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Prolog



Es war Frühjahr und recht warm für März. Erst recht dafür, dass es Nacht war. Die dunkle Gestalt, die sich durch die ehrwürdigen Räume der Alten Pinakothek schlich war froh darüber, denn seine Kleidung war nicht gerade winterfest. Sie war zweckmäßig für das, was er vorhatte, aber kein Schutz vor Kälte. Die Gestalt war hochgewachsen und man konnte auch in dem schwarzen Einteiler mit der eng anliegenden Kapuze den muskulösen, schlanken Körper erkennen. Kurz verharrte die Gestalt und blickte zur Kamera hinauf, die den Saal im Blick hatte. Der Mann lächelte kurz unter seiner Maske und winkte in das Objektiv. Er wusste, was die Aufzeichnungen hergeben würden und machte sich keine Sorgen, dass man ihn erkennen, geschweige denn identifizieren könnte. Und er wusste auch, dass die Kamera im Moment nur einen leeren, im Dunklen liegenden Gemäldesaal zeigen würde. Dafür war gesorgt worden. Er schlich durch den Saal und als er an seinem Ziel angekommen war, betrachtete er ausgiebig das Gemälde vor ihm. Es zeigte einen jungen Mann, den Körper in dreiviertel Ansicht und das Gesicht dem Betrachter zugewandt. Lockige Harre ringelte sich unter der knappen Kappe hervor und eine markante Nase schien fast plastisch aus dem Gemälde hervorzustechen. In Kombination mit der vollen Unterlippe hatte das Gesicht beinahe habsburgische Züge. Während das Gesicht im kleinsten Details ausgearbeitet war, lag die linke Hand fast nur skizzenhaft hingeworfen auf einem Schwertgriff oder etwas anderem, das kaum zu identifizieren war. Die erdigen, düsteren Farben, die der Maler so geliebt hatte, waren in der Dunkelheit noch eindrucksvoller als im hellen Tageslicht und der weiße Kragen leuchtete fast unnatürlich. Kurz entschlossen zog der Mann ein gut eineinhalb Meter langes Rohr vom Rücken, das er mit einem Ledergurt dort festgeschnallte war, schraubte den Deckel auf, zog eine Rolle heraus und legte sie auf den Boden. Vorsichtig nahm er das Bild von der Wand. ‚Mein Gott, wie nachlässig kann man bei der Sicherheit den eigentlich sein?‘ dacht er, als er das nur mit einfachen Haken aufgehängte Bild abnahm und vorsichtig auf den Boden legte. Mit geübten Griffen entfernte er die hintere Halterung des Rahmens und zog mit einer Spezialzange die kleinen Stifte heraus, mit denen die Leinwand am Rand des Rahmens befestigt war. In kaum fünf Minuten war er soweit die Leinwand vorsichtig zusammen zu rollen und in dem mitgebrachten Rohr zu verstauen. Dann heftete er noch schnell das mitgebrachte Bild auf den Rahmen, fixierte es und hängte das Bild wieder auf. Danach trat er ein paar Schritte zurück und betrachtete sein Werk. Zufrieden nickte er und machte sich auf den Rückweg. Er winkte nochmal in die Kamera und war dann auf dem gleichen Weg verschwunden, den er gekommen war. Ein paar Minuten später war es, als wäre er nie hier gewesen und die ganze Aktion hatte nicht mehr als zehn Minuten gedauert.


Kapitel I

Robert Wenigmann stand in der Sicherheitszentrale der Pinakothek und starrte fassungslos auf den Monitor. Er hatte die Szene sicher schon sechs Mal gesehen und glaubte sie so wenig wie beim ersten Mal. Erst sah man nichts, als den Saal, den die Kamera im Blick hatte, im Dunkeln liegen. Dann schien das Bild zu zerfließen und baute sich neu auf. Und dann, dann sah man in schwarz weiß die skizzenhafte Figur von Mickey Mouse durch eine schemenhafte Szenerie hüpfen, die vage an den Gemäldesaal erinnerte. Vor einem Bild blieb die Figur stehen und sprang, fröhlich in die Hände klatschend, im Kreis. Die ganze Szene verschwand in einer Art Staubwolke aus der Wörter wie „Klopf, klopf“, „ ZIIIIING“, „WUSCH“ und „ÄÄÄÄCHZ“ erschienen. Schlussendlich verzog sich der Nebel und aus dem Bild eines jungen Mannes, das gerade noch dort gehangen war, war eine Darstellung von Minimaus geworden. Mickey Mouse hüpfte auf den Betrachter zu und verschwand kurz aus dem Blickfeld. Sie tauchte jedoch plötzlich wieder auf und streckte der Kamera die Zunge entgegen. Zum Schluss konnte man Mickey Mouse dabei beobachten, wie er fröhlich pfeifend aus dem Bild entschwand. Die Sequenz wiederholt sich ab diesem Moment immer wieder. Im Gemäldesaal, weit oben in der Pinakothek, hing nun statt dem Original, eine in Öl ausgeführte Minimaus in verführerischer Pose und mit keckem Wimpernaufschlag an der Wand. Der Wärter, der das Pech gehabt hatte an diesem Sonntagmorgen seine Runden drehen zu müssen, hatte fünf Minuten gebraucht um sich von seinem Schock zu erholen, bevor er hatte Alarm schlagen können.
