich höre laute Stimmen. Ein Eiskalter Schauer rinnt mir über den Rücken.
In meinem Kopf versuche ich Greys Stimme heraufzubeschwören und wünsche mir sein Selbstverteidigungstraining damals ernster genommen zu haben.
„Punkt Eins: Vorbereitung ist alles.“
Vorsichtig ziehe ich das Messer aus meinem linken Chuck hervor und halte es schützend vor mich.
„Punkt Zwei: Angriff ist die beste Verteidigung.“
Ich trete mit voller Wucht gegen die Tür. Sie kollidiert mit einem hörbaren Knall mit der Wand.
„Punkt Drei: Behalte dein Ziel im Auge, Konzentration!“
Auch diesen Rat versuche ich mir zu Herzen zu nehmen, doch als ich sehe was sich hinter der Tür befindet, stockt mir der Atem.
Die Wand unseres Flurs ist mit circa einem dutzend Smileys überseht. In stechendem Rot grinsen sie mich höhnisch an. Alle Augen sind durch ein X ersetzt. Sie erinnern mich entfernt an die Nirvana Smileys.
Das Messer noch fester umklammert gehe ich langsam zur kleinen Wohnküche, die der Ursprung der aggressiven Stimmen zu sein scheint.
Vorsichtig spähe ich um die Ecke, nur um meinen aufgebrachten Bruder, sowie Grey, Tyler und Cem zu erblicken. Nur Mike fehlt.
Die Anspannung fällt von meinem Körper ab. Meinem Bruder geht es gut. Doch, irgendwas ist hier offensichtlich trotzdem faul. Ich lasse mein Messer wieder in meinem Schuh verschwinden und betrete den Raum.
„Was ist los?“, meine Stimme spiegelt noch immer die Emotionen der letzten Minuten wieder.
Niemand beachtet mich, alle stehen stumm neben Grey der wild gestikulierend „Seht überall nach, überall! Irgendeine Nachricht, irgendein Hinweis.“ brüllt.
„Was. Ist. Los.?“, beginne ich noch einmal, jede Silbe einzeln betonend, doch in dem Moment stürmt Mike an mir vorbei: „Grey, ich weiß jetzt was fehlt...“ Er schweigt.
„Ja. Was?“, sagt Grey sichtlich gereizt.
„Es tut mir leid...“
„Was ist es? Sag schon.“ Ein Knurren befreit sich aus Greys Kehle, dass ich sonst nur höre wenn er mit unserem Vater redet.
Mike atmet einmal tief durch, „Es ist die Kette eurer Mutter.“
Irgendwas in meinem Kopf explodiert in dem Moment, indem Greys Faust und die Wand unserer Wohnung einander treffen und ein tiefes Loch im Putz entsteht. „Scheiße!“
Für einige Sekunden steht alles still und mir läuft ein eisiger Schauer über den Rücken.
Vor meinem inneren Auge projiziert sich das Bild des golden eingefassten hellblauen Kristalls, der von einer ebenfalls goldenen Kette getragen wurde. Modeschmuck, nichts auffälliges oder extravagantes. Nicht wertvoll. Zumindest vom materiellen Wert her, der emotionale Wert ist für uns nicht in Worte zu Fassen, schließlich ist es alles, was wir noch von unserer Mutter haben.
„Der Dieb muss uns kennen, Grey.“, sage ich stumpf. Meine Arme hängen schlaff an mir runter und auch sonst fühle ich mich all meiner Kräfte beraubt.
Grey, der mich jetzt zum ersten Mal zu bemerken scheint blickt auf und zu mir, scheint jedoch eher durch mich hindurch zu sehen. Ich weiß wie du dich fühlst.
Am liebsten würde ich zu ihm gehen und ihn so fest umarmen wie es geht, so wie früher wenn es einem von uns nicht gut geht, doch das lässt Grey schon lange nicht mehr zu. Die letzten Jahre haben ihn hart werden lassen und manchmal erkenne ich kein bisschen von dem Jungen in ihm wieder, der er einmal war. Der freche Lockenkopf ist verschwunden und der harte Ganganführer ist an seine Stelle getreten.
Grey atmet tief ein. Und wieder aus. „Wenn irgendwer von euch etwas weiß, dann ist jetzt der Richtige Zeitpunkt um damit rauszurücken.“ Die Schärfe seiner Worte erschreckt mich und auch Tyler, Cem und Mike sehen fast schon ängstlich aus.
Ein unheilvolles Schweigen breitet sich aus und ich sehe im Gesicht meines Bruders wie er immer mehr die Fassung verliert. Sein Geduldsfaden war schon immer recht kurz. Sobald etwas nicht genau nach Plan läuft, sieht er rot. Eine Sache, die er von unserem Vater geerbt hat und zutiefst an sich verabscheut.
„Grey“, beginnt Tyler, „Ich weiß du bist aufgewühlt und sauer, aber wir helfen dir.“
Seine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, leise und vermeintlich beruhigend.
„Ihr seid nicht alleine.“ Cem bedenkt auch mich mit einem aufmunternden nicken und ich bin wieder einmal unglaublich dankbar, diese Jungs zu meiner Familie zählen zu können.
Am Beben seiner Schultern merke ich, wie sehr mein Bruder sich bemüht, die Beherrschung zu behalten.
Als er schließlich spricht, ist das Zittern in seiner Stimme ein Beweis für seine Selbstbeherrschung, die mich unheimlich stolz auf ihn macht. Er ist nicht unser Vater, er ist besser.
„ Ihr habt recht.“ Er stößt sich von der Arbeitsplatte ab, die er eben noch fest umklammert hielt und tigert im Raum umher. Das tut er immer, wenn er nachdenkt. Er kratzt sich am Kopf und sieht in einer Mischung aus Ärger und Unschlüssigkeit auf den Boden.
Als er schließlich stehen bleibt, stockt mein Atem kurz. Sein Blick sagt nichts gutes aus.
„Wie ist der Plan?“, spricht Mike das aus, was wir uns alle fragen.
„Wir wissen alle, wer es war.“, gibt er schließlich an.
Meine Augenbrauen wandern nach oben. „Also ich nicht.“
Meine Aussage wird mit einem Blick meines Bruders quittiert, der besagt, dass das auch seinen Grund hat. Mein Bruder hält mich seit Anfang an aus den Dingen heraus, was in irgendeiner Form gefährlich sein könnte. Kurz gesagt also aus allem.
Der Ärger, der mich immer ergreift, wenn er mich aus etwas heraushält, was definitiv auch mich angeht, zerrt an mir. Ich bin mir sicher, dass ich und meine Fähigkeiten meinen Bruder und seine Gang in so manchen Augenblicken bereichern könnten. Doch das lässt er nicht zu, er behandelt mich noch immer wie das kleine Mädchen, dass ich damals war. Als es passiert ist. Dass ich seitdem auch älter und stärker – sowohl körperlich, als auch geistig – geworden bin, scheint er nicht verstehen zu wollen.
„Wir schnappen uns die Arschlöcher.“, knurrt Grey jetzt und zustimmendes Gemurmel ertönt.
Ich stemme meine Arme in die Hüften: „Ich komme mit“ Meine Stimme ist klar und bestimmt. Die Entschlossenheit in meinem Gesicht ist anscheinend trotzdem nicht wirkungsvoll genug, denn Grey seufzt genervt.
„Wir haben das so oft besprochen, L.“ Seine Stimme lässt keinen Widerspruch zu und würde ich Grey nicht kennen, dann würde ich jetzt kleinlaut zurückschrecken und sie ziehen lassen. Dass ich weiß, dass er mir niemals etwas antun könnte, kann ich also zu meinem Vorteil nutzen.
„Haben wir.“, gebe ich zu. „Hatten wir schon mal so eine Situation? Nein. Geht mich das dieses mal persönlich was an? Ja. Wirst du mich davon abhalten können mitzukommen? Fuck, nein!“
Für eine Sekunde denke ich, dass er mir jetzt wieder einen Vortrag halten wird, doch dann dreht er sich nur um, greift meinen Oberarm und sieht mir wütend ins Gesicht: „Wenn dir was passiert, bring ich dich um.“ Das lächeln in meinem Gesicht ist nicht freundlich gestimmt, als ich sage: „Machen wir sie fertig.“

Kapitel 6 • Vince

So zu tun als ob man beschäftigt wäre hat oftmals zur Folge, überhaupt nicht so  zu wirken, als hätte man etwas zu tun. Während ich also auf einem Hocker sitze und vorgebe eine Felge zu reinigen (und zwar ein und dieselbe Felge seit geschlagenen 13,5 Minuten) wandert mein Blick immer wieder, natürlich äußerst unauffällig, über meine Schulter zur Tür.

Des Weiteren trage ich einen kakifarbenen Rucksack, der nicht groß genug ist um meinen Baseballschläger komplett einzuschließen, weshalb ein Teil von ihm herausragt. Auch nicht sonderlich besorgniserregend für potentielle Kunden. Aber lieber unübersehbar vorbereitet, als getarnt ausgeliefert. 

Ich sehe zu John herüber, der am anderen Ende des Raumes an einem Schreibtisch sitzt, jedoch die Tür statt seiner Aufzeichnungen vor ihm studiert. Wir beide sind die Köder. Hunter und die anderen haben sich hinter den dicken Wänden der Autowerkstatt versteckt. Sicher geschützt vor den Augen derjenigen die in wenigen Minuten hier eintreffen werden. 

„Macht euch bereit“, höre ich Hunter aus der anderen Ecke des Raumes zischen. Er ist der einzige, der sich versteckt hat, so dass auch nur er im Falle dessen, dass wir doch in der Unterzahl sind, schnell und einfach verschwunden ist. Vom Titanic-Prinzip, hat er auf jeden Fall noch nichts gehört. Oder er hat es, aber es ist ihm egal. Das ist wahrscheinlicher. 

Die stille Sirene, die wir immer anhaben um unerwünschten Besuch davon abzuhalten auch unerkannt bei uns einzudringen, beginnt in kreisenden Bewegungen ihr blaues Licht abzugeben. 

Grey ist der erste den ich sehe. Er hat das Titanic-Prinzip offensichtlich verstanden. 

Hinter ihm tauchen noch drei weitere Gestalten und ich grinse in mich herein. Sie sind in der Unterzahl und zwei von ihnen sind so klein, dass sie hätten Mädchen sein können. Innerlich schale ich Grey ein bisschen, er hätte doch wissen müssen, dass er mit dieser Konstellation keinerlei Chance gegen uns hat. Hunter und John sind breit wie Bären und groß wie Berge, sie sind ein verdammtes Gebirge und ich stehe ihnen in nichts nach. Jordan ist zwar etwas kleiner aber dafür wendig und flink wie eine Schlange, auf  nassem Boden. Und Terry sieht vielleicht nicht so aus, ist aber mit Sicherheit der Gefährlichste von uns. Es würde mich nicht wundern, wenn er tatsächlich schon einmal getötet hätte. Greys Leichtsinnigkeit erfreut und schockiert mich. Entweder er ist so wütend, dass er alle Sicherheitsvorkehrungen außer Acht lässt, oder ich übersehe etwas. Erst bei erneutem Betrachten, bemerke ich zwei Dinge. Erstens, was mich freudig stimmen sollte, da es uns einen weiteren Vorteil verschafft, eines der kleineren Gangmitglieder ist tatsächlich ein Mädchen. Zweitens, es ist Liv. Meine Liv. Mein Zustand freudiger Erregung wandelt sich innerhalb weniger Sekunden zu blanker Angst. 

