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Kapitel 1 "Flieg Vogel, flieg"


Die Stimme in mir

´In Nächten wie dieser wünschte ich, ich wäre ein Vogel. Frei und völlig unabhängig. Ich könnte davon fliegen, wann immer ich wollte. Ich könnte die unendliche Freiheit der Lüfte spüren. Ich könnte sehen, wie die Probleme unter mir immer kleiner und kleiner werden. Ich könnte sehen, wie sie verblassen.`

Kapitel 1
,Flieg Vogel, flieg '
Sie

Ich hörte sie schon immer. Diese Melodie. Es ist fast als singt mir jemand ein Lied vor. Nacht für Nacht. Sie war immer wie ein Summen.
Leise und unverständlich, doch seit mein Vater verschwunden ist, wurde dieses Summen immer lauter und intensiver.
Ja, etwas hat sich verändert, denn heute Nacht war es kein Summen mehr.
„Öffne deine Augen und schaue auf das, was du wirklich bist.“, hörte ich eine Stimme flüstern. Dieser eine Satz ist in meinem Gedächtnis hängengeblieben. So als hätte er Widerhaken, die sich dort fest verankert haben. Oder eine wehrlose Fliege die sich im Netz verfangen hat.
Als ich morgens in die Küche trat war meine Mutter nicht da, wie so oft in letzter Zeit. Seit mein Vater verschwunden ist, hatte ich sie kaum zu Gesicht gekriegt. Sie wollte nicht akzeptieren, dass er tot war. Falls er denn tot war. 
Sie sagte, solange sie keinen Anruf erhalten habe, dass irgendeine Moorleiche als mein Vater identifiziert wurde, würde er noch leben.
Irgendwie hat sie damit auch recht. Wer soll schon wissen, ob er noch lebt?
Völlig in Gedanken schmierte ich mir ein Marmeladebrot. Ich bekam diesen Satz von Gestern einfach nicht aus dem Kopf, wie sehr ich mich auch anstrengte. Was soll das heißen, schau auf das, was du wirklich bist? Ich weiß doch, wer ich bin;
ich heiße Annabell Roth, bin 16 Jahre alt, besuche die Ottfried Wilhelm-Realschule und wohne seit ich auf der Welt bin in diesem Haus in Morgard, ein abgelegener Ort mitten im Nirgendwo.
Ich habe schulterlanges hellbraunes Haar mit unbezwingbaren Locken. Mama sagt, sie würden meinen Charakter widerspiegeln. Außerdem ständen sie für einen freien Geist. Meine Mutter heißt Susanne aber mein Vater nennt sie immer liebevoll Sanne. Oder sollte ich lieber sagen nannte ..? Er hatte damit angefangen, weil es ihn störte, dass alle sie immer „Susi“ nannten. Sie fährt entweder Fahrrad, oder malt
ein Portrait. Manchmal auch beides gleichzeitig. Sie ist immer überdreht und aufgeregt. Doch solange ich denken kann war meine Mutter
immer liebevoll und für mich da. Immer.
Mein Vater heißt Louis und ist spurlos verschwunden. Er ist das totale Gegenstück zu meiner Mutter, er ist immer ruhig und entspannt.
Beides Eigenschaften die meinen Vater auszeichneten. Er war immer sehr fürsorglich er beschützte meine Mutter und mich. Egal ob vor der Biene die um mein Eis kreiste, oder vor betrunkenen Jugendlichen, die uns an murrten. Er hatte diesen
ausgeprägten Beschützer-Instinkt. Mama sagt, das wäre einer der Gründe, warum sie ihn so liebte. Er verbrachte die meiste Zeit damit, Kolumnen für die
Stadtzeitung zu verfassen. Er gab sich immer viel Mühe, obwohl fast niemand in diesem Dorf die Zeitung las. Unser Dorf hatte nicht viele Einwohner. Die meisten der Dorfbewohner waren alte Greise, die jede Gelegenheit nutzten, um „Die Jugend von heute“ zu bemängeln.Doch es ergaben sich nicht viele Gelegenheiten, da es hier in dem Dorf fast keine Jugendlichen gab. Die meisten Schüler unserer kleinen Realschule kamen aus kleineren Städten hier in der Umgebung.
Ansonsten gibt es nur noch eine einzige wichtige Person in meinem Leben: Mark.
Mark war mein bester Freund und das schon seit ich denken kann. Wir haben immer zusammen Sandkuchen gebaut und manchmal auch gegessen.
Die Türklingel riss mich aus meinen Gedanken. Mark. Er holt mich zur Schule ab. „Mist!“ fluchte ich. „Ich bin schon wieder spät dran!“ Ich schnappe mir das Marmeladenbrot,
