"Ich weiß nicht, er will einfach nicht hören!"
Ich war verärgert. Mein kleiner Hund wollte mir einfach nicht gehorchen und machte einen Spaziergang alles andere als angenehm.
"Lass mich mal versuchen."
Timo kennte sich aus. Er hatte bereits einen Hund und zudem eine 4-jährige Tochter. Er musste sich in Sachen Erziehung auf jeden Fall auskennen.
"Du musst ihm zeigen, wer der Chef ist. Sonst stellt er dir dein Leben auf den Kopf. Leo - BLEIB!"
Nach wenigen Versuchen an der Leine, gelang es Timo, dass der kleine Leo ohne Leine laufen konnte und ohne zu mucken auf ihn und mich hörte. Ich war verblüfft. Diese Konzentration, diese Willensstärke, dieses Durchhaltevermögen... das kannte ich nur zu gut von Timo.
Er hatte bereits seit eineinhalb Jahren einen Tumor in seinem Kopf. Trotzdem zeigte er einen Lebenswillen, der kaum von dieser Welt zu sein schien.
Alles begann im September 2009.
An einem nahezu alltäglichen Wochentag gestand er seinen Freunden seine Krankheit. Die Chemo sollte schon bald beginnen.
Angela, seine Freundin, war schockiert. In den nächsten Wochen sollte ich meine beste Freundin in ihrer wohl schlimmsten Phase erleben. Trotzdem hielten wir beide durch. Seelentherapie war angesagt. Sie besuchte mich jeden Tag, wir heulten uns gegenseitig die Augen aus, spazierten über's Feld, verbrachten diese Zeit gemeinsam. Wir gingen diesen einen Weg zusammen und auch, wenn es eine verdammt beschissene Situation war, brachte sie uns zusammen.
Bis zu einem gewissen Punkt, der alles Weitere total beeinflusste.
Timo fasste sich ein Herz und verlies uns.
Aus Eigenschutz? Aus Verzweiflung? Aus Angst?
Ich weiß es bis heute nicht.
Auch die Freundschaft zwischen Angela und mir zerbrach daran.
Ich fühlte mich verlassen. Hilflos. Ohne Perspektive. Und ich dachte jeden Tag des folgenden nächsten halben Jahres an die beiden.
Bis eines Tages Angela und ich uns wieder annäherten. Und ab diesem Tag sollte die Geschichte meines Lebens richtig beginnen.
Angela und ich nahmen Kontakt zu Timo auf. Per Email. Und wir bekamen Antwort.
Er entschuldigte sich. Und mir blutete mein Herz, als ich erfahren hab, dass es ihm nicht gut geht. Er vermisste Angela. Und mich.
Seine Chemo allerdings zeigte sich heldenhaft. Sein Tumor war geschrumpft. Es sah gut aus.
Angela und ich verbrachten unsere Wochenenden und auch die meiste Zeit der Woche in unserer Stammdiskothek.
Eine wunderbare Zeit.
Wir tanzten alle Sorgen aus uns heraus.
Den restlichen Sommer und einen Großteil des Herbstes feierten wir. Aber auch diese tolle Zeit sollte ein Ende finden.
Timo's Tumor wuchs. Und streute.
Ich verstand die Welt nicht mehr.
Was ist das für ein Gott, der einen 25 Jahre jungen Mann, einen geliebten Vater einer 4-jährigen kleinen Tochter, die einem Engel gleicht, einen besten Freund, einen geliebten Freund einfach zu sich holen will?
Was ist das für ein Gott, der einen Menschen ohne Mitleid und ohne ein Auge auf diesen Lebenswillen sterben lassen will?
Ich glaube, ein Gott existiert nicht. Nicht, wenn es solch eine Brutalität auf dieser Welt gibt.
Der Meinung war Timo nicht ganz.
Er glaubte. Zumindest an die Hölle. Und er machte Scherze darüber, dass er lieber in die Hölle, statt in den Himmel kommen möchte, da es dort wenigstens schön warm wäre. Er würde dort auf uns alle warten. Lustig war es nicht, aber es tröstete ihn und nur darauf kam es an. Makabere Witze standen ihm und man fühlte sich besser, wenn man sah, dass es ihm dabei etwas besser ging.
Auch Angela war hoffnungsvoll. Sie erkannte wohl, genau wie ich, dass es nichts mehr bringt, tagelang um die Wette zu weinen. Wir mussten der Tatsache ins Auge sehn, dass wir nichts mehr daran ändern konnten, so sehr wir uns auch wehren würden.
Und wir kamen mit jedem Tag dem "Tag X" ein Stückchen näher, ohne zu wissen, wann es soweit sein würde.
Eine Sache stand Timo bevor, die alles andere als einfach werden würde.
Er nahm sich vor, seiner Tochter einen Brief zu schreiben. Sie sollte ihn bekommen, wenn sie alt genug wäre, alles zu verstehen.