Was passiert, wenn Hunter sich an sie erinnert? Was, wenn er sie gegen mich verwendet? Er sucht schon seit geraumer zeit ein Mittel, wie er mich bändigen kann und hier kommt Vince und serviert es ihm auf dem Silbertablett. Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Wie kann es sein, dass das Mädchen, von dem ich immer dachte es würde nichts von dem Schmerz der Welt in der ich lebe kennen, selber in eben dieser zuhause ist. 

Hunter, der wohl ebenfalls bemerkt hat, dass unsere verfeindete Gruppe keine nennenswerte Chance gegen uns hat, erhebt sich aus seinem Versteck und starrt Grey selbstgefällig an. 

Sein Grinsen sagt: Kommt doch rein, seid mein Gast aber erwartet nicht, dass ich Euch auch so behandele. 

Grey kommt der unausgesprochenen Einladung nach und betritt die alte Autowerkstatt, in der ich nun schon viel zu lange lebe.

Hunter schleudert sein Gewehr in seiner linken Hand hin und her. Das könnte gefährlich wirken, doch Grey sieht ihn unbeirrt an. Er selbst hat keinerlei Waffen. Es scheint so, als wäre das ganze eine unbedachte Aktion, doch warum sind sie überhaupt hier? Seit Andrew, einer von Hunters Augen, ihn und seine Gang vor zwanzig Minuten auf unserem Gebiet gesehen hat, frage ich mich das. So weit ich weiß, haben wir nichts getan und Grey wäre nicht so dumm einfach so unser Gelände zu betreten. 

„Wie schön“, das Schnurren in Hunters Stimme erinnert mich an Sir Khan aus dem Dschungelbuch und hat etwas bedrohliches an sich. „Grey und seine kleinen Freunde beehren uns mal wieder.“ Grey’s Gesicht ist wie in Stein gemeißelt. Kein Zucken der Mundwinkel, kein leichtes zurückweichen. Er wirkt nicht im Mindesten eingeschüchtert, macht jedoch auch keine Anstalten zu antworten. 

Hunter klackt mit seinen Fingernägeln geräuschvoll auf dem Gewehr herum, dass er nun auf Vince gerichtet hat. Ich bin mir nicht sicher, ob er es jemals wirklich benutzt hat, geschweige denn, ob es geladen ist. Bei den meisten Menschen, reicht es eine Waffe auf sie zu richten und du hast sie in der Hand. Eine weitere Erfahrung, die ich lieber nicht hätte. Sowohl als Schütze, als auch als Zielscheibe.

Hunter seufzt und verzieht seine Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln. 

Liv bewegt sich ein Stück, ihre Augen sind ganz auf Hunter fixiert, während meine Aufmerksamkeit komplett auf ihr liegt. Ich nehme jede ihrer Bewegungen wahr. Ihre Körperhaltung und ihr Gesichtsausdruck strahlen reines Selbstvertrauen aus, aber in ihren Fäusten liegt ein leichtes Zittern. 

Erleichtert stelle ich fest, dass ihre Augen kein Mal in meine Richtung zucken. Das Risiko, dass sie mich dieses Mal, mit diesen Leuten, in diesem Umfeld erkennt, ist zu groß. Das würde sie nur in Gefahr bringen und mich auch. Selbst heute morgen hatte ich den kurzen Verdacht, dass sie mich erkannt haben könnte. Was gleichzeitig mein größter Wunsch und meine schneidendste Angst ist. Wie paradox. 

„Du hast etwas was uns gehört.“, bemerkt Grey endlich. Gefährlich leise. Sein Blick könnte Messer werfen, so kalt ist er.

Hunter lacht laut auf „Wir haben eine Menge was mal euch gehört hat“, sagt er und schnalzt mit der Zunge. Bei diesem Geräusch stellen sich meine Nackenhaare auf. „Männlichkeit zum Beispiel. Oder wie wäre es mit Macht?“ Er wendet sich nach hinten, wo John grimmig und stirnrunzelnd die Decke anstarrt. „Fällt dir noch was ein?“ 

„Respekt, Selbstachtung und Präsenz.“

Hunter lächelt boshaft „Ganz genau.“

Grey verzieht keine Miene „Die Kette unserer Mutter.“ 

Mein Puls schießt in die Höhe und mein Magen fühlt sich an als würde er von einer imaginären Faust umschlossen werde. Unserer Mutter. 

„Ein Kette?“, Hunter sieht sich um und schaut jedem von uns, seiner Gang, einmal ins Gesicht. Ich bete, dass Liv dadurch nicht auf mich aufmerksam wird. „Sag Mal Grey.“, Hunters Knurren wird lauter. Bedrohlicher. „Sehen wir aus, als würden wir fucking Frauenschmuck tragen?“ 

Als er darauf keine Antwort bekommt, schnaubt er einmal geräuschvoll aus. 

Meine Muskeln spannen sich an, mein ganz persönlicher Albtraum beginnt.

„Vince, mein Freund, komm doch mal her.“ Meine Füße gehorchen mir nur widerwillig, als ich meinen Baseballschläger aus dem Rucksack hole und mich gleichzeitig vom Barhocker schwinge. Langsam gehe ich auf Hunter zu, was bedrohlich wirkt, jedoch lediglich Widerwille ist. 

Livs Augen werden riesig, so dass ich das helle Grün noch aus dieser Entfernung sehen kann. Dies ist die erste unkontrollierte Bewegung, die sie gemacht hat, seit sie hier aufgekreuzt ist. Bitte erinnere dich nicht an mich, nicht jetzt. 

Hunter lacht leise und mein Herz bleibt stehen, Angstschweiß tritt mir auf die Stirn und mein ganzer Körper ist wie erstarrt. Das darf nicht sein. Das darf nicht sein. Das darf nicht sein. Er darf sie nicht erkennen. 

„Anscheinend findet Grey’s Kleine dich attraktiv. Ist ja süß.“ 

Ich kann mich gerade noch davon abhalten erleichtert auszuatmen und werfe Liv stattdessen ein leichtes Kopfschütteln zu, von dem ich zutiefst hoffe, dass sie es richtig deutet. 

„Komm doch mal her“, schnurrt Hunter süffisant. „Er beißt schon nicht.“ 

Bevor ich irgendetwas machen kann, schaltet Grey sich plötzlich ein. Die Kälte in seinem Blick ist verschwunden, stattdessen steht blanke Wut in seinem Gesicht. Grey hat soeben seine Schwachstelle verraten. 

„Lass sie aus dem Spiel. Wenn du sie auch nur anrührst, mache ich dich kalt. Gib uns die Kette und wir sind wieder weg.“ 

Hunter wendet sich an mich, während meine Augen noch immer auf Liv fokussiert sind, die mich in einer Mischung aus Ekel und Wut anstarrt, als würde sie Feuerbälle auf mich abschießen wollen. Das ist nicht mein wahres ich, ich bin so nicht. Würde ich ihr am liebsten zuschreien, obwohl ich froh sein sollte, dass ihre Abneigung gegen mich weiter wächst. Ich straffe die Schultern, werde wieder der, der ich sein soll.

„Vincent, mein lieber.“, beginnt Hunter. „Hast du irgendwas von einer Kette gesehen, gehört oder geahnt?“

„Nein“, erwidere ich ohne den Hauch einer Emotion in der Stimme.

„Und was bedeutet das?“

Ich blende all meine Gefühle aus und spreche die schwersten Worte meines Lebens aus. „Dass sie ohne Grund auf unser Gelände gekommen sind und sie das bereuen werden.“

„Ganz genau.“, antwortet Hunter und geht bedrohlich auf die kleine Gruppe zu. 

 

Ich bin wie in Trance, während drei Dinge fast gleichzeitig passieren:

  1. Hunter, John, Terry und Jordan gehen schnellen Schrittes auf Grey, Liv und zwei weitere Gangmitglieder zu, die bis auf Liv keinen Zentimeter zurück weichen.
  2. Ich bin wie angewurzelt stehen geblieben, was meine Freunde glücklicherweise noch nicht bemerkt haben.
  3. Hunter lässt das Gewehr geräuschvoll fallen, was meinen Verdacht, dass keine Munition darin enthalten war bestätigt, und geht mit erhobenen Fäusten auf Grey zu.

 

Dann geht alles ganz schnell und gleichzeitig kommt es mir so vor, als würde es in Zeitlupe geschehen. Man merkt, dass Grey nicht bei der Sache ist, mindestens 3/4 seiner Aufmerksamkeit liegen bei seiner Schwester. Und bevor er überhaupt reagieren kann, drischt Hunters Faust auf sein Gesicht ein, er taumelt nach hinten und kann sich gerade noch am Türgriff festhalten um nicht umzufallen. 

Hunter zögert nicht, er nimmt die sofort wieder die Faust hoch. Als ich sehe was dann passiert, schalten meine Beine schneller als mein Hirn. Ich laufe auf Liv zu, doch ich bin zu spät, Hunter trifft sie mit solch einer Wucht an der Stirn, dass sie wie ein nasser Sack einfach nach hinten fällt, so dass ihr Hinterkopf mit dem schrecklichsten Geräusch meines Lebens auf den Boden kracht.

Kapitel 7 • Liv

 Zuerst höre ich nur wildes Gemurmel, das ineinander übergeht und das ich nicht auseinanderhalten kann, manchmal ist es höher, manchmal tiefer. Einmal glaube ich meinen Bruder zu hören. Außerdem spüre ich Hände an meinem Kopf und irgendwer scheint meine Hand zu halten. Alles ist wie im Nebel, ich bin weit weg, könnte aber gleichzeitig nah dran sein, ich weiß es nicht. Außerdem schmecke ich etwas, es ist wie Kupfer, nur viel zu intensiv. 

„Ist es sehr schlimm? Sie wird wieder, oder?“, höre ich jemanden sagen. Ist das Tess?

„Das wissen wir erst, wenn sie wieder zu sich kommt. Immerhin müssen wir nichts nähen, das ist schon mal gut.“

„Scheiße, wie konnte ich nur so dumm sein?“ Eindeutig die Stimme meines Bruders, nur irgendwie rauer.

Plötzlich knarrt eine Tür und jemand steht auf. „Geh sofort wieder hoch Oliver!“

„Aber was ist denn los? Ist das Livvy?“

Ruckartig setze ich mich auf und öffne die Augen. Sieben Augenpaare starren mich an während ich stöhnend zusammenzucke. Das dumpfe Pochen in meinem Hinterkopf, verwandelt sich in ein aggressives Stechen.

Sofort werde ich wieder zurück auf das rote Sofa von Tess gedrückt. Grey seufzt an und lächelt mich erleichtert an.

Über mich gebeugt erkenne ich Hank, der mich skeptisch ansieht. „Weißt du noch was passiert ist?“

Von einer auf die andere Sekunde wandelt sich Greys Gesichtsausdruck zu einer wütenden Grimasse. „Was hast du dir nur dabei gedacht? Meinst du diese Leute sind harmlos? Ich habe dir gesagt, du sollst dich nicht einmischen und was machst du? Rennst mitten in Hunters Faust rein, wie kannst du mir sowas antun?“

Grey ist so in seiner Wut verloren, dass er gar nicht bemerkt, dass Oliver noch im Raum ist und uns mit riesigen angsterfüllten Augen anblickt. Peter, der anscheinend ebenfalls hier ist nimmt ihn kurzerhand auf den Arm, was gar nicht so einfach ist, da Oliver recht groß für sein Alter ist, und trägt ihn aus dem Raum, wofür ich ihm sehr dankbar bin, er soll und darf solche Momente nicht bekommen, dafür ist er noch zu jung.