„Sie verscheißern mich!“ sagte Wenigmann zum x-ten Male. „Sie wollen mir wirklich erzählen, dass da einer rein marschiert, ihre Alarmanlagen ausschaltet, die Aufzeichnungen manipuliert und dann mit einem Bild, dass Millionen wert ist, einfach wieder verschwindet?“ Wenigmann hatte als Polizist im Kriminalbereich schon viel erlebt, aber das war eine völlig neue Kategorie. Er musste sich extrem zusammenreißen um den Wutanfall, der sich ankündigte, zu unterdrücken. Der Direktor der Pinakothek und dessen Sicherheitschef standen ihm völlig ratlos gegenüber. Der Sicherheitschef, ein Mann in mittleren Jahren und mit schütterem Haar, war sichtlich immer noch geschockt. „Wir haben erst vor 5 Monaten die alten Alarmanlagen ausgetauscht. Wir haben sogar eine Securityfirma beauftragt Einbrüche zu versuchen um die Maßnahmen zu testen. Sie haben es nie geschafft auch nur durch ein Fenster oder eine Tür zu kommen. Ich habe keine Ahnung was da los ist.“
„Keine Ahnung“ blaffte Wenigmann und zeigte mit dem Finger auf die fröhlich klatschende Disneyfigur auf dem Monitor „das sieht man! Sie haben wirklich keine Ahnung.“
Dr. Krauser, der Direktor des Hauses, nahm sich die Brille ab und kniff mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel. „Ich denke, wenn jemand hier den Sicherheitschef so anfahren kann, dann bin ich das. Und nur ich. Ihnen steht das wohl kaum zu.“ meinte er sichtlich erschöpft. „Ihre Aufgabe ist es, nehme ich an, den Fall aufzuklären und nicht meinen Angestellten Vorwürfe zu machen.“ Er setzte sich die Brillen wieder auf und schaute Wenigmann in die Augen. „Außer sie meinen es bringt sie ermittlungstechnisch weiter. Ist dem so?“ sagte er noch ruhig. Dann drehte er sich um schickte den Techniker aus dem Raum. In diesem Moment kam einer der Beamten der Kripo zur Tür herein. „Keine Ahnung wo der Dieb reingekommen ist. Die Beamten haben alles abgesucht und nichts gefunden. Fenster und Türen sind verschlossen. Wir können da nichts mehr tun. Den Rest muss die Spurensicherung erledigen.“ Wenigmann nickte nur, etwas anderes hatte er auch nicht erwartet. „Ich will alle Überwachungsbänder und das Bild zur Untersuchung noch heute im Präsidium haben!“ sagte er über die Schulter hinweg. „Geht klar Boss“ gab der Kollege zurück und verließ den Überwachungsraum. „Und sie, ihren Sicherheitswutzi, den Wächter und die Sicherheitsleute, die heute Nacht Dienst hatten will ich morgen alle zur Vernehmung im Präsidium sehen. Und bis die Spurensicherung fertig ist, bleibt das Museum geschlossen. Ist das klar?“ Krauser wollte kurz widersprechen, sagte dann aber nur „Ja, das ist klar!“
Montagabend quetschte sich Wenigmann hinter seinen Schreibtisch. Er war früher einmal schlank, fast mager gewesen, aber in den letzten Jahren schien sein Körper die Kalorien nur so aufzusaugen. So hatte er sich von Hosengröße 28/30 auf 40/42 hochgearbeitet und es war absehbar, dass er bald noch größere Hosen brauchen würde. Er hasste es dick zu sein, er hasste es, dass er bei der kleinsten Anstrengung schwitzte und er hasste es, nicht genug Energie aufzubringen dagegen etwas zu tun. Endlich hatte er sich doch in seinen Sessel geschwungen, der ein protestierendes Knarren von sich gab. Er zog die unterste Schublade seines Schreibtisches auf und pfefferte die Dienstwaffe hinein. Sein Kollege, Hauptkommissar Stefan Kramer, der ihm gegenüber saß nahm davonscheinbar keinerlei Notiz. Er schien nur in seinen Bildschirm zu starren und sich auf die Informationen zu konzentrieren, die ihm sein Computer präsentierte. „Irgendwas Neues?“ fragte Wenigmann missmutig, während er versuchte seinen eigenen Rechner zum Laufen zu bringen. Er und die Technik standen auf Kriegsfuß, seit die Polizeidirektion sich eingebildet hatte, alles auf EDV gestützte Verarbeitung umstellen zu müssen. Er war Polizist der alten Schule und wünschte sich die Akten aus Papier zurück. Aber die gab es nur nicht mehr so oft und neue Fälle konnte man nur mehr im Netzwerk der Polizeibehörden bearbeiten. Kramer lehnte sich zurück und blies die Backen auf. „Um es kurz zu machen. Wir haben bis jetzt nichts! Die Aussagen der Museumangestellten sind wertlos. Keiner hat was gesehen oder gehört. Die Spurensicherung hat Unmengen von Proben und Fingerabdrücken genommen. Die Jungs haben aber schon klar gemacht, dass wir uns nichts erwarten sollen. Es gehen täglich buchstäblich tausende Touristen durch den Gemäldesaal. Die Proben sind damit so gut wie nichts wert. Wenn wir etwas haben, dann vielleicht das Bild, dass der Einbrecher zurückgelassen hat. Und die manipulierte EDV Anlage.“
Wenigmann hackte jetzt das dritte Mal sein Passwort in die Tastatur um in das System zu kommen. Noch zwei Fehlversuche und er würde wieder einmal aus dem System ausgesperrt sein. Wenn er etwas nicht wollte, dann wieder zu den EDV Idioten gehen zu müssen, damit die seinen Account wieder aufsperren. Die zerrissen sich ohnehin schon das Maul über ihn und er war sich sicher, dass sie hinter seinem Rücken über ihn lachen würden. Wieder falsch – also tippte er wie ein Kleinkind im Adlerflugsystem sein Passwort ein. Taste für Taste. Kramer blickte seitlich an seinem Monitor vorbei. „Hast du mir zugehört?“
„Jaja – hab’s gehört!“ Endlich kam der Begrüßungsschirm und Wenigmann konnte selbst die Ergebnisse abrufen.
„Das Phantom?“ fragte er, nachdem die Informationen von Kramer den Weg in sein Gehirn gefunden hatten. „Was ist das denn für ein bescheuerter Namen?“
„So nennt die Presse unseren Dieb inzwischen!“
„Verdammt – hätten wir das nicht verhindern können?“
„Wenn ein Bild von Velasquez im Versicherungswert von ein paar Millionen verschwindet? Wohl kaum. Und das die Pinakothek an einem Sonntag geschlossen hat, hat die Medienmeute erst recht neugierig gemacht.“
„Kennt die Presse Details?“ fragte Wenigmann eher zerstreut, als er versuchte den Informationen auf dem Schirm irgendeine sinnvolle Bedeutung zu entlocken.
„Liest du eigentlich keine Zeitung? Alles ist voll davon! Um deine Frage zu beantworten – Nein, unsere Pressestelle war auf Zack und auch das Museum hält dicht.“ Gab Kramer sichtlich genervt zurück.