welches ich in Gedanken völlig verstümmelt hatte, stelle es vor das Schlafzimmer meiner Eltern,
aus welchem meine Mutter sich nicht mehr raus wagte und klopfe 3 mal. Das war mein Zeichen für „Essen.“ Manchmal komme ich mir 
dabei vor wie ein Zoowärter bei der Wildtierfütterung. Seit mein Vater verschwunden ist hat meine Mutter sich fast völlig zurückgezogen. 
Lediglich zur
Nahrungsaufnahme verlässt sie ihren Bunker. Manchmal.
Als es nochmals klingelt renne ich in mein Zimmer, schwinge meinen Schulranzen auf den Rücken und stürze zur Tür. Als ich sie öffne 
werde ich von einer Hitzewelle überrollt. Es war sehr heiß heute. Bedrückend heiß. Mark lächelt mich schief an. „Was ist?“ frage ich leicht 
genervt. „Du hast da noch Marmelade, ma Bell.“ , flüstert er und streicht sie mir vorsichtig vom
Mundwinkel. Alle nannten mich Anna.
Mein Vater, meine Mutter, eigentlich alle in diesem Dorf. Nur er nannte mich ma Bell. Meine Schöne.
Als wir uns auf den Schulweg machten betrachte ich ihn aus dem Augenwinkel. Er sieht heute irgendwie anders aus. Nicht unbedingt 
schlecht aber.. anders. Seine dunkelbraunen Haare fielen perfekt. Sie reflektieren das Sonnenlicht.
Außerdem glänzten sie unglaublich schön.
Fast als hätte er gehört, was ich dachte streicht er sich eine Strähne sanft aus dem Gesicht.
Er trägt ein weißes T-Shirt mit dem Aufdruck: Warning: I´m biting . Darüber trägt er ein aufgeknöpftes schwarzes Hemd. Mitten im 
Sommer. In seiner dunkelblauen Jeans sind viele Löcher, aber anders kenne ich ihn gar nicht. Dazu
trägt er rote Chucks. Das waren seine 
Lieblings Schuhe.
„Na, Begutachtung abgeschlossen?“ , fragt er und schmunzelt. Seine Augen funkeln mich amüsiert an. „Ähm..Hast du die Bio-Hausaufgabe 
verstanden?“, wechsle ich schnell das Thema um nicht weiter
darauf einzugehen wie gut er heute aussah. Er konnte schon immer förmlich
meine Gedanken lesen. Fast so, als wäre ich ein offenes Buch. „Verdammt, hatten wir da was auf ??“
An der Schule angekommen kommt uns Kate lächelnd entgegen. Sie ist eine Austauschschülerin aus England und ich hatte versprochen,
sie herum zu führen. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie klein unsere
Schule war. Na gut in so einem kleinem Dorf und 200 Schülern war mehr
nicht nötig. Ich zeigte ihr ihren Spind, den Aufenthaltsraum, die Krankenstation und einiges mehr. Beim Hausmeister angekommen erzählt
sie mir, dass ihre Eltern sich scheiden ließen, und sie nun mit der Mutter auswandern würde und sie deshalb schnell deutsch lernen müsste
. Sie erzählte, dass sie hier in Deutschland mit offenen Armen empfangen worden wäre und lächelte mich an. Irgendwie empfand ich
sie 
als sympathisch. Ihr Lächeln war ansteckend. Erst jetzt betrachtete ich sie näher. Sie hatte lange blonde Haare und weiße Porzellanhaut.
Leichte Sommersprossen zogen sich ihre Nase entlang. Nach 10 Minuten war meine private Rundführung beendet. Kate bedankte sich und
verschwand dann im Rektorat. „Und, wie ist die Neue so?“, fragt Mark mich in der großen Pause interessiert. „Ganz nett, kann aber fast
kein Deutsch.“ antworte ich. Wir setzten uns neben den Getränkeautomaten. Mark begann begeistert seinen Eistee zu schlürfen und ich
betrachtete die Menschen die an mir vorbei liefen. Ein ganzes Leben zieht so schnell an einem vorbei. Eine ganze Geschichte, so viel zu 
erzählen und zu lernen, doch ich würde es nie erfahren. Würde all die Erlebnisse und Erinnerungen nie teilen können.
Irgendwie kann ich mich nicht auf den Unterricht konzentrieren. Wir haben Geschichte und Mark lauscht gebannt den Worten der Lehrerin. Es geht um irgendeinen König(oder einen Kaiser ?) in Spanien. Ich versuche, den Unterricht zu verfolgen, doch verfalle meinen Gedanken. Ich schaue aus dem Fester und ein leises Seufzen entgleitet mir. Vater, wo steckst du nur? Wieso hast du uns verlassen?
Ein Schwarm Vögel zieht am Fenster vorbei. Flieg Vogel, flieg. Du bist frei.


