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Flucht
Immer noch matt, legte Mark sich auf das Strohlager. Er starrte zur Decke empor und begann zu grübeln. Er durfte nicht aufgeben. Er musste einen Weg finden, den Kristall zurückzuholen und dann von hier zu fliehen. Er versuchte, sich Schritt für Schritt einen Plan zurechtzulegen. Die Tür seines Raumes war unverschlossen. Vielleicht würde der Wächter davor im Laufe der Nacht einmal einnicken. Wenn er diesen Augenblick abpasste, könnte er sich an ihm vorbeistehlen, überlegte er sich.
Er würde sich dann zu Utors Raum schleichen, um den
Kristall an sich zu nehmen. Er versuchte sich zu erinnern, welche der Türen im Gang zu Utors Raum gehörte. Links den Gang hinunter, dann die dritte Tür rechts, fiel ihm ein. Mitten auf Utors großem Tisch hatte er der Kristall liegen sehen! Wenn er es bis dahin geschafft haben sollte, ohne entdeckt zu werden, musste er als letzten Schritt ins Freie gelangen.
Spätestens aber an dem Ausgang nach draußen würden mit Sicherheit weitere Wächter postiert sein. Es war unrealistisch anzunehmen, dass auch die zur gleichen Zeit schlafen und ihn nicht bemerken würden. Sowie sie ihn entdeckten, hätte er keine Chance mehr, durch Weglaufen zu entkommen. Die Okars waren zu schnell.
Es sei denn, dass seine treue Wölfin Tala ...
Was war nur mit ihr geschehen? Hatten die Okars sie verletzt oder gefangen, wie ihn selbst? Mühsam richtete er sich auf. Die Wirkung der Betäubung hatte nachgelassen. Er versuchte erneut, sich auf sie zu konzentrieren und mit ihr in Gedanken Verbindung aufzunehmen.
Tala? Kannst du mir antworten?
Mark!! Endlich! Ich habe stundenlang versucht, dich zu erreichen!
Was ist mit dir? Bist du verletzt?
Ich bin nicht verletzt, aber die Okars hatten mich betäubt. Ich konnte weder dich hören noch dich ansprechen. Und du? Geht es dir gut?
Es ist alles in Ordnung. Ich liege versteckt in der Nähe der Höhle. Ich war schon drauf und dran hineinzulaufen und nach dir zu suchen. Bitte lass das, es wäre viel zu gefährlich und würde nichts nützen. Warte draußen auf mich!
Kannst du denn aus der Höhle fliehen?
Vielleicht. Sind Wächter am Höhleneingang?
Ja, zwei.
Hör zu, Tala. Heute tief in der Nacht werde ich die Flucht versuchen. Das schwierigste Hindernis dabei sind die beiden Wächter am Höhleneingang. Wenn die mich entdecken, kannst nur du mir noch helfen und mich rasch davontragen.
Das ist kein Problem. Ich werde den Eingang nicht aus den Augen lassen und sofort bei dir sein, wenn du kommst.
Schön, Tala. Ich hoffe, dass alles gut geht.
Er legte sich zurück ins Stroh, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte zur Höhlendecke. Er konnte jetzt nichts tun, als die Nacht abzuwarten. Vielleicht sollte ich versuchen, ein wenig zu schlafen, um nachher in der Nacht frisch zu sein? Er schloss die Augen. Kurz darauf schlief er ein.
„He, aufwachen, Abendessen!“ Die raue Stimme eines Okars riss ihn aus dem Schlaf.
Der Okar stellte ihm ein Fladenbrot und etwas gekochtes Lammfleisch hin, dazu eine Karaffe Wasser, und verließ wieder den Raum. In dem schwachen Lichtschein, der durch den Spalt neben der Tür fi el, las er seine Uhr ab. Es war zwanzig Uhr. Er ließ sich Zeit beim Essen. Es lag noch ein langer Abend vor ihm. Dabei überlegte er sich, wohin er nachher das Geschirr räumen sollte, um nicht zuletzt beim Aufbruch darüber zu stolpern und Lärm zu machen.
Als er fertig war, ging er zur Tür und blickte durch den Spalt auf den Gang.