„Wenigstens etwas…“ murmelte Wenigmann und trank einen Schluck von seinem Kaffee. Angewidert verzog er das Gesicht. Der Kaffee schmeckte nach einer Mischung aus Abwaschwasser, Fingermalfarbe und Schlafmittel. Er kippte das Gebräu in eine Topfpflanze, die neben ihm stand.
„Du wirst den Philodendron noch killen!“ sagte Kramer vorwurfsvoll. Wenigmann zuckte nur mit den massigen Schultern. Seiner Meinung nach sollten Gewächse mit solchen Namen erst gar nicht in seinem Büro stehen.
„Was ist mit dem EDV System des Museums? Können wir nicht rausfinden, wie das ausgetrickst worden ist? Unsere EDV Heinis sind doch sonst immer so schlau. Sollen die sich darum kümmern. Und dann organisieren wir noch einen Spezialisten, der das Bild und den Rahmen unter die Lupe nimmt. Vielleicht bringt das ja was. Und dann …“ Wenigmann dachte nach. „Dann sollten wir noch bei Interpol nachfragen, ob es so einen dreisten Raub schon einmal gegeben hat.“
Interpol war schneller. Kaum hatte Wenigmann den Satz ausgesprochen, hatte er eine neue Mail in seiner Inbox. Absender Interpol, Betreff: Gemälderaub Pinakothek.


Kapitel II
„LIEBBERG!“ schallte es durch das Büro. Ulrich Liebberg stand lässig in der Kaffeeküche und lehnte sich an den Kühlschrank. „Das war das dritte Mal, Willst du dich nicht melden?“ fragte seine Kollegin Claudia. „Wenn er nicht mindestens fünfmal ruft und beim letzten Mal die Stimme überschlägt, ist es nicht wichtig.“ sagte Ulrich ruhig und trank aus seiner Tasse. „Schau, ich erklär dir das.“ Ulrich stellte die Tasse hin nahm seine linke Hand hoch. „Einmal rufen bedeutet, das ihm in einem meiner Berichte etwas nicht gefällt.“ Er streckte den Daumen hoch. „Zweimal rufen, dass meine Spesenabrechnung ein Loch in sein Budget reißt.“ er nahm den Zeigefinger dazu. „Dreimal rufen, dass wir wahrscheinlich zahlen müssen, viermal, dass wir sicher zahlen müssen und fünfmal, dass wir in Gefahr laufen einen Millionenbetrag verlieren – oder mehr!“ Ulrich war beim kleinen Finger angekommen. „LIIEBBERG! Hat jemand Liebberg gesehen?“ hörte man durch die geschlossene Tür. „Es wird interessant.“ Ulrich drehte sich gerade zur Tür, als man diese aufgerissen wurde. „LIEBERG! Da sind sie ja!“ schnappte Klaus Ehrmann nach Luft ringend. Beim letzten Ton schlug ihm die Stimme um. „Siehst du was ich meine?“ sagte Ulrich an Claudia gewandt. „Es ist wichtig!“ Klaus Ehrmann, der Vorgesetzte von Ulrich war ein dicklicher, mittelgroßer Mann in den Fünfzigern und schien immer knapp am Rande des nervlichen Zusammenbruchs zu stehen, aber das täuschte. Er war einer der besten Versicherungsdetektive gewesen, den die Firma je beschäftigt hatte. Vor acht Jahren war er angeschossen worden und hatte nur knapp überlebt. Aber anstatt den Vorschlag der Firma mit einer sehr üppigen Abfindung und einer großzügigen Pension in den Ruhestand zu gehen, anzunehmen, hatte er sich dazu entschlossen die Leitung der Ermittlungsabteilung zu übernehmen. Und er hatte die Erfolgsquote um einen beträchtlichen Prozentsatz verbessert. Und dabei noch das Gesamtbudget gesenkt, dass allerdings immer noch recht üppig war. „Warum melden sie sich nicht? Haben sie mich nicht gehört, als ich gerufen habe?“ sagte Ehrmann jetzt schon ruhiger.
„Wenn sie wollen, dass man kommt wenn sie rufen, schaffen sie sich bitte einen Hund an.“ Ulrich nahm wieder seien Kaffeetasse und schaute Ehrmann in die Augen. „Und es gibt ja auch Telefone.“ Als Ehrmann zurückblickte, merkte man, dass da mehr war, als nur ein hektischer, dicklicher Mann. „Liebberg. Jeden anderen würde ich wie einen Hund aus dem Haus jagen, wenn er mir so kommen würde. Und auch sie haben nur eine begrenzte Anzahl von Frechheiten frei, die ich ihnen durchgehen lasse, egal, wie gut sie in ihren Job auch sein mögen.“ Claudia drückt sich mit einem „Entschuldigung“ an den beiden Männern vorbei und schlich sich aus der Tür. Dort hatten sie bereits einige Kollegen versammelt und versuchten auf zuschnappen, was sich in der Küche tat. Die Auseinandersetzungen zwischen Ulrich und Ehrmann waren bereits legendär und jeder war begierig zu erfahren, wie die neueste Runde ausgehen würde. „Wie steht es?“ fragte einer der Männer. „Unentschieden“, sagte sie „sie knurren sich noch an. Bis jetzt hat noch keiner zugebissen und wenn ihr nur halbwegs so viel Intelligenz wie Neugier besitzen würdet, dann würdet ihr brav an euren Schreibtischen sitzen, bevor ihr noch als Kollateralschaden endet!“. Mit diesen Worten drückte sich Claudia durch die Menge und steuerte ihren eigenen Schreibtisch an, auf dem sich ohnehin Arbeit ohne Ende türmte.