Ich denke über Greys Worte nach. Diese Leute... langsam konstruiert sich das Geschehene wieder in meinem Kopf. Alles ist wie eine Silhouette, die sich in einer dreckigen Pfütze spiegelt. Eine unechte Projektion der Wirklichkeit. Nur eine Sache sticht heraus. Vince. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Als ich ihn so gesehen habe, neben Hunter ist mir förmlich das Blut in den Adern gefroren. Ich wusste ja, dass er ein Arschloch ist, aber dass er so eine Bestie ist, hätte ich nicht erwartet. Bei dem Gedanken, wie er ausgesprochen, dass sie uns nun angreifen werden, mit dieser unglaublichen Kälte in der Stimme, schüttelt es mich noch immer. Und ich erinnere mich an die Angst, die ich noch immer habe. Angst, dass er Hunter etwas von Oliver erzählen könnte. Denn was gibt es Besseres als ein Druckmittel in Form eines wehrlosen Kindes. Wenn ich der Grund bin, warum Hunter von Oliver erfährt, werde ich mir das nie verzeihen. Nie.

Ich sehe noch einmal zu Grey und bemerke erst jetzt, dass sein Auge langsam blau zu werden scheint. Ich kann also nicht allzu lange bewusstlos gewesen sein.

„Ich wollte nur nicht, dass er dich verletzt. Also noch mehr als er es eh schon hat. Du hättest dasselbe für mich getan, also reiß dich zusammen.“, ich will meiner Stimme eine gewisse Schärfe verpassen, aber scheitere kläglich. Er hat mir von Anfang an gesagt, dass es eine schlechte Idee ist mitzukommen und er hatte recht. Aber das darf ich auf keinen Fall zugeben. Wir starren uns gegenseitig wütend an. Unsere Dickköpfigkeit lässt weder zu, dass ich bestätige, dass Grey recht hatte, noch dass Grey sich bei mir bedankt und sich entschuldigt. Man könnte es Geschwisterrivalität nennen, aber es ist ganz eindeutig ein Erbe unserer Mutter.

„Okay, das hat meine Frage ja beantwortet.“, sagt Hank plötzlich, fast schon mit einem belustigten Unterton. Doch dann wird er mit einem Schlag wieder Ernst.

„Ich würde dich trotzdem gerne mit ins Krankenhaus nehmen und ein CT machen.“

„Das geht nicht!“, sagen Grey und ich synchron und mit demselben ängstlichen Unterton in der Stimme.

„Falls es um die Krankenversicherung geht, bekommen wir das schon irgendwie hin.“

„Darum geht es nicht. Wir können einfach nicht ins Krankenhaus.“ Ich nicke zustimmend. Nichts verunsichert mich mehr als die Aussicht ins Krankenhaus zu kommen. Außer Vince vielleicht.

Hank seufzt resigniert auf. „Gut. Das würde ich euch zwar nicht raten, es ist schließlich die Gesundheit deiner Schwester aber wenn es nicht anders geht, dann ist das so. Grey verzieht den rechten Mundwinkel leicht nach unten. Ich weiß genau was er denkt, er macht sich Vorwürfe, dass ich nicht die bestmögliche Behandlung bekomme. Aber er weiß genau, dass ich mich mit allen Mitteln gegen einen Krankenhausbesuch wehren würde. Genauso wie er umgekehrt.

Tess bewegt sich in mein Blickfeld, ihre Augen strahlen Mitgefühl und Trauer aus. Jetzt bemerke ich auch, dass sie es war, die die ganze Zeit meine Hand gehalten hat. Sie sieht zu Hank auf: „Ich war früher Krankenschwester, sobald mir irgendwas Unverhältnismäßiges auffällt, werde ich mich sofort darum bemühen sie ins Krankenhaus zu bekommen.“ Tess Stimme sorgt sofort dafür, dass ich mich entspanne, auch wenn ich weiß, dass sie mich niemals gegen meinen Wunsch irgendwo hin verfrachten würde. Es beruhigt mich zutiefst, dass sie da ist. Auch Hanks Stirn glättet sich und er fährt sich mit dem Handrücken über die grau melierten Haare. „Na gut. Aber ein paar Untersuchungen würde ich gerne jetzt machen. Wenn das in Ordnung ist?“ Ich weiß nicht, an wen die Frage gerichtet ist, doch Tess und ich nicken beide, ebenso wie Grey.

Als ich mich vorsichtig aufsetze, bemerke ich Tyler der in der hintersten Ecke des Wohnzimmers sitzt und mich traurig anlächelt. Ich erwidere seinen Blick.

Dass mein bester Freund bei mir geblieben ist, lässt ein warmes Gefühl in meinem Herzen entstehen. Auch wenn sie verkorkst sind, diese Menschen hier sind meine Familie. Egal ob blutsverwandt oder nicht. Wer Familie ist entscheidet das Herz, nicht das Blut.

 

Nachdem Hank mich mit allen möglichen Utensilien aus einer riesigen Ärztetasche, die mit lila Blumen bestickt ist, herausholt und mir alle möglichen Fragen gestellt hat, werde ich entlassen. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass ich ihn in nächster Zeit besuchen komme, damit er sich ansehen kann, wie sich meine Beule entwickelt.

Greys Mundwinkel deuten ein leichtes Lächeln an, als er sich bei Hank bedankt. Hank weiß das vielleicht nicht, aber für Grey bedeutet das viel, er bedankt sich nicht gerne, da er der Meinung ist, dass man nichts im Leben geschenkt bekommt. Das Schmerzmittel, dass ich von Hank bekommen habe wirkt bereits, so dass ich ihn und Peter, die natürlich Claire mitgenommen haben, zur Tür bringen kann. Claire umarmt mich völlig überraschend zum Abschied und Peter wirft mir ein mitfühlendes Lächeln zu.

Während die beiden schon vorgehen, sehe ich zu Hank hinunter, der mir trotz seines Rollstuhls bis zu den Schultern reicht.

„Danke, dass Sie hergekommen sind. Sie hätten das nicht machen müssen, aber ich bin dankbar, dass Sie es getan haben.“

Er lächelt mich traurig an. „Jederzeit.“

Dann rollt er in Richtung Auto und ich will gerade die Tür schliessen, als er sich noch einmal umdreht. „Es tut mir leid, dass ihr in solchen Umständen leben müsst, ich weiß nicht wie es dazu gekommen ist, aber falls du darüber reden möchtest, kannst du immer bei uns vorbeikommen. Und auch wenn du nicht darüber reden möchtest.“

Mein gesamtes Inneres wird warm und kalte Tränen, die ich nicht vergießen werde treten mir in die Augen. „Danke“, sage ich und meine es aus tiefstem Herzen.

Kapitel 8 • Vince

Seit geschlagenen 34 Minuten stehe ich vor dem mit Efeu bewucherten Haus, sehe auf das Fenster hinter dem ich sie vermute und entscheide mich sekündlich dafür zu gehen. Bewege mich allerdings kein Stück. Der Mond, der mittlerweile hoch am Himmel steht, sieht spöttisch auf mich herab. Ich weiß nicht wieso ich hier bin. Ich habe mir heute (Heute! Wie kann das alles heute passiert sein?) Alle Mühe gegeben, einen schlechten Eindruck bei ihr zu hinterlassen. Wenn ich jetzt das tue was mir seit fünf Minuten im Kopf herumschwebt, war es das mit dem kleinen schlechten Eindruck, dann wird sie mich als den größten Creep der Welt sehen. Zurecht. 
Ich drehe mich zum Gehen und stoppe in der Bewegung. Was ist wenn sie wirklich -wirklich- schwer verletzt ist und sich niemand um sie kümmert? Ich schlage mir die Hände vors Gesicht und stoße einen Laut aus, der wie eine Mischung aus einem Seufzen und einem Knurren klingt.

Hat sie mich vorhin gesehen? Wenn nein, soll ich es erwähnen, dass ich da war? Denn sonst hätte ich ja noch weniger einen Grund hier aufzutauchen.
Zögernd mache ich einen Schritt nach vorne, dann noch einen und noch einen, bis ich schließlich, an dem roten rostigen Modell einer altmodischen Feuerschutztreppe angekommen bin. Ich lege meine Hände auf das kalte Metall und… Lasse wieder los. Es gibt keine plausible Erklärung, warum ich hier sein könnte. Was ich hier mache ist illegal und moralisch verwerflich. Ich schiebe meine Hände in die Hosentaschen und wende mich zum Gehen.

„Was tust du hier?“, höre ich auf einmal eine Stimme oberhalb von mir zischen, genau aus der Richtung wo ich ihr Fenster erwartet hätte. Ich erstarre und für einen Moment vergesse ich zu atmen, so erleichtert bin ich ihre erboste, LEBENDIGE Stimme zu hören. Langsam drehe ich mich um und sehe die Silhouette des Mädchens, dass mein Leben schon immer auf den Kopf gestellt hat, ohne es zu wissen. Obwohl ich sie heute schon zweimal gesehen habe, breitet sich sofort eine Wärme in meinem Körper aus, die ich sonst nicht kenne.
„Ich gehe spazieren.“, ist sowohl die erste Antwort die mir einfällt, als auch die dümmste. Spazieren, genau. Sie verschränkt die in einem viel zu großen Pullover steckenden Arme vor der Brust.
„Spazieren.“, sagt sie mit unüberhörbarer Ironie in der Stimme. 
„Ja, richtig.“

„Hier, wo ich wohne, um 2 Uhr Nachts.“
„Ich mag die Sterne.“

„Ja, sorry, ich vergaß, die Sterne hier sind viel schöner als, wenn man sie zum Beispiel im Park sieht. Oder am Strand. Oder im Wald. Oder…“

„Ist okay, ich habs kapiert, Fräulein Neunmalklug.“

Trotz der Dunkelheit, kann ich sehen wie genervt sie von mir ist und wie verwirrt.  
Eine Weile starren wir uns einfach an. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht mehr weiß, dass sie mich gesehen hat, sonst würde sie anders reagieren. Oder nicht? 
„Warum bist du hier?“, fragt sie abermals. 
Ich seufze einmal und mache mich auf den Weg zu ihr, wenn ich es ihr erzähle, dann richtig. Langsam steige ich die Treppe nach oben. Als ich neben ihr stehen bleibe, weicht sie nicht zurück. Entweder sie will die starke unabhängige Frau markieren, oder sie weiß wirklich nicht, wie gefährlich ich sein kann. Sie sollte Angst vor mir haben! Ich checke sie einmal von unten bis oben ab, kann jedoch keinerlei Verletzungen ausmachen. Zumindest nicht auf den ersten Blick.
„Ich wollte mich vergewissern, dass es dir gut geht.“ Sie sieht mich verwirrt an, „Was… Woher…?“
„Ich war da.“, platzt es aus mir raus, bevor ich mich davon abhalten kann, „Bei der Autowerkstatt. Ich war auch da.“
Ihre Augen weiten sich, sodass ich das intensive Grün ihrer Augen erkennen kann. Nun weicht sie tatsächlich doch einen Schritt zurück. Gut so, jede Sekunde die ich mit ihr verbringe, könnte das Ende bedeuten, ihr Ende und das meiner Familie. Ich sollte nicht hier sein, warum bin ich hergekommen? Mein purer Egoismus hat bewirkt, dass ich jetzt hier stehe und alles was mir etwas bedeutet in Gefahr bringe.

„Ich gehe jetzt besser, erzähl niemandem, dass ich hier war.“ Ich wende mich zum gehen und da passiert es. Sie berührt meinen Arm. Eigentlich ist es nur meine Jacke, doch die Berührung zuckt durch meinen gesamten Körper. Für eine Sekunde vergesse ich wer ich bin und was ich tue und bin einfach nur hier. Nur hier mit ihr unter den Sternen.