Durch das gelbliche Licht einer Lampe irgendwo weiter hinten war der Gang schwach beleuchtet. Der Wächter neben seiner Tür saß bequem an die Wand gelehnt und hatte eine Flasche Rotwein bei sich stehen, halb verdeckt von einer Falte seiner Kleidung. Eigentlich darf der während der Wache gar keinen Wein trinken, dachte er, aber umso besser, der Rotwein wird ihn müde machen.
Leise zog er sich wieder auf sein Strohlager zurück. Jetzt hieß es warten und ab und zu kontrollieren, ob der Wächter eingeschlafen war. Er hoffte, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde bis dahin, denn irgendwann würde vielleicht eine gut ausgeruhte Ablösung erscheinen.
Es war fast zehn Uhr, als leises Schnarchen anzeigte, dass der Wächter eingeschlafen war. Er schlich zur Tür. Langsam, Zentimeter um Zentimeter, öffnete er sie. Bei jedem Knarren der Angeln hielt er inne und beobachtete gespannt den Schlafenden. Der regte sich nicht. Als die Türöffnung gerade groß genug für ihn war, quetschte er sich vorsichtig hindurch. Er blickte den Gang entlang. Das matte Licht der Nachtbeleuchtung reichte nicht weit. Im Bereich ihres Scheines war niemand zu sehen. Er selbst stand noch gut gedeckt im Schatten.
So vorsichtig, wie er sie geöffnet hatte, schloss er die Tür wieder. Falls der Wächter aufwachte, sollte dieser nicht sofort durch eine offene Tür Verdacht schöpfen. Dicht an der Wand schlich er den Gang entlang. In der Nähe der Lampe beschleunigte er seine Schritte. Jeder, der den Gang beobachtete, würde ihn hier im Lichtschein erkennen können. Doch nichts geschah.
An der dritten Tür rechts blieb er stehen und lauschte. Nichts war zu hören, auch als er das Ohr an die Tür presste. Ganz langsam drückte er die Klinke nieder. Er hatte Glück, die Tür war nicht verschlossen. Er öffnete sie ein wenig. Licht fiel durch die entstandene Ritze auf den dunklen Gang. Erschrocken hielt er inne, wartete. Als sich nichts rührte, öffnete er weiter, steckte den Kopf durch die schmale Öffnung und spähte in den Raum dahinter.
Eine Nachtbeleuchtung wie auf dem Flur erfüllte den Raum mit schummerigem Licht. Der Platz hinter dem großen Tisch war leer. Aber rechts auf dem Bett lag halb im Dunkeln eine massige Gestalt. Utor, schoss es ihm durch den Kopf.
Die Gestalt ließ rasselnde Atemgeräusche hören und rührte sich nicht. Er schlüpfte in das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Das Risiko, dass der fürchterliche Okar plötzlich aufwachte, nahm er auf sich. Er musste den Kristall wiederhaben!
Er versuchte, leise durch den Raum zu dem Eichenholztisch zu gehen, aber der Boden war so schmutzig, dass jeder Schritt von ihm knirschte. Er schimpfte in Gedanken auf den Schmutz, ging aber weiter, ab und zu einen besorgten Blick auf den Schlafenden werfend.
Der Kristall lag nicht mehr auf dem Tisch! Er blickte hastig umher. Zum Glück gibt es nicht viele Möglichkeiten, ihn hier zu verstecken – falls er überhaupt noch in diesem Raum ist! Auf der anderen Seite hatte der Tisch drei Schubladen. Er setzte sich auf Utors Schreibtischstuhl und zog vorsichtig eine von ihnen auf. Unordentlich lag allerlei Kram darin und klimperte, als er dazwischen umhersuchte. Von dem Kristall war nichts zu entdecken. Er zog die beiden anderen Schubladen auf. Nichts! Panik begann sich seiner zu bemächtigen. Er stand auf, unschlüssig, was er tun sollte.