In der Küche standen sich Ehrmann und Ulrich immer noch gegenüber und Ulrich hatte beschlossen es diesmal nicht auf die ultimative Kraftprobe ankommen zu lassen. Er hielt nicht viel von Ehrmann und sich auf Jahre zurück liegende Leistungen zu berufen, hielt er für eine Charakterschwäche. Seiner Meinung nach war er der bessere Ermittler. Besser, als es Ehrmann jemals gewesen war. „Also worum geht es?“ fragte er ruhig und stellte seine Tasse auf die Abtropfplatte. Der Kaffee war ohnehin kalt geworden und schmeckte auch heiß schon eher unterdurchschnittlich. „Nicht hier – im Büro!“ sagte er im Umdrehen und stieß die Küchentür auf. Eine Meute von Mitarbeitern stob auseinander und alle waren bestrebt eiligst wieder auf ihre Schreibtische zu zusteuern. Ehrmann ignorierte die unstillbare Neugier seiner Mitarbeiter. Es war ihm nur allzu deutlich bewusst, dass seine Spannungen mit Liebberg DAS Lieblingsklatschthema im Büro war. Dem Hörensagen nach gab es sogar Wetten, wer von den beiden früher das Büro verlassen würde. Sie steuerten den Lift an und fuhren in eisigem Schweigen hoch in die Chefetage. Ulrich war hier nur selten und die Atmosphäre behagte ihm auch nicht sonderlich. Alle Wände waren mit dunklen Tapeten verkleidet und der Boden war mit einem dicken Teppich belegt, der jedes Geräusch schluckte. Die Türen waren mit Teakfurnieren überzogen und auf goldenen Schildern waren die Namen der Büroinhaber eingraviert. Für Ulrich stank in diesem Bereich alles nach Geld und Inkompetenz.
Ehrmann machte eine der Türen auf, rauschte an seiner Sekretärin vorbei, die Ulrich mitleidsvoll ansah und öffnete dann die Doppelflügeltür zu seinem eigentlichen Büro. Dort ließ sich Liebberg in einen der bequemen Stühle fallen und sah aus dem großen Fenster. Draußen schien die Sonne und es war ein herrlicher Frühlingstag. Ehrmann belegte ein großes Eckbüro im letzten Stock des großen Gebäudes am Ballindamm. Es hatte auf zwei Seiten riesige Panoramafenster und links sah man über den Dächern die Türme des Rathauses und des Michels aufragen und gerade aus schoss die große Alsterfontäne fast 60 Meter in die Höhe. Bis jetzt hatte er es geschafft, alle Versuche verschiedener Vorstände sich das Büro unter den Nagel zu reißen, abwehren können. Wie er das allerdings geschafft hatte, war ein großes Rätsel das auch wieder genug Stoff für Getuschel und Gerüchte gab. „Er hat wieder zugeschlagen!“ sagte Ehrmann leise, als er die dicke, gepolsterte Türe hinter sich geschlossen hatte. Nun hatte er die volle Aufmerksamkeit von Ulrich. „Er“ war ein ganz gerissener Einbrecher, der in ganz Europa wertvolle Kunstgegenstände, hauptsächlich Bilder erbeutet hatte. Es hatte vor nicht ganz zwei Jahren begonnen und inzwischen waren es achtzehn Fälle, die ihm zu zuordnen waren. Das hieß, Ulrich ordnete ihm die Fälle zu. Schon nach dem dritten Vorkommnis, hatte sein Instinkt angeschlagen und er sah es als ganz klar, dass ein einzelner Täter oder eine Tätergruppe dahinter steckte. Allerdings war er der einzige gewesen, der diese Tatsache sah. Gerade Ehrmann hatte da massive Widerstände entwickelt und Ulrich mehr als nur einmal der Lächerlichkeit preisgegeben, als er ihn aufgefordert hatte, seine Beweise für diese Behauptung vorzulegen. Ulrich hatte natürlich keine gehabt. Das Ehrmann nun implizit zugab, das es doch ein und er selbe Täter war, stellte für Ulrich einen großen Sieg dar. Aber er beschloss großzügig zu sein und sich nicht in seinem Triumph zu sonnen. Stattdessen sagte er nur: „Wo und was?“. Ulrich war bewusst, welch eine Überwindung es Ehrmann gekostet haben musste, sich zu dieser Aussage durchzuringen und es jetzt wahrlich nicht der richtige Moment war, darauf herum zu reiten.
„München, Alte Pinakothek. Das ‚Bild eines jungen Mannes‘ von Velasquez.“ Ehrmann schenkte sich einen Cognac ein, was für ihn an sich schon untypisch war, und um drei Uhr nachmittags wohl eine Premiere. „Das Bild ist mit 2,4 Millionen bei uns versichert.“ Ehrmann leerte den Kristallschwenker mit einem Schluck und schenkte sich nach. Ulrich stieß einen leisen Pfiff aus. „Happig!“ kommentierte er. „Ich dachte, wir versichern Kunst nicht mehr. Oder ist das noch ein Erbe aus alten Zeiten?“
„Das war ein Prestigeauftrag, den der Vorstand gegen meinen ausdrücklichen Rat hin durchgedrückt hat. Gegen meinen ausdrücklichen Rat!“ Ehrmann steigerte sich wieder in Rage hinein. Dann nahm er sich wieder zusammen und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. „Hören sie zu Liebberg. Ich weiß, dass ich ihnen wegen dieser Sache ziemlich eingeheizt habe und ich gebe hiermit zu, dass ich falsch lag. Ich hatte Unrecht. Sie hatten recht.“ Ulrich nickte nur und sagte erst Mal gar nichts. Nach einer Weile setzt er nach „Wann fliege ich?“
„Ihr Flug geht morgen Abend. Alle verfügbaren Daten sollten sie schon im System finden Ich habe bei der Polizeidirektion München schon alles klar gemacht. Man wird dort reibungslos mit ihnen zusammenarbeiten.“
„Ja, das glaub ich sofort“ murmelte Ulrich und sank etwas tiefer in den Sessel. Gerade die Polizei im Süden der Republik war nicht gerade für ihre Kooperationsfreudigkeit bekannt. Und Versicherungsdetektive rangierten bei ihnen am untersten Ende der Skala menschlicher Existenz. Nur Mörder und Kinderschänder hatten eine noch schlechtere Reputation.
Ehrmann tat als hätte er den Einwurf nicht gehört. „Gut, entweder sie beschaffen das Bild wieder, oder weisen dem Museum schlampige Arbeit bei den Sicherheitsmaßnahmen nach. Was auch immer sie tun – sorgen sie dafür, dass wir nicht zahlen müssen. Außerdem – ich möchte nicht, dass das die Runde macht. Behalten sie alles rund um den Fall für sich.“ Ulrich nickt, etwas anderes hatte er auch nicht erwartet. „Darf ich meine Kollegin einweihen? Kann sein, dass ich Hilfe bei Recherchen brauche.“ Ehrmann dachte kurz nach. „Na gut – aber sie darf nur wissen, was unbedingt notwendig ist.“ Gab er widerwillig nach.
