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Vollmond


Einem Silberschleier gleich legt sich das Mondlicht über die Schatten der Nacht. Mit seiner magischen Kraft drängt es durch die Schlafzimmerfenster, gleitet an den Wänden entlang bis zu den Betten der Menschen. Dort verweilt es einen Augenblick. 

Es ist auf der Suche. Sein Ziel sind die Empfindsamen, die mehr spüren als jene, die arglos durchs Leben stolpern, trotz all der Abgründe, in die sie jederzeit hinabzustürzen drohen. 

Es küsst die Stirn der Schlafenden, kriecht in ihre Seelen. Befallen von einer Unruhe, für die sie keine Erklärung finden, wälzen sie sich in den Kissen. Entkoppelt von der grausamen Welt ihrer Vorfahren ahnen sie nicht einmal, welcher Schrecken aus dem Silberlicht des Mondes schlüpft. 

Mit gesenktem Kopf schleicht er durch die Nacht. Geifer tropft von seinen Lefzen. In seinen Augen glüht ein kaltes Feuer. Er hat Witterung aufgenommen. Sein leises Knurren zeugt davon, dass er weiß, wo sich seine Beute versteckt.

Kelly schreckte hoch. Ein Traumgespinst hatte sie geweckt. Da waren Reißzähne und Krallen und ein schauderhaftes Knurren gewesen. Sie wickelte sich fester in ihre Decke ein. Viel zu grell strahlte der Vollmond durchs Fenster. Kein Wunder, dass sie irgendeinen Blödsinn zusammenträumte. Um aufzustehen und die Vorhänge zuzuziehen, dafür war sie zu müde. Sie zwang ihre Augen in Richtung Wecker. Auf dem Display leuchteten die Zwei und die Elf. Also konnte sie noch knapp drei Stunden schlafen. Ihr Flug nach Deutschland mit Zwischenstopp in Toronto ging erst am späten Vormittag vom Airport Newark ab.

Sie schloss die Augen und dämmerte zurück in den Schlaf. Keinesfalls gehörte sie zu den Empfindsamen, die sich vom Vollmond beeindrucken ließen.

Aus den Federn

 
Das Piepsen des Weckers bohrte sich direkt in ihr Hirn. »Nur noch fünf Minuten.« Kelly vergrub den Kopf unterm Kissen, das sie fest auf die Ohren presste. Für zwei Sekunden verschaffte ihr das die Illusion, sie könne dem Unvermeidlichen entkommen.

Es hatte keinen Zweck. Sie musste raus aus den Federn. Der Flug nach Toronto ging Punkt elf. Vorher wollte sie noch einen unerfreulich großen Stapel Unterlagen sortieren. Den einen oder anderen Beitrag auf der Website musste sie auch noch lesen und natürlich Leesha anrufen. Leesha Williams war ihre Vorgesetzte am anthropologischen Museum. Wobei sie in Leesha, die mit ihren 28 Jahren nur drei Jahre älter war als sie selbst, eher eine Freundin denn eine strenge Chefin sah. Eine Freundin, der sie mit dieser Reise nach Deutschland einen echten Gefallen tat. Ursprünglich hatte Leesha das Artefakt für die Ausstellung aus Deutschland abholen sollen. Doch mit ihrem frisch eingegipsten Arm wollte sie sich nicht in den Flieger setzen. Der Bruch war verdammt kompliziert. Irgendein Typ hatte versucht, ihr einen dieser kleinen Aktenkoffer aus Aluminium zu stehlen, in denen sie Ausstellungsstücke fürs Museum transportierten. Leeshas Hand hatte sich unglücklich im Griff des Koffers verhakt. Der Angreifer brach ihr den Arm, als er ihr den Koffer entriss. Zu allem Überfluss schlug er sie auch noch nieder. Dabei hatte der Idiot nicht mal was gestohlen. Der aufgebrochene Koffer samt Inhalt lag nach dem Überfall noch da.

»Arme Leesha.« Kelly seufzte leise. Wie im Reflex rieb sie sich über ihr Handgelenk. Der wirre Traum von letzter Nacht fiel ihr wieder ein: Glühende Augen, die sie aus der Nachtschwärze anfunkelten. Sie schüttelte die Erinnerung ab, genauso wie die Bettdecke, unter der sich die Wärme der vergangenen Nacht angestaut hatte. 