„Warte. Du musst mir Fragen beantwortet, das bist du mir schuldig.“ 
Sie weiß es vielleicht nicht, aber allein ihre Berührung reicht um bleiben zu wollen und mich mit Freuden ihren Fragen zu stellen.
Ich nicke nur leicht und daraufhin lässt sie meinen Arm los. 
„Wir müssen da nach oben, sonst werden wir am Ende noch erwischt.“
Wir klettern nach oben auf das Dach, dass nicht komplett spitz zuläuft, sondern eine kleine Fläche zum sitzen bietet. Die Luft ist kühler hier oben und ein Windstoß zerzaust Livs Haare, sodass sie in alle Richtungen abstehen.
„Warum warst du in der Autowerkstatt?“, fragt sie direkt drauflos. 
„Ich bin Teil von Hunters Gang. Aber eher unfreiwillig.“
„Unfreiwillig?“ Das Interesse in Ihrer Stimme ist aufrichtig.
„Ja, er hat ein Druckmittel gegen mich.“ Sie nickt gedankenverloren mit dem Kopf und ich bin heilfroh als sie nicht weiter nachfragt, was das genau für ein Druckmittel ist. 
„Ich bin gar nicht wirklich in der Gang.“, murmelt sie „Mein Bruder ist quasi der Anführer, deswegen bekomme ich nur alles mit.“ 
Ich weiß. „Ah, okay.“

Ein finsterer Ausdruck tritt auf ihr Gesicht und plötzlich spüre ich kaltes Metall an meinem Hals. 
Ein diebisches Grinsen stiehlt sich auf ihr Gesicht, „das heißt aber noch lange nicht, dass ich mich da nicht einmische. Also, wo ist die Kette?“

Ich könnte mich innerhalb von Sekunden aus ihrem Griff befreien, aber ich möchte ihr keine Angst machen, also spiele ich mit.

„Ich weiß nichts von einer Kette.“, krächze ich deutlich. Was ist mit dem Mädchen passiert, das ich kannte, was ist geschehen, sodass sie so werden musste? Was auch immer es ist, sie hat es nicht verdient.
Ich weiß, dass sie mir nichts tun wird, auch wenn ich es ihr nicht übel nehmen würde, täte sie es. 
Sie schnaubt: „Die Kette gehörte meiner Mutter und du wirst mir sagen, was ihr damit angestellt habt.“ Das kalte Metall, wird noch etwas fester an meine Kehle gedrückt und sie stößt einen grimmigen Seufzer aus. Gehörte. Sie gehörte ihrer Mutter.
„Es tut mir leid, dass die Kette weg ist. Ich weiß nichts darüber. Aber falls es meine Leute waren, werde ich versuchen sie zurückzubekommen. Versprochen.“
Und das meine ich Ernst.
„Ja, genau. Warum sollte ich dir glauben?“
„Das kannst du nicht, aber ich gebe Dir mein Wort, dass ich die Wahrheit sage.“
Sie lockert ihren Griff um meinen Hals etwas und macht einen gequälten Laut. 
Dann lässt sie mich los und ich bemerke, dass sie das Messer die ganze Zeit über mit der stumpfen Seite an meinen Hals gehalten hat. 
„Kein Wunder, dass Grey mir nie irgendwelche Aufgaben überträgt.“ Sie lacht bitter auf. „Ich schaffe es ja nicht mal dich zu bedrohen, obwohl ich die mit der Waffe war.“
Fast muss ich lächeln, aber nur fast. „Ich habe mich sehr bedroht gefühlt.“
„Ja genau, deswegen warst du auch so vollkommen tiefenenspannt.“ Ich zucke als Antwort nur mit den Achseln. 
„Wie geht es deinem Kopf?“, frage ich zögerlich. Unwillkürlich fährt ihre Hand an ihren Hinterkopf, dann starrt sie mich finster an. 
„Kannst du dich mal Entscheiden? Erst verbünden wir uns gegen diese blöde Lehrerin und danach verhältst du dich wie das größte Arschloch. Dann greift deine komische Bande mich an und jetzt kommst du hier her und willst wissen wie es mir geht? Sogar nachdem ich dich mit einem Messer bedroht habe? Was stimmt denn nicht mit dir?“
„Gute Frage, vieles, denke ich.“ Ich lasse unkommentiert, dass ihr Bruder und seine Leute uns zuerst bedroht haben. 
„Eindeutig. Und was genau stimmt nicht mit mir, dass ich nach alldem hier sitze und ganz normal mit dir rede? Müsste ich dich nicht hassen oder zumindest Angst vor dir haben?“ Sie klingt verzweifelt und ich kann es ihr nicht verübeln. Heute ist ganz schön viel passiert und noch dazu hat sie Recht, Sie müsste Angst vor mir haben und mich hassen. Die einzige Erklärung, die ich auf ihr momentanes Verhalten (abgesehen von jedweder psychischen Störung) habe, ist, dass ihr Unterbewusstsein sich an mich erinnert, mich kennt. Vielleicht ist es auch einfach nur die Erklärung die ich mir wünsche.
„Müsstest du.“, bestätige ich sie ohne Beschönigungen, „Wahrscheinlich stimmt bei uns beiden eine Menge nicht.“
Mit einem genervten Seufzen, lässt sie sich nach hinten fallen, sodass sie jetzt in die Sterne sehen kann und verschränkt die Arme unter ihrem Kopf. Ihr übergroßer weinroter Pullover rutscht ein Stück hoch, sodass ein winziges Stück Bauch hervorblitzt. Schnell wende ich den Blick ab und lege mich, mit einem gehörigen Stück Abstand, neben sie. 
Für ein paar Sekunden sagt keiner etwas und es ist fast normal, dass wir beide, die so verschieden und doch so gleich sind, hier nebeneinander liegen und die Sterne betrachten.
„Sag irgendwas.“ Ihre Stimme klingt nicht ängstlich, nur müde. Ähnlich wie die meines Bruders, wenn er unseren Vater vermisst, obwohl er ihn nie kennengelernt hat. Erzähl mir eine Geschichte, sagt er dann. Mit demselben Tonfall. 
„Ich könnte dir eine Geschichte erzählen.“
Ihr Kopf fällt zur Seite und sie sieht mir direkt ins Gesicht, ihr Blick wandert zu der Narbe in meiner Augenbraue. Sie weiß nicht, dass sie der Grund ist, wieso ich sie habe und das ist auch mehr als gut so.

„Eine Geschichte?“, fragt sie.
„Ja. Wieso nicht? Viel verkorkster kann die Situation nicht werden, also, wieso nicht?“ 
„Wieso nicht.“, wiederholt sie.

Kapitel 9 • Geschichte

 

Es war einmal auf einem Spielplatz, da trafen zwei Kinder aufeinander. Nennen wir sie Clara und Paul. Clara und Paul kannten sich nicht, das einzige was sie verband war der Spielplatz auf dem sie beide spielten. Clara war 4 Jahre alt, was ihre große Klappe allerdings nicht im geringsten minderte. Paul war 6 und mochte keine Mädchen. Eine tolle Kombi. 
Auf jeden Fall saßen beide im Sandkasten. Während Clara akribisch eine Sandburg baute, verbrachte Paul seine Zeit damit - aus welchen Gründen auch immer - einen Schneemann zu bauen. Aus Sand. Im Sommer. 
Er hatte bereits drei mehr oder weniger runde Kugeln übereinander gestapelt. Ein Ast bildete den Mund, zwei Steine die Augen, der Helm bestand aus einem grünen Eimer und ein Arm war seine gelbe Schaufel. Fehlte nur noch der zweite Arm um den Schneemann zu vervollständigen. Paul scannte seine Umgebung nach einem Gegenstand ab, der seinen Sandmann komplettieren könnte. Sein Blick viel auf eine rote Schaufel, die von der Sonne schon so ausgeblichen war, dass sie fast Rosa wirkte. Paul mochte kein Rosa, das erinnerte ihn an Mädchen, aber eine Alternative hatte er auch nicht. 
Er schnappte sich das Rosa Spielzeug und steckte es in die linke Seite seines Sand-Schneemanns. 
„HEY“, hörte er ein kleines Stimmchen rufen, „Das ist meine Schaufel!“

Paul drehte sich um. Ein kleines Mädchen, viel kleiner als er selbst sah ihn, mit in die Seiten gestemmten Händen, finster an. Sie hatte einen Rosanen Kapuzenpullover an und eine Schleife im Haar. 
Paul betrachtete ihre Burg, die nur zur Hälfte fertig war, wobei er die fertige Hälfte allerdings auch nicht als schön betiteln würde.
„Du brauchst sie nicht.“, sagte er leichthin und wendete sich wieder ab um sein Werk zu bestaunen. Plötzlich wurde die rosa Schaufel aus dem Schneemann gerissen, wobei dieser in sich zusammen fiel. Pauls Hände ballten sich zu Fäusten  und er drehte sich wütend zu dem kleinen Mädchen um, die ihn ebenfalls böse ansah, dann stahl sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen: „Tja, du auch nicht.“ 
Das Gefühl, dass sich jetzt in Pauls Innerem Ausbreitete, kannte er nicht in dem Ausmaß. Er war so wütend, dass er merkte, wie ihm die Wärme in die Wangen stieg. 
Er stand auf und sprang mit einem Satz auf die hässliche Burg, die das Mädchen gebaut hatte.

Paul blickte triumphierend auf das kleine Mädchen herunter. Ihre Augen wurden groß und ihr Mund öffnete sich. Bestimmt würde sie gleich nach ihrer Mutter rufen und anfangen zu heulen, so wie kleine Mädchen das nun mal machen.

Doch plötzlich verwandelten sich ihre Augen zu Schlitzen und mit einem wilden Kampfschrei warf sie sich auf Paul und stieß ihn doch tatsächlich zu Boden.  Etwas perplex blieb Paul kurzzeitig liegen. Dann berappelte er sich jedoch und griff das erste an das er rankam - die rosa Schaufel. Das Mädchen lag immer noch auf ihm, doch das hinderte ihn nicht daran, auszuholen und die Schaufel an ihren Kopf zu schleudern. Er war viel stärker als sie und er hatte auch vor ihr das zu zeigen. 
Das Mädchen rollte sich von ihm und einige Sekunden lang blieb sie so liegen, erst bewegte sich noch ihr Arm, dann jedoch nichts mehr. 
Paul kannte diesen Trick von den anderen Kindern aus seinem Kindergarten und würde nicht darauf reinfallen, dass sie sich Tod stellte. So schnell stirbt man nämlich nicht, das hatte er spätestens dann gelernt, als sein Vater ihm aus Versehen die Autotür gegen den Kopf geknallt hatte. Paul stand auf und umrundete das Mädchen, doch was er dann sah ließ ihn zurück taumeln. Das kleine Mädchen lag auf der Seite. Ihre Augen waren geschlossen und Blut klebte an ihrer Stirn. Ganz viel Blut. 
Pauls Wut war von der einen auf die andere Sekunde wie weggeblasen und Angst trat an dessen Stelle. 
Er stürzte auf das am Boden liegende Mädchen zu. 
„Es tut mir so leid, wach bitte auf. Wach doch bitte auf. Das wollte ich nicht.“ 
Tränen stiegen in seine Augen. Warum war er nur so gemein gewesen? Er hatte schließlich ihre Schaufel geklaut, sie war gar nicht Schuld. Und jetzt war sie Tod. Seinetwegen.
Er schüttelte leicht ihren Arm und hoffte, dass sie vielleicht doch noch aufwachen würde, doch sie rührte sich nicht. 
Eine Träne lief über Pauls Gesicht und er schüttelte ihren kleinen Körper etwas doller. 
„Es tut mir leid. Ich verspreche, dass ich nie wieder gemein zu Mädchen bin, wenn du wieder aufwachst, versprochen, versprochen, versprochen.“ 
Eine zweite Träne rollte Pauls Gesicht in dem Moment herunter, indem ihr Mund sich zu ihrem Grinsen verzog. Sie öffnete ihre kleine Faust  und eine leere McDonalds Ketchup Packung kam zum Vorschein. 
„Verarscht!“, rief sie triumphierend und lachte.
Paul war so perplex und Erleichtert, dass er ganz vergaß wie wütend er eben noch auf sie gewesen war und wie wütend er wegen des ganz und gar nicht komischen Scherzes hätte sein müssen. 
Er war einfach nur froh, dass sie lebte. 
„Du bist ganz schön gut im Tod spielen.“, sagte er atemlos.