„Bekomme ich Unterstützung vor Ort?“
„Hab ich das nicht gerade deutlich gemacht? Nein – außer sie können mir glaubhaft machen, dass sie unbedingt jemanden benötigen.“ Ulrich dachte kurz nach. Das konnte eigentlich noch warten, außerdem arbeitete er sowieso lieber alleine.
„Und noch was, bevor sie gehen“ Ulrich neigte sich nach vorne und legte die Hände auf die Arbeitsplatte seines Schreibtisches. „Treten sie bei den Spesen kürzer. Wenn sie nochmal mit Rechnungen von fünf Sterne Hotels anrücken, dürfen sie selbst zahlen. Ist das klar?“. „Glasklar, Chef!“ – Ulrich würde natürlich keine Rücksicht auf das ausbordende Spesenbudget von Ehrmann nehmen. Er wusste das und Ehrmann wusste das, aber diese Aufforderung gehörte in gewisser Weise zum Ritual, dass sich zwischen den beiden entwickelte hatte.

Als Ulrich zu seinem Schreibtisch zurückgekehrte war er nachdenklicher als sonst und die fragenden Blicke seiner Kollegen nahm er kaum war. Und er hatte auch überhaupt keine Lust sich jetzt mit Büroklatsch herum zu schlagen. Also lud er alle Daten, die ihm Ehrmann freigegen hatte, auf seinen Notebook und fuhr seinen PC herunter.
„Du machst Schluss für heute?“ fragte Claudia und beugte sich nach vorn.
„Ich hab einen Auftrag. Ich fliege morgen und muss noch eine Menge erledigen. Kann sein, dass ich dich hier und da mal um Hilfe bitte.“
Claudia legt den Kopf schief und sah ihn mit hochgezogener linker Augenbraue nach. Man konnte Claudia manchen Fehler vorwerfen, sie war spitzzüngig, manchmal rechthaberisch und nicht gerade mit Mitgefühl gesegnet, aber sie war eines sicher – hochintelligent.
„Lass mich raten. Es geht nach München, in die Alte Pinakothek!“
Ulrich sah sie nur fragend an.
„Ach komm, SO schwer war das nun wirklich nicht“ Die drehte ihren Monitor, so dass Ulrich sah was darauf stand. ‚PHANTOM HAT ZUGESCHLAGEN‘ stand dort dick und fett und in kleineren Buchstaben darunter ‚Kunstraub in München‘.
Es hatte keinen Sinn zu leugnen und Ulrich seufzte schwer. „Ja, du hast recht, aber häng es bitte nicht an die große Glocke. Der Alte bekommt einen Infarkt, wenn es die Runde macht, dass wir involviert sind.“
„Ich werde schweigen wie ein Grab“. Sie machte eine Bewegung, als würde sie mit der rechten Hand die Lippen absperren um dann den imaginären Schlüssel über die Schulter zu werfen. ‚auch gut‘ dachte Ulrich, ‚dann muss ich wenigstens darauf keine Rücksicht nehmen‘. „OK meine Liebe, ich werde mich vom Acker machen. Ich muss noch eine Menge Akten durchackern, bevor es losgeht.“
Claudia zog eine Schnute. „Du hast mir versprochen heute mit mir Essen zu gehen? Kannst du dich vielleicht noch erinnern?“
Ulrich KONNTE sich erinnern, aber er hatte gehofft, dass Claudia es vergessen hätte. Er wusste schon lange, dass seine Kollegin mehr als nur ‚Kollegin‘ sein wollte. Aber das war etwas, was er ihr nicht geben konnte oder wollte. Ulrich hatte sein Privatleben immer mit einer Aura des Geheimnisvollen umgeben und das mit gutem Grund. Ulrich stammte aus einer alten Hamburger Familie, die nicht nur alteingesessen sondern auch erzkonservativ war. Er hatte schon früh mitbekommen, dass man manche Dinge nicht preisgibt und schon gar nicht die Reaktion abwartet, die auf die Bekanntgabe gewisser Details aus seinem Privatleben unweigerlich kommen würde. Ulrich wusste auch, dass er schwul war. Und zwar schon seit seiner Jugend. Er hatte sich mit dieser Tatsache arrangiert, ohne sich über sein Schwulsein alleine zu definieren. Es war für ihn eher wie eine juckende Stelle zwischen Schulterblättern, an der man sich nicht kratzen konnte. Es gab Zeiten, da er geglaubt hatte, er hätte eine Art ‚Krankheit‘, die geheilt werden könnte. Er war so weit gegangen zu heiraten und sich ein nach außen hin ‚gutbürgerliches‘ Leben aufzubauen. Der Versuch war ebenso schnell wie spektakulär gescheitert. Auch heute noch bekam er Angstschauer, wenn er sich an die extrem unschönen Szenen erinnerte, die seiner Scheidung vorausgegangen war. Zum Glück war seine Exfrau nach der Scheidung ausgewandert und hatte, zu seiner nicht gelinden Überraschung, darauf verzichtet all die Peinlichkeiten, durch die sich ihr ‚Sexualleben‘ definiert hatte, publik zu machen. Sie hatte einfach ihre Koffer gepackt und war dem Ruf eines neuen Arbeitgebers nach Australien gefolgt. Was für seine Begriffe gerade eben weit genug war. Also hielt er Claudia gerade auf genug Abstand um sich nicht verdächtig zu machen, aber weit genug um keine falschen Hoffnungen aufkommen zu lassen. Hoffte er zumindest. Allerdings hatte er in letzter Zeit das Gefühl, dass er mit der Masche nicht mehr durchkommen würde. Claudia wollte deutlich mehr – und das immer drängender. Bald würde ihm wohl keine Wahl bleiben, als ihr entweder reinen Wein einzuschenken oder sie auf Macho Art abzuservieren. Jetzt aber noch nicht, noch war es nicht so weit diese Entscheidung zu treffen. Erst mal musste er sich auf den Fall konzentrieren und der würde ihn hoffentlich weit genug und lange genug fortführen.