Lustlos schleppte sie sich in das kleine Bad, das zu ihrem Hotelzimmer gehörte. Sie drehte die Dusche auf. Das kalte Wasser ließ sie frösteln. Zum Glück wurde es schnell wärmer, deshalb nutzte sie die Chance, ihre Haare zu waschen. Vor dem Spiegel kämmte sie die klatschnassen Strähnen, die wie ein dünner Film an ihrem Kopf klebten. Sie musste an Leeshas Afro denken, um den sie ihre Freundin manchmal beneidete. Wenigstens hatten ihre eigenen straßenköterblonden Fusselhaare den Vorteil, dass sie sich schnell trocken föhnen ließen. 

»Fusselhaare« und »straßenköterblond«, diese deutschen Wörter hatte sie von ihrer Urgroßmutter Berta gelernt. Sie war in den Fünfzigern aus Deutschland eingewandert und verantwortlich für das »B« in ihrem Namen: Kelly B. Housemann. Vor zehn Jahren war Granny Berta gestorben. Doch ihre Sprache lebte als Erinnerung fort. 

Das Smartphone klingelte. Das konnte nur Leesha sein. Kelly stellte das Wasser ab und wickelte sich ins Handtuch. Sie huschte aus dem Badezimmer und angelte das Smartphone vom Nachtschränkchen.

»Hallo Kelly, alles klar bei dir?«, schepperte Leeshas Stimme gegen ihr Trommelfell.

»Ja, ich habe nicht verpennt und schaffe es nach dem Frühstück locker, mir die Museumswebsite anzusehen.«

»Du meinst das Museum in Bergstadt, oder?« Leesha klang abwesend. »Es tut mir so leid, dass ich dir die Reise nach Deutschland aufgedrückt habe. Ich muss noch mal ins Krankenhaus. Sie müssen die Hand ein weiteres Mal operieren, sonst könnten zwei Finger steif bleiben.«

»Ach, Mensch.« Wut auf den fiesen Typen stieg in ihr hoch. Hoffentlich schnappte die Polizei den Kerl bald. »Mach dir keine Sorgen. Ich bekomme das schon hin. Es kann ja nicht so schwer sein, ein Stückchen altes Fell aus Deutschland abzuholen.« Eigentlich absurd, wenn sie bedachte, wofür sie den ganzen Aufwand betrieben: ein mickriges Stückchen Wolfsfell. Nur dass dieses Fell in Form eines Gürtels etwa tausend Jahre zählte. Die Menschen, die diesen Gürtel geschaffen hatten, glaubten, er besäße magische Kräfte. Was für ein Quatsch. Zumal der Aberglaube in späteren Jahrhunderten Abertausenden Menschen das Leben kosten sollte. Aber nicht, weil blutrünstige Fabelwesen mordend durch die Nacht zogen, sondern weil Unschuldige als Hexen oder Werwölfe denunziert und hingerichtet wurden.

»Was anderes erwarte ich auch nicht von dir.« Leesha riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Sie klang zuversichtlich, wenn auch ein wenig erschöpft. »Ich wünsche dir viel Spaß. Vielleicht nutzt du ja die freien Tage, um ein wenig auf den Spuren deiner Vorfahren zu wandeln. Die kommen doch aus Deutschland, oder?«

»Ja, die Großmutter meines Vaters. ›B‹ wie Berta, du weißt schon.«

»Alles klar. Dann erzähle mir alles über die Berta-Familie, was du herausfinden kannst. Ich platze schon jetzt vor Neugier.«

»Eher die Familie ›Hausmann‹.« Kelly schmunzelte. »Ich wünsche dir gute Besserung. Hat sich die Polizei noch mal gemeldet?«

»Nein. Die scheinen noch keine Spur zu haben. Es kann sein, dass sie auch auf dich zukommen werden. Du warst die Letzte, die mich vor dem Überfall gesehen hatte.«

»Ja, ich weiß. Aber bisher hat sich noch niemand gemeldet. Die lassen sich ganz schön Zeit.« Noch immer warf sie es sich vor, an jenem verhängnisvollen Abend nicht wie üblich mit Leesha gemeinsam das Museum verlassen zu haben. Sie hatte noch ein Kapitel ihrer Doktorarbeit in Ruhe überarbeiten wollen, weshalb Leesha schon vorausgegangen war. »Ich drücke dir fest die Daumen und ich denke an dich.«

»Danke. Wenn ich ehrlich bin, habe ich echt Schiss, dass es schief geht mit der Operation.« Leesha schickte ein mattes Lachen durchs Telefon. »Dann gute Reise. Genieße die Zeit. Und pass gut auf den Gürtel auf.« Sie legte auf.