Hatte der Schlafende etwa den Kristall bei sich? Mit klopfendem Herzen schlich er zu dem jetzt laut Schnar- chenden hinüber und betrachtete die riesige Gestalt. Ohne Decke, in voller Kleidung lag der stinkende Okar auf dem Bett. In dessen krallenartigen Händen sah er nichts. Er konnte doch jetzt nicht anfangen, dessen Taschen zu durchwühlen?
Was war das? Aus einer der Taschen hing ein Stück einer dünnen Kordel heraus. Er erkannte sie sofort, sie gehörte zu dem kleinen Lederbeutel, in dem er den Kristall aufbewahrt hatte.
Er beugte sich vor und streckte die Hand aus, um die Kordel zu packen. In diesem Moment begann der Okar zu husten und drehte sich um. Blitzschnell duckte sich Mark. Was tun, wenn Utor jetzt aufwachte? Er kroch durch den Schmutz unter das Bett. Über ihm knarrte das Lager des Okars. Zwei hässliche große Füße und behaarte Beine erschienen in seinem Gesichtsfeld. Der Okar wollte aufstehen! Eine Hand des Okars tastete auf dem Boden vor dem Bett umher. Suchte er die Sandalen, die halb unter dem Bett lagen?
Entsetzt kroch Mark so weit wie möglich nach hinten
und presste sich an die Wand hinter dem Bett. Wenn nun Utor sich herunterbeugte und nach den Sandalen schaute, war er verloren. Die tastende Hand berührte die Sandalen und zog sie unter dem Bett hervor. Die großen Füße schlüpften hinein, schlurfend entfernten sie sich. Eine Tür ging, gleich darauf rauschte das Wasser einer Toilette. Die Sandalen mit den großen Füßen erschienen wieder vor dem Bett, wurden nachlässig abgestreift, das Bett knarrte über ihm, und die Füße verschwanden.
Der Okar wälzte sich noch einige Male hin und her, dann lag er endlich still. Leises Schnarchen verriet, dass er wieder eingeschlafen war. Er wartete noch eine Weile, dann kroch er wieder unter dem Bett hervor. Er richtete sich auf und beugte sich vor sichtig erneut über den Schla- fenden. Welche Tasche war es noch, aus der die Kordel herausgeschaut hatte? Der Okar lag auf der gleichen Seite wie vorher, es konnte also nur diese eine Tasche gewesen sein. Von der Kordel war jedoch nichts mehr zu sehen.
Er biss die Zähne zusammen und senkte seine Hand Zentimeter für Zentimeter in die Tasche. Da, er hatte den Lederbeutel! Er zwang sich, ihn nicht herauszureißen, sondern langsam, langsam herauszuziehen. Endlich hatte er ihn heraus. Fiebernd betastete er ihn. Ja, er fühlte es genau, der Kristall war noch darin! Sein Herz jubelte. Nur hinaus jetzt, fliehen, nichts durfte jetzt noch dazwischen- kommen!
Er schlich zur Tür. Ein letzter Blick auf den Okar. Der rührte sich nicht. Mühsam bezwang er sich, vorsichtig zu bleiben beim Öffnen der Tür. Er steckte den Kopf hinaus, sah rechts und links den Gang entlang. Niemand war zu sehen.
Er schlüpfte hinaus und schloss leise die Tür. An der Wand sich entlang tastend näherte er sich dem Ausgang. Ein leichter Windhauch trug ihm bereits den frischen Geruch der Welt dort draußen zu. Dort wartete Tala auf ihn! Unbändig wünschte er sich, jetzt mit ihr fortzustürmen in die Freiheit.
Umrahmt von dem schwarzen Bogen der Höhlenöffnung
sah er draußen ein Stück Himmel und flimmernde Sterne. Doch wo waren die Wächter? Er blieb stehen.
Tala?
rief er sie im Geiste.
Ja, Mark? Was ist? Wo bist du?
Ich bin kurz vor dem Höhlenausgang. Wo sind die Wächter?
Ich sehe sie nicht!
Sie sitzen rechts und links draußen, an die Felswand gelehnt. Gehe leise bis kurz vor den Ausgang und renne dann mit aller Kraft geradeaus. Ich komme dir entgegen.
Okay.