„Tut mir leid – wirklich. Ich mach’s wieder gut, wenn ich zurück bin.“
„Denk aber nur nicht, dass du mir so billig davon kommst, wie beim letzten Mal. Ein billiges Steakhouse ist wirklich nicht das was ich mir vorstelle.“ Ulrich schwante Übles.
„Es wird mindestens der Perser in den Alsterarkaden. MINDESTENS! Hörst du?“
Schwer seufzend nickte Ulrich. „Wie du wünschst!“
„Und ich werde dir in noch festzulegenden Abständen gegen die Schienbeine treten. Die Frequenz hängt von der Dauer deiner Abwesenheit ab.“
„Verfüge darüber, als ob es deine wären.“ Ulrich verbeugte sich noch einmal theatralisch, packte seine Laptoptasche und flüchtete nahezu aus dem Büro. Wer wußte schon, was Claudia noch alles eingefallen wäre, wenn sie Gelegenheit dazu gehabt hätte.
Draußen atmete er tief durch und ging Richtung Jungfernstieg um dort die U-Bahn zu nehmen. Er überlegte es sich aber dann anders und ging Richtung Mönckebergstrasse um das schöne Wetter mit einem kleinen Spaziergang auszunützen. Er hatte nicht wirklich die Absicht gehabt, abends noch zu arbeiten. Er hatte bereits eine Verabredung und die würde er sicher nicht absagen. Als er Richtung Hauptbahnhof ging, zog er sich er die Jacke aus, hängte sie sich über die Schulter und schlenderte fröhlich pfeifend davon.

Kapitel III
Cornelius stand in seiner Küche und bearbeitete konzentriert die Mangos, die vor ihm auf der Arbeitsplatte lagen. Er hatte zum Abendessen eingeladen und würde sich keine Blöße geben, da seine Einladungen begehrt und seine Kochkünste legendär waren. Er hatte einen Ruf zu verlieren und den würde er verteidigen. Deswegen hatte er sich vorgenommen, sich noch mehr Mühe zu geben als er es sonst schon tat. Aber irgendwie wollte es ihm nicht gelingen, sich zu konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab und er blickte aus dem breiten Fenster vor ihm über den Rhein hinaus. Das gegenüberliegende Ufer lag im morgendlichen Nebel und man konnte das andere Ende der Deutzer Brücke gerade so erahnen. Seufzend riss er sich aus seinen Gedanken und machte sich wieder an das Dessert. Mango- und Erdbeersorbet an einer Sauce aus Cointreau, Schokolade und Pfefferminze. Er hatte noch Zeit, aber das Sorbet würde Stunden im Kühlschrank brauchen, um die richtige Konsistenz zu bekommen. Er war mit dem heutigen Besuch nicht ganz glücklich. Merlene hatte sich mehr oder weniger selbst eingeladen, was ja an und für sich nicht so schlimm gewesen wäre, aber dass sie Klaus, ihren blasierten, ewig gelangweilten und ewig unzufriedenen, Mann und ihre schrecklich verzogenen Kinder mitbringen wollte, war nun gar nichts was ihn glücklich machen konnte. Um den Abend noch etwas aufzulockern, war Cornelius sein kleines Adressbuch durchgegangen und nach einer passenden zusätzlichen Tischdame gesucht. Er hatte sich für Annabell entschieden. Annabell war eine rassige Rothaarige, die durch nichts zu erschüttern und ein ewiger Quell guter Laune war. Glücklicher Weise hatte sie sofort zugesagt. Allerdings hatte sie nicht wenig enttäuscht geklungen, als ihr Cornelius die bittere Wahrheit mitgeteilt hatte, nämlich, dass auch Marlene und ihr Anhang dabei sein würden. Er musste lächeln, als er an das Telefonat zurückdachte. Dann dachte er an den bevorstehenden Abend und wurde wieder ernst. Außer dem Dessert hatte er noch keine Ahnung, was er auf den Tisch bringen sollte. Marlene und Annabell waren recht anspruchslos, Klaus war sowieso mit nichts zufrieden und die Kinder wollten immer nur Pizza oder Pommes. Pizza und Pommes! Man stelle sich nur vor! Bevor Cornelius dass auf den Tisch stellen würde, wäre er eher bereit seine Küche abzufackeln. Während er so in Gedanken war, hatte er die Mangos vom Kern gelöst, die Schale hauchdünn vom Fruchtfleisch getrennt und in kleine Stücke geschnitten.

Das Rezept war einfach, aber das Ergebnis einfach lecker:
Mangosorbet:
100 g Zucker, 120 ml Wasser, Zitronenabrieb, zwei halbgroße, reife Mangos, 1 Ei
Zucker und Wasser in einem Topf aufkochen. So lange rühren, bis der Zucker geschmolzen ist. Flüssigkeit erkalten lassen.
Mangos schälen, halbieren und den Stein entfernen. Etwa 3/4 des Fruchtfleisches grob würfeln, fein pürieren, Zuckersirup und die feingeschnittene Schale einer halben Biozitrone dazugeben und nochmals kurz pürieren.
Eigelb und Eiweiß trennen.
Das Eiweiß halbsteif schlagen, in einer Edelstahlschüssel gründlich unter das Fruchtpüree mischen. Mindestens 3 Stunden im Gefrierfach gefrieren lassen. Immer wieder mal durchrühren, damit sich keine großen Eiskristalle bilden können.
Das restliche Mangofleisch kann man in Form oder in kleine Würfel schneiden und dann zum Sorbet servieren.
Mit den Erdbeeren würde er es genauso machen, nur keine Zitronenabrieb, sondern Orangenzisten dazu geben.
Schokoladensauce:
25 ml Milch, 25 ml Sahne, 120 g Schokolade, frische Pfefferminze, Cointreau oder Gran Manier.
Milch & Sahne aufkochen, eine Handvoll grob gehackte Pfefferminzblätter und die Schokolade hinzugeben und die Schokolade schmelzen lassen. Nicht mehr kochen aber 15 Minuten ziehen lassen. Zum Schluss einen Schuss Orangenlikör dazu geben. Danach die Sauce durch ein Sieb abgießen (Das Sieb im Wasserbad vorwärmen, sonst verklebt es!). Kann kalt oder warm serviert werden.