Wann das der Fall wäre, übergab er in die Hände seines Onkels, wie auch die Erziehung von Janine.
Timo gab mir und den wichtigsten Personen zu lesen, damit wir ihn beurteilen konnten.
Als ich las, mit welcher Liebe er sich von seiner Tochter verabschiedete, brach mein Herz in tausende Einzelteile auseinander.
Hallo meine kleine Prinzessin.
Schön, dass es jetzt endlich soweit ist und du diesen Brief bekommen hast. Es bedeutet, dass du älter geworden bist und alt genug, um zu verstehen, was ich dir mit auf deinen Weg geben will.
Bevor ich mit meinen wahrscheinlich für dich peinlichen und dummen väterlichen Ratschlägen beginne, möchte ich dir sagen, wie leid es mir tut, dass ich nich an deiner Seite sein kann.
Es tut mir unendlich leid und glaube mir, dich verlassen zu müssen ist die schlimmste und größte Angst, die ich momentan habe.
Ich weiß nich mal, ob du dich noch an mich erinnerst. Aber ich hoffe es.
Glaub’ mir, meine Kleine, dass ich alles Mögliche versucht habe, um bei dir bleiben zu können. Aber scheinbar wollte es das Schicksal nich anders. Zumindest glaube ich das.
Ich will dir hiermit keine Vorschriften machen, wie gut du in der Schule sein musst und dass du auf Markus hören sollst. Ich weiß, dass du momentan das allertollste vierjährige Mädchen der Welt bist und ich glaube fest daran, dass sich mit den Jahren daran rein gar nichts geändert hat.
Du hast mir vier Jahre lang ein Leben geschenkt, das ich mir so niemals hätte vorstellen können.
Anfangs war es nich leicht, zu wissen, dass ich Papa werde. Deine Mama und ich waren zu der Zeit nich zusammen und ich hatte große Angst, dass ich das alles nich schaffen werde. Ein guter Papa sein. Ich wusste gar nich, was das überhaupt bedeutet, ich kannte das nich. Also hab ich mir selbst gesagt, dass ich einfach alles besser machen werde, als mein Vater es getan hatte.
Als du im Bauch deiner Mama immer größer wurdest, hab ich mich umso mehr auf den Tag gefreut, als du endlich in meinem Arm lagst. Und als diese eine Nacht kam, die mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte, hab ich dich gar nich mehr loslassen wollen. Ab diesem Moment warst du mein Leben und alles hat sich nur noch um dieses kleine Wunder gedreht.
Ich habe deine Mama nie wirklich geliebt. Du bist jetzt alt genug, um das zu wissen. Ich dachte damals, dass ich sie lieben würde. Aber als ich meine große Liebe kennen lernte, wusste ich was es bedeutet, diese Gefühle für eine Person zu empfinden. Angie war alles für mich, Kleines. Und ich wünsche mir, dass du eines Tages auch deine große Liebe finden wirst. Jemanden, der dich in jeder Sekunde deines Lebens glücklich machen wird. Karriere und Geld zählen dann nich mehr. Und auch, wenn ich mir wünsche, dass du einen tollen Beruf haben wirst, der dir Spaß macht und den du gerne machst, zählt nichts mehr als Liebe!
Ich konnte nich heiraten, oder mein Leben mit dieser einen Person verbringen. Ich wünsche es mir aber von ganzem Herzen für dich!
Ich weiß nich, ob du Kontakt zu deiner Mama hast. Wenn ja, dann freut mich das. Denn vergiss niemals: egal was war, ist oder kommen wird, sie ist deine Mama. Sie hat dich immer sehr geliebt und ich hoffe, mein Tod konnte wenigstens in dieser Hinsicht etwas bewirken. Sie wollte die ganze Zeit keinen Kontakt, aber nich, weil sie dich nich liebt, sondern weil sie nich sieht, was sie für ein Glück hat. Sie hat ihren Freund und ihr Studium und ich glaube, das schießt ihr alles über den Kopf. Mir tut es leid, dass ich sie nich dazu bringen konnte, mehr Zeit mit dir zu verbringen, aber ich denke, dass sich das schon lange wieder erledigt hat.
Ich weiß noch, als du das erste Mal „Papa“ zu mir gesagt hast. Dieses Gefühl werde ich niemals mehr vergessen.
Und als ich meine erste Chemo gemacht hatte und mir durch die Nebenwirkungen die Haare ausgefallen waren, hast du mich mit deinen süßen blauen Augen angeschaut und gefragt, ob ich beim Friseur war. Ich habe mit „ja“ geantwortet und du meintest, dass es super aussieht.
Einmal, als ich dich abends ins Bett brachte, hast du mir übers Gesicht gestreichelt und geflüstert „Mein hübscher Papa!“
Und einmal hast du mich tatsächlich vor Maik beschützt, als er mich kitzeln wollte. Da hast du in einem ganz schroffen Ton gesagt „Du lässt jetzt sofort meinen Papa in Ruhe!“
Ja, du warst mir eine sehr große Stütze, ohne, dass du es selbst wusstest.