Kapitel 10 • Liv

Nachdem er die Geschichte beendet hat, liegen wir noch eine Weile still nebeneinander und ich verstehe nicht, warum das funktioniert. Mein Verstand sagt mir, dass er gefährlich ist und ich ihm auf keinen Fall trauen dürfte, aber mein Körper sagt etwas anderes. Ich liege hier total entspannt auf dem Dach und habe nicht die Spur von Angst. Höchstens davor, dass Grey mich suchen und uns beide hier finden könnte. Schließlich liege ich mit einem seiner Erzfeinde auf dem Dach unseres Hauses. Irgendwas hat er an sich, dass mich dazu bringt ihm zu vertrauen, auch wenn er dieses kein Stück verdient hat. Es ist dasselbe wie schon auf dem Bauernhof. Ich kenne ihn, ich bin mir wirklich sicher, dass ich mir das nicht nur eingebildet habe. Wenn ich sein Gesicht sehe, regt sich etwas in mir, das ich nicht benennen kann. Es ist wie eine Wärme die in meine Glieder krabbelt und mich von innen repariert. Es ist so ähnlich wie wenn ich mit Grey und Oliver zusammen bin, oder wie früher, wenn meine Mom mich in den Arm genommen hat, wenn ich mich verletzt habe. Aber es ist doch anders. Ich kann es nicht ändern. Ich vertraue ihm, obwohl ich weiß, dass es falsch ist. Und ich weiß einfach nicht wieso. Ich rappele mich auf und stütze meinen Körper mit den Ellenbogen ab.
„Woher kenne ich dich?“
Er sieht mich überrascht an und für den Bruchteil einer Sekunde hätte ich schwören können, dass Angst in seinen Augen aufblitzt, doch dann setzt er ein schiefes lächeln auf das überhaupt nicht zur Situation passt.
„Oh… schwierig.“, seine Stimme klingt belustigt, „Heute morgen war ich auf einem Bauernhof und heute Mittag in einer alten Autowerkstatt… möglicherweise sind wir uns da begegnet? Ich bin mir nicht ganz sicher, aber jetzt wo du es sagst…“ Er kratzt sich am Hinterkopf. „Ja, ich glaube du warst auch da.“

Ich verdrehe die Augen um die Belustigung aus meinen Augen verbannen zu können „Du weißt was ich meine, Vince.“

Er sieht mich einen Augenblick nur an, dann öffnet er den Mund. Zögert. „Ich habe dich gestern das erste Mal gesehen.“, flüstert er, sein Blick streift meinen flüchtig, dann sieht er auf den Boden.
„Du solltest jetzt gehen.“, sage ich leise, in dem absoluten Bewusstsein, dass er lügt.

Seufzend setzt er sich auf und streift sich die dunkle Kapuze seines Pullis über den Kopf.

„Ja, du hast recht.“, flüstert er, macht jedoch keine Anstalten los zu gehen. Stattdessen schiebt er die Hände in die Hosentaschen und holt einen kleinen Zettel heraus.
Er grinst entschuldigend: „Hier, das wollte ich dir noch geben.“

Er reicht ihn mir und ich erkenne seinen gekritzelten Namen und eine Zahlenreihe darauf. Seine Telefonnummer. Ich weiß, ich sollte ihn nicht annehmen, aber ich kann nicht anders. Schließlich könnte er ein Kontaktmann für uns sein. Er könnte nützlich sein. Doch als ich danach greife, weiß ich, dass das nicht der Grund ist, wieso ich den Zettel annehme.

„Du bist also zufällig vorbeigekommen und hast zufällig diesen Zettel dabei, habe ich das richtig verstanden?“, frage ich spöttisch. Sein Lächeln vertieft sich. „Ganz genau. Ich habe gehofft, dass ich auf dem Weg ein schönes Mädchen treffe, dem ich meine Nummer andrehen darf.“ Ich ziehe irritiert eine Augenbraue hoch, ist das jetzt sein Ernst, will er sich mit dieser flachen Nummer an mich ranmachen?
Seine Augen werden dunkel „Aber leider habe ich nur dich getroffen.“ Mit diesen Worten und einem leisen lachen dreht er sich um und geht die Treppe runter. Ein empörtes Krächzen kriecht aus meinem Mund, während ich mich frage ob ich ihn wohl wiedersehen werde.

Als er weg ist, bleibe ich noch einige Minuten auf dem Dach liegen und sehe die Sterne an, bis ich schließlich wieder hinunter gehe und in mein Fenster steige. So langsam und vorsichtig wie möglich um weder meine Brüder, noch Tess unter mir zu wecken gehe ich in die Küche um das Messer, dass ich zu Informations- und Sicherheitszwecken mitgenommen habe, wieder in einer der Schubladen zu verstauen. Als ich mich wieder umdrehe, steht Grey in der Tür, seine Arme sind vor der Brust verschränkt, doch sein Lächeln ist weich.
„Wie geht’s deinem Kopf.“ Seine Stimme klingt noch etwas verschlafen, ich war wohl doch nicht so leise wie ich dachte

„Ach, das geht schon.“
Sein zweifelnder Blick sagt alles und ich muss zugeben, dass mich der Tag heute wirklich etwas fertig gemacht hat.

Er kommt auf mich zu und legt seine großen Arme um mich, ich bette mein Gesicht an seiner in einen Kapuzenpulli gehüllten Brust und lasse mich fallen. Auch wenn wir uns oft streiten und nicht immer einer Meinung sind, ist mein Bruder mein Anker. Und ich weiß, dass ich auch seiner bin, auch wenn er das nie zugeben würde.
„Ich nehme dich nie wieder irgendwo mit hin, das ist dir klar oder?“

Ich seufze. „Ja, ich habe es mir gedacht, aber dir ist klar, dass mich das nicht davon abhält trotzdem mitzukommen, oder?“
Er windet sich aus der Umarmung und hält mich eine Armlänge von sich weg.
„Das ist kein Spaß Liv, das heute hätte wirklich böse ausgehen können.“ Er sieht mich verzweifelt an. „Ich könnte es mir niemals verzeihen, wenn dir etwas zustößt.“
Ich schenke ihm ein schiefes Lächeln. „Ich weiß, Grey. Aber ich bin hier, oder? Es ist alles gut, mach dir keine Sorgen.“

„Ich mache mir immer Sorgen. Du und dein kleiner Dickkopf sind zusammen mit Olli das wichtigste in meinem Leben, ich hatte heute wirklich Angst um dich, es hätte sonst was passieren können. Versprich mir bitte, dass du dich ab jetzt nicht mehr in Gefahr begibst.“

In seinen Augen kann man die Vorwürfe, die er sich selber macht kaum übersehen und ich blicke ihn bestürzt an. Meinen großen Bruder. „Ich hab dich lieb, Grey. Aber ich kann dir das nicht versprechen. Aber ich verspreche, dass ich versuche zu versuchen mich nicht mehr in Gefahr zu begeben.“

Er atmet geräuschvoll aus und zieht mich dann wieder in seine Arme. „Immerhin etwas.“
Wir verharren so eine kleine lange Weile, er braucht mich genauso wie ich ihn brauche. Dann lösen wir uns voneinander.
„Was hast du eigentlich auf dem Dach gemacht?“, sagt er dann. Die schwere des Gespräches von eben ist wie weggeblasen.
„Ich äh…“ Innerhalb einer Sekunde springen meine Gedanken duzende Male zwischenGrey von Vince erzählen und Grey nicht von Vince erzählenhin und her „… wollte nur die Sterne beobachten.“ Ich hoffe er hat nicht mitbekommen, dass Vince da war und will mich jetzt auf die Probe stellen.

Eine seiner Augenbrauen hebt sich, worum ich ihn sehr beneide, denn das konnte ich noch nie. Bei meinen gilt alles oder nichts.

„Um diese Uhrzeit?“
Ich schiele auf die Uhr, es ist 3:33 Uhr. „Ja, ich wollte nochmal den ganzen Tag Revue passieren lassen, ist viel passiert, wie du weißt“, stammele ich, den Blick gesengt. Er zuckt nur mit den Schultern „Alles klar.“
Erleichtert lockern sich meine Schultern, ich habe gar nicht gemerkt, dass sie angespannt waren. 
„Gute Nacht. Schlaf gut, Livvy.“ Seine Hand ballt sich zu einer Ghettofaust und ich halte dagegen. „Gute Nacht Grey.“ Alles wieder beim Alten.

Kapitel 11 • Vince

Nachdem ich die halbe Nacht nicht schlafen konnte, werde ich um Punkt 7:00 Uhr, durch das Gefühl beobachtet zu werden, wach. Alarmiert und sofort in Abwehrhaltung schlage ich die Augen auf…

…und blicke in Johns grinsendes Gesicht.
„Keine Bange, Junge.“, sagt dieser, den Blick auf meine zu Fäusten geballten Hände gerichtet „Ich bin‘s doch nur, dein alter Kumpel Johnboy.“
Ich seufze und löse meine verspannten Muskeln. Der Morgen fängt schon wieder fantastisch an. Nur mit einer blauen Boxershorts bekleidet stehe ich in einer fließenden Bewegung von meinem Bett auf und fange mir dafür einen Anerkennenden Pfiff von John ein.

„Kannst bitte aufhören ständig gute Laune zu haben? Sogar am Morgen? Das macht mich fertig.“, knurre ich, bösartiger als geplant, doch John lacht nur. „Nein, der Plan ist anders, wir bringen dich dazu auch gute Laune zu haben.“

Dabei habe ich eigentlich gar keine Schlechte Laune, es ist einfach nur zu früh. Ich habe gestern mit Liv geredet. Mehrmals. Ich kann also gar nicht so schlecht drauf sein. Klar, es sind auch unschöne Dinge passiert, aber wow. Ich hätte nicht gedacht, dass sie mich noch mehr umhauen könnte als sie es bisher schon getan hat, aber sie hat mir das Gegenteil bewiesen.
Den Moment, als sie mich mit diesem Messer bedroht hat, werde ich niemals vergessen. Ich bin so fasziniert von ihr, dass ich es ihr kein Stück übelnehmen kann.
Im Gegenteil, ich bin froh, dass sie sich zu verteidigen weiß und es auch tut.
Ihr Messer an meiner Kehle war um einiges leichter zu ertragen als ihr ins Gesicht lügen zu müssen. Für eine Millisekunde wollte ich ihr sagen woher wir uns kennen und ihr meine, und somit unsere, ganze Geschichte zu erzählen. Doch das geht nicht. Es würde ihre ganze Welt auf den Kopf stellen und das könnte dazu führen, mein Leben komplett zu ändern. Noch bin ich dafür nicht bereit, dafür muss ich leider noch einiges ändern. Das geht momentan nicht und dafür hasse ich mich.
Der Hauptteil von mir hofft, dass sie eines Tages meine Nummer wählen wird und ich sie zumindest ein wenig in meinem Leben halten kann, doch der eine kleine vernünftige % in mir, weiß, dass das nicht funktionieren wird. Ich muss einfach meinen Scheiß regeln und sie dann erst in den Misthaufen der sich mein Leben nennt integrieren. Und ich muss vom ganzen Herzen hoffen, dass es dann nicht bereits zu spät ist.