Ein bisschen neugierig war Kelly schon darauf, wie dieser Gürtel aussah. Es hatte monatelange zähe Verhandlungen gekostet, bis das Bergstädter Museum für Vorgeschichte sich bereiterklärt hatte, den Gürtel als Leihgabe über den Großen Teich zu schicken. Dass ein Mitarbeiter des anthropologischen Museums das Artefakt persönlich abholte, hatte Professor Müller, der Leiter des Bergstädter Museums, zur Bedingung gemacht. Fast hätte man glauben können, dieser alte Gürtel wäre tatsächlich ein magischer Gegenstand, so wie die deutschen Museumsmitarbeiter die ganze Angelegenheit aufbauschten. Hoffentlich waren sie nicht allzu enttäuscht, dass nicht Doktor Leesha Williams, die international geachtete Anthropologin, den Gürtel abholte, sondern Kelly B. Houseman, eine unbedeutende Doktorandin, die mit ihrer Promotion schon zwei Monate im Verzug war.

Langsam wurde es Zeit für ihre Medikamente. Sie kramte im Kosmetiktäschchen nach den Tabletten, die sie seit ihrem zwölften Lebensjahr jeden Morgen wegen ihrer ADHS schluckte. Ihre Finger stießen ins Leere. Mist! Sie hatte die Dinger vergessen und keine Chance, vor ihrem Abflug neue zu besorgen, denn es handelte sich um eine Spezialanfertigung, die ein mit ihrer Familie befreundeter Apotheker extra für sie herstellte. Hoffentlich ging das gut. Egal. Die paar Tage würde sie schon ohne die chemische Keule in ihrem Blut durchhalten. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass ihr das passierte. Dabei hatte Dad sie gestern extra noch mal angerufen und an die Tabletten erinnert. Manchmal amüsierte es sie, dass ihre Eltern noch immer das kleine Kind in ihr sahen. Und manchmal ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie offenbar wirklich noch nicht erwachsen genug war, um ihre Angelegenheiten alleine auf die Reihe zu bekommen.

Rasch schlüpfte sie in ihre Klamotten, die sie sich für den Flug zurechtgelegt hatte: die bequeme Jeans, der graue Pullover und die knallbunten Ringelsocken. Ende Oktober war es auch in Deutschland recht frisch. Im Restaurant des Hotels lud sie sich zwei Toastscheiben, Rührei und Schinken auf den Teller und spülte alles mit einer Tasse Kaffee hinunter. Zurück auf ihrem Zimmer holte sie den Laptop hervor und wählte sich ins Hotel-W-Lan ein. Die Wesbsite des Museums hatte sie schon abgespeichert. Sie überflog die Startseite und klickte sich durchs Untermenü. Ein energisches Klopfen an der Tür unterbrach ihre Lektüre.

»Ja, bitte?« Niemand antwortete. Eine Sekunde lang lauschte sie in den Raum, ob sich das Klopfen wiederholte. Doch es blieb still. Wahrscheinlich war einer der Servicemitarbeiter gegen die Tür gestoßen. Oder sollte sie besser nachsehen? Ein Blick auf die Zeitanzeige ihres Laptops fällte die Entscheidung für sie. Sie würde sich nicht ablenken lassen und weiterlesen. Außerdem musste sie schon wieder ins Bad. Die Aufregung wegen des langen Fluges in Kombination mit dem Kaffee forderten ihren Tribut. Besser, sie nutzte die Chance, noch mal in Ruhe im Hotel auf Toilette zu gehen, anstatt sich gleich nach dem Start in das enge Flugzeugklo quetschen zu müssen.

Abflug

 
Zurück aus dem Bad fiel es ihr schwer, sich auf die Lektüre zu konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Das Klopfen an der Tür hatte sie völlig aus dem Konzept gebracht. Sie zwang sich, auf der Webseite des Bergstädter Museums weiterzulesen. Dabei verzichtete sie auf die englische Übersetzung. Sie sprach ganz gut Deutsch, war sie doch zweisprachig aufgewachsen. Nur mit dem Lesen haperte es etwas, weshalb sie ein wenig üben wollte. Ein Blick auf die Zeitanzeige des Laptops ließ sie vor Schreck zusammenzucken. Es blieb ihr nur noch eine halbe Stunde bis zum Einchecken. Schnell fuhr sie den Laptop herunter, klappte ihn zu und verstaute ihn im Handgepäck. Sie raffte ihre Kleidung zusammen und stopfte sie in den grasgrünen Rollkoffer. Ein prüfender Blick ins Zimmer, ob sie auch ja nichts vergessen hatte, dann stürzte sie auch schon auf den Flur hinaus und fuhr mit dem Fahrstuhl in die Lobby, um auszuchecken. 

