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Gespenstischer Friedhof
Atemlos erreichte Stella mit Sven die Alte Kirche. Es war schon spät, fast Viertel vor zehn. Sie waren schnell gefahren. Tilmann würde nicht erst in letzter Minute kommen. Sie mussten unbedingt lange genug vor ihm da sein, um ein gutes Versteck aussuchen zu können.
Dunkel ragte der rote Backsteinbau vor ihr auf in den nächtlichen Himmel. Der Haupteingang zur Straße hin war durch die Straßenlaterne schwach beleuchtet.
Rechts von der Kirche lag ganz im Finstern ein schmaler Hof, der noch weiter rechts begrenzt war von dem Zaun des alten Friedhofes. Sie stieg von ihrem Rad und schaute sich um. Nirgendwo war etwas von Chris zu sehen.
„Wir stellen die Räder am besten ganz hinten in dem Hof ab, da sind sie gut versteckt“, meinte Sven und begann, sein Rad auf den dunklen Hof zu schieben. Sie folgte ihm in die Finsternis. Kein Schein der Straßenlaterne reichte hier hinein, und auch am Himmel zogen schwarzgraue Wolken dahin und verdeckten Mond und Sterne. Sie kamen an dem Nebeneingang der Kirche vorbei, dem Treffpunkt Tilmanns. Hoffentlich ist der nicht schon vor uns da und beobachtet uns aus irgendeinem Winkel, dachte sie schaudernd. Am Ende des Kirchengebäudes bogen sie um die Ecke. Sie lehnte ihr Rad neben dem von Sven an die Kirchenwand und schloss es ab.
„Ist Chris immer noch nicht da?“, flüsterte sie. „Es ist schon spät. Tilmann darf nicht vor ihm eintreffen.“
„Wir können hier nicht stehen bleiben und auf ihn warten. Lass uns ein Versteck suchen.“
Sie gingen um die Ecke des Gebäudes zurück in den schmalen Hof.
Gerade kroch der Mond hinter einer Wolke hervor und übergoss den Hof und den angrenzenden Friedhof mit seinem fahlen Licht.
„Psst!“, hörte sie ein Zischen.
Sie fuhr herum und blickte zum Friedhof hinüber, aus dem das Geräusch gekommen war. Gespenstisch vom Mond beleuchtet tauchte über einem Grabstein ein rundes Gesicht breit grinsend auf.
Sie atmete auf. Es war Chris. Gott sei Dank, er war rechtzeitig da. Sie suchte nach einer Möglichkeit, in das umzäunte Friedhofsgelände zu kommen. Ein Stück weiter in Richtung Straße entdeckte sie im Eisengitterzaun eine kleine Eingangstür. Die hatte sicher auch Chris benutzt. Sie eilte mit Sven dorthin. Ein grässliches Quietschen ertönte, als sie die Tür zu öffnen begann.
Sofort hielt sie inne und sah umher. Nichts geschah. Alles blieb ruhig. Sie schlüpfte durch den schmalen Türspalt. Sven folgte ihr und zog hinter sich das quietschende Ding wieder zu. Wohin jetzt? Hinter welchem der zahllosen Grabsteine hatte Chris eben hervorgeschaut? Sie konnte sich nicht erinnern.
Plötzlich winkte ein Arm hinter einem mächtigen
schwarzen Granitblock kaum zehn Meter entfernt von ihr. Rasch ging sie an Gräbern und dunklen Büschen vorbei zu dieser Stelle.
„Endlich! Ihr seid spät dran!“, begrüßte Chris sie.
Er rückte zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Sie hockte sich zwischen ihm und Sven auf den grasbewachsenen Platz hinter der breiten Granitplatte. Sie spähte über den Stein.
„Der Platz, den du ausgesucht hast, Chris, ist echt Klasse. Wir können den Hof und dazu noch ein Stück Straße überblicken. Gerade gegenüber ist Tilmanns Treffpunkt, der Nebeneingang der Kirche.“
Ihr Versteck lag dicht am Friedhofszaun. Ein hoher, dunkelgrüner Eibenbusch stand links neben dem Grab- stein und berührte ihn mit seinen Zweigen.
„Wir können den Platz tauschen“, bot ihr Chris an.
„An der Seite kannst du versteckt zwischen Stein und Eibe hervorschauen. Dann brauchst du den Kopf nicht oben über den Stein zu recken.“
„Danke, das ist nett!“
Sie tauschte mit ihm den Platz.
„Ein bisschen unheimlich ist es hier“, fand sie.
„Du glaubst doch wohl nicht an Gespenster!“
„Natürlich nicht. Aber es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, dass unter uns die Toten liegen.“
„Nicht unter uns. Das Grab liegt auf der anderen Seite des Steins.“
Der Mond verschwand wieder hinter den Wolken. Es
war fi nster. Ein warmer Wind erhob sich und ließ die Eibe wispern und rauschen.
Ein Rascheln war hinter ihr, das gleich darauf wieder verstummte. Dann erneut ein leises Rascheln. Sie sah in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Vielleicht ein Igel? Auf einmal gellte das Schreien einer Katze dicht neben ihr.