„Also was sagst du?“

„Wozu denn?“, grummele ich.

John reibt sich die Hände. „Zu deiner ersten Lektion Johntraining. Was genau dabei passieren wird ist allerdings noch eine Überraschung.“ John lacht.

Ich hasse Überraschungen. Seit Jahren schon hatte ich keine positive Überraschung mehr. Überraschungdein Vater ist ausgewandert. Überraschungdu kannst doch nicht studieren. Überraschungdas Mädchen in das du seit Jahren verliebt bist, ist in der Gang deines Feindes und somit kein Stück so sicher, wie du all die Zeit dachtest. Yay.

„Ja, whatever.“ Ich fasse mir ein Herz und werfe John ein halbherzigs Lächeln zu. Ich weiß, dass er sich Sorgen um mich macht und sich Mühe gibt meine Lage zu verbessern. Auf seine eigene Weise. John erwidert mein lächerliches Lächeln mit einem strahlenden Grinsen und auch wenn ich es nicht möchte, sondern weiter in meiner Morgengrummeligkeit verweilen will, hebt sich meine Laune.

 

2 Tassen Kaffee, 4 Stunden und 32 Minuten im Fitnessstudio und eine Dusche später bin ich mit deutlich besserer Laune und Energie auf dem Weg zu meiner „Überraschung“.
Eigentlich bin ich kein Fan von Fitnessstudios, sondern mache liebere Mannschaftssport. In der Highschool war ich Vize-Captain des Footballteams und habe aufgrund meiner sportlichen Leistung und meiner nicht üblen Noten ein Stipendium an der UCLA bekommen, um dort für die Mannschaft zu spielen. Nur konnte ich dieses leider nicht antreten, was mich an der gesamten Situation fast am meisten zermürbt. Um nicht komplett aus der Form zu kommen, gehe ich ins Fitnessstudio. Schließlich könnte es sein, dass ich irgenwann doch noch an die UCLA kann und dann möchte ich Fit sein. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit dafür wirklich sehr gering ist. Ich würde lieber in einem Footballteam spielen um auch meine Fingerfertikeiten weiterhin aufrecht erhalten zu können, aber dank meiner flexiblen Arbeitszeitenist das leider nicht möglich. Und da Hunter es gefällt, dass seine Kampfmaschine (Seine Wort nicht meine) Sport macht, ist das Fitnessstudio die beste Lösung.

John und ich laufen gefühlt durch die gesamte Stadt und das erinnert mich daran, dass ich seit Ewigkeiten nicht mehr so etwas wie einen Spaziergang gemacht habe. Einfach so losgehen ohne irgendein Ziel oder etwas zu erledigen. Ich erwische mich dabei wie sich so etwas wie Ruhe in mir ausbreitet. Ich habe so lange nichts mehr einfach nur so gemacht und auch wenn dieser Spaziergang ein Ziel hat, das ich einfach nur nicht kenne, beruhigt es mich einfach nur in der Herbstsonne rumzulaufen.

Nach etwas über einer Stunde Fußmarsch landen wir vor einem Eckcafé in einer kleinen Seitengasse, das Schild über der mindestens 2,5 Meter hohen gläsernen Eingangstür verrät mir den Namen des Cafés „The lovely Edge“. Etwas kitschig für meinen Geschmack, aber da es eh auf die innere Werte ankommt, lasse ich mich davon erst einmal nicht abschrecken.

Ich sehe John an, der mich mit seinen großen braunen Augen erwartungsvoll anblickt.

„Es ist… ein Café“, meine ich lahm.

„Das ist korrekt! Ich beneide Dich um deine Auffassungsgabe.“

„Haha.“, sage ich ironisch muss mir aber ein Lachen verkneifen. „Was genau machen wir denn hier? Ist da drin irgendwas besonderes?“
John lächelt mich freundlich an „Vince, mein Freund, wann genau warst du denn das letzte Mal in einem Café? Einfach nur so um was zu trinken und vielleicht ein Stück Kuchen zu essen?“
Ich wandere durch meine Erinnerungen und versuche mich zu erinnern. Doch all meine Erinnerungen an Kuchen und Kaffee sind so alt, dass Timothy in keiner von ihnen vorkommt. Ich seufze und nicke John zu um ihm zu verstehen zu geben, dass er Recht hat.
Ich betrete das Café und verzeihe ihm sofort seinen Namen. Es besteht aus alten Dielen, Wänden aus Beton und unzähligen Pflanzen, die ich teilweise noch nie gesehen habe. Es ist im Industriestil gehalten und wirklich geschmackvoll eingerichtet. Durch die Bodentiefen Fenster fällt warmes Tageslicht. Alles wirkt hell und freundlich, so dass ich mich direkt wohlfühle.
„Siehst du, ich wusste doch, dass es Dir gefällt.“ Erst als John das sagt, merke ich, dass ich tatsächlich lächle.
„Wie hast du diesen Ort gefunden?“, frage ich ihn neugierig. Was ich damit eigentlich meine ist: Warum finde ich so einen Ort nicht?

„Das ist tatsächlich gar nicht so schwer, wenn man nicht gerade den ganzen Tag trübsal blasend im Bett liegt und sein Leben betrauert.“

Ich mache eine wegwerfende Handbewegung und steuere auf einen freien Tisch zu.

Es handelt sich um eine Sitznische mit gelben Bänken und einem auf alt gemachten hölzernen Tisch in dessen Kerzen und weitere Pflanzen stehen.
Verglichen mit der grauen, fast spartanischen Einrichtung bei mir „Zuhause“ ist das hier ein wahrer Wohntraum.

Wir lassen uns gegenüber auf die durchgesessenen, aber doch sehr gemütlichen Polster fallen.

Als die freundliche aber etwas schüchterne Bedienung meine Bestellung aufnimmt, lasse ich mich doch tatsächlich dazu hinreißen statt des üblichen pragmatischen Wassers einen Kaffee (schwarz) und ein Stück Erdbeertorte zu nehmen. John nimmt diesen Sinneswandel strahlend zur Kenntnis und ich weiß jetzt schon, dass er sich diesen „Fortschritt“ auf seine Kappe schreiben wird.

„Wir sind übrigens leider doch nicht einfach nur so hier.“, sagt John, seinen Schokokuchen kauend.

Ich ziehe eine Augenbraue hoch, doch bevor er darauf antworten kann, schlägt mir schon ein fester Handschlag auf die Schulter.
Mit einem Satz bin ich aufgestanden. Der Kerl vor mir ist nur wenig kleiner als ich, trotzdem würde ich meine Chancen gut einschätzen, falls es zu einem Kampf kommen sollte.
„Finger weg.“, zische ich und baue mich vor ihm auf.

Er hat kurzgeschorene schwarze Haare und ein Muskelshirt und sieht mich durchdringend an. Das kann ich auch.

Ich sehe aus dem Augenwinkel wie die rothaarige Bedienung von vorhin schon nervös zum Telefon greift. Ob zurecht oder nicht, weiß ich noch nicht.

„Wooooow, ganz ruhig.“ Erst als John nach meiner Faust greift und sie langsam nach unten drückt, merke ich, dass ich sie überhaupt gegen den Fremden erhoben habe.

„Vince, das ist Dimitrij.“, kommt es jetzt fast schon feierlich von John. „Und das ist Sam.“

Erst jetzt sehe ich den etwas kleineren Jungen der hinter Dimitrij hervortritt und mir jetzt die Hand entgegen streckt.

„Äh, hi.“ Etwas perplex gebe ich ihm die Hand.

Dann setzen wir uns hin als wäre nichts gewesen, während ich immernoch überhaupt keine Idee habe, was hier gerade passiert.

John kratzt sich nervös am Hinterkopf „Sorry, so war das irgendwie nicht geplant.“

Die rothaarige Kellnerin scheint genauso verwirrt zu sein wie ich und hält noch immer das Telefon umklammert. Zwischen dieser fast Prügelei und dem gemütlichem Zusammensitzen unter Freunden lagen nur wenige Sekunden.

„Also“, wendet John sich jetzt an mich, denn die beiden anderen scheinen zu wissen was das hier gerade ist. „Du weißt, dass Hunter… expandieren will.“ Ich nicke. Expandieren ist eine schöne Umschreibung dafür.

„Und dafür brauchen wir mehr Leute.“ Klingt einleuchtend.

„Dimitrij hat sich die letzten paar Monate ähm… ein Zimmer mit Rhodan geteilt und Sam war ihr… naja er war ihr Postbote.“ Ich verkneife mir ein Lachen, das definitiv sehr verbittert rausgekommen wäre.
Rhodan ist Hunters älterer Bruder, der eigentliche Anführer der Gruppe.
Allerdings wurde Rhodan vor 3 Jahren wegen illegalen Drogenbesitzes und Körperverletzung zu ein paar Jahren Haft verurteilt.

Was bedeutet, dass ich gerade einem Exknacki und seinem Dealer gegenübersitze. Na großartig.

„Toll. Ich bin der der für Hunter die Hausbesuche mache.“ Klinge ich Ironisch? Niemals.

Dimitrij und Sam nicken nur ernst.

„Und wieso genau sitzen wir jetzt hier?“, frage ich ungeduldig. In meinem inneren macht sich irgendetwas beklemmendes breit.

Ich habe mich tatsächlich auf diesen Tag mit John gefreut, auch wenn ich das ihm gegenüber nie zugeben würde und jetzt ist auch dieser Cafébesuch Arbeit. Arbeit die ich hasse.

John sieht mich verwirrt an, „Was meinst du? Na, weil wir neue Leute brauchen für die Expansion.“
„Nein, warum treffen wir uns hier? Warum sind wir nicht in irgendeinen ranzigen McDonalds um die Ecke gegangen, sondern hier her?“

Ich weiß, dass wir nicht zu unserem Hauptquartier können solange wir den beiden noch nicht zu hundert Prozent vertrauen, aber irgendein abgehalfterter Schuppen um die Ecke hätte es doch auch getan und wäre sogar besser gewesen. Hier fallen wir zwischen den Hosenträgerträgern und rosa Haaren doch noch viel mehr auf. Was das Gegenteil von dem ist was eigentlich unser Grundsatz ist.

„Hä? Wir gehen doch gleich weiter.“, sagt Dimitrij.

Meine Augen verengen sich: „Wohin?“

Ich vernehme ein Husten von John und kurzdarauf seine leise Stimme: „In das Bordell um die Ecke, kennst du doch?“

Kenne ich.
„Wir haben da noch was zu erledigen. Auftrag von Hunter, habe ich wohl vergessen dir zu sagen.“ Ja genau, vergessen. „Außerdem dachte ich du könntest da vielleicht ein bisschen Spaß haben.“

Jetzt wird mir alles klar. Der Cafébesuch heute war gar nicht die erste Etappe von Johns „Mutmachplan“ für mich.
Ich schüttele genervt den Kopf. Was erwarte ich auch, sowas unschuldiges wie ein Cafébesuch, ein ganz fucking normaler Cafébesuch wäre viel zu harmlos für John. Ich soll also jemanden dafür bezahlen „Spaß“ zu haben und nebenbei noch ein paar Kunden für Hunters neues Geschäft akkreditieren. Super. John ist heute wirklich darauf bedacht mich in den Wahnsinn zu treiben. Und gleichzeitig noch tiefer ins dunkle.