Die Frau an der Rezeption wirkte unsicher. Sie brauchte eine halbe Ewigkeit für die Rechnung. Das dauerte viel zu lange. In Kellys Bauch kribbelte es vor Ungeduld. Am Ende verpasste sie noch den Flug, weil die Rezeptionistin so trödelte. Zu allem Überfluss setzte diese auch noch an, ihr ein Gespräch aufzudrücken. Kelly winkte dankend ab und huschte aus dem Hotel.

Mist. Sie hätte ein Taxi ordern sollen. Was das Fliegen betraf, fehlte ihr die Routine. Leesha wäre das ganz sicher nicht passiert. Aber sie hatte Glück. Vor dem Hotel erwischte sie ein freies Taxi, das sie zum Flughafen brachte.

Pünktlich auf die Minute betrat sie die Halle und begab sich auf die Suche nach dem Check-in-Schalter. Der Flug mit Air Canada ging um elf. Nach einem Zwischenstopp in Toronto Pearson sollte es kurz vor fünf Uhr am späten Nachmittag nach Frankfurt am Main weitergehen. Dort würde sie halb sieben am nächsten Morgen eintreffen und den Intercity Express nach Erfurt nehmen. Hier musste sie einmal umsteigen und gegen elf Uhr hätte sie ihr Ziel erreicht. In Bergstadt wollte sie ein Museumsmitarbeiter vom Bahnhof abholen. Hoffentlich klappte das alles. Auch wenn sie sich auf Deutschland freute, grauste es ihr vor der langen Reise.

Zugbekanntschaft

 
Die Landschaft raste am Fenster des ICE vorbei. Ein Fluss schlängelte sich durch die Aue, dessen silbriges Wasser durch die lichter werdenden Bäume blitzte. Den Wechsel aus Feldern, Wäldern und kleinen Ortschaften konnte Kelly nur als malerisch bezeichnen. Immer wieder musste sie sich zwingen, in die Unterlagen zu schauen, die sie bis zur Ankunft in Bergstadt noch durchlesen wollte. Es war einfach zu verlockend, die Blicke über die herbstlich bunte Auenlandschaft schweifen zu lassen und sich ihren Tagträumen hinzugeben.

»Und warum verschlägt es Sie ausgerechnet nach Bergstadt?« Das hatte der blonde Businesstyp gefragt, der ihr im Abteil gegenüber saß. Leesha hätte den Mittdreißiger garantiert als »äußerst attraktiv, aber absolut nicht mein Typ« beschrieben. Dass er attraktiv war, das musste sie sich selbst auch eingestehen. Nur war sie für so etwas nicht empfänglich. Mit ihren 25 Jahren hatte sie sich noch nie in irgendwen verliebt. Woran das lag, blieb ihr ein Rätsel. Wahrscheinlich musste sie sich einfach damit abfinden, dass sie als Dauersingle durchs Leben gehen würde. Nicht die schlechteste Option, wenn sie an die Beziehungsprobleme und all die Dramen dachte, die ihre Freundinnen regelmäßig an den Rand des Nervenzusammenbruchs trieben.

»Ich meine, Erfurt zum Beispiel hat viel mehr zu bieten für eine Touristin.« Der blonde Schönling lehnte sich ein Stück weit in ihre Richtung. »Der Dom, die Krämerbrücke, die Fachwerkhäuser in der Altstadt. Wenn ich so eine weite Reise machen würde, dann ganz sicher nicht, um mir Bergstadt anzusehen. Da gibt’s doch nur heruntergekommene Plattenbauten, Industrie und …«

»Meines Wissens ist Bergstadt eine der grünsten Städte Deutschlands. Seine Renaissancegebäude in der Innenstadt sind weltbekannt und sein Museum für Vorgeschichte ist einer der wichtigsten Kooperationspartner meines Arbeitgebers.« Sie blickte von ihren Papieren auf, direkt in die blauen Augen des Fremden, die sie aus seinem markanten Gesicht heraus anleuchteten.

»Ihres Arbeitgebers? Sie arbeiten für ein Museum?«

»Fürs anthropologische Museum in Philadelphia. Ich bin dort wissenschaftliche Mitarbeiterin.«

Hätte sie geahnt, dass sie die ganze Zeit über irgendein Typ vollquatschen würde, hätte sie es sich sparen können, einen Platz im Ruheabteil des ICEs zu reservieren. Anfangs hatte sie sich über das Interesse des Fremden gefreut, bot es doch eine willkommene Gelegenheit, ihre eingerosteten Sprachkenntnisse anzuwenden. Langsam kam sie sich jedoch wie bei einem Verhör vor, zumal er

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Klara Bellis
Cover: Felicitas Platzek, Coverbild: iStockphoto von Dvarg ID 1286836527
Tag der Veröffentlichung: 23.11.2021
ISBN: 978-3-7554-0098-1

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Beere und Schrumpel

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