„Dieses blöde Vieh!“, ächzte Chris und lehnte sich an den Grabstein. „Ich hätte mir fast in die Hose gemacht.“
Einen Augenblick lang blieb er so sitzen. Dann nahm er brummelnd seine Beobachtung wieder auf. Schweigend horchten sie und warteten. Auf der nahen Straße war nur wenig Verkehr. Nur ab und zu fuhr ein Auto vorbei. Sie horchte auf, als ein Motorrad näher kam und vor der Kirche anhielt.
Der Mond kroch in diesem Moment erneut aus seinem Wolkenversteck und tauchte alles in sein silbriges Licht. Gespannt schaute sie zwischen Eibe und Grabstein hinüber zur Kirche.
Plötzlich entdeckte sie Tilmann an der Ecke der Kirche zur Straße.
„Da ist er!“
„Wo?“
Sven und Chris drängten sich neben sie zu der Lücke.
„Donnerwetter, der Kerl ist wirklich gekommen“, flüsterte Chris.
„Vielleicht taucht auch noch der geheimnisvolle Boss auf.“
Sie beobachtete, wie Tilmann sich zu dem Nebeneingang der Kirche gegenüber ihrem Versteck begab und sich dort umschaute. Dann begann er, unruhig zwischen Neben- eingang und Straße auf und ab zu gehen. Dabei blickte er sich immer wieder suchend um.
Plötzlich stockte er und schaute in ihre Richtung.
„Hat er uns entdeckt?“, hauchte sie.
„Pst!“, machte Sven.
Ausgerechnet in diesem Augenblick verschwand
der Mond wieder hinter einer Wolkenbank. In der
Dunkelheit konnte sie Tilmann nicht mehr erkennen.
Sie lauschte.
Näherten sich Schritte?
Der Wind rauschte in der Eibe und raschelte in trockenen Blättern auf dem Boden. Oder war es das Rascheln von Schritten?
„Wenn er zu uns will, muss er die quietschende Tür öffnen“, wisperte Sven.
„Dann müssen wir weglaufen. Der Friedhof ist groß, der kriegt uns nicht.“
„Wenn er nun die Gegend hier genau kennt und nicht die quietschende Tür benutzt, sondern irgendwo ein Loch im Zaun? Und plötzlich riesengroß im Dunkeln vor uns steht?“, fantasierte Chris.
„Mal doch den Teufel nicht an die Wand!“
Die Minuten verrannen.
Als endlich der Mond wieder hervorkam, blickte sie erneut zur Kirche hinüber.
„Siehst du ihn?“, fragte Chris.
„Nein.“
„Entweder ist er abgehauen, und wir haben sein Motorrad überhört, oder er schleicht hier irgendwo herum.“
„Wir halten uns noch eine Weile versteckt“, schlug Sven vor. „Wenn er dann nicht wieder aufgetaucht ist, ver- schwinden wir auch.“
Sie sah immer wieder zum Hof und zur Kirche hinüber.
Nichts regte sich.
Chris schien nicht mehr an die Anwesenheit Tilmanns zu glauben. Er saß mit angewinkelten Knien an den Grabstein gelehnt und träumte vor sich hin. Nur Sven lugte ab und zu neben ihr durch die Beobachtungslücke.
Plötzlich erschrak sie. Aus einer dunklen Nische der Kirchenwand löste sich eine Gestalt.
„Da ist er wieder!“
Wie elektrisiert richteten sich Sven und Chris auf. Sie beugten sich um den Stein und schauten zum Kirchhof.
Tilmann strebte mit raschen Schritten der Straße zu und verschwand um die Ecke der Kirche. Kurz darauf hörte sie ein Motorrad starten und sich entfernen.
Aufatmend erhob sie sich, reckte ihre steif gewordenen Glieder und trat aus dem Versteck.
„Mich schaudert bei dem Gedanken, dass der Kerl die ganze Zeit gegenüber in der dunklen Nische gestanden hat“, sagte Chris. „Wenn wir früher aufgebrochen wären, hätte er uns erwischt.“
„Er ist bestimmt stinksauer, dass sein Boss nicht ge- kommen ist.“
„Wir haben aber auch nichts erreicht. Ich hätte gerne gewusst, wer hinter Tilmann steht.“
In Svens Stimme klang Enttäuschung mit. Sie ging mit den beiden auf dem Weg zwischen den Gräbern und durch das quietschende Tor zurück auf den mondbeschienenen Hof.
„Wo hast du eigentlich dein Rad stehen?“, fragte sie Chris. „Wir hatten es nicht entdeckt vorhin.“
„Ich hab es um die Ecke geschoben und auf der Rückseite der Kirche weit hinten an die Wand gelehnt. Ihr nicht?“
„Doch, aber wohl nicht so weit hinten wie du.“
„Ganz schön unvorsichtig von euch. Tilmann hätte
eure Räder bemerken können. Ich sehe mal wieder,
dass ich auf euch beide aufpassen muss“, neckte er sie.
Copyright © Desina Verlag GmbH
Texte: erschienen im Desina Verlag
ISBN: 978-3-940307-16-3
Tag der Veröffentlichung: 23.04.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
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