Ich merke wie meine Hände sich zu Fäusten ballen. Alle gute Laune von vorhin ist wieder dem dunklen irgendwas in meinem Selbst gewichen.

  1. Bin ich durchaus in der Lage mir selbst jemanden zum Vögeln zu suchen ohne das Geld, dass Mom und Timmy gut gebrauchen könnten dafür zu verschleudern. Ich habe nur schlichtweg keine Lust auf irgendwas. Nicht mal darauf.
  2. Steht mir seit gestern erst recht nicht der Sinn danach irgendeine belanglose Frau zu vögeln.
  3. Was soll das?

Ich ziehe einen zwanzig Dollar Schein aus dem Portemonnaie, lege ihn auf den Tisch und stehe auf. Die Lust meine Zeit in diesem Laden zu verbringen ist mir komplett vergangen.
„Dann lass uns gehen.“

Kapitel 12 • Liv

Als ich gerade ins Land der Träume drifte (um kurz vor 18 Uhr wohlgemerkt) höre ich einen lauten Knall, der durch unsere ganze Wohnung scheppert. Mit einem Mal bin ich wieder hellwach und schnelle nach oben, was ganz und gar nicht gut für meinen Kopf ist, aber das ist mir momentan egal.

Ich deute Oliver, der auf dem Boden mit Lego spielt,  mit einem Lächeln an hier zu bleiben und hoffe darauf, dass er sich zumindest einmal an meine Anweisungen hält. Die Angst in seinen Augen lässt allerdings darauf schließen. Fürs erste.

Noch in meinen Schlafsachen schnelle ich auf den Flur, dessen kalte Fliesen mich frösteln lassen.

„Wie kannst du nur?“, höre ich jemanden schreien, der ganz klar mein Bruder ist. Nur habe ich ihn noch nie so außer sich gehört. Und vor allem: Wen schreit er an?

„WIE KANNST DU NUR?“ Ich revidiere meine Aussage. Ich habe ihn noch nie sodermaßen außer sich gehört. Und warum höre ich nur ihn reden?

Die Stimme kommt aus dem Zimmer in dem normalerweise Tyler, Cem oder Mike sich aufhalten, wenn sie es nicht mehr nach Hause schaffen oder es nicht mehr nach Hause schaffen wollen. Jeder hier hat seine ganz eigene persönliche Geschichte.

Statt darüber nachzudenken zu lauschen oder sonstiges marschiere ich querfeldein in das Zimmer in dem ich schon so viele Abende mit Filmen, Popcorn und Lachen mein Leben vergessen konnte. Wenn Grey etwas so ausrasten lässt will ich wissen was es ist und helfen wo ich kann.

Als ich die Tür schwungvoll öffne sehe ich zwei Köpfe. Der eine rot vor Zorn und der andere weiß vor… Angst? Es sind Grey und Tyler. Und in Greys Hand glänzt die Kette unserer Mutter. Dreckig und kaputt. Neben Tyler ist ein faustgroßes Loch in der brüchigen Wand. Der Knall.

Beide Köpfe drehen sich ruckartig zu mir.

„Liv…“, höre ich Tylers erschrockene Stimme. Seine Augen flehen mich an zu gehen, nicht hinzusehen was Grey da in der Hand hält. „Ich war das n…“

„Liv.“ Grey klingt kalt. Bösartig. „Tyler war es. Tyler hat die Kette unserer Mutter gestohlen. Er hat sie verschmutzt und beschädigt. Er hat sie durch den Dreck gezogen. Der verfluchte Bastard war es. Er war es die ganze Zeit.“ Während er spricht wird seine Stimme immer lauter und wütender. „Wir haben ihn bei uns wohnen lassen. Haben ihm unser Essen gegeben. Und dieser verfluchte Hurensohn hat das einzige was wir von ihr haben genommen und zerstört.“ Er schnaubt vor Wut.

Ich weiß nicht wohin mit meinen Gefühlen. Tyler soll der Dieb sein? Tyler, mein bester Freund?

„Halt die Klappe, Oliver ist nebenan.“, ist das einzige was ich flüsternd herausbringe, ich weiß einfach nicht was ich sagen soll. Mein gesamtes Inneres ist in Aufruhr.

Tyler, der vor Angst wie erstarrt ist, starrt mich flehend an: „Liv, bitte glaub mir, ich würde n…“

„Noch ein Wort und ich vergesse mich.“, zischt Grey. Jetzt jedoch wesentlich leiser, aber dennoch bedrohlich. „Hau ab Tyler, ich will deine hässliche Visage hier niemals wiedersehen. Wenn du dich noch einmal hier blicken lässt, wenn ich dich noch einmal irgendwo antreffe, wird es das letzte Mal sein, dass du irgendetwas siehst. Und jetzt verpiss dich, du verfluchte Missgeburt.“ Greys Atem kommt laut und stoßweise. Ich weiß aus Erfahrung, dass er sich nicht mehr lange wird beherrschen können und die Vorstellung er könnte Tyler ernsthaft wehtun, zerreißt mich förmlich.

„Geh.“, sage ich deswegen zu Tyler. „Geh und komm nicht wieder.“ Bitte.

Ich sehe wie etwas in Tylers Augen aufblitzt, dann senkt er den Blick, taucht unter Greys Arm hindurch und verlässt die Wohnung. Und unser Leben.

Grey wischt sich frustriert durchs Gesicht und platziert dann einen weiteren Schlag gegen die Wand, der ein weiteres Loch direkt neben dem ersten ergänzt.

„Scheiße! Scheiße! Scheiße!“

„Scheiße sagt man nicht.“, flüstert Oliver. Grey sieht langsam von der Wand zu unserem Bruder, der langsam aus unserem Zimmer getapst kommt. Pure Verzweiflung spricht aus seinem Blick.

„Ich weiß, es tut mir leid.“, flüstert er leise. Alle Kraft ist aus seiner Stimme gewichen und er hört sich genauso verzweifelt an wie ich mich fühle.

„Ist schon okay. Manchmal sag ich es auch aus Versehen.“ Ein leichtes Lächeln flüchtet sich auf Greys Gesicht. „Komm mal her, Ollie.“
Greys lässt sich auf die Knie sinken, Oliver geht langsam auf ihn zu und legt beide Arme um ihn, während ich immernoch wie angewurzelt im Türrahmen stehe und nicht weiß wohin mit meinen Gefühlen. Grey vergräbt den Kopf an der Schulter und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken er würde weinen. Doch Grey hat seit Jahren nicht mehr geweint. Nicht seit…

Plötzlich geht die Haustür wieder auf, Greys Körper ist sofort wieder komplett angespannt und binnen einer Sekunde steht er wieder aufrecht und die Verzweiflung von eben ist wie weggeblasen. Sein kurzer Moment der Schwäche ist vorbei. Oliver hat er leicht hinter sich geschoben, als plötzlich viele schwarze Afrohaare zu sehen sind. Und das dazugehörige empörte Gesicht von Tess.

„Greyson James Caulder, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht so einen verfluchten Lärm machen sollst, irgendwann schmeiße ich dich noch raus, du ungehobelter…“ Ihr Blick fällt auf die Kette, die Grey noch immer umklammert hält.

„Ach Hase.“, sagt sie jetzt mitfühlend und plötzlich liegen sowohl Grey und Oliver, als auch ich in einer großen Tess-Umarmung. Tess-Umarmungen sind selten und wertvoll, sie lassen einen runterkommen, sich geborgen fühlen und loslassen. Wie Umarmungen von einer sehr voluminösen und sehr sehr liebenden hingebungsvollen Mutter.

„Ich mache euch jetzt eine heiße Schokolade und ihr erzählt mir was passiert ist.“, murmelt sie in mein Haar, was bewirkt, dass mir zum heulen zumute ist.

 

25 Minuten und zwei Tassen Kakao später haben wir Tess alles erzählt. Wir versuchen normalerweise sie weitgehend aus diesen Dingen rauszuhalten, doch das ist an Tagen wie diesen schlichtweg nicht möglich.

Sie macht sich immer viel zu viele Sorgen um jeden einzelnen von uns.

„Greyson, glaubst du wirklich, dass Tyler das war?“, fragt sie jetzt skeptisch.
Grey verzieht keine Miene. „Die Kette lag in seinem Schuhkarton.“
Tylers Eltern sind sehr missgünstig und egoistisch. Vor allem sein Vater würde allein aus Spaß seine Habseligkeiten zerstören, wenn er sie hier finden würde. Aus diesem Grund bewahrt er alle Dinge die ihm wichtig sind in einem Schuhkarton in unserer Wohnung auf. Er hat mir einmal gezeigt, was dort drin ist. Ein Ring von seiner verstorbenen Oma, Liebesbriefe die er in der Grundschule von einer heimlichen Verehrerin bekommen hat, den ersten Baseball, den er gefangen hat und weiteres absolut harmloses Zeug.

„Jemand kann die Kette auch einfach dort platziert haben.“, fährt Tess fort.

„Warum sollte das jemand gemacht haben?“

„Warum sollte Tyler, unser Tyler, der mir stets im Garten geholfen hat oder mein Einkäufe ins Haus getragen hat, obwohl ich deswegen immer genervt von ihm war, die Kette eurer Mutter klauen? Er war doch immer euer Freund, ich weiß das, ihr habt ihn schon fast zur Familie gezählt. Ihr habt ihm immer vertrauen können.“

„Es ist mir egal, was er getan hat, um nett zu wirken. Ich weiß er war unser Freund. Aber meine Priorität sind Liv und Oliver. Wenn auch nur der Verdacht im Raum steht er könnte meiner Familie etwas antun, ist es meine Verantwortung, sie aus dieser Gefahr zu holen. Dann ist es egal wer er ist oder wer er für uns war. Ich vertraue niemandem.“

Tess schüttelt resigniert den Kopf und legt ihre Hand auf Greys, der sie nur widerwillig liegen lässt.

„Junger Mann, in dem Moment wo du in dieses Haus gekommen bist, vor all den Jahren, bist sowohl du als auch deine Geschwister zu meiner Verantwortung geworden.“

„Ich bin nicht…“

„Sei ruhig. Ihr drei seid mir als Fremde begegnet, ich habe alles für euch getan was ich konnte und das würde ich auch immer wieder so machen. Ihr steht unter meiner Obhut, unter meiner Verantwortung. Ihr seid mir das wichtigste. Wenn ihr irgendwer anders wärt, hätte ich euch schon mindestens 100 Mal aus meinem Haus geworfen. Und glaub mir, wenn irgendwer euch etwas tun würde, würde er sich auch mit mir anlegen. Und das würde nicht gut für denjenigen ausgehen, dafür würde ich sorgen.“ Sie macht eine kurze Pause, um sich zu sammeln. „Und deswegen glaube mir, Grey, wenn ich dir sage: Tyler war es nicht, er würde so etwas niemals tun. Er ist euer Freund und er liebt euch genauso wie ihr ihn liebt. Irgendjemand möchte ihm etwas in die Schuhe schieben, das ist die Gefahr, der ihr euch stellen müsst. Fürchtet euch vor diesem Unbekannten, nicht vor Tyler.“

Für ein paar Sekunden herrscht Stille, aber keine unangenehme. Stille die die Bedeutung ihrer Worte noch besonderer macht. Stille, in der wir alle einvernehmlich unser Band zueinander genießen und das Glück, dass wir irgendwie zusammen gefunden haben. In der schwierigsten Zeit unserer Leben.
„Danke Tess. Du gehörst natürlich auch zu unserer Familie. Aber Tyler kann ich nicht mehr vertrauen. Worte können nichts daran ändern. Ich werde nicht aufhören vorsichtig zu sein, falls es doch jemand anderes war, aber ich kann Tyler nicht einfach wieder vertrauen, ich kann es einfach nicht.“, sagt Grey dann heiser und mit glasigen Augen, die genau das widerspiegeln was ich empfinde.