Cornelius hatte die Sorbets gerade in den Tiefkühler gestellt, als sein Telefon zu vibrieren begann. „Albert is calling“ stand auf dem Display. ‚Seltsam‘ dacht er, ‚wieso ruft er heut an?‘ Aber bevor er abheben konnte, legte der Anrufer wieder auf. Kurz danach ging eine SMS ein. „Paket nicht zugestellt. Empfänger nicht erreichbar. Versuche es Montag wieder.“. Das war nun wirklich unerwartet. Der ‚Empfänger‘ war sonst immer am Samstag in seinem Haus erreichbar. Kurz dachte er darüber nach, dort anzurufen, verwarf den Gedanken allerdings wieder. Er hatte immer noch keine Ahnung, was er Marlene und ihrer netten Familie auftischen sollte. Eigentlich hatte er besseres und wichtigeres zu tun, als den Babysitter zu spielen, aber Marlene gehörte nun mal zu seinem engsten Freundeskreis. Vor vielen Jahren waren sie etwas Ähnliches wie ein Paar gewesen, aber da er wegen des Sports und sie wegen des Studiums sehr wenig Zeit hatten, war nichts Ernstes daraus geworden. Marlene hatte das schlampige Verhältnis irgendwann beendet. Cornelius hatte diese Entscheidung eher mit Erleichterung als Trauer zur Kenntnis genommen, aber sie waren seit dem gute Freunde geblieben. Nachdenklich stand er in der Küche und rieb sich am Kinn. Die Finger schabten über den Dreitagesbart und erzeugten ein kratzendes Geräusch. ‚Bevor ich hier weiter Zeit vergeude, kann ich gleich ins Bad gehen und mich hübsch machen.‘ Cornelius war nicht im eigentlichen Sinne eitel, aber er achtete sehr auf sein Aussehen. Es hinderte ihn nichts den ganzen Tag unrasiert und im Schlabbertrainingsanzug durch die Wohnung zu laufen, aber wenn er vor hatte auszugehen oder Besuch zu empfangen, wurde sein Besuch im Bad zum Ritual. 30 Minuten duschen mit Duschgel und Pflegelotion waren normal. Dabei noch die kurz geschorenen, schwarzen Haare mit Shampoo und Pflegespülung waschen und alle drei Tage noch eine Extraeinlage um sich eine Ganzkörperrasur zu verpassen. Nicht, dass er extrem behaart war, eher im Gegenteil. Die Haare auf seiner Brust konnte man beinahe zählen und auf dem Bauch waren sie noch seltener, aber er wollte es nun mal nicht anders. Nur die Schambehaarung ließ er stehen, allerdings auf 4 mm gekürzt. Zähneputzen und rasieren dauerte nochmal 15 Minuten, 10 Minuten für Gesichtscremen und 10 Minuten dafür die Haare mit Gel in die richtige, kunstvoll verstrubbelte Form, zu bringen, war mehr als eine Stunde um, als er fertig war und nur mit einem Handtuch um die Hüften vor dem Spiegel stand. Kritisch beäugte er sein Gegenüber, konnte aber nichts finden, an dem etwas auszusetzen war. Er war zwar seit Jahren kein Leistungssportler mehr, aber durch regelmäßiges Training schaffte er es sich in Form zu halten. Sein Blick wanderte von der breiten, muskulösen Brust hinunter zu seinem Bauch, den immer noch ein ausgeprägtes Sixpack prägte. Dann zwinkerte er sich selbst zu, schnalzte mit der Zunge und sagte leise zu seinem Spiegelbild „Der MrC Motor schnurrt immer noch mit hundert Prozent Effizienz!“. Auch mit seinen 36 Jahren war er immer noch ein Hingucker für alle Frauen und auch manche Männer im Fitnessstudio und er genoss es die Blicke auf sich zu ziehen. Nicht selten bekam er auch recht eindeutige Angebote, aber es war nicht seine Art auf so etwas einzugehen. Im Ankleidezimmer entschied er sich für eine stonewashed Jeans, die seinen knackigen Hintern betonte, ein blaues T-Shirt und einen cremefarbenen Sweater. Danach setzte er sich an seinen Laptop, öffnete seine Rezeptdatei und hoffte auf eine Inspiration für eine vernünftige Menüfolge. Er wollte fast schon aufgeben, als er sich kurz entschlossen für einen Kompromiss entschied:
Klassische Bruschetta
Gefülltes Huhn
Gegrillten Wolfsbarsch
Klassische Bruschetta
2 Baguette, 60 g Butter, 1 Dose geschälte Tomaten, 3 Knoblauchzehen, frisches Basilikum, 2 kleine Zwiebeln, Salz, Pfeffer & Olivenöl, Parmesan
Die Dose Tomaten öffnen auf einen Sieb abtropfen lassen anschließend die Tomaten grob zerkleinern. Die kleingehackten Knoblauchzehen und Zwiebeln in Olivenöl glasig werden lassen Tomaten, Salz Pfeffer und den gezupften Basilikum dazugeben.
Knappe 10 Minuten köcheln lassen. Nach dem Auskühlen den Parmesan zugeben. In der Zwischenzeit die Brotscheiben schneiden und mit etwas Öl in der Pfanne hellbraun rösten. Danach die Masse auftragen und bei 200 C im Backofen backen.
Mit Mandeln und Mozzarella gefülltes Huhn
1 große Poularde (~ 2 kg), 450 g Mozzarella, 150 g gemahlene Mandeln, 5 Knoblauchzehen, 1 Bund Thymian, 1 Bund Oregano, 4 Eier, Salz, Pfeffer, Zitronensaft, Olivenöl. Eiskaltes Bier
Die Haut der Poularde auf der Vorderseite vorsichtig mit den Fingern vom Fleisch lösen aber nicht entfernen!
Den Mozzarella durch ein Sieb oder eine flotte Lotte passieren. Je 1 Teelöffel Thymian-und Oregano Blätter zur Seite legen. Den Rest mit Mozzarella, Eiern, den feingehackten Knoblauch, Mandeln, Salz, Pfeffer und Zitronensaft vermischen.
Die Mischung etwa 1cm dick unter die Poulardenhaut schieben. Den Rest in die Bauchhöhle geben. Zunähen oder mit einem Holzstäbchen verschließen, mit Öl bepinseln und mit den restlichen Kräutern bestreuen.