Er schlich ganz leise weiter, jetzt mitten auf dem Gang. Der Ausgang war nur noch wenige Meter entfernt. Wenn jetzt einer der Wächter zufällig um die Ecke bog und ihn sah, war er im letzten Moment doch noch verloren. Sein Herz hämmerte bei diesem Gedanken. Er atmete tief durch, dann rannte er los, rannte in die finstere Nacht hinein, nur das schwache Sternenlicht leuchtete ihm. Er stolperte über einen Stein, rannte weiter. Hinter ihm brüllten die Okars, er hörte ihre Schritte näher kommen. Vor ihm endlich die glühenden Augen Talas, sie war bei ihm, er warf sich auf ihren Rücken, mit einem Satz schellte sie empor und trug ihn davon. Das Toben der Okars verklang hinter ihm.
Überglücklich streichelte er ihr seidiges Fell, während sie dahinjagten durch die Nacht.
Ich habe auch den Kristall wieder
, berichtete er ihr atemlos.
Ich wusste, dass du ohne ihn nicht gekommen wärst.
Du hast Recht.
Wohin fliegen wir jetzt?
Nicht mehr zurück nach Sasfa, es ist zu gefährlich dort. Wir treffen Wagner und Ise in den Bergen. Wagner hat mir einen Treffpunkt beschrieben. Wir fliegen dann gleich weiter zu unserem nächsten Ziel.
Er schwieg. Er dachte an Lucia, und es wurde ihm weh ums Herz. Er würde sich nicht einmal mehr verabschieden können von ihr.
Talas Flugrichtung folgte dem Lauf der Bergketten. Tief unter sich sah er die glitzernden Lichter einer Stadt. Vielleicht war es Sasfa? Sehnsüchtig sah er hinunter und versuchte sich Lucia dort unten vorzustellen.
Tala machte einen weiten Bogen und flog direkt auf einen auffälligen zweigipfligen Berg zu. Auf einem sandigen Plateau unterhalb der Gipfel landete sie. Als er sich von ihrem Rücken erhob, sah er Wagner auf sich zueilen. Wagner schloss ihn in seine Arme und drückte ihn an sich.
„Gott sei Dank, dass du gerettet bist.“
Er sah im Licht der Sterne, dass Tränen Wagner über die Wangen rollten. Er saß neben Wagner in dem weichen Sand und sah bezaubert in den Himmel über sich. Vor tiefdunklem Hintergrund leuchteten durch die kühle, klare Bergluft unzählige Sterne. Die Milchstraße zog sich als schimmerndes Band quer über das Firmament. Ein Schwarm aufblitzender Sternschnuppen schoss vorbei.
„Man kann sich etwas wünschen in dem Augenblick, in
dem man Sternschnuppen sieht“, hörte er Wagners ruhige Stimme neben sich.
„Ich werde es mir merken, für das nächste Mal.“
Wagner war ihm inzwischen ein väterlicher Freund geworden. Er gab sich mit ihm der Ruhe dieses Augen- blicks hin nach den erregenden Ereignissen des ver- gangenen Tages. Es war still um sie. Dicht bei ihm schliefen Tala und Ise.
„Was würdest du dir denn wünschen?“
Er dachte an Lucia. Sie wiederzusehen, das wäre mein
Wunsch, ging es ihm durch den Kopf. Aber er mochte nicht davon sprechen.
„Ich weiß es nicht.“
Wagner warf ihm einen Blick zu, in dem er Wärme und
väterliche Zuneigung spürte, und sagte mitfühlend:
„Ich habe etwas für dich. Nach deinen schlimmen Erlebnissen mit den Kräften der Finsternis bekommst du nun zum Trost etwas aus der Welt des Lichtes. Ich musste heilige Eide schwören, dass ich es Dir geben werde.“
Er spürte, wie ein kleiner Briefumschlag in seine Hand gedrückt wurde. Mit zitternden Fingern öffnete er ihn. Lucia. Ihre Adresse. Sie wartete auf ihn.
Copyright © Desina Verlag GmbH
Texte: erschienen im Desina Verlag
ISBN: 978-3940307132
Tag der Veröffentlichung: 23.04.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
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