„Ich glaube auch nicht, dass es Tyler war.“, melde ich mich jetzt zu Wort. „Und ich werde es dir beweisen, du verdammter Sturkopf.“

 

Kapitel 13 • Vince

Warum ausgerechnet ein Bordell -besser gesagt das Lola`s- hauptsächlicher Ort unserer täglichen Geschäfte ist, wurde mir bereits bei meinem allerersten Besuch hier klar.

Hier tummeln sich alle herum und niemanden stört es, solange sich an die Regeln gehalten werden. Kleinganoven und nicht ganz so kleine Ganoven wickeln hier ihre Geschäfte ab, egal was, egal wann. Nur ohne Gewalt, das ist die einzige Regel. Keine Waffe darf mit hinein und auch die Fäuste dürfen nicht benutzt werden. Falls sich jemand nicht daran hält, wird er mit Rosie, dem zwielichtigen, zwei Meter großen und breiten Besitzer des Lola´s bekanntgemacht, über den gesagt wird er hätte schon mindestens zwei Morde begangen. Und das will man mit Sicherheit nicht. Genauso wenig wie mit seinem Terrier-Rüden Lola.

Die Polizei verirrt sich so gut wie nie hier her. Allerdings habe ich keinen blassen Schimmer wieso nicht, schließlich befindet sich hier ein wahrer Goldschatz an Verbrechern und Drogen.

„Whiskey.“, sage ich zu Jen, der Barkeeperin, die schon hier arbeitet, seit ich das erste Mal mit süßen 14, hier herein gestolpert bin.

„Na, du bist heute aber wieder blendend gelaunt.“, lacht sie. „Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?“

„Die mit Alkoholentzug.“, erwidere ich knapp, nicht zum Smalltalk aufgelegt. Jen zuckt nur mit den Schultern, sie ist es gewohnt keine Infos zu bekommen, und stellt mir ein Glas mit Whiskey vor die Nase. Doppelten. Immerhin weiß die Frau, was ich brauche.

Ich sehe mich im Club um. Spärlich bekleidete Frauen schlängeln sich akrobatisch an Pole-Stangen entlang, um sie herum hauptsächlich gaffende mitvierziger. An den Tischen hängen Zigarre rauchende Drogenbosse und Freier in (Achtung: Klischee) Leo-Mänteln. Der ganze Club ist vernebelt und stickig von zu dick aufgetragenem Parfüm, Zigaretten, Zigarren, Joints und weiterem.

In der Ecktisch, die unser Stammplatz ist, haben bereits John, die beiden Neuen und… Cora platzgenommen. Na super.

Als ich nach meinem Portemonnaie in meiner hinteren Hosentasche taste erstarre ich. Denn statt eines eher spärlich gefüllten halb zerfallenen Lederetuis ist da nichts. Dieser Tag will mich schlichtweg verarschen. Das Bordell und Cora hätten mir durchaus gereicht.

„Schreibs bitte auf, ich habe wohl mein Geld vergessen.“, sage ich an Jen gewandt, die nickt zur Bestätigung. Sie weiß, dass ich wiederkommen und meine Schuld begleichen werde, wie immer.

Cora lächelt mich schon von weitem mit ihrem Zahnpastawerbungslächleln an. Das übrigens genauso unecht wie ihre hellbloden Haare und ihre üppigen D-Körbchen ist.

„Vince, wie schön, dass du auch hier bist.“, sie erhebt sich und drückt ihre Brüste bei der Umarmung fest an mich. Ich löse mich von ihr. Als ich 16 und ziemlich verzweifelt und ziemlich pubertär war, habe ich mich einmal dazu hinreißen lassen mit ihr zu vögeln. Dass es bei diesem einen Mal blieb, liegt erstens daran, dass sie absolut nicht mein Typ ist und zweitens, daran, dass sie Hunters Schwester ist. Der mir bei lebendigem Leibe die Haut abreißen würde, wenn er wüsste, dass ich seine Schwester schon einmal von innen erkundet habe.

Cora sieht es allerdings ganz und gar nicht ein, dass wir nur Arbeitskollegen sein sollten und wirft sich mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit an den Hals.

Ohne sie sonderlich zu beachten setze ich mich und nehme einen Zug puren Whiskey.

Ich rede nicht lange um den heißen Brei rum, ich hasse diesen Ort und will nicht länger als nötig hier verweilen. „Was ist hier zu erledigen? Ich habe nicht ewig Zeit.“

Cora sieht mich schmollend aus riesigen unechten Wimpern an. „Ach Vince, genieß doch mal die Zeit mit uns, ich weiß doch, dass du länger kannst.“ Zwinkern. Ich atme einmal ein. Tief und Bedrohlich. Anspielungen gehören auch zu der Prozedur, der sie mich jedes Mal aussetzt. Zumindest wenn Hunter nicht dabei ist.  

John der anscheinend mittlerweile kapiert zu haben, dass ich nicht mehr zu Späßchen aufgelegt bin antwortet mir: „Jeremiah Perkins.“

Ich stöhne auf. „Schon wieder?“

„Ja, heute ist seine letzte Chance hier aufzukreuzen.“

Was es bedeutete, wenn er nicht aufkreuzen würde, musste er gar nicht erst sagen, ich hatte jetzt schon Gänsehaut wenn ich daran dachte.

„Sorry, aber…“, meldet sich Dimitrij, den ich schon fast wieder vergessen habe „ … wer ist das und was ist mit ihm? Wenn wir hier wirklich integriert werden sollen, brauchen wir schon ein paar Infos.“

John runzelt die Stirn und auch ich habe bedenken. Woher sollen wir wissen, dass diese beiden Pappnasen dicht halten können und auch wirklich keine Maulwürfe sind? Schließlich sind es brisante Infos die sie verlangen. Ich hasse es neue Leute einzuweisen, meistens halten sie nur wenige Monate durch, bis sie heulend verlangen austreten zu dürfen. Und nie habe ich ein gutes Gefühl dabei weitere Menschen in ihr Unglück zu stürzen ohne überhaupt zu wissen ob sie vielleicht nicht mich in meines stürzen wollen.

Aber was Hunter sagt ist Gesetz und zu diesem Schluss scheint wohl auch John gekommen zu sein „Jeremiah kauft regelmäßig bei uns. Mal sind es Waffen, meistens sind es Schutzdienste, wenn er irgendeinen krummen Deal geplant hat. Jeremiah ist ein kleiner Schwächling, ein Pseudo-Gangster, seine Kontrahenten nähmen ihn nicht ernst, wenn er ohne uns irgendwo auftauchen würde. Wir sind quasi seine verschissenen bezahlten Bodyguards. Am Ende eines jeden Monats muss er bezahlen, was er eigentlich auch tut.“ John schüttelt genervt den Kopf „Nur letzten Monat hat er zu spät bezahlt. Wir treffen uns extra hier mit ihm, an einem sicheren neutralen Ort, damit er auch wirklich keine Befürchtungen haben muss und uns einfach das Geld abliefert. Wir rechnen mit ihm in ca. einer Stunde. Bisher hat das geklappt.“

Dimitrij nickt verstehend – und meiner Meinung nach leicht dümmlich – und Sam meldet sich das erste Mal seit einer Ewigkeit zu Wort. „Was passiert, wenn er nicht kommt?“

„Dann werde ich ihm einen Besuch abstatten müssen.“, antworte ich ihm grimmig.
Ein böses Grinsen schleicht sich auf Sams Gesicht, doch er sagt nichts mehr. Er scheint der schlauere der Beiden zu sein.

Dimitrij schlägt mit beiden Händen auf den Tisch, sodass mein Glas gefährlich anfängt zu wackeln. „Ich werde mich jetzt etwas begnügen, wir sind ja schließlich nicht nur zum arbeiten hier.“ Als ob du heute schon großartig irgendwas gearbeitet hättest, Idiot.

Dimitrij verschwindet hinter einer Tür, die nach oben zum „spaßigen“ Bereich führt, anscheinend kennt er sich aus, während Sam sich zu den geiernden mitvierzigern gesellt und John an die Bar geht um ein wenig mit Jen zu flirten. Die zwar ungefähr doppelt so alt wie er ist, aber das stört ihn nicht.

Ich bleibe also mit Cora zurück. Ich bleibe, falls Jeremiah doch früher kommt als gedacht und Cora bleibt meinetwegen.

Langsam schlägt sie die Beine übereinander, sodass ihre nackten Oberschenkel, die in einem silbermetallischen sehr knappen Kleid stecken, sich berühren. Mit ihrem in rote High Heels gesteckte Füße fahren an meiner dunklen Jeans hoch und runter. Ich drehe mich weg.

„Komm schon, Vince, der Typ wird erst in einer Stunde hier sein. Bis dahin ist viel Zeit.“ Sie zwinkert mir zu. „Es gibt hier private Räume, die man mieten kann. Wir könnten einige böse Dinge anstellen.“ Sie greift nach meiner Hand, die ich um das Glas gelegt habe. „Ich weiß, dass du es auch willst, Vince, mach dir um meinen Bruder keine Sorgen, er wird es nicht erfahren.“ Sie grinst mich süffisant an, wie kann man angesichts meines offenkundigen Desinteresses so viel Selbstvertrauen haben? Ich umschließe ihre Hand mit meiner und sehe ihr tief in die Augen. „Siehst du all diese Frauen hier? Jede einzelne würde ich lieber ficken als dich.“

Sie entzieht mir ihre Hand und steht ruckartig auf und entreißt mir ihre Hand. „Das werden wir noch sehen.“ Geraden Rückens stolziert sie zu einem Tisch, an dem gerade vier junge Männer pokern und fährt einem von ihm mit ihren Fingernägeln über den Rücken. Ich wende mich ab, es ist mir egal, mit wem sie was macht, auch wenn sie das vielleicht nicht glaubt.

Ich nehme den letzten Zug Whiskey und lasse mich nach hinten fallen. Endlich alleine mit meinen Gedanken.

Seit ich 17 bin, bin ich Hunters „Vollstrecker“, wie er es gerne nennt. Einerseits, weil ich mit 1,89m einer der größten bei uns bin und außerdem, weil ich meistens so schlechte Laune habe, dass meine Anwesenheit schon angsteinflößend wirkt. Zumindest wurde mir das gesagt.

Aber der Hauptgrund ist, dass Hunter alles von mir verlangen könnte und ich würde es tun. Die anderen haben keine Familie oder haben sie gut genug vor Hunter versteckt, sodass er sie nicht damit erpressen kann. Glückspilze.
Meine Familie allerdings kennt er. Und Liv. Und es ist seine Lieblingsbeschäftigung mir genau das vor Augen zu halten, wenn ich mich weigere einen grausamen Auftrag nach dem anderen anzunehmen. Kurz gesagt, Hunter hat mich an den Eiern. Und das weiß er genau.

 

Eine Weile später kehren ein breit grinsender Dimitrij und Sam wieder zurück, irgendwann kommt John dazu und sogar Cora gesellt sich zu uns, jedoch ohne mich eines Blickes zu würdigen.
John sieht mich mitfühlend an. „Bro… Willst du vielleicht doch noch für ein kurzes Schäferstündchen…“

„Fick dich, John.“, fahre ich ihn an und verlasse das Lolas.

Jeremiah ist nicht gekommen.

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Tag der Veröffentlichung: 18.10.2017

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