Mit der Brust nach oben im vorgeheizten Ofen bei 200° ca. 90 Minuten braten.10 Minuten vor dem Bratende mit einem kleinen Glas Bier übergießen. Wenn Zeit ist: 180 Min. bei 130 Grad und 10 Min bei voller Hitze zum Schluss.


Gegrillten Wolfsbarsch (klassisch mediterran)
2 mal Wolfsbarsch (je ~ 400g), eine Handvoll Salbeiblätter, Rosmarinzweige, 2 Zitronen, 2 Zuchini, 4 getrocknete Tomaten, einige schwarze Oliven, eine Schalotte, eine Knoblauchzehe, eine Handvoll Pinienkerne, 6-8 Kirschtomaten, Salz, Pfeffer, Olivenöl, trockener Weißwein.
In die Fische quer, vom Rücken zum Bauch, auf jeder Seite 4 feine Einschnitte machen. In jeden Schnitt ein Salbeiblatt stecken. Den geöffneten Bauch leicht pfeffern und salzen und mit je einem Rosmarinzweig und je einer dünnen, evtl. halbierten Zitronenscheibe auslegen.

Den Holzkohlengrill oder einen guten Elektrogrill befeuern Die Hitze sollte stark, aber nicht übermäßig heiß sein. Nun die Fische auf den vorher mit Öl bestrichenen Rost legen. Besser wäre ein Wendegrill, in den man die Fische einklemmt, um sie dann besser wenden zu können. Nach ca. 10-12 Minuten den Fisch wenden. Die Fische regelmäßig mit etwas Zitronensaft beträufeln.

Die Zucchini in 1 cm große Würfel schneiden und in Olivenöl in 2-3 Minuten scharf goldbraun anbraten, salzen, pfeffern und auf einen Teller geben. Die Temperatur reduzieren und die sehr klein geschnittene Schalotte und Knoblauchzehe, den restlicher Rosmarin und die getrockneten Tomaten sanft in weiterem Öl braten. Nach ca. 5 Minuten die halbierten Kirschtomaten und zerkleinerten Oliven dazu geben, die Temperatur etwas erhöhen, salzen, pfeffern, mit einem Schuss Weißwein ablöschen und mehrfach schwenken. Nun die Zucchini in die Pfanne zurückgeben, schwenken und evtl., je nach Garungszustand, weiter schmoren. Das Gemüse sollte unbedingt noch knackig sein. Zum Schluss die vorher angerösteten Pinienkernen hinzu geben.

Die Fische mit dem Gemüse und Ciabatta servieren.

Er schickte die Einkaufsliste auf den Drucker und machte sich auf um alles zu besorgen. Als er sich die Schuhe anziehen wollte, sah er in der Ecke des Vorzimmers eine braune Lederröhre stehen, an der einige Riemen, ebenfalls aus Leder, angebracht waren. ‚Wie nachlässig!‘ dachte er, nahm die Röhre und hängte sie an die Vorzimmerwand. Dann fuhr er mit dem Aufzug die ganze Höhe des Bauwerks nach unten. Er wohnte hier jetzt seit fast drei Monaten, aber die Architektur erstaunte ihn immer wieder. Er starrte gerade nach oben und einige dutzend Meter über ihm hing der gewaltige Vorbau über ihm, nur durch das lächerlich schmal wirkende Treppenhaus gestützt. Sein Gefühl sagte ihm, dass es zusammenbrechen musste, aber die Statiker garantierten für die Stabilität. Als ihm drohte schwindlig zu werden, drehte er sich um und machte sich auf den Weg zum Markt und seinen bevorzugten Einzelhändlern. Es ging an den dicken blauen Rohren vorbei, die nur ein paar Jahre Grundwasser aus den vielen Baugruben in den Rhein pumpen sollten, nun aber schon fest zum Stadtbild gehörten, überquerte ein paar Straßen und fand sich auf dem Weg zum Heumarkt wieder. Der Nebel hatte sich gehoben und die Sonne sorgte innerhalb von wenigen Minuten für angenehm warme Temperaturen. Ein lauer Wind regte sich und ein paar Möwen drehten hektisch kreischend ihre Kreise über seinem Kopf. Als er über den Rhein schaute musste er aus irgendeinem Grund an Matisse denken und an Van Gogh. Und an seinen großen Plan, der so knapp vor der Vollendung stand, aber das Risiko war so groß geworden, so groß, dass er leicht zu zittern anfing. Cornelius schüttelte den Kopf um die düsteren Gedanken zu vertreiben, die sich hinterrücks angeschlichen und ihn überfallen hatten. Dann bog er vom Heumarkt links ab und ging Richtung Schildergasse.
Auf dem Rückweg war er mit Tüten vollbeladen und verfluchte sich schon, dass er doch nicht den Wagen genommen hatte, als das Telefon in seiner Jackentasche klingelte. Umständlich setzte er die Tüten ab, während ziemlich ausfallend vor sich hin fluchte. Als er endlich an das Handy kam, hatte es schon 10 Mal geläutet und der Anrufer war automatisch auf die Mailbox umgeleitet worden. Verwundert sah er, dass „Albert“ angerufen hatte. In diesem Moment ging eine SMS ein „You’ve got a new message. Please call your Mailbboxsystem“. Kurz überlegte er, ob er jetzt anrufen sollte, aber die Neugier siegte. Nicht einmal zwei Minuten später war er im Laufschritt unterwegs zu seiner Wohnung und hatte sowohl die Einkäufe, als auch die Einladung für den Abend vergessen.
Wenig später bog ein alter, ungepflegter Mann, der in einem Supermarktwagen sein ganzes Leben vor sich herschob, in die kleine Seitengasse ein. Verwundert sah er vier Einkaufstüten in einem Hauseingang stehen. Schnell lud er sie auf den Berg von alten Kleidern, Gerümpel und Elektronikschrott und machte sich schnell aus dem Staub, bevor der Besitzer der Einkäufer vielleicht doch noch auftauchen und sein Eigentum zurückfordern würde. Eine halbe Stunde später hatte er es sich in einer ruhigen Ecke im Rheinpark bequem gemacht und staunte nicht schlecht über seine Beute.


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Texte: Cover: Quelle Pinakothek / München
Tag der Veröffentlichung: 19.01.2011

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