Du warst immer für mich da. Und du hast mein Leben lebenswert gemacht. Jede einzelne Sekunde.
Als dein Uropa, mein Opa, starb, habe ich den Boden unter den Füßen verloren. Er war eine der wichtigsten Personen in meinem Leben. Und niemand außer dir konnte mich aufbauen. Du hast mich zum Lachen gebracht und mir meine Schmerzen genommen.
Nun aber zu meinen väterlichen Ratschlägen. Es tut mir leid, aber da musst du durch.
Zu allererst:
Hab immer Spaß! Den größten Spaß!
Trübsal blasen kannst du noch mit 88. Fahr in Freizeitparks, flieg in Urlaub. Lern neue Leute kennen, geh tanzen und feiern! Versuch dich bitte nur nich, ins Koma zu saufen.
Und zum Feiern braucht man Freunde. Such sie dir genau aus. Du brauchst nich viele, manchmal reichen auch nur ein oder zwei Menschen! Ich hatte die beste Freundin auf dieser Welt. Und ich denke, dass du sie auch in deinem jetzigen Alter noch kennen wirst. Desi war immer für mich da. Sie hat mir meine Fehler immer verziehen. Und ich wünsche dir, dass du deine ganz eigene Desi finden wirst.
Lebe! Und zwar lange. Versuche, an jedem Tag in deinem Leben zu lächeln! Dein Lächeln konnte mich immer verzaubern.
Schule schwänzen ist echt uncool und dumm. Du musst keine Spitzennoten schreiben. Aber bitte, versuch dich anzustrengen. Nur so kommst du im Leben vorwärts. Du musst auch kein Abitur schreiben, das verlange ich nich.. Aber sei nich faul und kämpfe für das, was du willst.
Hör auf Markus. Er ist der klügste Mensch, den ich kenne. Deswegen habe ich ihn ausgewählt, um auf dich Acht zu geben. Ich kann es nich mehr. Und ich weiß, dass er auf dich aufpasst und immer beschützen wird.
Glaube bitte nich, dass alle meine Ratschläge so gedacht sind, dass du keine Fehler machen sollst. Die sollst du bitte unbedingt tun! Nur so kannst du lernen und dich entwickeln.
Wir beide, mein Engel, werden uns wieder sehen. Das verspreche ich dir.
Es tut mir leid, dass ich nich bei dir sein kann. Glaub mir das.
Danke dafür, dass ich das Glück hatte, dein Papa sein zu dürfen in den vier Jahren, die wir miteinander hatten!
Ich liebe dich, Prinzessin!
Dein Papa.
Immer, wenn ich diesen Brief lese, bin ich in Gedanken bei diesem unglaublich bewundernswerten Menschen. Bei diesem Mann, der sich selbst durch eine tödliche Krankheit nicht abbringen gelassen hat, seine Tochter endlos zu lieben und ihr die ersten vier Jahre in ihrem Leben so liebevoll wie möglich zu gestalten. Ich ziehe meinen Hut vor dir, lieber Timo. Solche Menschen gibt es viel zu selten auf dieser Welt.
Am 26. Oktober 2011 morgens um 9:30 Uhr war es dann soweit. "Tag X" kam überraschend, obwohl wir lange genug wussten, was auf uns zukommen würde.
Timo ging von uns. Ohne Abschied, ohne Worte. Er war einfach weg.
Deswegen möchte ich dies an dieser Stelle nachholen.
Timo, du hast mir in fünf Jahren Freundschaft jede Menge beigebracht.
Zuerst Mal, wie man erwachsen wird. Wie man sich auf Dinge, die nicht vorhersehbar sind, einstellt und mit ihnen lebt. Sei es ein unerwartetes Kind oder eine tödliche Krankheit.
Du hast mir beigebracht, auf Dinge, die mir nicht gut tun, zu verzichten und mich auf mich zu konzentrieren.
Ich hab eine Welt gesehn, die man glaub ich nur einmal im Leben zu sehn bekommt. Ich hab eine Zeit mit dir erlebt, die ich nur mit dir hätte erleben können.
Es wäre verrückt, jetzt zu schreiben, dass ich dich vermisse. Das ist unübersehbar.
Ich tu's. Jeden Tag. Ich denke so oft an dich, dass ich fast krepiere an dem Gedanken, dass du nicht mehr da bist.
Allerdings hab ich die Hoffnung, dass ich dich irgendwann wieder sehen kann. Von mir aus sogar in der Hölle.
Farewell, Baby. Wir sehn uns!
Texte: Für Timo und Angela, die mir beibrachten, was im Leben wichtig ist.
Tag der Veröffentlichung: 17.12.2011
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