Fortsetzung folgt...

Kapitel 2 "Frühlingsveilchen"


Kapitel 2
,Frühlingsveilchen '
Er

Sie schaut wieder aus dem Fenster. Das macht sie in letzter Zeit immer öfter. Wenn sie doch nur wüsste. Aber ich darf nicht mit ihr darüber reden. Ich darf es ihr nicht sagen, ob ich nun will oder nicht. In letzter Zeit hat sie immer öfter darüber nachgedacht, ob es vielleicht ihre Schuld ist, dass Luis weg ist. Ob er sogar vielleicht gerade wegen ihr weg ist. Ich würde sie so gerne trösten, oder in den Arm nehmen,sie auch nur irgendwie stützen, aber da sie diesen so oft gedachten Gedanken noch nie laut ausgesprochen hat, wüsste sie dann, dass ich ihre Gedanken lesen kann. Doch das darf sie nie erfahren. So ist es mir vorgeschrieben. Als es zur Pause klingelt sitzt sie immer noch am Fenster. Langsam beuge ich mich vor um ihr Mut zuzusprechen, doch als ich ihr ins Gesicht sehe, entdecke ich zarte Tränen, die ihr Gesicht benetzen. Sie weint. Sie weint und ich kann nichts dagegen tun. Ich streiche ihr eine Träne mit meinem Daumen aus dem Gesicht.„Es ist nicht deine Schuld.“, flüstere ich. „Woher wusstest du, dass ich -„ „Ich kenne dich schon ewig, langsam sehe ich es dir an, ma Bell.“, beruhige ich sie. Normalerweise hätte ich nicht eingreifen dürfen, aber ich kann es nicht ertragen, wenn sie weint. Sie darf keine Schmerzen erleiden. Nicht, wenn ich es verhindern kann.Sie sieht mit direkt in die Augen, als versucht sie, daraus die Antwort aller Fragen zu finden, die ihr gerade durch den Kopf gehen."Ist es meine Schuld, dass Papa verschwunden ist? Wo ist er gerade? Lebt er überhaupt noch? Sollte ich ihn suchen? Wo sollte ich anfangen?Glaubst du, er kommt zurück..?“ fragt sie und schaut traurig auf den Boden.„Ich glaube es nicht nur, ich bin mir sicher.“, bestätige ich und werde sofort von dem leuchten ihrer Augen umgeworfen. Sie ist wunderschön. „Ehrlich?“, fragt sie und strahlt mich immer noch an. „Ehrlich.“, erwidere ich leise.„Vor ihrem Haus bleiben wir stehen. Wir stehen uns gegenüber. Ich sollte ihm davon erzählen. Vielleicht kann er mir ja weiterhelfen.

, denkt sie. Ich merke, dass sie mir nicht in die Augen sehen kann. Sie weicht meinem Blick aus. Schnell suche ich ihren Blick, denn nur wenn sie mich direkt ansieht gewährt sie mir, in ihre Gedanken einzudringen. Natürlich ohne, dass sie es weiß.„Ich ähm..“, beginnt sie verlegen ihren Satz. „ Ja?“, versuche ich ihr zu helfen.Sie schaut an mir vorbei in die Luft. Ich sehe ihr an, wie sie in ihre Gedanken abdriftet. Würde sie mich doch nur teilhaben lassen, indem sie mich ansieht. Ich frage mich worüber sie nachdenkt. Wahrscheinlich wieder über Luis. Wenn sie nur wüsste, dass sie einfach nur - „ Erde an Mark, hallo? Ich rede mit dir!“, reißt Annabell mich aus meiner Welt. „Entschuldige bitte. Jetzt gehört meine Aufmerksamkeit völlig dir.“, erwidere ich schnell.„Mein Vater ist jetzt schon seit 2 Wochen verschwunden...“ bemerkt sie leise und schaut mir dabei direkt in die Augen....und ich habe Angst, dass es tot ist

. , denkt sie weiter. Ich sehe, wie sich Tränen in ihren Augen sammeln. Sie darf nicht weinen. Nicht nochmal.Ich mache einen Schritt nach vorn, um näher bei ihr zu sein. „ Er ist noch am Leben und weißt du woher ich das weiß?“, flüstere ich. Sie schüttelt langsam, fast unmerklich den Kopf. Vorsichtig nehme ich ihre Hand und lege sie auf mein Herz. „Ich spüre es hier drin.“ Dann lege ich meine andere Hand vorsichtig auf ihr Herz. „ Und ich weiß, hier drin fühlst du das auch.“ Ich schaue ihr tief in die Augen. Ihr Mund verzieht sich zu einem Lächeln. „Du hast Recht.“ Erwidert sie still und ich sehe, wie die erste Träne ihre Wange hinunterläuft. Jetzt weint sie doch, weint vor Glück.Sie zieht ihre Hand von meinem Herzen und ich tue es ihr nach.„Nur du bringst mich immer wieder zum Lächeln, Mark.“ Sagt sie und schaut an mir vorbei. Was denkt sie wohl gerade? Ich muss es wissen. Schnell suche ich ihren Blick, doch als ich sie ansehe tritt sie vor und nimmt mich in den Arm. Ich habe so lange darauf gewartet. Auf diesen einen Moment. Nun kenne ich sie schon so lange, doch sie war noch nie gut darin, zu zeigen was sie fühlt. Oder denkt. Endlich denke ich. Endlich ist es soweit. Sie riecht nach Veilchen. Frühlingsveilchen. Mitten im Sommer. Ich lege meine Arme um sie und drücke sie fester an mich. „Danke.“, flüstert sie.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.06.2012

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